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Mika Waltari

Johannes Peregrinus

Kuebler Verlag

Das Buch

Zeit: 1436 bis 1452 n. Chr.

Der siebzehnjährige, elternlose Johannes lernt auf seinen Wanderungen durch Frankreich und Burgund eine reiche Gönnerin kennen, die ihm eine Stelle als Schreiber auf dem Konzil zu Basel verschafft, wo er Nikolaus Cusanus kennenlernt, einen der wichtigsten Philosophen und Theologen seiner Zeit. Zusammen mit ihm begibt er sich nach Konstantinopel, wo Vorverhandlungen über eine Wiedervereinigung der römischen und der byzantinischen Kirche stattfinden sollen. Johannes erlebt in Konstantinopel seine erste Liebe, bekommt aber auch die Abneigung vieler Byzantiner gegen die verhassten „Lateiner“ zu spüren. Schließlich führt ihn sein Lebensweg über das Unionkonzil in Ferrara zur Teilnahme an der Schlacht bei Warna in Bulgarien, wo das westliche Kreuzzugheer von den Osmanen vernichtend geschlagen wird. Dabei gerät Johannes in Gefangenschaft und wird Sklave am Hof des Sultans, wo er den jungen Sultanssohn Mehmed kennenlernt, den späteren Eroberer Konstantinopels ...

Der Autor

Mika Waltari (1908 –1979) gehörte zu den produktivsten finnischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er ist in seiner finnischen Heimat nach wie vor äußerst populär und hat dort den Status eines modernen Klassikers. Sein Werk umfasst rund hundert Titel, darunter Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Reiseberichte, Drehbücher und Hörspiele. Im Ausland wurde er besonders durch seine historischen Romane bekannt, denen oftmals der Sprung auf die Bestsellerlisten gelang (Sinuhe der Ägypter, Michael der Finne, Michael Hakim, Johannes Angelos, Turms der Unsterbliche, Minutus der Römer und andere). Sie zeichnen sich sämtlich durch sorgfältige Recherche aus und schildern auf packende Weise menschliche Schicksale in verschiedenen Epochen.

Der Herausgeber

Die Reihe „Mika Waltaris historische Romane“, in deren Rahmen Johannes Peregrinus erscheint, wird von Andreas Ludden betreut und herausgegeben. Der Herausgeber, der die Romane auch teilweise neu übersetzt hat, gilt als Kenner der Werke Waltaris und lehrt Finnisch am Baltischen Institut der Universität Münster.

Mika Waltari

Johannes Peregrinus

Historischer Roman

Ungekürzte Übersetzung aus dem Finnischen von Andreas Ludden

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Mehr Informationen zu diesem Buch und zum Verlagsprogramm

www.kueblerverlag.de

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2013 by Kuebler Verlag, Lampertheim

Finnischer Originaltitel: Nuori Johannes,

Erstveröffentlichung 1981 durch WSOY

(Werner Söderström Oy), Helsinki, Finnland

© The Estate of Mika Waltari and WSOY

Aus dem Finnische übersetzt von Andreas Ludden

Herausgeber der Reihe „Mika Waltari“: Andreas Ludden

Umschlaggestaltung: Daniela Hertel, Grafissimo!,

unter Verwendung eines Freskos von Benotto Gozzoli (1420-1497)

Druck: CPI books GmbH, Leck

ISBN Buchausgabe: 978-3-86346-069-3

ISBN Digitalbuch: 978-3-86346-183-6

Die Übersetzung wurde gefördert von

FILI – Finnish Literature Exchange, Helsinki

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Kapitel I

Nach meiner Flucht durchwanderte ich Frankreich und Burgund, bis ich an den Rhein kam. Die Heumahd war beendet, auf den Feldern schnitten schwitzende Männer mit der Sichel das Korn. Wegen der Hitze waren sie nur mit zerlöcherten Hemden bekleidet. Die Frauen schoren Schafe. Ich wanderte im Zeichen des Löwen.

In den dunkelsten Stunden der Nacht hatte ich an der Friedhofsmauer einer Stadt geschlafen. Der Gesang einer Nachtigall in den alten Bäumen klang in meine Träume herüber. Bei Sonnenaufgang begannen die Hähne zu krähen. Ich erwachte, und als erstes fiel mein Blick im roten Licht des Morgens auf die Bilder vom Tod an der Friedhofsmauer: ein tanzendes Skelett, das einen Bischof mit sich geleitete.

Als ich meine Wanderung gen Süden zu den Bergen wiederaufnahm, sah ich in jedem Menschen, dem ich begegnete, den Schatten des Todes. Durch den Leib des Kornschnitters hindurch schimmerten die Umrisse eines Skelettes. Gelb grinste mich der Totenschädel aus dem rosigen Lächeln einer Frau an. Der Tod war Spielkamerad bei den Kindern am Bach. Jedermann, jeglicher Mensch, dem ich begegnete, würde dereinst sterben. Der Tod ist des Menschen einziger bedingungsloser Herr. Auch die Bauwerke, selbst die gewaltigsten, würden altern, um einmal einzustürzen. Das lächelnde Leben des Sommers, das mich umgab, war in der Umarmung der Zeit ein ebenso vergängliches Trugbild wie mein unruhiger nächtlicher Traum, den der Gesang der Nachtigall begleitete.

Ich wanderte in einer Welt der Vergänglichkeit. Siebzehn Jahre war ich alt. Ich war frei und sehr glücklich. Ich sang auf meiner Wanderung.

Eines Mittags kam ich, ohne es zu ahnen, zur Quelle der Jugend. An der Umzäunung blieb ich stehen, um einen Blick darauf zu werfen, denn niemand jagte mich fort. Ich sah mehrere schöne Pferde, die man aus ihren Wagen ausgespannt und zum Grasen auf eine Wiese gelassen hatte. Die Dienerschaft hatte Umkleidezelte aufgeschlagen und Tische mit Speisen gedeckt. Schon von weitem waren fröhliches Getrommel und Hornblasen zu hören, denn am Bassin wurde musiziert. In die Musik mischten sich die Rufe und das Gelächter der Badenden.

Das Badebecken war groß und geräumig, sein Rand war mit behauenen Steinen ausgelegt. Dutzende von Menschen hatten darin Platz, und in seiner Mitte befand sich ein Springbrunnen. Auf meiner Wanderung hatte ich viele Bäder gesehen, in denen Alte, Gebrechliche und Lahme in heißen Lehmbädern und wundertätigem Wasser Linderung ihrer Beschwerden suchten. Aber bei der Quelle der Jugend sah ich sofort, dass sie nicht für Kranke bestimmt war, sondern hier war ein Ort sommerlicher Lustbarkeiten, ein Ort für Menschen von Adel und Reichtum. Verzärtelte Hunde sprangen überall umher, Vögel mit farbenprächtigem Gefieder saßen in vergoldeten Käfigen, die an Stangen aufgehängt waren, und einige Gaukler unterhielten die Badenden am Beckenrand.

Auch waren die Badenden nicht alt und hässlich, sondern Männer im besten Alter sowie Frauen, die sich ihrer runden Brüste und weißen Körper nicht zu schämen brauchten. Die Männer stellten übermütig den Frauen nach, die taten, als wollten sie deren schamlosen Händen ausweichen, und die ihre vom Wein geröteten Gesichter mit Wasser bespritzten. Einige hatten sich um die im Wasser schaukelnden Tische versammelt, welche allerlei Speisen, Früchte und Wein trugen. Andere waren mit Würfelspielen beschäftigt, und die Frauen kreischten vor Freude, wenn ihnen ein hoher Wurf geglückt war. Die meisten Männer hatten sich aus Gründen der Schicklichkeit ihre Kleidung um die Lenden geschlungen, aber vielen Frauen, besonders den jüngeren und schöneren, dienten die Haare als einziger Schleier. Das war zu sehen, wenn sie zuweilen gemächlich aus dem trüben Wasser stiegen und sich aus irgendeinem Grunde in ihre mit Samtstoffen verhängten Umkleidezelte begaben.

Das Schimmern der nackten Glieder im Wasser, die Äußerungen von Genuss und Lebensfreude im Verbund mit dem Klang der Trommeln und Hörner hatte etwas so Heidnisches an sich, dass ich glaubte, ich sähe Nymphen und Satyren beim Bade zu. Doch ich ließ mich dazu hinreißen, dem Bild, das sich mir in den goldenen Strahlen der Sonne darbot, einige Zeitlang zuzusehen, da ich unter belaubten Bäumen geschützt war, auch wenn ich die ganze Zeit fürchtete, aufgebrachte Diener würden erscheinen und mich vertreiben, falls ich zu lange bliebe. Aber ich war meiner Wanderung überdrüssig geworden und dachte nicht mehr an den Tod. Bald war meine Aufmerksamkeit durch eine Frau gefesselt, die sich, bis zu den Hüften im Wasser stehend oder kniend, mit den Ellenbogen über den Beckenrand lehnte und aufmerksam in einem Buch las, ohne sich an den ausgelassenen Spielen der anderen zu beteiligen.

Ihr dem Buch zugewandtes Antlitz war schön und stolz. Ganz jung war sie nicht mehr, das sah man an ihren fülligen Schultern und den Umrissen der Hüfte, um die herum ihr blondes Haar in nassen Strähnen wie ein schützender Schleier herabfiel. Um den Hals trug sie ein schmales Perlenband, so als könnte sie sich nicht mal während des Bades von ihrem nichtigen Tand trennen. Einmal trat ein muskulöser Mann mit schwarzen Augen hinter sie und schmiegte sich an ihren Rücken, wobei er so tat, als läse er, über ihre Schultern gebeugt, gleichfalls in dem Buch, fasste ihr dann aber unter den Achseln hindurch und tätschelte mit den Fingerspitzen ihre Brüste. Ohne auch nur den Kopf zu wenden, griff sie nach seiner Hand und schob sie gleichgültig fort, so als wären ihr seine Annäherungsversuche nicht der geringsten Beachtung wert. Der Mann zog sich beschämt vom Beckenrand zurück, während sie weiterlas und die Lippen lautlos mit den Worten bewegte.

Es war wohl eine sehr schöne Frau, zumindest in den Augen eines reifen Mannes, aber ich betrachtete nicht ihre Schönheit. Voller Neugier und Verlangen sah ich nur auf das Buch, dessen prachtvoll verzierte Seiten ihre schmalen Finger gerade zerstreut umblätterten. Ich versuchte zu erraten, um welches Buch es sich wohl handeln könnte. In einem Gebetbuch würde eine Frau wie sie an dieser Quelle der Lebensfreude sicherlich nicht blättern. Philosophische Bücher gingen, wie ich dachte, bestimmt über ihren Verstand. Es war auch schwer vorstellbar, dass sie Latein konnte. Deshalb kam ich schließlich zu dem Schluss, dass es sich um eine der wertlosen Liebesgeschichten in der Volkssprache handeln musste, welche die Ärzte bejahrten Männern zur Aufstachelung ihrer versiegenden Manneskraft zu empfehlen pflegten.

Aber es war trotz allem ein Buch. Viele Wochen lang hatte ich nichts gelesen, denn um überhaupt flüchten zu können, musste ich die wenigen billigen Bücher verkaufen, die ich mir selber auf Papierresten abgeschrieben und dann in Leder gebunden hatte. Auf meiner Wanderung hatte ich mich damit zufriedengeben müssen, mir das, was ich auswendig konnte, in Gedanken aufzusagen und Inhalte, deren Formulierungen mir entfallen waren, in neue Worte zu kleiden. Mich hungerte, aber mehr als all die verlockenden Speisen, welche die Diener an mir vorbei ans Becken trugen, gierte ich nach dem Buch, in dem die füllige nackte Frau am Rand des Beckens las. Deshalb starrte ich hinter der Umzäunung nur darauf und vergaß alles andere.

Die Frau musste meinen starren Blick gespürt haben, denn plötzlich hob sie den Blick vom Buch und sah mich geradewegs an. In ihren Augen lag unverhohlene Neugier. Sie waren dunkelblau und standen weit voneinander ab, was ihr ein nachdenkliches Aussehen verlieh. Im selben Augenblick schlang einer der Männer, der sich hinter ihr vergnügt hatte, seinen Arm um eine vor ihm fliehende Frau, und beide, ineinander verschlungen, ließen sich ins Wasser fallen, so dass eine große Welle über den Rand schwappte und die Seiten des Buches benetzte. Instinktiv ließ ich mich zu einer verzweifelten Geste hinreißen, so als könnte ich noch Schaden abwenden, obwohl es zu spät war, und schrie vor Schrecken auf. Die Frau sah immer noch zu mir herüber, wich dem im Wasser raufenden und kreischenden Paar aus, griff nach dem Buch und schüttelte es achtlos hin und her, um es zu trocknen. Plötzlich lächelte sie, und ich war so verblüfft, dass ich einen Blick hinter mich warf, ehe mir klar wurde, dass ich es war, der sie zulächelte.

Ich war zutiefst erschrocken, und mein erster Gedanke war, mich unverzüglich wieder auf den Weg zu machen, aber das Buch hatte mich verzaubert, und deshalb lächelte ich ihr unsicher zurück, war aber die ganze Zeit bereit, sofort zu flüchten, falls sie mir Übles wollte. Sie schüttelte weiter Wasser vom Buch und blickte mich immer noch an – ob sie nicht wusste, wie man mit Büchern umgeht? Mir wurde wirklich angst und bange um das Buch. Deshalb zögerte ich nicht mehr, als sie mich mit ihren schmalen Fingern zu sich heranwinkte und dabei immer selbstsicherer lächelte, sondern ich ging zum Tor, trat, von niemandem gehindert, ein und ließ mich am Rand des Beckens nieder.

Zu allererst nahm ich ihr das Buch aus der Hand und begann mit äußerster Vorsicht die nass gewordenen Seiten an meinem Hemd abzutrocknen, da ich kein geeigneteres Hilfsmittel zur Hand hatte. Zu meiner Bestürzung sah ich, dass sich an einigen Stellen die Tinte bereits verlaufen hatte, doch gleichzeitig wurde ich mit Verwunderung inne, dass es doch ein lateinischer Text war, der Form nach ein Dialog und außerdem fast kalligraphisch geschrieben; sogar verzierte Initialen fehlten nicht. Verstohlen schlug ich das Titelblatt auf. Als Autor war ein gewisser Laurentius Valla angegeben, und der Titel des ersten Dialogs lautete De Voluptate.

»Es ist ein gottloses Verbrechen«, sagte ich, »ein Buch an einen Ort solch heidnischer Ausschweifungen mitzunehmen und es beschmutzen zu lassen. Diese Blätter müssen mit heißem Eisen gebügelt werden. Aber auch dann noch werden sie Spuren Eurer Nachlässigkeit tragen.«

Besorgt betrachtete ich das Buch und nicht sie, und dabei fühlte ich eine unwiderstehliche Gier in mir, das Buch zu lesen, denn weder der Autor noch das Werk waren mir bekannt.

»Du gehst allzu streng mit einer unwissenden Frau ins Gericht, schöner Jüngling«, sagte sie demütig, aber mit einem Lachen in der Stimme. »Dein finsterer und tadelnder Blick versetzt mich in Furcht. Bist du Mönch oder Bußprediger? Welche Bußwerke wirst du mich zwingen zu verrichten? Ich bin ja ganz hilflos und nackt vor dir und ganz und gar in deiner Gewalt.«

Ich blickte sie an. Ihre Augen standen weit voneinander ab und bemühten sich, ernst dreinzublicken. Mit vorgespielter Schamhaftigkeit hob sie die Arme vor ihre runden Brüste. Die Nägel ihrer schmalen Finger glänzten rosig, und ihre weichen Hände schienen nie zu anständiger Arbeit gebraucht worden zu sein. Das blonde Haar klebte in nassen Strähnen an ihrer weißen Haut. Ihr Kinn war sanft geschwungen. Schön und verführerisch, so mochte sie wohl manchem Mann erscheinen, für mich aber war sie nur die Eigentümerin des Buches, und begierig sann ich darauf, wie ich es von ihr zum Lesen erhalten könnte.

»Ich verstehe mich auf das Kopieren und Binden von Büchern«, sagte ich. »Wenn Ihr mir das Buch anvertraut, werde ich mein Bestes tun, die Schäden, die es erlitten hat, zu reparieren. Ich würde auch keinen Lohn dafür verlangen«, beeilte ich mich hinzuzufügen, als ich ihren unangenehm forschenden Blick auf mir spürte.

Sie befingerte ihr Perlenhalsband und sagte dann zu mir mit leichtem Tadel: »Ich nannte dich: schöner Jüngling. In deiner Antwort hättest du mich ruhig, wenn auch nur aus Höflichkeit, ›schöne Dame‹ nennen können. Aber ich bin wohl nicht besonders anmutig in deinen Augen, denn du begnügst dich damit, nur das Buch in deiner Hand hin- und herzuwenden, ohne dabei einen Blick auf mich zu verschwenden. Oder verletzt etwa meine natürliche Nacktheit, die ja beim Gesundheitsbad nichts Anstößiges hat, dein Schamgefühl?«

»Der Schöpfer lobpreist sich selbst in seinen Geschöpfen, schöne Frau«, sagte ich und ließ meinen Blick so weit auf ihr ruhen, wie ich es zur Befriedigung ihrer Eitelkeit für angemessen hielt. Dann schaute ich wieder aufs Buch. »De voluptate?« fragte ich. »Ist es eine philosophische oder eine theologische Abhandlung?«

Fast hätte sie ihr Lachen nicht zurückhalten können, aber sie zwang sich zur Ernsthaftigkeit und erwiderte: »Um ehrlich zu sein, das ist mir noch nicht klargeworden. Aufgrund meiner schwachen und leicht zu täuschenden Natur hat alles, was mit Lust und Genuss zu tun hat, schon immer mein größtes Interesse geweckt. Aber sicher weisen meine Lateinkenntnisse noch mancherlei Mängel auf, wie es bei einer wohlerzogenen Frau ja auch anders nicht sein kann, denn mir scheint, ich vermag den Gedanken des gelehrten Verfassers nicht ganz zu folgen. Sie faszinieren und erschrecken mich schwaches Weib gleichermaßen. Deshalb würde ich mir jemanden wünschen, der mir die im Buch enthaltenen Gedanken mit seinen Kommentaren erklären könnte, auf dass meine Seele nicht aufgrund irgendwelcher Missverständnisse oder Unklarheiten auf Abwege gerät.«

»Es ist ein geschliffenes Latein«, versetzte ich eifrig. »Wenn Ihr es wünscht, schöne Frau, lese ich es Euch gern vor und erkläre Euch alles, was Ihr mit Eurem schwachen weiblichen Verstande nicht begreifen könnt.«

»Ach«, seufzte sie, »ach, was für ein verlockender Vorschlag! Wahrlich ein Glückstag, da ich auf einen hilfsbereiten und gelehrten Mann treffe inmitten all dieser Spötter, Trunkenbolde und Lüstlinge! Viele dieser adeligen Herren und Ritter sind ja nicht einmal fähig, den einen Buchstaben vom andern zu unterscheiden!«

»Aber wir sollten nicht gleich hier mit unserer Lektüre beginnen«, fuhr sie fort, während sie sich umschaute. »Das hieße zweifellos, Perlen vor die Säue zu werfen, wovor ja auch die Bibel warnt. Suchen wir uns lieber ein ruhiges Plätzchen im Gebüsch, wo kein ungebildeter Zuhörer unseren Gedankenaustausch mit seinem Spott stören kann!«

»Falls ich Euch in die Büsche folgen soll, sähe ich es lieber, wenn Ihr Euch zuerst ankleidet.«

»Ich habe noch einen besseren Vorschlag«, sagte sie und schüttelte sich dabei das Wasser aus den Haaren. »Komm zu mir in die Stadt und nimm ein Mahl mit mir. Sicher bist du hungrig, so wie alle jungen Männer, und außerdem habe ich da noch andere Bücher, die ich ohne fremde Hilfe nicht verstehe.«

Eine Dienerin kam, um sie abzutrocknen und reichte ihr ein großes Stück Stoff, das sie sich um den Leib schlang. »Folge mir in mein Zelt«, forderte sie mich freundlich auf. »Mich stört es keineswegs, wenn du mir beim Ankleiden zuschaust. Ich gestatte dir nicht, dich zu entfernen, ehe du mich nicht unterwiesen hast. Ist doch die Neugier die größte Schwäche des Weibes. Deshalb sag mir, wie alt du bist, wie du heißt, wer dein Vater war, wo du herstammst und welchen Beruf du ausübst.«

Ihr Fragen bereitete mir Verdruss. »Ich bin genauso alt, wie ich Euch scheine«, sagte ich. »Ich forsche auch nicht nach Eurem Namen und Eurer Stellung, edle Frau, sondern ein Menschenkenner erkennt den anderen schon durch bloßes Ansehen. Wenn ich Euch ob Eurer hehren Interessen vertraue, so dürft Ihr gewiss mit meinen besten Absichten rechnen, obgleich ich keinen Namen trage, keine Heimat und nicht einmal ein Vaterland habe so wie alle anderen. Aber Latein habe ich schon mit zwölf Jahren gelernt, die griechischen Buchstaben sind mir vertraut, und ich kann Euch zu mäßigem Preis mit roter Tinte Euer Horoskop zeichnen, wenn Ihr wollt. Und fordert Ihr Empfehlungen, so mögen sie mir Vergil und Cicero, Horaz und Tacitus ausstellen, denn andere Fürsprecher habe ich nicht, und bessere als diese brauche ich auch nicht.«

Ich begann, ihr aus dem Gedächtnis die Eingangsverse der Äneis zu deklamieren, aber sie hielt sich die Ohren zu und rief: »Genug, das reicht, ich glaube ja schon!« Was mir nicht ungelegen kam, denn viel mehr wusste ich nicht auswendig. Das Tuch fiel ihr von den Schultern; ich hob es auf und half ihr, es wieder anzulegen. Meine Hände berührte ihre vom Bade kalte Haut, und sie erbebte, so als hätte ich sie gekitzelt.

»Euer Fleisch, edle Frau, ist weich und weiß, ja, auch schön«, sagte ich. »Dennoch ist euer Fleisch nur aus Erde. Und es birgt in sich nichts weiter als eure Knochen und Zähne. Eines Tages wird ein Wanderer, wie ich einer bin, einen Blick ins Beinhaus bei einer Kirche werfen, und aus einem gelben Totenschädel werden ihn Eure weißen Zähne angrinsen. Von Eurer Schönheit, Eurem Namen, Eurer Familie weiß er nichts. Sind also Name und Herkunft nicht ganz unbedeutende Dinge, wenn man es als Philosoph betrachtet?«

»Zweifellos«, antwortete sie. »Trotzdem darfst du mich Frau Dorothea nennen, denn so heiße ich. Dich könnte ich Moses nennen, denn ich fand dich am Wasser wie die Tochter des Pharaos das Moseskind im Schilf. Aber du bist kein Kind mehr, hoffe ich. Das zeigt dein weicher, beginnender Bartwuchs, und ich hoffe, es werden sich mir auch noch andere Beweise dafür auftun, sofern du nur deine verständliche Schüchternheit besiegst.«

Sie betrat ihr geschmücktes Zelt, und die Dienerin begann ihr das Haar zu kämmen »Frau Dorothea«, fragte ich verwundert, »lässt Euch der Gedanke an den Tod denn ganz kalt?«

»Durchaus nicht«, sagte sie. »Im Gegenteil, ich genieße es sehr, daran zu denken. Sprich also weiter über den Tod, schöner Unbekannter!«

So sprach ich zu ihr vom Tod, während das Mädchen ihr half, ein Kleidungsstück nach dem andern anzulegen, bis ich bemerkte, dass sie, anstatt mir zuzuhören, nur ein Auge für mein Gesicht, meine Wangen, Lippen und Hände hatte. Ihre aufdringlichen Blicke verdrossen mich so sehr, dass ich zu stottern begann und schon daran dachte, mich davonzumachen. Sie aber bot mir sogleich auf einem silbernen Tablett Backwaren dar, die mit Pfeffer und Honig gewürzt waren. Und ich aß, weil ich Hunger hatte. Sie hätte auch ihrer Dienerin geboten, mir Wein einzuschenken, wenn ich nicht sogleich strikt abgelehnt hätte.

»Ich trinke keinen Wein«, sagte ich. »Ich hasse es, mich zu betrinken, und ich hasse Betrunkene.«

Sie verwunderte sich und versetzte: »Liegt nicht im Weingenuss eine der größten Freuden, die einem das Leben bieten kann? Glaubst du, du seist klüger als die heiligen Kirchenväter oder gar Christus? Du bist doch nicht etwa ein Ketzer, junger Mann?«

Ich antwortete, ich wolle mich nicht mit ihr streiten. Aber sagte auch: »Ich will nicht um des Genusses willen leben; der Wein trübt die Klarheit meines Denkens.«

»Ach, ach«, seufzte sie wehmütig. »Ist das Denken etwa nicht von Übel? Es beschert dem Menschen nur Kummer und Schmerzen, oder, schlimmer noch, es gefährdet sein Seelenheil, wenn es die Bahnen verlässt, die durch die bisher gedachten Gedanken vorgezeichnet und für gut befunden wurden.«

»Nein«, widersprach ich. »Der Genuss bedeutet Schmerz und macht den Menschen traurig. Das Denken dagegen hat mich noch nie traurig gemacht, höchstens lässt es mich fühlen, dass ich sehr klein bin. Aber in den besten Augenblicken bewirkt es, dass ich mich groß, ja sogar Gott gleich fühle.«

»Pst, sei still!« warnte sie mich und trank statt meiner von dem Wein. Ihre Lider waren geschwollen, und ihre fülligen Lippen zitterten, als sie trank.

Ich sagte: »Ich hasse den Wein, weil er den Menschen zu seinem Sklaven macht. Und ich mag auch Euren süßen Kuchen nicht, sondern ich würde ihm ein trockenes Stück Brot bei weitem vorziehen. Ich will mich nämlich nicht an Dinge gewöhnen, die ich dann später vermissen könnte, wenn ich mein Verlangen nach Sinnenfreuden befriedigen will. Je weniger der Mensch braucht, desto freier ist er, und ich will vor allem frei sein, damit nichts meine Gedanken bindet.«

Frau Dorothea blickte mich weiterhin mit ihren dunkelblauen, neugierigen Augen an, die so weit auseinander standen, dass sie ihr das Aussehen eines nachdenklichen Raubtiers verliehen. Sie hatte wohl etwas anderes von mir erwartet, denn sie fragte mit echter Verwunderung:

»So bist du mir wirklich nur wegen dieses dummen Buches gefolgt, ohne jeden Hintergedanken?«

Nun wurde auch ich ungehalten und antwortete: »Wie könnt Ihr das Buch dumm nennen, Frau Dorothea? Ihr seid es wirklich nicht wert, ein Buch zu besitzen, und ich habe Eure Absichten gewiss falsch eingeschätzt, als ich Euch folgte.«

Sie nahm zur Stärkung einen Schluck Wein und sagte in versöhnlichem Ton: »Sei mir nicht böse, mein schöner Asket! Hättest du schwer gesündigt und würdest als Buße dein Fleisch kasteien wollen, dann könnte ich dich verstehen. Eine solche Buße ist ja verständlich und normal, denn sie entspricht den Geboten der Kirche. Aber deine Augen sind klar wie reines Wasser, und unter dem Flaum deines Bartes haben sich deine Wangen ihre kindlich-weiche Haut bewahrt. Deshalb glaube ich nicht einmal, dass du zur Sünde fähig bist, selbst wenn du es wolltest. Was also willst du von mir?«

Ich erwiderte, ich wolle überhaupt nichts von ihr – ich hätte mich ihr schließlich nicht aufgedrängt, sondern sie habe mich zu sich hergewinkt. Sie seufzte wehmütig und starrte mich immer noch genauso verwundert an, so als wollte sie herausfinden, ob ich Fisch oder Fleisch sei.

»Du bist doch nicht etwa ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen ist und sich in irdischer Gestalt zeigt, um mich vor einem Leben in Sünde zu warnen?« sprach sie. »Aber nein, so etwas kommt nicht vor, jedenfalls nicht bei einer Frau wie mir. Weißt du, ich muss es dir gestehen: Ich bin ein schlechtes Weib.«

»Das habe ich mir schon gedacht«, gab ich zu.

Sie brach in Lachen aus, und ihr offenes, ungekünsteltes Lachen verlieh ihr mehr Schönheit, als all der Schmuck und die Salben, die ihr die Dienerin auf Wangen und Augenbrauen strich. »Ich werde aus dir nicht schlau«, sagte sie. »Bist du einfältig oder klug? Oder vielleicht doch nur noch ein Kind, obgleich äußerlich ein Mann? Aber irgendein Sinn muss ja darin liegen, dass du mir erschienst, als ich in dem heilenden Wasser saß, gefangen in einem Käfig von Niedergeschlagenheit und körperlichen Gebrechen, nachdem ich nach Wochen und Monaten ausschweifenden Lebens sogar meine Schönheit zu verlieren drohte. Gerade jetzt fesseln mich deine Ideen mehr als die raffinierten und fragwürdigen Gedanken des Laurentius Valla, mit denen ich mich zu trösten suchte.«

Endlich hatte sie es geschafft, in ihren langen himmelblauen Rock zu schlüpfen und erhob sich. Das schöne Kleid beseitigte wie durch Zauberei die dralle Bathseba-Figur, es machte sie schlank, als sie so vor mir stand, einen halben Kopf größer als ich. Ihr blondes Haar war von einem mit Perlen durchsetzten Schleier bedeckt. Ihre Augen waren von der gleichen Farbe wie ihr Gewand, ihr offener Hals zeichnete sich wunderbar weiß gegen das blaue Kleid ab. Auch trug wohl das Halbdunkel des Zeltes dazu bei, sie in ihrem Alter schöner aussehen zu lassen als im klaren Licht des Tages.

»Wie wundervoll«, sagte ich, »jetzt, da ich Euch betrachte, Frau Dorothea, könnte ich Euch für eine Zauberin halten. Vorhin, als Ihr aus dem Wasser stiegt, wart Ihr wie eine weiße tapsige Kuh mit angeschwollenen Eutern, jetzt aber seid Ihr schön wie die Heilige Jungfrau, die von Künstlerhand in blauem Mantel auf die Seite eines Buches gebannt ist.«

Sie geriet ob meiner Worte so sehr in Zorn, dass ihr Antlitz erbleichte und ihre Augen sich weiteten. Ich fürchtete, sie würde mich schlagen und wich vorsichtig zurück, doch zähmte sie ihre Wut, lachte schrill auf und stieß hervor: »Der Junge ist verrückt.«

Mit beiden Händen zog sie sich einen federgeschmückten Hut über den Kopf, und wenige Augenblicke später führte ich bereits ihr Pferd in Richtung Stadt. Sie saß in züchtiger Pose seitwärts im Sattel und bedeckte sich die Füße mit dem Rocksaum. Das Pferd war groß genug, um ihr Gewicht ohne Anstrengung zu tragen, und es ließ sich von mir ganz ruhig am Zaum geleiten.

»Hast du Angst vor Pferden?« fragte sie spöttisch. Ich wollte nicht antworten, denn sie war immer noch wütend auf mich. Dann gab sie sich ihren eigenen Gedanken hin, und während ich auf der staubigen Straße neben dem Pferd einher trottete, fragte ich mich, warum ich dieser eitlen und zuchtlosen Frau so demütig folgte.

In der Stadt führte sie mich in ein Gasthaus, in dem den Sommer über reiche Badegäste logierten. Sie bewohnte ein kühles, schönes Zimmer mit einem reich verzierten Ofen. Sie ließ uns zu essen bringen und nötigte mich, statt Wein wenigstens Bier zu trinken, damit ich ihrem guten Ruf im Gasthaus keinen Schaden zufügte. Ich stillte meinen Hunger und löschte meinen Durst, und ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft so behaglich, dass ich sogar ab und zu lachen musste.

Nach dem Essen zog sie den Vorhang vor dem Bett beiseite, streifte sich die Schuhe von den Füßen und ließ sich rücklings auf das weiche Bett fallen, wobei sie die Hände hinter dem Nacken verschränkte.

»Ich habe über dich nachgedacht«, sagte sie.

»Zerbrecht Euch wegen mir nicht Euren schönen Kopf, Frau Dorothea«, sagte ich abwehrend, presste mich gegen die unbequeme Rückenlehne des Stuhls und streckte die Beine aus.

»Deine Gliedmaßen sind schön, dein Leib ist wohlgeformt, und dein Gesicht angenehm zu betrachten, auch wenn es ein wenig gebräunt ist«, sagte sie. »Mancher Mann von Adel und Reichtum gäbe viel darum, sein Aussehen mit dem deinigen zu tauschen. Warum, du verrückter Knabe, hast du dich nicht bei einem Grafen oder Fürsten als Waffenbursche verdingt? Was brachte dich dazu, das schwarze Gewand und die zerschlissenen Schuhe eines fahrenden Scholaren zu wählen?«

Ihre Anteilnahme flößte mir Vertrauen ein. »Ich habe mich bereits einmal um einen solchen Dienst bemüht«, sagte ich. »Als erstes schickte man mich unter Spottgesängen los, damit ich das Schlachtross meines Herrn sattle und es aus dem Stall in den Hof geleite. Ihr könnt Euch gewiss denken, Frau Dorothea, dass es großes Gelächter gab, als das für den Krieg zugerittene Pferd mit dem Maul nach mir schnappte und mich mit seinen Hufen totgetrampelt hätte, wenn ich mich nicht gerade noch unter eine Brücke geflüchtet hätte. Ich trage immer noch die Spuren seiner Zähne am Leib, direkt unter der Brust. Danach hatte ich kein Verlangen mehr nach einem Dienst bei adeligen Rittern. Es sind rohe und herzlose Männer. Lieber schnitte ich ihnen die Kehle durch, als dass ich ihnen auf ihren Raubzügen folgte und die Armen bedrängte, oder als dass ich bei ihren Gelagen ihr Erbrochenes nach ihnen aufwische.«

Kalt stieß ich diese Worte hervor und versuchte dabei, ruhig Blut zu bewahren, so als hätte ich jene furchtbarste Demütigung meiner Kindheit bereits innerlich besiegt. Dennoch zitterte mir die Stimme, als ich an meine Todesangst zurückdachte, da ich zwischen den geiferigen Zähnen des Rosses hing, oder an meine hilflosen Tränen, während ich mich bis in die Nacht unter der stinkenden Stallbrücke verbarg, bevor ich die Flucht aus der Burg wagte. So verrückt der Einfall eines armen Knaben gewesen war, sich im Vertrauen auf den Edelmut des Ritters in seine Dienste zu begeben, so grausam war auch die Lehre, die ich aus dem Edelmut jener Leute zu ziehen hatte.

Schnell sprach ich weiter, um mich besser zu rechtfertigen: »Als Kind sah ich auch einmal ein Schlachtfeld nach einer Schlacht. Raben pickten an den Leichen der Gefallenen, und die Leichen der erbarmungswürdigen, gehenkten Feinde hingen in den Ästen der Eichen. Ich stand Todesängste aus, als ich, in einem Gebüsch versteckt, eine Ritterschar vorbeireiten hörte und die Erde dabei dröhnte und ihre Rüstungen klirrten. Denke ich an den Reigen der Gerippe, den der Tod hier auf Erden tanzt, so höre ich immer noch den Tod klappernd an mir vorbeireiten. Mich locken die kriegerischen Heldentaten der Ritter nicht. Grafen und Fürsten beneide ich nicht, ich hasse sie.«

Doch um ehrlich zu sein, musste ich mir gestehen, dass ich insgeheim am meisten meinen eigenen wahnhaften Knabentraum hasste, die Vorstellung, auch ich würde einst auf prächtigem Ross in strahlender Ritterrüstung einherreiten, an der Spitze einer vielköpfigen Schar waffentragender Männer. Mich selbst hasste ich deshalb mehr als die Ritter.

Frau Dorothea räkelte sich in ihrer ganzen Schönheit auf dem Bett und sagte mit matter Stimme: »Da magst du recht haben oder auch nicht, ich gebe jedenfalls zu, dass ich die eisernen Fausthandschuhe der Ritter selbst auch nicht liebe. In meiner Jugend war ich ein ziemlich unbedarftes Mädchen, auch dann noch, als ich dem adeligen Ritter, den ich liebte, zur Begrüßung entgegenlief, während er mit wehenden Fahnen auf unsern Hof geritten kam. Man musste den Mann, der von der Schlacht noch ganz erschöpft war, in voller Rüstung aus dem Sattel mit einem Hebezug ins Obergeschoss hochhieven. Der Harn war ihm an den Schenkeln entlang geflossen, da er den ganzen Tag nicht aus dem Sattel gekommen war und sich anders nicht erleichtern konnte. Er war blutbespritzt und stank nach Blut und Harn, als er mir plump und mit ächzender Rüstung entgegentrat und mich triumphierend in seine eiserne Umarmung nahm. Ehe ich überhaupt aufschreien konnte, hatte er mir drei meiner zarten Rippen gequetscht, und danach bin ich den Umarmungen von Rittern stets ausgewichen und bewundere sie längst nicht mehr, mögen sie auch die ruhmreichsten Siege errungen haben.«

Sie schloss die Augen, seufzte und fuhr fort: »Auch der geschickteste Gebrauch von Lanze und Schwert macht aus einem Mann noch keinen guten Liebhaber. Deshalb ist mir als Frau die Umarmung eines gelehrten und klugen Mannes stets viel lieber gewesen als die gewaltsame und schnell sich erschöpfende Liebesgier eines Ritters.« Sie blinzelte mich zwischen ihren halb geöffneten Lidern an und forderte mich auf: »Komm, setz dich hier neben mich aufs Bett, denn da sitzt du ja unbequem, und ich fände es schön, wenn du mich bei der Hand hieltest.«

»Nein, ich will nicht«, sagte ich, »denn ich kenne die Absicht, die dahintersteckt. Wenden wir uns lieber Eurem Buch zu und beginnen einen Gedankenaustausch nach Art der Philosophen, denn sonst müsste ich Euch verlassen. Mir wird es hier zu heiß, und die Luft in Eurem Zimmer ist stickig, denn ich bin ans Wandern im Freien gewöhnt.«

»Ich bin kein Philosoph, sondern eine Frau«, versetzte sie. »Deshalb fällt es mir leichter, mich in einen Gedankenaustausch mit dir einzulassen, wenn du mich bei der Hand hältst. Du bist doch gewiss kein Eunuch, schließlich wächst dir ja ein Bart. Zeig mir, dass du ein Mann bist, oder ich werde böse auf dich.«

So lockte sie mich, bis sie es erreicht hatte, dass ich mich neben sie aufs Bett setzte und ihre weiche Hand in die meine nahm. Mit ihrem scharfen Fingernagel kitzelte sie mir die Handfläche und versuchte, mir direkt in die Augen zu schauen. Ich bemühte mich, Geduld mit ihr zu haben, obgleich ihr Verhalten mich verstimmte. Aber ich glaubte, ihr es wegen der guten Mahlzeit schuldig zu sein, und ich willigte auch ein, sie zu küssen, weil ich glaubte, dann würde sie Ruhe geben, damit ich endlich mit dem Vorlesen beginnen könnte. Ihr Mund war so nass, dass ich vermeinte, ich hätte einen Frosch geküsst. Deshalb zog ich sofort wieder meinen Mund zurück und ließ ihre Hand los, als sie versuchte, sie sich um den Hals zu legen und meinen Kopf gegen ihre Brust drückte.

Als sie begriff, dass ich wirklich nicht so wollte wie sie, begann sie zu seufzen, brach in Tränen aus und sagte: »Um die Wahrheit zu sagen, ich leide an heftigem Liebeskummer. Deshalb habe ich in der Quelle gebadet und mich nach dem Bade von den Männern ferngehalten, die sich um meine Gunst bemühten. Viel gäbe ich dem, der mir meinen Liebeskummer lindern könnte. Ich bin nicht unvermögend, und dank zahlreicher wertvoller persönlicher Beziehungen auch nicht ganz ohne Einfluss. Eine Empfehlung von mir könnte für einen jungen Mann von großem Wert sein, auch wenn er eine Laufbahn als Gelehrter anstrebt. Du bist anders als die anderen, und deine Jugend und Unberührtheit reizen mich dermaßen, dass du meine Gedanken bestimmt in eine andere Richtung lenken könntest als auf diesen ständigen Kummer, der an mir nagt, sofern du mir nur helfen wolltest. Du bist sehr undankbar, dass du mir aus dem Reichtum deiner Jugend heraus nicht das bisschen gönnst, was dich nur wenig Mühe kosten würde und was dir sogar selbst als lehrreiche Erfahrung Nutzen bringen könnte.«

Tatsächlich vergoss sie nun aufrichtige Tränen, so dass ihr Antlitz sich ganz verschmierte und ich Mitleid zu empfinden begann. Aber es fiel mir nicht ein, nun ihren Freudenknaben zu spielen – schon der Gedanke daran war mir zuwider. »Holt einen Arzt, der Euch zur Ader lässt, Frau Dorothea«, riet ich ihr. »Wenn man Euch etwas Blut abzapft, werdet Ihr bestimmt ruhiger. Ihr trinkt zu viel Wein und esst zu stark gewürzte Speisen. Davon erhitzt sich Euer Leib und quillt auf mit ungesunden Säften, was wiederum wirre Gedanken hervorruft, die sich für eine Frau von Stand nicht schicken.«

Ich wurde ihrer Gesellschaft überdrüssig und gab die Hoffnung auf, mich mit dieser eitlen und selbstsüchtigen Frau vernünftig unterhalten zu können. So erhob ich mich enttäuschten Sinnes, um meine Wanderung fortzusetzen. Da wischte sie sich hastig die Tränen ab, ergriff mit beiden Händen meinen Arm und drohte:

»Geh nicht fort, oder ich schreie! Bedenke, dann würde die Dienerschaft herbeigelaufen kommen und sähe dich, wie du mich hier aufs Bett gezerrt hast, um mir Gewalt anzutun. Du wirst nicht einmal erklären können, wie du heißt und wo du herkommst, und mit gefährlichen Gedanken gibst du dich auch ab. Vielleicht wird eine Untersuchung erweisen, dass du ein ketzerischer Begarde bist. Vor dem Richter wird mein Wort mehr wiegen als deines.«

Ihre Niedertracht machte mir wirklich Angst. Aber gleichzeitig verhärtete die Angst mein Herz. Ich schaute sie mit genauso niederträchtigen Blicken an und sprach: »Sicherlich könntet Ihr mir viel Böses antun, wenn Ihr schreien würdet. Aber wenn ich dann schon gehängt werde, will ich lieber als Schuldiger am Galgen baumeln denn als Unschuldiger. Deshalb werde ich dafür sorgen, dass Ihr nicht schreit. Versucht Ihr es trotzdem, schneide ich Euch die Kehle durch – mit diesem scharfen Messer hier, und dann nehme ich mir Euren Schmuck, Euer Geld und Euer Buch, schließe die Tür hinter mir ab und sorge für einen gehörigen Vorsprung, bevor Eure Leiche gefunden wird. Sagt nur ein Wort, dann führe ich es aus, wenn Ihr mich mit solch gemeinen Drohungen in Furcht versetzen wollt.«

Sie richtete sich auf, indem sie sich mit dem Ellbogen abstützte, und starrte mich an, als traute sie ihren Ohren nicht. »Bist du wirklich so streng gegen dich selbst«, fragte sie, »dass du mir lieber die Kehle durchschneidest und dein Leben aufs Spiel setzt, als dass du mit mir ins Bett gehst? Wahrlich, merkwürdige Menschen werden in dieser Zeit des nahenden Weltuntergangs geboren. Wärest du ungläubig oder verrucht, das würde ich verstehen, aber einen jungen Mann, der lieber Wasser als Wein trinkt, ohne Mönch oder Büßer zu sein, der trockenes Brot lieber mag als gebratenes Huhn und der es für eine Verführung des Teufels hält, wenn eine noch einigermaßen schöne Frau mit ihm schlafen will, den verstehe ich nicht. Was hast du nur, mein Freund? Welcher Wahnsinn plagt dich nur?«

Das sagte sie freundlich und aufrichtig um mich besorgt, so als würde sie sich nun eines Besseren besinnen. Deshalb entgegnete ich ihr nun weniger barsch:

»Ich bin gern Euer Freund, denn Ihr besitzt ein Buch und Ihr versteht Latein und könnt deshalb nicht so schlecht sein, wie es nach Euren Worten und Eurem Verhalten den Anschein haben mag. Wenn Ihr mir mit den Waffen des Verstandes und Denkens beweisen könnt, dass die leiblichen Freuden, die Ihr begehrt, stärker sind als die Freuden des Denkens, dann könnte ich Eurem Wunsche nachkommen. Aber ein Buch bereitet mir mehr Behagen als das beste Mahl. Ach, Frau Dorothea, ich habe die Kerzenreste von den Tischen der Reichen zusammengekratzt, um des Nachts die Werke von Dichtern und Philosophen lesen zu können, und deren Gedanken haben mir stets tiefere Befriedigung verschafft, als in den Armen einer Frau zu liegen. Ich habe mich als Abschreiber von Büchern betätigt, um sie dabei lesen zu können, um sie auswendig zu lernen, da ich selber wegen meiner Armut keine besitzen kann. Peinigt mich doch nicht mit etwas, was mir nicht behagt, sondern seid mir wirklich ein Freund und lasst mich Euer Buch lesen. Lasst mich an meinem Wahnsinn festhalten, denn dieser mein Wahnsinn ist für mich ein größerer Reichtum als alle Eure schönen Gewänder, Euer Schmuck und Euer Geld. Und haltet von mir aus ruhig fest an Eurem Wahn, solange Ihr mich da nicht hineinzieht.«

Sie hielt sich die Hände an den Kopf und stöhnte: »Je mehr ich dich anschaue, desto begehrenswerter erscheinst du mir in deinem Wahn. Lies also, aber leise für dich. Stör mich nicht in meiner Verzweiflung und meinem Liebeskummer, sondern lass mich hier in Ruhe daliegen, und sieh mich nicht immer so mit deinen dunklen und gestrengen Augen an.«