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VORSPIEL

Es war an einem der wenigen sonnigen Hochsommertage des Jahres, als am frühen Morgen auf dem Flur der eleganten kleinen Privatklinik ein etwas fülliger Herr mit schon schütter werdendem Haar und in sportlicher Designerkleidung mit fliegenden Fingern nach Münzen suchte, um das Telefon, das in einer Fensternische aufgehängt war, bedienen zu können. »Ein Skandal!«, murmelte der Herr und durchwühlte das Münzfach seiner Börse. »In einem Laden wie diesem sollte man doch erwarten …«

Nur wenige Jahre danach hätte er natürlich eine Telefonkarte gehabt, die die Sucherei überflüssig gemacht hätte, und kaum später dann sicher ein Handy; aber diese Geschichte beginnt zu einer Zeit, als beide Errungenschaften der Technik noch kaum ihre Häupter über den Horizont der Telekommunikation reckten.

Darum musste der Herr noch einige unendlich scheinende Augenblicke suchen, bis er endlich die Münzen zusammenhatte und mit Fingern, die so sehr zitterten, dass er kaum die Tasten des Telefons traf, seine Nummer wählen konnte.

»Margot? Ja! Er ist da!«, brüllte er dann in den Hörer mit einer Lautstärke, die eine vorübergehende Schwester dazu brachte, gleichzeitig zu lächeln, den Kopf zu schütteln und den rechten Zeigefinger mahnend gegen die Lippen zu pressen. »Ja, natürlich ein Junge! Genau um acht Uhr acht!«

Am anderen Ende der Leitung wurde schnell und aufgeregt gesprochen und der Herr fing an zu lachen.

»Das hatte ich völlig übersehen!«, rief er. »Als es gestern Abend losging, war ja noch der siebte! Natürlich, der achte Achte auch noch! Wenn das kein Glück bringt! Wenn das kein Zeichen ist!« Dann wurde auf der anderen Seite gesprochen und der Herr atmete etwas ruhiger.

»Ja, vorsichtshalber mal gleich für dreißig, vierzig Personen«, sagte er. »Bei diesem kleinen neuen Franzosen oder, wenn da für heute Abend schon alles ausgebucht ist …«

Durch das Fenster sah man weiße Dreiecke vor strahlendem Blau, die Segel der ersten Boote, mit denen die Glücklichen aus den Vororten schon früh über den See in der Mitte der Stadt glitten. »Ja, natürlich Champagner! Und das übliche Pipapo, Sie wissen schon.« Der Herr hob den linken Arm vor die Augen und sah auf seine Rolex. »Nein, nur ein kleiner Umtrunk. Rufen Sie an, wen Sie für sinnvoll halten, ich lasse Ihnen da ganz freie Hand. Der Kronprinz ist da.«

Offenbar wurden auf der anderen Seite der Leitung jetzt Glückwünsche geäußert. Der Herr trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Danke, Margot, danke!«, sagte er. »Ich will jetzt wieder zu meiner Frau.« Er hängte den Hörer ein.

Vor dem Fenster schwebten die weißen Dreiecke weiter; der Verkehrslärm drang leise und gedämpft kaum bis auf den Flur.

»Der Kronprinz ist da«, murmelte der Herr. Dann machte er sich auf Zehenspitzen auf den Weg zurück zu der gepolsterten Tür, hinter der seine Frau und sein Sohn sich von den Strapazen der Geburt erholten.

So also verbrachte der Vater von Calvin Prinz den ersten Morgen im Leben seines Sohnes.

 

Zur gleichen Zeit trat am anderen Ende der Stadt ein sehr junger Mann in sehr alten Jeans aus der großen Drehtür des Allgemeinen Krankenhauses und blinzelte müde in den sonnigen Morgen.

Auf dem Besucherparkplatz standen noch kaum Autos und in den Beeten blühten Tagetes und Petunien. Es hätte ein schöner Morgen sein können.

Der junge Mann seufzte. Der Gedanke, jemanden anzurufen, kam ihm offenbar nicht. Seit gestern Abend hatte er auf einem dieser Hartschalensessel gehockt und gewartet, dass es endlich vorbei war. Ein- oder zweimal hatte er überlegt, was es überhaupt bringen sollte, wenn er sich hier auf dem Krankenhausflur die Nacht um die Ohren schlug. Für Jasmin drinnen im Kreißsaal wurde es dadurch nicht leichter; und er konnte später schließlich auch aus der Kneipe anrufen und sich erkundigen, ob das Kind angekommen und ob alles dran war. Aber jedes Mal, wenn er aufgestanden war, um zu gehen, hatte ihn das Gefühl zurückgehalten, dass er sich in seiner Kneipe womöglich noch schlechter fühlen würde als hier auf dem Flur. Also hatte er durchgehalten.

Ein paar Mal hatte eine freundliche Schwester ihm Kaffee gebracht und gefragt, ob er nicht vielleicht doch dabei sein wollte, wenn sein Kind auf die Welt kam, aber er hatte dankend abgewinkt.

Darauf hatte er sich beim ersten eingelassen, aber da war er natürlich noch fürchterlich jung gewesen. Mit Grausen erinnerte er sich an das Stöhnen und an das Blut und an die Gerüche; und vor allem erinnerte er sich an das Gefühl, vollkommen überflüssig und unfähig zu sein.

Schon beim zweiten Mal hatte er darum auf dem Flur gewartet; und dieses Mal hätte er fast auch das nicht bis zum Schluss durchgehalten.

Der sehr junge Mann seufzte. Drei Kinder. Windeln und vollgerotzte Papiertücher und nicht ausgeleerte Töpfchen und Kleidung überall auf dem Boden verstreut. Geschrei jede Nacht und jede Nacht der Versuch, nicht zuzuschlagen, nicht zuzuschlagen, nicht zuzuschlagen. Klebrige Kinderfinger, die an seinen Hosenbeinen zupften, kaum dass er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte.

Er drehte sich entschlossen um und ging zur Bushaltestelle. Die Nachbarin passte auf Ramon und Jacqueline auf und er hätte wahnsinnig sein müssen seine kurze Freiheit nicht zu nutzen. Die Kneipe öffnete um zehn und irgendwen würde er dort bestimmt auch um diese Zeit schon treffen. Dann konnten sie auf den neuen Sohn anstoßen und Witze darüber reißen, was für ein potenter Bock er war. Hatte die Schwester gesagt, es war ein Sohn? Er war ziemlich müde.

Der Bus fuhr in die Haltebucht und der junge Mann stieg durch die Mitteltür ein. Er wollte nicht daran denken, dass er in der Falle saß bis ans Ende seines Lebens. Irgendwo, noch weit in seinem Hinterkopf, formte sich vielleicht schon an diesem Morgen der Gedanke, dass er gehen würde, wenn er es nicht mehr länger aushalten konnte.

 

So also verbrachte der Vater von Kevin Bottel den ersten Morgen im Leben seines Sohnes.

1. UND VOR MIR STAND ICH SELBER

CALVIN

Kein Mensch wird mir diese Geschichte glauben, das ist schon klar. Wenn ich ehrlich bin, würde ich das ja selber nicht. Wenn sie mir nicht passiert wäre, mir, Calvin Prinz.

Ich meine, ich bin eigentlich eher so ein nüchterner, vernünftiger Typ, nichts mit Esoterik und Pendeln und wer weiß, ob auf dem Mars nicht doch kleine grüne Männchen leben. Da läuft mir ja direkt ein Schauder über den Rücken bei solchem Gerede.

Andererseits passieren natürlich schon manchmal Sachen, die eher unwahrscheinlich sind, das muss jeder zugeben. Achtlinge werden geboren und grauhaarige Männer segeln allein im Einbaum von Amsterdam nach Feuerland; und was alles im Guinnessbuch der Rekorde steht, will ich hier gar nicht erwähnen. Das sind doch auch alles Dinge, mit denen man nicht direkt rechnet.

Ich bin also an diesem Nachmittag schon mit schlechter Laune nach Hause gekommen. In der Mathearbeit hatte ich eine Fünf geschrieben und damit bestand für die Versetzung eigentlich kaum noch eine Chance. Das Wetter war so grässlich, dass niemand geglaubt hätte, dass es nach dem Kalender demnächst Sommeranfang sein würde, und mir grauste vor dem Hockeytraining um fünf. Die Voraussetzungen waren also schon mal schlecht. An solchen Tagen kommt ja meistens vieles zusammen.

Als ich über die Terrasse ins Haus ging, war Momma noch nicht da, aber im oberen Stockwerk saugte Margareta, unsere polnische Putzfrau, gerade den Flur. Auf dem Monitor meines letzten PCs klebte einer dieser Post-it-Zettel und teilte mir mit, dass Momma noch bei der Fitness war. Um das Essen würde Margareta sich kümmern.

Ich hatte nichts dagegen. Wenigstens musste ich dann nicht sofort meine Fünf beichten und Mommas Gejammer ertragen. Bei jeder schlechten Klassenarbeit prophezeite sie mir eine Zukunft unter der Brücke, und wenn ich dann den Mut aufbrachte, zu sagen, dass ich doch sowieso später die Firma übernehmen würde, mit oder ohne Abitur, brach sie erst recht zusammen. Weil die Firma nämlich die nächsten Jahrzehnte offenbar nur mit einem Chef überstehen würde, der mindestens Betriebswirtschaftslehre studiert hatte, und um zu studieren, braucht man Abitur, und das schenkt einem nun mal keiner, wenn man ständig Fünfen schreibt.

Dabei glaubte ich übrigens ganz bestimmt, dass es Momma in Wirklichkeit mehr darum ging, bei ihren Golf- und Tennisfreundinnen nicht beichten zu müssen, dass ihr Einziger sitzen geblieben war. Die hatten nämlich alle ganz reizende Kinder, die in der Malschule Preise gewannen und Halbprofis auf der Violine waren, und an Sitzenbleiben war bei denen natürlich schon gar nicht zu denken. Überhaupt waren diese Damen alle ziemliche Lügenbeutel, wenn mich einer fragt. In der Diele drehte sich der Schlüssel im Schloss.

»Halloooo, halloooo?«, rief Daddo mit dieser fröhlichen Stimme, die er immer hat, wenn er einige Tage nicht zu Hause war. »Keiner da?«

Oben saugte Margareta unerschütterlich weiter. Sie war schließlich nicht gemeint.

Ich steckte den Kopf durch die Esszimmertür. »Hi«, sagte ich.

»Der Sohn!«, sagte Daddo, und einen Augenblick sah es so aus, als ob er die Arme ausbreiten wollte, damit ich mich hineinstürzen konnte. So hatten wir es nämlich früher immer gemacht, wenn Daddo von seinen Reisen zurückgekommen war. Er hatte die Arme ausgebreitet und ich hatte mich hineingestürzt; und Daddo hatte mich aufgefangen und noch im Schwung begonnen sich mit mir zu drehen, dass meine Beine vom Boden abhoben und wie Windmühlenflügel über den Marmorboden schwebten. Erst danach packte er dann die Geschenke aus, die Reisemitbringsel, die er meistens noch eilig nach der Landung am Flughafen gekauft hatte; aber der Grund, warum ich mich lange, viele Jahre lang, immer so sehr auf Daddos Rückkehr gefreut hatte, war dieser kurze Augenblick gewesen, in dem wir beide durch die Diele wirbelten.

Diese Zeiten waren natürlich vorbei.

»Alles okay?«, fragte er, noch mit dem Reiseglück auf dem Gesicht.

Ich nickte. »Wo bist du gewesen?«, fragte ich.

Daddo ging ins Wohnzimmer und ließ sich aufs Sofa fallen. »Schon wieder Chicago, weißt du doch«, sagte er. »Wir sind da jetzt besser im Geschäft, als man glauben sollte, Sohn. Wo ist Momma?«

»Die bekämpft ihre Orangenhaut«, sagte ich.

Daddo lachte. »Nächstes Mal nehme ich dich vielleicht mit«, sagte er. »Langsam wird es Zeit, dass du den Laden mal kennenlernst, Sohn.«

Ich nickte. Vier Tage Chicago waren auf alle Fälle besser als vier Tage Schule. Dafür war ich schon mal bereit, mir Daddos stundenlange Erklärungen und Daddos Begeisterung und Daddos Erzählungen über die Geschichte der Firma anzuhören.

»Wie alt bin ich?«, fragte Daddo und beugte sich vor. Jetzt konnte man sehen, wie müde sein Gesicht unter der Bräune war.

Ich seufzte. Ich wusste, was kam, wenn Daddo diese Frage stellte, und fast hätte ich mir gewünscht, dass Momma da gewesen wäre und unser kleiner Austausch über das Leben unter der Brücke hätte wie gewohnt stattfinden können.

»Zweiundsechzig?«, sagte ich. Obwohl Daddo natürlich nicht so aussieht. Schließlich geht in unserer Familie nicht nur Momma zur Fitness.

Daddo nickte. »So ist es, mein Sohn, so ist es«, sagte er. »Da gehen andere in Rente. Geh ich in Rente?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass er jetzt gerne etwas darüber gehört hätte, wie jung er aussah und wie fit er war und dass er mich im Tennis immer noch locker schlug; aber irgendwie brachte ich das nicht so richtig über die Lippen. »Eben!«, sagte Daddo. »Geh ich nicht, keine Sorge. Ich fühl mich wie vierzig. Aber in zehn Jahren fühl ich mich dann also wie fünfzig, und da sollte man dann doch schon anfangen an den Ruhestand zu denken.«

Oben wurde der Staubsauger ausgeschaltet und man konnte hören, wie Margareta irgendein polnisches Volkslied sang. Margareta sang immer bei der Arbeit und immer sang sie auf Polnisch.

»In zehn Jahren also!«, sagte Daddo. »Dann bist du dran, Sohn. Bis dahin muss das klappen. Da musst du den Laden übernehmen, damit ich noch ein paar Jahre mit meiner Jacht durch das Mittelmeer kreuzen kann. Oder durch die Karibik.«

»Du hast doch gar keine Jacht«, sagte ich. Es war ein Versuch. Aber Daddo ließ sich nicht ablenken.

»Zurzeit hätte ich ja auch nichts davon«, sagte er. »Aber in zehn Jahren steht das an, Sohn, glaub mir. Dann bist du hier der Boss.«

Ich nickte. Spätestens seit meinem zehnten Geburtstag hatten wir regelmäßig solche Gespräche geführt und ich beneidete jeden, der nicht irgendwann einen Betrieb mit 54 Beschäftigten übernehmen musste.

»Also wie stehen die Aktien?«, fragte Daddo und stützte seine Hände auf den Oberschenkeln ab. »Verlust oder Gewinn gemacht?«

Dass das Gespräch auf diesen Punkt zulief, hatte ich die ganze Zeit gewusst; und genau darum versuchte ich noch einmal, ihm eine für mich günstigere Wendung zu geben.

»Ich könnte gut einen neuen Rechner brauchen«, sagte ich. »Meiner hat immer noch 1,2 Gigabyte und Markus hat jetzt einen gekriegt …«

»Gewinn oder Verlust?«, fragte Daddo, und jetzt war auch das letzte bisschen Reiseglück von seinem Gesicht verschwunden.

Ich merkte, wie sich meine Schultern ohne mein Zutun meinen Ohren näherten. »Ich bin nicht dazu gekommen, nachzugucken«, murmelte ich.

Aber jetzt saß Daddo ganz aufrecht. »Nicht dazu gekommen?«, rief er und mit der rechten Hand schlug er kurz und heftig gegen die Sofakante. »Vier Tage lang nicht dazu gekommen? Ich dachte, das Thema hätten wir schon mehrfach besprochen, Calvin!«

Ich nickte. Ich nickte, weil es weiß Gott und wahrhaftig stimmte. Wir hatten das Thema nicht nur mehrfach, wir hatten es so oft besprochen, dass ich inzwischen fast die gleiche Angst davor hatte wie vor einer Mathearbeit.

Zum Geburtstag hatte Daddo mir für 10 000 Mark Aktien geschenkt. Klamotten hätte ich schließlich genug, hatte er gesagt, ein neues Schlagzeug hätte ich auch erst vor drei Wochen gekriegt und einen neuen Rechner vor zwei Monaten. Aus dem Alter für LEGO Technic war ich raus, meine Hockeysachen kriegte ich sowieso immer, wenn ich sie brauchte, Video und der ganze Kram war Weihnachten erst erneuert worden, und einen Flug nach New York hatten sie mir zu Ostern geschenkt. Ihnen war einfach kein richtiges Geschenk mehr eingefallen.

Und ich war natürlich auch keine große Hilfe gewesen. Immer, wenn Momma mich so flehentlich angeguckt und gefragt hatte, was ich mir denn wünschte, hatte ich geradezu Schweißausbrüche gekriegt, weil mir nun wirklich nichts einfiel, und dabei legt Momma immer so großen Wert darauf, dass ich mich über meine Geburtstagsgeschenke freue.

Trotzdem war mir zum Geburtstag nichts mehr eingefallen, und darum war Daddo dann auf seinen genialen Gedanken gekommen, und ich musste jetzt die Folgen tragen.

Daddo hatte mir Aktien geschenkt. Für 10 000 Mark Aktien, von jeder Sorte ein paar.

Ich hatte VW und BASF und natürlich auch ein paar Telekom. So sehr hatte es mich schon gleich nicht interessiert. Und Daddo hatte gesagt, dass die zum Üben wären, ein Junge, der später mal einen Betrieb mit 54 Beschäftigten und Kontakten in alle Welt übernehmen sollte, konnte gar nicht früh genug damit anfangen, sich fürs Wirtschaftsleben zu interessieren.

Darum hatte Daddo sich an den Tagen nach meinem Geburtstag immer abends mit mir an den Esstisch zurückgezogen und den Wirtschaftsteil der Zeitung aufgeschlagen. Da hatte er mir dann die Aktienkurse gezeigt und welche gestiegen waren und welche gefallen, und er war dabei so aufgeregt und fröhlich gewesen wie vor vielen Jahren, als ich zu Weihnachten die riesige Eisenbahnanlage gekriegt hatte, fünf mal sechs Meter, die sie im zweiten Spielkeller hatten aufbauen lassen. Damit hatte Daddo auch bestimmt eine ganze Woche lang jeden Abend mit mir spielen wollen und wir hatten rote Schaffnermützen aufgesetzt und in kleine schwarze Trillerpfeifen geblasen und manchmal hatten wir die Züge mit Absicht zusammenstoßen lassen.

Aber nach einer Woche hatte Daddo dann wieder zu viele andere Verpflichtungen und alleine habe ich mich nicht zum Spielen in den Keller getraut. Ich war ja noch ziemlich klein damals, vielleicht vier oder fünf.

Und so furchtbar viel anders ging es mir jetzt mit den Aktien auch nicht. Ein paar Tage lang hatte Daddo mit mir Börse gespielt und mir erklärt, warum man diese Aktie jetzt vielleicht verkaufen sollte und warum es andererseits manchmal längerfristig durchaus sinnvoll sein konnte, an einem Aktienpaket festzuhalten, auch wenn die Kurse einmal fielen.

Mich hatte das alles nicht sehr interessiert, aber ich hatte mir Mühe gegeben. Weil Daddo so begeistert gewesen war wie ein kleiner Junge, wirklich. Aber jetzt erwartete er von mir, dass ich allein jeden Tag die Börsenkurse abcheckte und ihm dann sagte, was ich kaufen oder verkaufen wollte; und dabei konnte ich mir kaum irgendetwas vorstellen, das mich mehr gelangweilt hätte als diese blöden Papiere und der DAX und der Nikkei-Index und der Dow Jones.

»Du hättest längst verkaufen müssen!«, rief Daddo. »Weißt du, wie viel Verlust du eingefahren hast durch deine Schlamperei? Wenn du später mit der Firma mal genauso umgehst, hast du sie in weniger als einem Jahr zugrunde gewirtschaftet!«

»Das sind doch nur 10 000 Mark!«, sagte ich vorsichtig. Ich fand es nicht sehr fair, dass Daddo jetzt so tat, als ob von meinen paar Pfennigen wirklich etwas abhing.

»Nur 10 000 Mark!«, schrie er. »Nur! Als ich so alt war wie du, Sohn, da hatte ich in der Woche dreißig Pfennig Taschengeld!«

Fast hätte ich mir gewünscht, dass es mir genauso ginge. In der Diele hörte ich wieder den Schlüssel im Schloss. »Momma kommt«, sagte ich.

KEVIN

Natürlich hatte Nisi an diesem Nachmittag wieder ihren Schlüssel verbummelt, das tut sie ja oft, das dumme Kind, und ich war total wütend, weil ich natürlich schon wusste, welcher Ärger deswegen auf mich zukommen würde, einfach, weil ich immer zu gutmütig bin. Andererseits muss man nachträglich vielleicht sagen, dass es ein Glück war: Weil ich ohne den Streit, den ich wegen der Schlüsselgeschichte mit Mama hatte, eben niemals weggerannt wäre, und wenn ich nicht weggerannt wäre, wäre die ganze Story nicht passiert. Die Story, die ich jetzt erzählen werde, auch wenn sie mir kein Schwein glaubt.

Sowieso war ich ziemlich schlechter Laune, als ich an diesem Mittag nach Hause kam. Am Morgen in der Mathestunde hatte ich mich mit Tatjana gestritten und deswegen hatte ich eine Strafarbeit auf, von der ich wusste, dass ich sie nie im Leben machen würde; und das bedeutete natürlich, dass ich am nächsten Tag wieder Ärger mit der Mathelehrerin kriegen würde, dieser panischen kleinen Maus, und dazu hatte ich nicht so viel Lust. Dabei hätte sich die Strafarbeit leicht vermeiden lassen, aber ich war eben mal wieder zu blöde gewesen.

Tatjana und ich sind eigentlich schon ewig so eine Art von befreundet, jedenfalls seit Tatjana nach Deutschland gekommen ist, und das war ungefähr in der vierten Klasse. Da hat es sich irgendwie so ergeben, und es war auch manchmal ganz praktisch. Für uns beide, meine ich. Aber von großer Liebe kann natürlich nicht die Rede sein.

An diesem Morgen war nun Sabrina zwei Stunden zu spät in die Klasse gekommen, erst in der Pause vor der Mathestunde, und hatte ihren Rucksack auf den Tisch geknallt.

»Es hat geklappt!«, hatte sie gesagt. »Ich bin in der Kartei!« Mich hatte das nicht so besonders interessiert. Ich stand mit Fabian am Klassenfenster und versuchte auf die Köpfe der Leute zu spucken, die unten vorbeigingen.

»Welche Kartei?«, fragte Özden.

Sabrina strich mit den Handballen seitlich an ihrem Body herunter, als müssten da irgendwelche Falten ausgebügelt werden. Dabei saß er so stramm, dass man jeden Pickel durch den dünnen Stoff hätte sehen können. Wenn jemand wie Sabrina Pickel gehabt hätte.

»Kleinstrollen, aber na ja«, sagte Sabrina und versuchte im Spiegel zwischen den Fenstern einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. »Fernsehen, Shows, so Kram. Das war der totale Nerv, bis die mich endlich genommen haben.«

Die Mädchen stießen schrille Schreie der Begeisterung aus und versammelten sich um Sabrina. Natürlich hatten einige sofort die Hoffnung, dass sie durch Sabrinas Vermittlung jetzt ins internationale Showbiz aufsteigen und Thomas Gottschalk und Richard Gere Hand und Mund würden reichen dürfen.

Nur Tatjana hockte gelangweilt auf ihrem Tisch und zog ein Kaugummi lang.

»So eine bescheuerte Scheiße«, sagte sie langsam. Sie sagte es nicht mal besonders laut, es ist also erstaunlich, dass es über dem ganzen Weibergekreische überhaupt zu hören war. Aber so ist Tatjana eben.

»Du bist ja nur neidisch!«, schrie Zekriye, und komisch, obwohl ich Sabrina und ihre Gefolgsfrauen bis eben genauso blöde gefunden hatte, wie Tatjana das offenbar tat, fand ich jetzt, dass Zekriye wahrscheinlich recht hatte.

Weil Sabrina nämlich einfach unanständig gut aussieht, das ist eine Tatsache. Sie hat eine Figur, an der Hennes und Mauritz aussieht wie Marc Cain oder Max Mara, nur dass ich von diesen Marken damals natürlich noch nichts gehört hatte. Und ihr Gesicht verrät mit keinem Zug, dass der Schädel dahinter vermutlich zu 90% vakuumversiegelter Hohlraum ist. Ihre Schönheit ist alles, was Sabrina hat, aber die hat sie auch hundertpro und sie arbeitet stündlich daran. Sabrina ist zum Beispiel das einzige Mädchen in der Klasse, das niemals raucht und niemals Alk trinkt, weil sie sagt, davon geht die Haut zu Schrott. Alle Models müssen enthaltsam leben. Eigentlich hätten wir ihr also gönnen sollen, dass sie in diese Kartei gekommen war, aber das tat Tatjana ganz offensichtlich nicht.

War es da nicht logisch, dass wir Neid vermuteten? Tatjana ist immer noch nur 1,48 groß und ihr Gesicht ist rund und ihre Waden sind ein bisschen dick, und ich konnte mir beim besten Willen keine Kartei vorstellen, in die eine Agentur Tatjana hätte aufnehmen wollen.

»Neidisch? Bist du durchgeknallt oder was?«, schrie Tatjana und sprang vom Tisch. Natürlich ist sie klein, aber das hindert sie nicht daran, kämpferisch zu sein.

Sabrina musterte sie von oben bis unten. »Ich nehm dir nichts übel, Schätzchen«, sagte sie. »Wenn ich aussehen würde wie du, wäre ich logisch auch neidisch.« Und damit wandte sie sich wieder ihrem Fanklub zu.

Dass in diesem Augenblick die Mathemaus hereinkam, änderte natürlich nichts an der Situation. Ich will nicht sagen, dass es nicht vielleicht den einen oder anderen Lehrer gegeben hätte, bei dessen Eintreten wir uns stöhnend zu unseren Plätzen begeben hätten; aber die Mathemaus war bestimmt keine von ihnen.

Von uns glaubten sowieso nicht mehr viele, dass sie den Hauptschulabschluss durch irgendetwas anderes als die pure Güte der Lehrer kriegen würden, und keiner in dieser Klasse war dumm genug zu vermuten, dass eine gute Mathenote irgendetwas zum Besseren verändern würde. Gute Mathenoten waren so ähnlich wie der Weihnachtsmann: Seit einem bestimmten Alter wusste man einfach, dass man uns ihre Existenz jahrelang nur deshalb eingeredet hatte, um uns lieb und artig zu halten.

»Guten Morgen, geht bitte an eure Plätze«, sagte die Mathemaus ohne viel Hoffnung und packte ihre Tasche aus. Sie guckte natürlich nicht in die Klasse, um zu sehen, ob irgendwer tatsächlich auf ihren Vorschlag reagierte; wahrscheinlich hätte sie diesen Anblick nicht sechs Stunden täglich ertragen können.

Tatjana hatte sich inzwischen auf Sabrina und ihre Gruppe zubewegt. »Hast du was gesagt, du Schlampe?«, schrie sie, und die Mathemaus schlug die Seitenflügel der Tafel auf und begann ohne ein Wort die schweinischen Zeichnungen abzuwischen, die Bruno in der Pause produziert hatte. In Kunst hat Bruno eine Eins.

»Wenn ich deinen Arsch hätte«, sagte Sabrina gelangweilt, »ich würde mich erschießen.«

Tatjana atmete einmal tief durch. »Du widerliche alte …« Dann fiel ihr Blick unglücklicherweise auf mich und ich wusste sofort, dass es ein Fehler gewesen war, von Fabian wegzugehen und mit der Kunstspuckerei aufzuhören, nur um mitzuerleben, wer in diesem Weiberduell die Siegerin sein würde. Jetzt steckte ich mittendrin.

Tatjana nämlich hörte mitten im Satz auf und sah mich an, als ob sie etwas erwartete. Da war mein Urteil gesprochen. Ich begriff nicht sofort, was sie von mir wollte.

Ja, ja, das war dumm von mir, ich weiß. Wenn einer einem Typen die Braut beleidigt, springt der natürlich sofort mit gezücktem Degen auf die Bühne, um sie zu verteidigen, das weiß ich auch; aber in dem Augenblick dachte ich eben grade mal nicht so direkt daran, dass Tatjana sozusagen meine Braut war, so heiß war die Liebe schließlich nicht; und darum begriff ich auch gar nicht, was die ganze Geschichte mit mir zu tun haben sollte, bis Tatjana meinen Namen sagte.

»Kevin?«, sagte sie in so einem Ton, dass ich endlich begriff. Sie wollte, dass ich mich für sie in den Kampf warf; aber blöderweise hatte Sabrina gerade den Körperteil beleidigt, den zu verteidigen ich irgendwie peinlich fand.

»Nun setzt euch aber endlich mal auf eure Plätze!«, sagte die Mathemaus, und obwohl niemand von ihr Notiz nahm, klang ihre Stimme nicht aufgeregt oder wütend. Unser Verhalten war das, was sie kannte und seit Jahren erwartete. Wenn wir uns plötzlich wirklich brav auf unsere Plätze gesetzt hätten, wäre sie vor Verblüffung vermutlich tot auf den schmutzigen Linoleumboden geknallt.

»Ja, Kevin, los, erzähl mal!«, schrie Sabrina. »Du kennst sie doch, oder? Du hast doch bestimmt schon mehr von ihr gesehen als wir! Los, sag mal, Kevin!«

Özden und Zekriye und die grässliche kleine Jessica kicherten und starrten mich an.

»Ach leckt mich doch alle!«, sagte ich wütend. Dann ging ich an meinen Platz, und es war mir ganz egal, ob die Mathemaus wegen meines Gehorsams einen Schlaganfall kriegte oder nicht.

»Du alter Scheißkerl!«, schrie Tatjana und sprang auf mich zu. »Du blöder alter Scheißkerl!« Und dann schlug sie mir ihre Faust ins Gesicht, dass ich nur froh darüber war, dass ich meine Zahnspange vor ungefähr vier Jahren beim Fußball in der Umkleidekabine vergessen und mir nie eine neue besorgt hatte.

Einen Augenblick lang tat es saumäßig weh und ich spürte, dass mein vorderer rechter Eckzahn sich oben in die Lippe gebohrt hatte. Hinter mir stöhnte Sabrinas Fanklub.

Ich bin ein sanfter, ruhiger Mensch, das kann jeder beschwören. Ich habe bestimmt noch nicht mehr Nasen blutig geschlagen, als es die Statistik für mein Alter empfiehlt, und ich musste auch erst zweimal wegen Prügeleien zum Schulleiter. Das ist so weit unter dem Durchschnitt, dass es mich fast schon beunruhigt.

Aber wenn mir eine voll eins auf die Zähne gibt, nur weil ich nicht aufgesprungen bin und die Schönheit ihrer Sitzkiste verteidigt habe, stößt auch meine Sanftmut an ihre Grenzen. »Tickst du nicht mehr richtig?«, schrie ich und dann packte ich Tatjanas Arm und drehte ihn so nach unten, dass sie auf die Knie ging und immer weiter, bis sie auch den Oberkörper vorbeugte, als ob sie das Linoleum ablecken wollte. »Hast du sie noch alle?«

Und weil ich Frauen aus Prinzip nicht schlage, ließ ich Tatjana danach los und setzte mich zum zweiten Mal.

Nun hätte man ja erwarten können, dass die Mathemaus mir einen freundlichen Blick zugeworfen hätte, weil ich fast der Einzige war, der saß, und noch dazu an meinem eigenen Platz. Aber Lehrer sind sonderbar, kein Mensch kann ihre Gedanken ergründen. Statt mit ihrem dicken Zeigefinger mit dem roten Nagel liebevoll auf mich zu zeigen und dem Rest der Klasse nahezulegen, sich an meinem Vorbild zu orientieren, spießte sie mich in völlig anderer Absicht auf.

»Bottel!«, sagte sie. »Kevin Bottel! Ich gestatte keine Prügeleien in meinen Stunden!«

Und dann gab sie mir die Strafarbeit auf, Seite 46, Nummer fünf bis sieben im grünen Mathebuch, und dabei war ich noch nicht mal sicher, ob ich das Buch noch besaß, und wenn ja, wo es wohl stecken konnte.

Darum war mein Stimmungsbarometer an diesem Mittag an seinem tiefsten Punkt angekommen. Dass Nisi dann auch noch ihren Schlüssel verloren hatte, konnte mich eigentlich schon nicht mal mehr überraschen.

CALVIN

Momma gab Daddo einen Kuss und ließ ihre Sporttasche auf den Boden fallen.

»Ach, schön, Liebling!«, sagte sie und strahlte ihren Duft durch die ganze Diele ab.

Cerruti 1881, das schenkte ich ihr schon seit Jahren zu jedem Weihnachtsfest und zu jedem Geburtstag. Da weiß man wenigstens immer ein Geschenk. »Hast du eine Maschine früher gekriegt?«

»Es lief alles so glatt«, sagte Daddo und befreite sich sanft aus Mommas Umarmung. »Kein Grund mehr, länger zu bleiben. Gut siehst du aus.«

Momma lachte und versuchte einen Blick in den Dielenspiegel zu erwischen. »Dann können wir ja alle zusammen essen«, sagte sie. »Margareta? Haben Sie das Mittagessen fertig?«

Man hörte Margaretas eilige Schritte im oberen Stockwerk, dann griff sie schon nach Mommas Tasche. Früher hatten wir mal eine Putzfrau gehabt, die nur geputzt hatte, nicht auch weggeräumt. Die hatte Momma nicht lange behalten. »Kommt gleich auf den Tisch«, sagte Margareta. »Ist aber Gemüsesuppe. Ich wusste ja nicht, dass die gnädige Frau und der gnädige Herr …«

»Gemüsesuppe ist wunderbar, Margareta«, sagte Momma. Zu Anfang hat sie immer versucht, Margareta abzugewöhnen sie gnädige Frau zu nennen; aber Margareta hat darauf bestanden. Was sich gehört, das gehört sich nun mal, hat sie gesagt. Ich glaube, Margareta ist klug.

»Ihr erlaubt doch«, sagte Momma und zeigte auf ihre Trainingskleidung. »Nicht erst noch umziehen, oder? Ich habe einen Hunger wie ein Bär«, und sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, während Margareta lautlos zwei zusätzliche Gedecke auf den Tisch stellte. »Und, Calvin? Wie war dein Tag?«

Ich seufzte und schob den Löffel auf der Platzdecke hin und her. »Ging so«, sagte ich ohne hochzugucken. »Wie immer.« Aber Momma kann man schwer reinlegen. Sie hat nur zwei Aufgaben im Leben, aber beide erfüllt sie gewissenhaft und pflichtbewusst. Die erste besteht darin, dafür zu sorgen, dass sie mit fast sechzig noch immer aussieht wie höchstens Mitte vierzig, damit sie auf kleinen und größeren Empfängen vorzeigbar ist; und die zweite bin ich.