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Titelseite

 

Für meinen Vater, der den Wald geliebt hat,

und für meine Tante und meinen Onkel,

die ihn uns zu einem besonderen Ort gemacht haben

»Oh mein Gott, so viel Blut!«

»Er stirbt. Ich glaube, er stirbt.«

»Wo ist das Schwert?«

»Liegt auf den Treppen.«

»Da kann es nicht bleiben.«

»Oh Gott, ich will endlich raus hier.«

»Wir verlieren kein Wort über das,

was hier passiert ist, klar?«

»Aber was, wenn er … ich meine, wenn …«

»Darum kümmere ich mich. Keine Sorge.«

Bastian hörte das Klirren der Schwerter schon von Weitem. Es kam aus der Richtung des Burgwalls, von dort, wo das Gedränge am größten war. Irgendwo in dieser Menschenmenge musste Sandra verschwunden sein, während er sich von getrockneten Kräutern hatte ablenken lassen.

Er schob seine Brille ins Haar und rieb sich die Augen. Statt zu lernen, hätte er letzte Nacht schlafen sollen. Und nirgendwo auf diesem ganzen Mittelaltermarkt gab es Kaffee. Nur Met, Bier und Obstsäfte. Ach ja, Liebestränke nicht zu vergessen. Er grinste. An dem Verkaufsstand für Hexenzubehör hatte Sandra ihm ein Flakon unter die Nase gehalten, aus dem penetrantes Vanillearoma aufgestiegen war.

»Ein Schluck und du bist mir auf ewig verfallen«, hatte sie geflüstert und ihn von der Seite angesehen. Kurz darauf war sie ihm abhandengekommen, untergetaucht zwischen den Marktbesuchern, die zum Schaukampf strömten.

Bastian setzte sich die Brille wieder auf die Nase und versuchte, im Gedränge Sandras helle Locken auszumachen.

»Suchst du etwas?« Ein fülliges, dunkelhaariges Mädchen trat ihm in den Weg; ihr langes schwarzes Kleid glitzerte im Sonnenlicht. Bastian schätzte sie auf zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig, aber die Kajalstriche um ihre Augen waren dick wie Balken und machten sie älter, als sie wahrscheinlich war. »Willst du wissen, was Schicksal und Zukunft für dich bereithalten?« Sie griff ohne viel Federlesen nach seiner Hand und drehte sie mit der Fläche nach oben.

»Nein, ich will wissen, wo meine Freundin abgeblieben ist«, sagte er, während das Mädchen mit einem kurzen, rissigen Fingernagel seine Handlinien entlangfuhr.

»Wie sieht sie aus?«

»Ungefähr so groß wie du, schlank, trägt ein mittelalterliches Miederkleid. In Rot und Braun.«

»Oh. Warte … ich sehe etwas … deine Herzlinie ist sehr ausgeprägt … die Person, die du suchst, hat lockiges, dunkelblondes Haar, richtig? Grüne Augen. Und – sie heißt Sandra.«

Verblüfft zog Bastian seine Hand zurück. »Verrätst du mir deinen Trick?«

Das Mädchen musterte ihn ernst. »Kein Trick. Ich kenne sie. Sie war kurz hier und ist dann weiter zum Turnierplatz gegangen, die Kämpfe haben vorhin begonnen. Bei dem kleinen Mäuerchen da vorne musst du nach links.« Wieder nahm sie seine Hand und betrachtete sie eingehend. Auf ihren Fingerknöcheln entdeckte Bastian dunkelblaue Zeichen, aufgemalt oder eintätowiert.

»Etwas Neues kommt auf dich zu, etwas Großes«, murmelte sie. »Wenn du nicht vorsichtig bist, wird es dich völlig aus dem Gleichgewicht bringen und unter sich begraben.«

Bastian zog seine Hand zurück und grinste. »Meine Physio-Klausur. Dafür ist groß gar kein Ausdruck.«

Das Mädchen erwiderte sein Lächeln nicht. »Ich mache keine Witze. Wenn ich sage, etwas Großes, dann meine ich das auch. Du solltest vorsichtig sein. Wenn du möchtest, werfe ich die Runen für dich, das gibt Klarheit.«

Ja, sicher. »Danke, aber ich glaube, ich habe Klarheit genug.«

»Wie du meinst. Falls du es dir anders überlegst, frag nach mir, mich kennen hier alle.« Wieder nahm sie seine Hand, aber diesmal, um sie zu schütteln. »Ich bin Doro.«

»Bastian.«

»Ich weiß.«

Er schmunzelte innerlich. Doro gab eine perfekte Jahrmarktshexe ab mit ihrer rauen Stimme, den tief liegenden Augen und den Brauen, die sich wie dicke Raupen darüberwölbten. Trotzdem entwand er seine Hand ihrem Griff, der eine Spur zu fest war, um angenehm zu sein. Sie nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet.

Bastian war froh, ein freundliches Winken später wieder in der Menge untertauchen zu können. Zumindest einen von Doros Ratschlägen würde er befolgen, nämlich an dem Mäuerchen abzubiegen und den Turnierplatz anzusteuern. Er bahnte sich einen Weg durch ein Rudel von Männern im Schottenrock mit bleichen nackten Oberkörpern. War das auch mittelalterlich? Wie auch immer, bis zum Abend würde die Frühlingssonne ihnen einen kräftigen Sonnenbrand beschert haben. Herzlichen Glückwunsch.

Er atmete tief ein und schob den Gedanken beiseite. Abschalten hieß die Devise. Mal nicht ans Medizinstudium denken. Das hatte er sich redlich verdient.

Eine Gruppe von Frauen in aufwendigen Hofdamenkostümen stand ihm im Weg, er zwängte sich vorbei und bog an der letzten Verkaufsbude ab. Da vorne musste der Turnierplatz sein. Bastian blinzelte ins Sonnenlicht und prompt rannte ihm ein blonder Knirps mit voller Wucht gegen die Beine, offenbar auf der Flucht vor seiner Mutter, die ihm ein geklautes Holzschwert wieder abnehmen wollte.

Unglaublich, wie viele Menschen der Markt angelockt hatte. Die unkostümierten Besucher, wie Bastian selbst, wirkten in ihren Jeans, T-Shirts und Turnschuhen zwischen den Rittern und Edeldamen, Wikingern und Amazonen merkwürdig deplatziert.

Der Turnierplatz war von einem Bretterzaun begrenzt, an dem Trauben johlender Kinder hingen, viele mit hölzernen Speeren oder Schwertern bewaffnet, einige mit Steinschleudern. Bastian ging im Kopf die verschiedenen Augenverletzungen durch, die ein gezielter Treffer mit sich bringen konnte, doch er bremste sich gleich wieder. Heute nicht, zum Teufel.

In der Mitte des Platzes war ein Schwertkampf in vollem Gang. Ein kräftig wirkender Ritter ganz in Blau wehrte sich gegen seinen kleineren, aber wieselflinken Gegner, der ihn abwechselnd mit dem Schwert und mit Fußtritten attackierte.

In unmittelbarer Nähe des Geschehens entdeckte Bastian Sandra. Einmal mehr fiel ihm auf, wie hübsch sie war, gerade dann, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Noch nie hatte sie so gelöst gewirkt wie auf diesem Markt; sie passte hierher, wie sie da in der ersten Reihe stand, leicht über den Zaun gebeugt, und den Schwertkampf beobachtete. Als wäre sie hier zu Hause.

Ab und zu wechselte sie ein paar Worte mit dem Zuschauer neben ihr, der aussah wie ein bärtiges, langhaariges Fass auf zwei Beinen. Ob er auch zu den Kämpfern gehörte? Das Schwert, das an seinem breiten Gürtel hing, sprach dafür, sein Körperumfang dagegen.

Der blaue Ritter brachte seinen Gegner zu Fall und stürzte sich mit erhobener Waffe auf ihn, doch sein kleiner Kontrahent wälzte sich blitzschnell aus der Gefahrenzone und war mit einem Sprung wieder auf den Füßen. Das Publikum johlte.

»Bastian! Hier sind wir!« Sandra hatte ihn entdeckt und winkte heftig. »Komm! Georg und Nathan sind gleich fertig!«

Er entschuldigte sich nach rechts und links, während er sich durch die Reihen drängte.

»Wo steckst du denn?« Sandra legte einen Arm um ihn. »Beim Stand mit den Ölseifen hab ich dich noch gesehen und im nächsten Augenblick warst du verschwunden.«

»Daneben hat jemand Heilkräuter verkauft, das musste ich mir kurz ansehen.«

Sie verdrehte in gespieltem Ärger die Augen. »Hätte ich mir denken können.« Sie wandte sich zu dem Fassförmigen um, der das Gespräch schmunzelnd verfolgt hatte. »Das hier ist Bastian, von dem ich dir erzählt habe. Bastian, das ist Steinchen.«

Steinchen? Unwillkürlich musste Bastian grinsen. Brocken, fand er, hätte die Sache eher getroffen.

»Zum Gruße, edler Fremder«, sagte der Koloss. »Seid nicht zu erstaunt über meinen wunderlichen Namen, denn eigentlich heiße ich Christian Stein. Doch fürwahr, kein Schwein nennt mich so.«

Edler Fremder? Fürwahr? Bastian wechselte einen Blick mit Sandra. Erwartete sie, dass er auch so redete?

Im nächsten Moment landete Steinchens Hand wuchtig auf seiner Schulter. »Schon in Ordnung, lass dich von meinem Geschwafel nicht aus dem Konzept bringen.«

»Okay, danke«, sagte Bastian erleichtert. »Ich hab’s nicht so mit den mittelalterlichen Umgangsformen, tut mir leid.«

»Macht ja nichts, das geht schnell, wenn es drauf ankommt. Hat Sandra dir nicht gesagt, dass du auf diesem Markt den Eintritt sparst, wenn du in Gewandung kommst?«

Gewandung, schon wieder so ein Wort. »Doch, aber ich habe keine … Gewandung. Und ganz im Ernst, die hätte sicher mehr gekostet als der Eintritt.«

»Ein kluger Kerl, meiner Treu«, murmelte Steinchen.

Er blickte zwischen Bastian und Sandra hin und her. »Wie lange kennt ihr euch schon?« Sein Augenzwinkern verriet, dass er zu gerne Details gehört hätte.

Bastian fuhr sich verlegen durchs Haar. »Noch nicht sehr lange. Ein paar Wochen.«

»Sechs. Das heißt … wir haben uns ungefähr vier Mal getroffen«, erklärte Sandra fröhlich. »Wir sind uns an der Uni begegnet, so ungefähr der einzige Ort, wo man Bastian antrifft. Er vergräbt sich meistens in seine Bücher und lernt. Hat selten Zeit auszugehen.«

»Du dafür umso mehr, soviel ich weiß«, neckte Steinchen sie. »Gib es zu, du hast dich extra zu den Medizinern verirrt, um dir einen künftigen Oberarzt zu angeln.«

Sandra boxte ihm spielerisch in die Rippen. »So etwas würde ich nie tun.« Sie lächelte Bastian zu. »Aber sieh ihn dir doch an: Ist er nicht viel zu schade, um als Stubenhocker zu enden? Ich finde, er bekommt zu wenig frische Luft, und ich habe beschlossen, das muss sich ändern.«

Bastian hoffte, dass er nur innerlich errötete. Was sie sagte, klang, als wären sie schon ein Paar – nicht dass er etwas dagegen gehabt hätte. Du lieber Himmel, ganz im Gegenteil. Aber … noch war es eben nicht so.

»Frische Luft?«, fragte Steinchen und grinste. »Du meinst, so richtig viel frische Luft?«

Sandra musterte Bastian mit merklicher Belustigung. »Sehr viel. So viel man nur kriegen kann.«

Beide lachten. Offenbar hatte Bastian etwas verpasst. Wahrscheinlich einen Mittelalter-Insiderwitz.

»Na, dann kann man nur hoffen, dass er frische Luft auch verträgt«, meinte Steinchen grinsend.

Um sie herum applaudierten die Leute, der Kampf war zu Ende. Der Ritter im blauen Waffenrock – Georg? – lief klirrend auf Sandra und Steinchen zu.

»Wo ist sie?«, keuchte er. Sein Blick irrte über die Zuschauermenge. »Ist sie nicht bei euch?«

»Nein. Leider«, erwiderte Sandra. »Das ist übrigens Bastian, ich habe dir von ihm erzählt.« Sie schob ihn förmlich auf Georg zu.

»Freut mich«, sagte er, ohne Bastian richtig anzusehen. »Entschuldigt bitte, aber wisst ihr wirklich nicht, wo Lisbeth steckt?«

»Nö«, sagte Steinchen und begann ebenfalls, seinen Blick schweifen zu lassen.

»War sie während der Vorstellung nicht hier?«

»Nicht dass ich wüsste. Jedenfalls nicht bei uns.«

Unbehagen zeichnete sich auf Georgs Miene ab. »Wo habt ihr sie zuletzt gesehen?«

»Vor zwei Stunden war sie noch beim Armbruststand und hat den Kindern gezeigt, wie sie die Bolzen richtig einlegen«, meinte Steinchen. »Danach ist sie mir nicht mehr untergekommen.«

»Sie wollte sich den Kampf ansehen. Ich verstehe das nicht.« Mit zusammengekniffenen Augen spähte Georg in alle Richtungen, fluchte leise und stürmte davon, ohne ein weiteres Wort.

»Was war denn das?« Verblüfft sah Bastian von Sandra zu Steinchen. »Warum ist der so nervös?«

Sandra zuckte mit den Schultern. »So ist Georg. Wenn es um Lisbeth geht, hat er den totalen Kontrollwahn.«

»Kein Wunder.« Steinchen biss in ein Stück dunkles Brot und fegte ein paar Krümel von seiner Mönchskutte. »Das wirst du verstehen, sobald du Lisbeth siehst. Ich glaube, er hat ständig Angst, jemand könnte sie ihm wegschnappen.« Er lachte. »Was für ein Stress! Da geht es Leuten wie uns viel besser, nicht wahr, Sandra?«

Der Schatten, der über Sandras Gesicht glitt, war so schnell wieder verschwunden, dass Bastian sich nicht sicher war, ob er wirklich etwas gesehen hatte.

»Jedenfalls würde ich nicht mit Lisbeth tauschen wollen, falls du das meinst«, sagte sie und warf ihr Haar zurück.

Ein weiteres Paar Kämpfer betrat den Turnierplatz. Der größere von beiden verbeugte sich feierlich vor dem Publikum, während der kleinere Anlauf nahm, um ihm einen kräftigen Tritt ins Hinterteil zu verpassen. Der große landete kopfüber im Sand und die Zuschauer johlten.

»Lars und Warze«, erklärte Sandra. »Warte nur, das wird richtig gut!«

»Kennst du die alle persönlich?«, fragte Bastian. »Jeden einzelnen Kettenhemdträger?«

»Klar. Die gehören zu meiner Gruppe.«

»Gruppe?«

»Meiner Rollenspielgruppe. Saeculum.«

Ein kollektives Aufstöhnen des Publikums unterbrach ihr Gespräch. Dem großen Kämpfer – Warze, was für ein Name! – entglitt gerade das Schwert. Er bückte sich umständlich und entging damit Lars’ rund geführtem Schlag, der so viel Wucht hatte, dass er den Angreifer um sich selbst kreiselnd über den Turnierplatz taumeln ließ. Das Publikum kreischte vor Lachen. Die zwei Ritter verfehlten einander stets um Haaresbreite, liefen gegen den Zaun, stießen mit den Helmen gegeneinander und landeten zu guter Letzt beide rücklings am Boden. Der Applaus war enorm.

»Heißt Saeculum nicht so viel wie Jahrhundert?«, nahm Bastian den Faden wieder auf.

»Ja. Unseres ist das vierzehnte. Es setzt die Grenze für das, was bei unseren Conventions erlaubt ist.«

»Was meinst du mit erlaubt?«

Sie betrachtete ihn von oben bis unten, prüfend, nahm jedes seiner Kleidungsstücke in Augenschein. »Wir sind Rollenspieler. Wir suchen uns einsame Landschaftsflecken und dort – na ja, dort spielen wir eben. Deine Schuhe, zum Beispiel, wären dabei total verboten. Klettverschlüsse waren im 14. Jahrhundert noch nicht erfunden und Profilsohlen aus Kunststoff gab es auch nicht. Dann … lass mal sehen – Jeans! Die gehen gar nicht, die müsstest du auf der Stelle ausziehen.« Sie legte den Kopf schief, verschränkte die Arme vor der Brust und zwinkerte, als würde sie darauf warten, dass er tatsächlich Hose und Schuhe von sich warf.

Bastian lachte, halb amüsiert, halb verlegen, und Sandra stimmte in sein Lachen ein.

»Ein paar Tage hält man es schon durch, auf die Errungenschaften der Neuzeit zu verzichten, und länger dauert eine Convention meistens nicht.« Sie griff nach seiner Hand, hielt sie für die Dauer eines Herzschlags in ihrer und nahm ihm dann seine Armbanduhr ab.

»Als erste Übung lässt du Zeitdruck und Stress beiseite«, sagte sie leise und fuhr mit den Fingerspitzen über die Stelle, an der sich eben noch die Uhr befunden hatte. »Es ist Tag. Die Sonne scheint. Mehr musst du nicht wissen.« In diesem Licht war Sandras Haar ein Meer aus honigfarbenen Wellen. Ihre Augen ließen Bastian nicht los.

Wenn ich jetzt versuche, sie zu küssen, wird sie es zulassen?

Der Gedanke verflog mit dem aufbrandenden Applaus der Zuschauer, der Sandras Aufmerksamkeit wieder auf den Schaukampf lenkte.

»Jetzt kommt nur noch das Gottesurteil, dann können wir etwas essen gehen.«

Bastian war nicht ganz sicher, ob er das Wort richtig verstanden hatte. »Das was

»Gottesurteil. Das war im Mittelalter üblich, wenn sich Leute vor Gericht nicht einig waren. Dann hat man sich gern auf übernatürliche Zeichen verlassen.«

Ein pummeliger, schwitzender Typ in einem besonders prächtigen Waffenrock mit goldenen Stickereien trat in die Mitte des Kampfplatzes. Er öffnete eine Schriftrolle, blickte wichtig in die Runde und begann vorzulesen.

»Die hier anwesende Jungfrau Mathilda wird beschuldigt, einen kostbaren Ring aus den Gemächern ihrer Herrin entwendet zu haben. Es gibt keine Zeugen, die ihre Aussage bekräftigen könnten, deshalb sucht Mathilda einen Kämpfer, der einen Zweikampf zum Beweis ihrer Unschuld schlägt.« Der Pummelige deutete auf ein etwa achtzehnjähriges Mädchen mit langen blonden Zöpfen, das ein Stück hinter ihm stand. »Wer will für Mathilda kämpfen?«, rief er ins Publikum.

»Es ist so weit«, murmelte Steinchen. »Haltet die Mädels fest.«

Ein groß gewachsener Mann hatte sich aus der Menge gelöst und in die Mitte des Turnierplatzes gestellt. Seine Gestalt war durch einen dunklen Umhang verhüllt, dessen Kapuze sein Gesicht im Schatten ließ. Einige Augenblicke lang stand er einfach nur da, als wäre er in Gedanken versunken, dann zog er sich in einer einzigen Bewegung den Mantel vom Körper. Es war, als würden alle Zuschauer gleichzeitig einatmen.

Mathildas Retter war Anfang zwanzig, sah mit leichtem Lächeln in die Runde und vollführte kleine, lässige Kreisbewegungen mit der Spitze seines Schwertes. So wie die Schotten vorhin setzte auch er seinen nackten Oberkörper der Sonne aus, doch der Unterschied hätte nicht größer sein können. Der Gedanke, dass die Strahlen ihm etwas anhaben könnten, schien absurd. Er strich sich mit der linken Hand eine lange, helle Haarsträhne aus dem Gesicht, während er mit dem Schwert eine geradezu einladende Bewegung in Richtung seiner Gegner machte.

»Und wer ist das?«, murmelte Bastian. »Siegfried, der Drachentöter?«

Sandra gab ein amüsiertes Glucksen von sich. »Nicht ganz. Nein, das ist Paul, der Schwert schwingende Schönling.«

»Ganz schön gemein von dir«, konstatierte Steinchen. »Immer diese Vorurteile gegenüber uns Prachtkerlen!«

Wieder boxte Sandra ihm liebevoll mit dem Ellenbogen in die Rippen, ohne Paul dabei aus den Augen zu lassen. »Er hat sich eingeölt, damit man seine Muskeln besser sieht. Das hat nichts mit Vorurteilen zu tun, das ist blanke Eitelkeit.«

»Ich trete ein für Mathilda, an deren Unschuld ich fest glaube«, verkündete Paul lauthals. »Ich werde gegen jeden Gegner antreten, der sich mir stellt.«

Keiner der anderen Schwertträger rührte sich.

»Wenn niemand zum Kampf bereit ist, betrachte ich ihn als geschlagen und gewonnen, ganz so, wie es Brauch ist und immer war.«

Er wartete, ohne ein Anzeichen von Ungeduld, bis Warze und Nathan vortraten. »Wir stellen uns dir gemeinsam!«, rief Warze. »Solltest du uns besiegen, gilt die Unschuld des Mädchens als erwiesen.«

»Einverstanden.« Er hatte das Wort kaum zu Ende ausgesprochen, als seine beiden Angreifer auch schon vorwärtsschossen und ihn mit schnellen, heftigen Schlägen attackierten, denen er entweder geschickt auswich oder die er mit dem Schild parierte. Es war keine Frage, wer die Zuschauersympathien auf seiner Seite hatte.

Die drei hatten ihr Gefecht perfekt einstudiert. Jeder Hieb saß, jeder Schritt stimmte, und als Paul rücklings stolperte, vollführte er einen so gekonnten Überschlag aus der Gefahrenzone, dass das Publikum in Applaus ausbrach. Kurz darauf machte er Warze den Garaus und Nathan ergab sich. Nach einer abschließenden Runde Verbeugungen war die Show gelaufen.

Sie warteten, bis der Großteil der Zuseher sich zerstreut hatte, was länger dauerte, da eine Reihe junger Mädchen sich um Paul drängte und mit ihm fotografiert werden wollte, jede von ihnen einzeln natürlich.

Dafür gesellte sich Warze, von den toten Helden wiederauferstanden, zu ihnen. »Gib mir zu trinken, Bruder«, dröhnte er.

Steinchen schnallte eine bauchige Feldflasche von seinem Gürtel. »Nur Wasser, mein Freund. Sei so nett und füll nach, wenn du alles ausgesoffen hast.«

»Gewiss.« Warze schüttelte sein schweißnasses Haar aus der Stirn. Jetzt wusste Bastian wenigstens, woher er seinen Spitznamen hatte, denn genau über seiner Nasenwurzel prangte wie ein drittes Auge ein Fibrom von gut einem Zentimeter Durchmesser. Kreisrund. Bastian musste sich zwingen, nicht ständig hinzustarren, das Ding zog seinen Blick wie magnetisch an. Mit Laser oder Skalpell konnte man da sicher etwas machen.

Verdammt. Das Studium würde ihn zum kompletten Fachidioten werden lassen, der jeden Menschen, der ihm begegnete, in Gedanken sofort auf einen Behandlungsstuhl packte.

»Schluss jetzt«, ermahnte er sich selbst und merkte erst an den erstaunten Blicken der anderen, dass er das wohl laut ausgesprochen hatte.

»Schluss womit?«, fragte Sandra.

»Ach, nichts weiter. Ich muss nur zur Abwechslung die dämliche Medizin aus dem Kopf kriegen, das ist alles.«

»Siehst du?« Sandra grinste Steinchen an, Triumph schwang in ihrer Stimme. »Ich hatte recht. Er kommt mit.«

»Wohin komme ich mit?«

Bevor Sandra antworten konnte, nahm Steinchen sie am Arm und zog sie ein Stück zur Seite.

»Entschuldigt uns einen Moment, mein Freund.« Er begann, auf Sandra einzureden, leider nicht laut genug, als dass Bastian hätte verstehen können, worum es ging. Nur ab und zu bekam er Satzfetzen mit.

»… mit den anderen besprochen«, hörte er Steinchen sagen. »Ich dachte, du machst einen Witz.«

Sandra antwortete, leider ebenfalls mit gedämpfter Stimme, ihre Worte wurden mühelos vom quirligen Markttreiben übertönt.

Bastian stand da, betrachtete seine Schuhspitzen und fühlte sich überflüssig. Er tauschte ein verlegenes Lächeln mit Warze, der den Trinkschlauch halb geleert hatte und sich nun den Rest des Inhalts über den Kopf schüttete.

»… diesmal besonders pingelig.« Wieder ein paar Steinchen-Worte, die zu ihm herüberwehten. »… werden niemals einverstanden sein. Sogar Ben und Pia haben Absagen bekommen. Niemand weiß etwas Genaues. Versprich ihm nicht zu viel, sonst …«

Der Rest ging erneut im Lärm des Marktes unter, es wurde gejubelt, weil Paul sich winkend von seinen Fans verabschiedete. Er kam quer über den Turnierplatz geschlendert und grüßte dabei abwechselnd nach rechts und nach links.

Etwas Großes kommt auf dich zu, dachte Bastian, innerlich grinsend. So schnell konnten Weissagungen in Erfüllung gehen, wenn man sie nur richtig interpretierte.

Paul arbeitete sich zu ihnen durch, schlug Warze auf die Schulter und nahm ihm mit der anderen Hand die Flasche ab.

»Leer!«, seufzte er, musterte mit zusammengezogenen Brauen Warzes tropfendes Haar und schüttelte den Kopf. »Elende Wasserverschwendung. Sei so nett und füll den auf, ja?« Er drückte Warze den Trinkschlauch in die Hand. Dabei begegnete sein Blick dem Bastians.

»Hallo. Wir sollten uns kennen, nicht?«

Sollten wir das? Während Bastian noch überlegte, ob er die Bemerkung nett oder eigentümlich fand, streckte sein Gegenüber ihm schon die Hand entgegen.

»Ich bin Paul, und wenn du Bastian bist, hat Sandra mir einiges über dich erzählt.«

Tatsächlich? »Hat sie das?«

»Ja.« Paul strahlte ihn an und ließ ihn auch nicht aus den Augen, als Warze die aufgefüllte Wasserflasche brachte und sie Paul reichte. Sein Blick war eine Spur zu intensiv, für Bastians Geschmack.

»Ich vermute, in Wahrheit heißt du Sebastian?«

»Nein, meine Eltern haben sich gleich für die verkürzte Version entschieden. Sie fanden, so passt es besser zum Rest.«

»Lass mal hören, den Rest.«

»Steffenberg.«

Beinahe genießerisch wiederholte Paul den Namen. »Bastian Steffenberg. Deine Eltern haben recht. Das klingt gut. Es klingt, als müsstest du ein Familienwappen haben, das man auf einen Schild malen kann.«

Gute Idee. Ein goldenes Skalpell auf einem grünen Geldschein, dachte Bastian bitter. »Besser nicht«, sagte er.

»Sandra hat erwähnt, dass du Medizin studierst. Bist du gut?«

Diese Frage war ihm in Zusammenhang mit seinem Studium noch nie gestellt worden. Ist es anstrengend, ist es schwierig, ist es interessant – das ja. Aber: Bist du gut?

»Ich bemühe mich«, antwortete Bastian vorsichtig. Es lag etwas Vereinnahmendes in Pauls Art, in seinen Fragen, das Bastian innerlich einen Schritt zurücktreten ließ.

»Erzähl mir davon. Gibt es ein Fachgebiet, auf das du dich spezialisieren möchtest?«

»Dafür ist es noch etwas früh.« Er sah, dass Paul sich mit dieser Antwort nicht abspeisen lassen würde. »Eventuell Chirurgie. Mal sehen, wie die Dinge sich entwickeln.«

Das schien Paul zu amüsieren. »Ist es in deinem Leben so, dass Dinge sich einfach entwickeln? In meinem nicht.« Er schlüpfte in ein hellbraunes Lederwams und schnürte es an der Vorderseite zu. »Macht aber nichts. Ich stehe auf Herausforderungen.«

Bastian glaubte ihm aufs Wort. Paul war einer dieser Typen, die vor Energie fast platzten.

»Sorry, dass ich dich so ausquetsche.« Offenbar hatte er endlich Bastians Unbehagen gespürt. »Das ist keine reine Neugierde, ich habe meine Gründe. Wirst du bald verstehen.« Er nahm einen tiefen Zug aus der Wasserflasche. »Hat Sandra dir von unseren Conventions erzählt?«

Als hätte sie darauf gewartet, dass ihr Name fiel, trat Sandra zu ihnen, Steinchen an ihrer Seite.

»Das ist er!«, rief sie. »Das ist Bastian.«

»Wir haben uns schon bekannt gemacht«, sagte Paul. »Ich wüsste ja gerne, wie gut dein Freund im Zusammenflicken verletzter Schwertschwinger ist …«

Der restliche Satz war nicht mehr zu verstehen, denn die Dudelsackbläser zogen wieder direkt an ihnen vorbei; der Lärm machte jede Unterhaltung unmöglich. Paul legte einige schottisch anmutende Tanzschritte hin. Als der Musikzug endlich weiter entfernt war und das Gedudel gedämpfter wurde, ergriff er wieder das Wort.

»Wir sollten unbedingt noch ein wenig weiterquatschen, aber ich verhungere. Was haltet ihr davon, wenn wir uns bei dem Grill da vorne Rippchen holen?«

Das, fand Bastian, war eine großartige Idee.

Sie schlenderten quer über die Wiese, vorbei an bunten Zelten, Waffenständern und gestapelten Strohballen, auf denen Kinder herumkletterten. Da und dort hingen Töpfe über rauchenden Feuerstellen, es roch nach Gulasch, Würstchen und Bier. Steinchen hatte gute Beziehungen zu der Frau, die am Stand von Speys und Trank den Bratspieß drehte, so ersparten sie sich das Schlangestehen zwischen den schwitzenden Besuchern und deren quengelndem Nachwuchs, wurden mit duftenden Fleischstücken auf Papptellern versorgt und ließen sich im Schatten einer Buche nieder.

»Was war es, das dich zur Medizin gebracht hat, Bastian?«, knüpfte Paul an ihr Gespräch von eben an. Das konzentrierte Interesse, das erneut aus seinen Augen sprach, brachte Bastian umgehend aus dem Konzept. Faszinierte sein Studium den Typen wirklich so sehr oder war das nur übertriebene Höflichkeit? Paul sah ihn an, als wollte er ihn durchleuchten. Blicke dieser Art kannte Bastian zur Genüge aus seiner Kindheit, darauf hatte er keine Lust.

»Wenn du eine originelle Erklärung hören willst, dann sorry«, antwortete er. »Ich studiere das, was mich immer schon am meisten interessiert hat.«

Paul schien mit der Antwort zufrieden zu sein, er bohrte nicht weiter.

»Und du, Paul – was machst du im richtigen Leben?« Neugierige Fragen stellen konnte Bastian auch.

»Im richtigen Leben«, wiederholte Paul nachdenklich. »Was meinst du damit? Ich liege im Gras, die Sonne im Gesicht, etwas zu essen und zu trinken neben mir – richtigeres Leben kann ich mir kaum vorstellen.«

Sehr geschickt, mit welcher Eleganz er auf die gestellte Frage nicht geantwortet hatte. Doch Paul war mit seinen Erklärungen noch nicht fertig. »Wenn du meinst, ob ich studiere oder arbeite – ja, in gewisser Weise schon. Ich forsche, reise herum und suche nach Spuren der Vergangenheit. Jemand hat mir mal gesagt, wer die Vergangenheit verstanden hat, der beherrscht die Zukunft.« Er sah sich um und wies auf eine Gruppe vorbeiziehender Männer in Kettenhemden. »Deshalb fühle ich mich hier so wohl. Wo man hinsieht, nichts als Vergangenheit.«

»Verstehe.« Was eine glatte Lüge war. Bastian konnte sich unter Pauls Beschreibung nicht das Geringste vorstellen. »Und du, Steinchen?«

»Mir geht es so ähnlich, allerdings habe ich es weniger mit dem Forschen und mehr mit dem Kochen.« Steinchen klopfte sich vergnügt mit den Händen auf seinen prallen Bauch. »Und mit dem Genießen! Gelegentlich verdinge ich mich aber auch als Grafiker, um mein Geldsäckel zu füllen.«

»Er zeichnet unglaublich gut«, meinte Sandra. Sie saß so nah bei Bastian, dass ihre Schultern sich berührten. »Unser Saeculum-Wappen ist von ihm.«

Richtig, die Sache mit dem Rollenspiel. Saeculum. »Erklärt ihr mir noch mal, worum es da geht?«, bat Bastian und suchte vergeblich nach etwas, womit er sich den Mund abwischen konnte. »Ihr veranstaltet Abenteuerspiele und verzichtet dabei auf neuzeitliche Erfindungen? Auf Uhren, Handys und all das Zeug, ja?«

»Korrekt«, bestätigte Steinchen und hob den Knochen, an dem er gerade nagte, wie einen belehrenden Zeigefinger. »Aber nicht nur das. Bei unseren Conventions wirst du auch keine Streichhölzer finden, keinen Tabak und keine Bratkartoffeln.«

»Wieso das?«

»Paul, erklär du es ihm, du bist schließlich unser Organisationsfuzzi.«

Diesmal dauerte es ein wenig, bis Paul antwortete, da er eben mit sichtlichem Genuss einem Hühnerbein den Garaus machte. »Es ist so: Kartoffeln, Mais, Tabak – das alles hat es in unseren Breiten erst ungefähr ab 1500 gegeben. Wir haben uns aber in den Kopf gesetzt, bei unseren Spielen nur solche Dinge zu verwenden, die man schon im 14. Jahrhundert kannte. Saeculum quartum decimum. War kein Zuckerschlecken damals. Pest, Kriege, sogar eine kleine Eiszeit. In unserem Alter hatten viele nur noch die Hälfte ihrer Zähne.« Er hob den Kopf und blinzelte zu Bastian hinüber. »Wie alt bist du?«

»Zwanzig.«

»Ich auch. Bald einundzwanzig. Das Alter, in dem man früher zum Ritter geschlagen wurde.« Paul klaute Steinchen ein Stück Fleisch und schlug seine Zähne hinein. »Wenn man aus reichen Verhältnissen kam, natürlich«, sagte er kauend. »Unsere Conventions sind allerdings nicht so entbehrungsreich wie das echte Mittelalter. Eine Pestepidemie ist praktisch ausgeschlossen und wir spielen nicht im Winter. Wir sind vielleicht ein bisschen extremer als andere Gruppen, aber verrückt sind wir nicht.«

Aus Warzes Ecke kam ein prustendes Geräusch. »Ich kenne jede Menge Leute, die da anderer Meinung sind«, nuschelte er zwischen zwei Bissen hervor. »Und ein paar, die sich lieber mit ihrem nackten Hintern in Glasscherben setzen würden, als noch einmal mit uns fünf Tage in den Wald zu gehen.«

Das hörte sich nicht sehr einladend an. Bastian fühlte, wie sich der Druck von Sandras Schulter an seiner verstärkte.

»Ach, glaub Warze kein Wort«, wisperte sie, ganz nah an seinem Ohr. »Jemandem, der es selbst noch nicht erlebt hat, kann man es nur schwer beschreiben, es ist wie eine Reise in eine andere Welt. Das muss man mögen. Du bist weitab der nächsten Stadt, mitten im Wald. Was du zu Hause vergessen hast, kannst du nicht einfach nachkaufen, also wirst du vielleicht frieren oder hungern. Möglich, dass du im Freien schläfst, ohne Hütte und Zelt, über dir nur ein Himmel voller Sterne …«

»… unter dir ein ziemlich nasser Arsch«, fiel ihr eine raue weibliche Stimme direkt hinter ihnen ins Wort.

Sandra seufzte. »Hallo, Iris.«

»Georg schickt mich. Er will wissen, ob jemand Lisbeth beim Armbrustschießen ablösen kann.«

»Warum springst du nicht selbst ein?«

»Weil ich Doro versprochen habe, ihr gleich die Hintergrundmusik beim Handlesen zu machen.«

Warze hob seine Hand, in der er das halb abgenagte Rippchen hielt. »Dann helfe ich Lisbeth. Aber ich esse erst noch fertig.«

»Geht klar.« Iris warf schnelle Blicke nach rechts und links, bevor sie sich neben Steinchen ins Gras setzte. Er reichte ihr ein Stück Brot und sie stürzte sich darauf, als hätte sie tagelang nichts gegessen.

Bastian betrachtete Iris mit dem gleichen Interesse, mit dem er sich einem unklaren Hautausschlag gewidmet hätte. Was war mit ihrem Haar los? Es sah aus, als wäre ein ausgeflipptes Kleinkind mit einer Schere darüber hergefallen. Manche Strähnen fielen ihr bis auf die Schultern, andere standen wie weggeraspelt vom Kopf ab. Hinzu kam, dass sie einige erfolglose Versuche mit Tönungen hinter sich zu haben schien – von Rot über Brünett bis Pechschwarz, alle Farben waren an irgendeiner Stelle vertreten. In Kombination mit ihren Sommersprossen und den leicht schräg liegenden Augen ließ sie das wie eine zerrupfte Elfe wirken.

Als er bemerkte, dass sie seinen Blick mit einer Mischung aus Belustigung und Verachtung erwiderte, war es zu spät, um so zu tun, als hätte er sie nur zufällig angesehen.

»Wir kennen uns noch nicht, ich bin Bastian«, sagte er in dem Versuch, sein Gestarre durch eine höfliche Vorstellung wiedergutzumachen. »Ich bin mit Sandra hier.«

»Ach.«

»Bastian studiert Medizin«, erklärte Steinchen.

»Ach.« Iris ließ ihren Blick einmal an ihm auf- und abwandern, richtete ihn kurz auf Sandra und schließlich auf die Horden der vorbeiziehenden Marktbesucher. »Ihr findet mich bei Doro«, verkündete sie, klaute Steinchen eine weitere Scheibe Brot und tauchte wieselflink in der Menschenmenge unter.

»Tja, jetzt kennst du auch Iris.« Die Geringschätzung in Sandras Stimme war schwer zu überhören.

»Stimmt etwas nicht mit ihr? Ihr Haar ist sehr … originell.«

»Unter uns gesagt … na ja, ich will nicht schlecht über sie reden, aber sie hat einen ziemlichen Knall und richtig üble Manieren. Vor einem Jahr hat sie noch ganz normal ausgesehen. Aber sie lässt sich nicht reinreden. Als ich sie mal darauf angesprochen habe, wäre sie mir fast ins Gesicht gesprungen.«

Steinchen klopfte sich mit beiden Händen auf seinen prallen Bauch. »Stimmt. Dabei warst du so diplomatisch.«

Wieder zogen die Dudelsack-Schotten vorbei, diesmal begleitet von zwei Trommlern.

»Ich geh dann mal!«, schrie Warze, putzte sich die Krümel von seinem Lederwams und verschwand im Menschenstrom.

Bastian blinzelte gegen die Sonne, satt und zufrieden. Er fühlte Sandras Kopf an seiner Schulter und legte einen Arm um sie, probeweise. Sie rückte nicht ab, sondern lehnte sich an ihn und begann, eine leise Melodie zu summen. Vor ihnen in der Wiese rekelte sich Paul wie ein träges Raubtier, drehte sich zur Seite und lächelte. »Ihr seid ein hübsches Paar.«

Sandras Kichern war ein leichtes Vibrieren an Bastians Schulter. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Paulchen.«

»Ach.« Er grinste. »Das tue ich doch ständig.«

Bastian war so entspannt zumute wie schon lange nicht mehr. Der Mechanismus in seinem Inneren, der ihn wie ein Motor ständig antrieb, war zum Stillstand gekommen. Dank Sandra. Er drückte sie eine Spur fester an sich. Sandra pustete ihm eine Haarsträhne von der Brille.

»Was hältst du davon«, sagte sie, »wenn wir noch mal zu den Heilkräutern gehen und uns schlaumachen? Solches Wissen kann man immer gebrauchen, wenn man draußen in der Natur ist, und wer weiß, wohin es dich in nächster Zeit verschlägt …«

Sie verbrachten den ganzen Nachmittag damit, von einem Marktstand zum anderen zu schlendern, sahen Kunsthandwerkern bei der Arbeit zu, versuchten, bei einem mittelalterlichen Rundtanz mitzumachen, und flüchteten vor den allgegenwärtigen Dudelsackspielern. Die Luft wurde allmählich kühler und es machte sich bereits abendliche Stimmung breit. Sandra betrachtete Bastian von der Seite. »Es gefällt dir, oder?«

Er nickte. »Ich habe lange nicht mehr so gut abschalten können wie heute.«

»Hast du schon Pläne für Pfingsten?«

Die Frage kam unerwartet. Pläne?

»Das Übliche, wahrscheinlich. Lernen«, sagte Bastian. Der Gedanke schnürte sich schmerzhaft in seine gute Laune.

»Warum machst du dir solchen Stress wegen deines Studiums? Möchtest du irgendeinen Geschwindigkeitsrekord brechen?«

»Ach, das hat mit meinen Eltern zu tun. Längere Geschichte und nichts, womit ich uns den schönen Tag versauen will.«

Sie gingen die nächsten Schritte schweigend; Bastian gab sich Mühe, das Gesicht seines Vaters aus seinen Gedanken zu verbannen, doch es gelang ihm nicht, wieder einmal.

»Guck nicht so böse.« Sandra stieß ihm sanft den Ellenbogen in die Rippen.

»Tue ich das? Oh. Also … Pfingsten. Was sollte ich denn deiner Meinung nach vorhaben, anstelle von Lernen?«

»Mit mir wegfahren.«

Bastian blieb stehen. War es das, worauf sie schon die ganze Zeit anspielte? Von wegen frische Luft und so?

»Interessante Idee. Wohin?«

»Das weiß ich nicht.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. »Das wissen wir alle noch nicht. Aber es wird ein abgelegener Ort sein, weit weg von Dörfern, Straßen und Autos.« Sie sah zu ihm hoch und hielt seinen Blick mit ihren Augen fest.

»Du willst nicht mit mir alleine wegfahren«, konstatierte er. »Sondern mich auf eine deiner Saeculum-Cons mitnehmen, stimmt’s?«

»Stimmt. Aber wir werden viel Zeit füreinander haben. Komm mit, ja? Ich hätte dich so gern dabei!«

Er fühlte Sandras Fingerspitzen über seinen Nacken streichen, was ihn schneller überzeugte als alle ihre Worte. Ein paar Tage ohne Handy waren locker auszuhalten, nein, das würde ein Genuss sein. Ein paar Tage ohne Bücher erst recht. Und das gemeinsam mit dem Mädchen, dessen grüne Augen ihn nicht mehr losließen …

»Okay. Also, ich meine – vielleicht. Wahrscheinlich. Wenn ich vorher ordentlich reinhaue, dann kann ich mir vier lernfreie Tage leisten.«

»Fünf«, korrigierte sie ihn. »Aber es lohnt sich, warte nur ab. Du glaubst gar nicht, was für ein Erlebnis das ist. Nichts ist so wie im normalen Leben. Manchmal hab ich auch eine Höllenangst, aber … mit dir zusammen wäre das bestimmt anders. Es gibt keine Sicherheitsnetze, verstehst du?« Sie sah zu ihm hoch, blickte ihm direkt in die Augen. »Man fühlt sich so lebendig, dass es fast wehtut.«

Die letzten verbliebenen Sonnenstrahlen waren rot; in ihrem Licht wirkte der Markt mittelalterlicher als je zuvor. Vielleicht auch deshalb, weil fast nur noch Leute in Gewandung herumliefen, die anderen Besucher saßen längst zu Hause vor ihren Fernsehapparaten.

Bastian atmete tief ein und aus. Es war Zeit, etwas Ungewöhnliches zu tun.

»Sandra?«

»Ja?«

»Ich glaube, ich brauche ein neues Outfit.«

Iris zählte die Münzen in ihrer Tasche. 23 Euro 48 für das Hintergrundgeklimpere bei Doro, eine Stunde Amulette-Verkaufen an Almas Stand und die Kinderbetreuung an der Strohballenburg. An jedem bescheuerten Regentag in einer x-beliebigen Fußgängerzone verdiente sie mehr, zum Teufel. Aber egal. Reichen würde es. Für die Con in vier Wochen hatte sie das Geld längst zusammengespart und danach blieb noch genug übrig, um sich für gut zehn Tage über Wasser zu halten. War also echt nur Freundlichkeit von ihr, den Klamottenstand zu betreuen, damit Nadja sich am Lagerfeuer ihre Spareribs reinhauen konnte. Genauso gut hätte sie den Laden für heute dichtmachen können, um diese Zeit kam sowieso keiner mehr.

Sie ließ ihren Blick prüfend nach rechts und links schweifen, doch soweit sie es beurteilen konnte, war alles in Ordnung. Die Menschenmassen, die sich tagsüber auf dem Gelände vor und innerhalb der Burg getummelt hatten, waren ebenso beruhigend wie beängstigend gewesen. Beruhigend, weil man sie wie einen Tarnmantel um sich ziehen und darin verschwinden konnte. Beängstigend, weil für jeden anderen dasselbe galt und man drohendes Unheil nicht von Weitem kommen sah.

Jetzt war es die Dunkelheit, die Schutz und Drohung zugleich bedeutete. Iris spähte ein weiteres Mal um sich, nahm jede Gruppe, jedes Pärchen in der Nähe in Augenschein und konnte nichts Verdächtiges entdecken. Gut. Warum dann nicht noch ein paar Euro mit Musik verdienen?

Sie holte ihre Harfe aus der Instrumententasche und begann, sie zu stimmen. Jeden Tag üben, alle zwei Wochen ein neues Stück lernen. Um ihr Repertoire für die Fußgängerzonen zu erweitern, einerseits. Andererseits für die Zeit, wenn alles vorbei sein würde.

Iris drückte ihren Rücken fest gegen die Stuhllehne, griff in die Saiten und spielte die ersten Takte von Greensleeves. Die Nummer zog beim Straßenpublikum wie die Hölle, weil jeder sie mitgrölen konnte, wie falsch auch immer. In die zweite Wiederholung des Themas hatte sie ein paar schnörkelige Variationen eingebaut, die häufiges Training brauchten. Aber – sie saßen. Ausgezeichnet. Wie erwartet lockte die Melodie bereits Leute an, Iris hörte ihre Schritte und zwang sich, den Blick auf das Instrument gesenkt zu halten. Gefährliche Menschen kicherten nicht albern, sondern näherten sich lautlos, ihre Schläge kamen aus dem Nichts, aus einer trügerischen Stille.

»Hi, Iris. Wo ist denn Nadja?«

Ah. Sandra und ihr neuer Freund mit der Klugscheißerbrille.

»Essen gegangen.« Sie ließ den a-Moll-Akkord ausklingen und seufzte genervt. Die beiden waren nicht der Typ Publikum, der Kohle daließ.

»Oh. Weißt du, wann sie wiederkommt?«

»Keine Ahnung. Wenn sie satt ist, vermutlich.«

Der Brillenheini griff nach einer Leinenhose mit Kordelzug und einem Schnürhemd. »Können wir uns so lange umsehen? Ich würde gern ein paar Sachen probieren.«

A-Moll. C-Dur. »Sicher. Hinten im Zelt ist ein Spiegel, falls du einen brauchst.«

»Danke.«

Iris begann mit ihren Variationen zu Brian Boru’s March und versuchte, Sandras Stimme auszublenden.

»Die Hose kannst du nicht nehmen, du brauchst eine Bruche und Beinlinge.«

»Eine was?« Der Musterschüler klang verwirrt.

»Bruche. Mittelalterliche Unterhose. Die Beinlinge werden dran festgemacht. Total praktisch.«

Amüsiertes Prusten. »Na meinetwegen. Erinnert mich aber stark an eine Windel.«

»Da hängt dann später dein Hemd oder deine Tunika drüber. Nur keine Sorge.«

Iris warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Bernhard? Bert? Balduin? mit der besagten Bruche, drei Paar Beinlingen, fünf Hemden, einer Jacke und diversen Gürteln im Umkleidezelt verschwinden. Jetzt war nur noch Sandra da und versuchte, so zu tun, als würde sie Iris nicht sehen. Blöde Kuh.

Iris legte ihre Harfe behutsam vor sich auf dem Tisch ab. »Wie heißt dein Freund noch mal?«

Tiefes Seufzen. »Bastian.«

Richtig, das war es gewesen. Wie der Junge aus der Unendlichen Geschichte, so würde sie es sich merken.

»Will er etwas kaufen oder bloß rumprobieren?«

Noch mal Seufzen. »Kaufen. Wenn wir das Richtige finden.«

»Das Richtige wofür?«

Sandras Gesichtsausdruck sagte jetzt ganz deutlich »Leck mich«, das war ja spannend. Normalerweise verbarg sie ihre Abneigung geschickter. Aber entweder war sie dafür heute nicht mehr fit genug oder es war ihr gerade egal.

»Ist das deine Sache?«

»Natürlich nicht.« Iris streichelte über den hölzernen Klangkörper ihrer Harfe und stand langsam auf, ohne Sandra aus den Augen zu lassen. »Kann ich dir helfen, Bastian?«, rief sie in Richtung Zelt. »Brauchst du vielleicht auch Schuhe? Es gibt Restpaare, die Nadja günstig loswerden will, wenn du Glück hast, passt dir etwas davon.«

Da kam er schon heraus, mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. »Schuhe wären nicht übel. Welche würdest du mir empfehlen? Sandra meint, das Gelände auf euren Cons wäre manchmal unwegsam oder schlammig …«

Also doch. Iris drehte sich zu Sandra um. »Du willst ihn zur nächsten Con mitnehmen?«

»Ja. Und?«

»Und? Keiner kennt ihn, wer weiß, ob er es überhaupt durchhält. Ob er ein brauchbarer Spieler ist.«

Sie ging näher an Sandra heran und senkte ihre Stimme. »Ob wir ihm trauen können. Woher willst du wissen, dass er nicht zur Polizei rennt und uns verpetzt, dein Musterschüler? Was sagen denn Carina und Paul?«

Sandra würdigte sie keiner Antwort, sondern schob sich an ihr vorbei, um Bastian beim Binden seines Schnürhemds zu helfen.

»Sieht gut aus«, sagte sie. »Die Beinlinge passen auch, und wenn du mich fragst, ich würde den Gürtel mit der Drachenschnalle dazunehmen.«

Er schlang ihn sich um die Taille, stemmte die Hände in die Hüften und sah Iris mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist das okay für einen Musterschüler?«

Hoppla. »Ja, ist akzeptabel. Aber wenn du wirklich vorhast, auf unsere Con mitzukommen, würde ich mir an deiner Stelle ein paar Sachen mehr zulegen. Noch ein Hemd, ein Wams, zwei Paar Beinlinge. Ein gutes Messer. Eine Gürteltasche aus Leder und einen größeren Tragesack aus Leinen. Einen Trinkschlauch – aber ohne Plastik innen, sonst ist er gegen die Vorschriften, ein eigenes Kochgeschirr und eine warme Wolldecke.«

Bastian sah sie mit großen Augen an.

»Die Gürteltasche bekommst du bei mir, für die anderen Sachen musst du dich umsehen. Das meiste wirst du hier auf dem Markt finden.«

Er nickte langsam. Sah zwischen ihr und Sandra hin und her, als wartete er auf etwas. Klar, er hatte die Bemerkung mit der Polizei gehört und kriegte gerade Schiss. Umso besser.

»Wenn du weißt, was du kaufen willst – ich warte vorne beim Kassentisch.« Iris ließ die beiden vor dem Umkleidezelt stehen, ging zurück zu ihrer Harfe und hob sie auf ihre Knie. Die Berührung des glatten Holzes und der straff gespannten Saiten taten ihr gut, so war es immer. Als die ersten Töne von Tourdion durch die Nachtluft aufstiegen, hatte sie ihr Gleichgewicht beinahe wiedergefunden. Dieser Bastian war harmlos. Sollte er eben mitkommen. Weder er noch Sandra konnten ihr die fünf Tage im Jahr verderben, an denen sie sich sicher fühlte.

Ihr Spiel lockte Zuhörer an und sie überlegte kurz, ob es sich doch lohnen würde, einen Becher für Münzen aufzustellen. Nein. So war es richtig, sie wollte keine Unterbrechung, sondern weiterspielen und dem kleinen Mädchen zusehen, das sich zur Musik kichernd und mit fliegendem Rock um die eigene Achse drehte.

Drei Stücke später kamen Bastian und Sandra aus dem Zelt und legten einen Haufen Kleider auf den Kassentisch. Iris suchte nach den handgeschriebenen Preiszetteln und begann zu addieren. Das war kein übles Geschäft – der Kerl musste richtig Geld haben. Nadja würde sich freuen.

»Gehört die dir?«, fragte Bastian und berührte mit den Fingerspitzen die Harfe. Prompt kam Iris aus dem Konzept und verrechnete sich.

»Wem denn sonst.« Es klang ärgerlich, sogar in ihren eigenen Ohren. Aber was war das auch für eine hirnverbrannte Frage? »Und wenn es dir nichts ausmacht, fass bitte mein Instrument nicht an.« Sie sah Bastians Hand zurückzucken und verlor ein weiteres Mal den Faden beim Addieren.

»Sorry. Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass es großartig geklungen hat. Du bist echt begabt.«

Worauf du deinen Arsch verwetten kannst. »Danke.«

Er ließ immer noch nicht locker. »Das ist doch eine Harfe, oder? Weil sie so klein ist, meine ich.«

Iris seufzte und legte den Stift weg. »Es ist eine Bardenharfe, eine größere eignet sich nicht so gut, wenn man viel herumreist. Sie ist handlich und es ist alles dran, was man braucht. Hast du sonst noch Fragen oder kann ich jetzt weitermachen?«

Kaum war Iris mit dem Zusammenrechnen fertig, nahm Sandra den Beleg an sich und rechnete nach.

Zahlt doch endlich und verzieht euch. Iris blickte sehnsüchtig auf ihre Harfe. Sie wollte nichts lieber tun als weiterspielen, aber ohne den beiden Turteltäubchen eine private Vorstellung zu geben. Zum Glück hatte Sandra ohnehin etwas anderes vor.

»Wir sollten uns beeilen, sonst verpassen wir die Gaukler und das wäre richtig schade.«

Iris war kurz versucht, das Wechselgeld extra langsam und umständlich herauszugeben, aber dann siegte ihr eigener Wunsch nach Ungestörtheit über das Bedürfnis, Sandra ein wenig zu piesacken. Obwohl …

»Sind denn die Tänze schon vorbei?«, fragte sie Bastian, während sie Zehncentmünzen aus der Kasse klaubte. »Dann hast du sicher Lisbeth gesehen. Ist sie nicht großartig?«

»Tänze? Nein, die müssen wir verpasst haben. Ich kenne Lisbeth noch gar nicht.«

»Wirklich? Das verstehe ich nicht. Sandra, du hängst doch sonst ständig mit ihr zusammen.«

»Ich hänge überhaupt nicht. Was ist jetzt, hast du das Wechselgeld beisammen? Wir wollten eigentlich nicht den ganzen Abend hier stehen.«

»Bitte sehr.« Fünf Euro zwanzig wanderten in denkbar kleinen Münzen aus Iris’ Hand in Bastians. Er verzog keine Miene, steckte alles in die Hosentasche und zwinkerte Sandra zu.

»Also?«

Sie strahlte, nahm seinen Arm und zog ihn fort, auf die Festwiese zu. Iris schnitt ihnen eine Grimasse, da drehte der Musterknabe sich noch mal um. »Danke und bis später!«, rief er. Dann verschwanden die beiden hinter einer der Buden.

Iris hob die Harfe vom Tisch, überprüfte, ob sie noch gut gestimmt war, und begann, wieder zu spielen. Carolan’s Dream lief durch ihre Finger in die Saiten – auch eine schöne Melodie, um zu tanzen. War das kleine Mädchen noch da?

Sie sah hoch, erhaschte einen Schimmer von hellem Rot, eine rasche, huschende Bewegung, und erstarrte. Ihre Finger verkrampften sich, entlockten dem Instrument einen misstönenden Akkord.

Er war hier. Er hatte sie beobachtet. War blitzschnell hinter dem Stand mit den Holzkreiseln verschwunden, als er ihren Blick bemerkt hatte.

Iris duckte sich hinter den Verkaufstisch, packte mit bebenden Fingern ihre Harfe in die Tasche. Weg hier, sofort! Ihr Herz raste, sie atmete viel zu schnell, gleich würde ihr übel werden. Nein. Ganz ruhig. Nachdenken.

Doch es ging nicht. Panik flatterte in ihr wie ein gefangener Vogel. Rennen war das Einzige, was helfen würde, rennen, so schnell sie konnte. In Bewegung bleiben. Iris sprang auf und lief los, an den wenigen verdutzten Zuhörern vorbei.

Etwas packte sie am Arm. Sie schrie, wehrte sich, trat danach –

»Iris!«

Die falsche Stimme. Der falsche Geruch. Sie hob ihren Blick. »Paul?«

Er sah sie mit bestürzter Miene an. »Was ist denn passiert?«

Sie würde ihm nicht vertrauen, obwohl es verlockend war. Sie würde niemandem vertrauen.

»Nichts. Ich habe nur … nichts.«

Pauls Sorgenfalten vertieften sich. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

Ein Gespenst wäre großartig. »Nein. Schau mal, da kommt Nadja. Ich muss ihr die Kasse übergeben, okay?«

Er nickte. »Kommst du dann mit zum Feuer?«

»Mal sehen.« Unwillkürlich glitt ihr Blick wieder zu den Schatten hinter der Bude. Alles in ihr schrie nach Flucht. Aber vielleicht konnte Paul … Sie brauchte Gewissheit. »Paul, kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Gern. Welchen?«

»Kannst du für mich einen Blick hinter den Stand mit den Kreiseln werfen? Ich glaube, dort steht jemand.«

Er sah sie prüfend an und ließ ihren Arm los. »Sicher. Kein Problem.«