Über Robert Merle

Robert Merle (1908–2004) hat mit der Romanfolge »Fortune de France« über das dramatische Jahrhundert der französischen Religionskriege sein wohl bedeutendstes Werk vorgelegt. Er erzählt darin die Geschichte dreier Generationen der Adelsfamilie Siorac, zunächst auf Burg Mespech in der Provinz Périgord, später am Hof in Paris. Die insgesamt dreizehn Romane der Folge, die den Zeitraum von 1550 bis in die vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts überspannen, liegen nun alle in deutscher Übersetzung vor:

Fortune de France

In unseren grünen Jahren

Die gute Stadt Paris

Noch immer schwelt die Glut

Paris ist eine Messe wert

Der Tag bricht an

Der wilde Tanz der Seidenröcke

Das Königskind

Die Rosen des Lebens

Lilie und Purpur

Ein Kardinal vor La Rochelle

Die Rache der Königin

Der König ist tot

Informationen zum Buch

Sommer 1572. Der junge Pierre de Siorac, Sohn eines hugenottischen Edelmannes aus dem Périgord und gerade frischgebackener Mediziner, muß sich – wegen eines Duells von des Todesstrafe bedroht – in die Hauptstadt flüchten, die Gnade des Königs zu erflehen. Er ist tolerant im Glauben und schlagfertig, listig, intelligent im Leben, dazu von unwiderstehlicher Ausstrahlung auf Frauen – Talente, die ihm bei seinem gefahrvollen Vorhaben sehr von Nutzen sind. Er lernt das Paris der kleinen Leute kennen, aber auch den prunkvollen, düsteren Louvre. Er hofiert hohe Damen, die wahre Kokotten sind. Er begegnet den Günstlingen der Prinzen und den großen Geistern der Zeit. Seinem Geschick verdankt er es, daß er schließlich dem König vorgestellt wird und seine Begnadigung erlangt. – Aber in Frankreich tobt seit zehn Jahren ein mörderischer Glaubenskrieg zwischen Katholiken und Hugenotten, der in der Nacht des 24. August – der Hochzeitsnacht der katholischen Königstochter Marguerite mit dem »Ketzer« Henri de Navarre – ihren blutigen Höhepunkt erreicht. Und auch Pierre de Siorac wird in den Strudel der Bartholomäusnacht gerissen.

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Robert Merle

Die gute Stadt Paris

Roman

Aus dem Französischen von Edgar Völkl

Inhaltsübersicht

Über Robert Merle

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Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Impressum

Erstes Kapitel

Eines weiß ich mit Gewißheit: es stehet mit uns wie mit dem Meere, dessen Stille nur trügt. Darunter ist alles Bewegung, Unruhe, Aufruhr. Ebenso findet der Mensch keine Zufriedenheit, seine Seele keinen Frieden. Kaum ist er eines Glückes teilhaftig, verlangt es ihn nach einem anderen.

Als ich Herrn de Montcalms Schloß verließ, war ich erfüllt von dem Glück, meinen Vater nach so langer Trennung wieder heil und gesund an meiner Seite zu wissen, erfüllt von der Freude, mich mit ihm auf den Weg nach Sarlat und meinem vielgeliebten Mespech zu begeben: das Herz schlug mir höher bei dem Gedanken an all seine Bewohner. Allein, meine Freude war nicht ungetrübt, und das Herz wurde mir immer wieder schwer, ließ ich doch Angelina de Montcalm und das ungewisse Glück zurück, welches wir uns geschworen und als dessen Unterpfand ich einen blaubesteinten Ring am linken kleinen Finger trug, welchselben sie mir im Erker des Ostturmes von Barbentane geschenkt.

Als »ketzerischer« Hugenott und Zweitgeborener ohne Vermögen, so dachte ich, war es da nicht vermessen, eines Tages um ihre Hand anhalten zu wollen, falls sie, der ablehnenden Haltung Herrn de Montcalms nicht achtend, überhaupt zu warten gewillt war, bis ich in langen, mühevollen Jahren die Stufenleiter erklommen, den Doktortitel erworben und mich als Medicus niedergelassen, um endlich in der Lage zu sein, ihr eine Ehe entsprechend ihrem Stande und – wie ich dafürhalten möchte – auch entsprechend dem meinen zu bieten?

Himmel! wie liebte ich sie! Und wie schrecklich, wie entmutigend war der Gedanke, sie zu verlieren. Denn welche Hoffnung verblieb mir – trotz all meines Glaubens an ihr gegebenes Wort – angesichts der Tyrannei eines Vaters, des quälenden Drängens einer Mutter, der Bedenken der Geliebten selbst, unverheiratet zu altern in schier endlosem Warten, dessen glückliches Ende nicht gewiß sein konnte in diesen unsicheren Zeiten, da das Leben eines Mannes, gar eines Hugenotten, nicht schwerer wog als das eines Huhnes?

Doch inmitten dieser dunklen Gedanken, die mir schier das Herz erdrückten, war es ein Labsal, mir im Geiste ihren graziösen, schmeichelnden Gang vorzustellen, den zärtlichen Blick ihrer großen glänzenden Augen, ihre bewundernswerte Herzensgüte. Wahrlich, dachte ich bei mir, du hast dich in deiner Wahl nicht geirrt: solange du auch suchen magst, du würdest in der ganzen Welt keine andere Frau finden, die soviel Herz mit soviel Schönheit vereint.

Mein Vater hatte gewollt, daß wir den Weg über die Cevennen nahmen und also durch die Berge nach dem Périgord ritten, da er den zwar weiteren, aber bequemeren Weg über Carcassonne und Thoulouse als zu gefahrvoll erachtete. Nach dem Überraschungsangriff von Meaux, bei dem die Führer der Reformation, Condé und Coligny, um ein Haar den König gefangengenommen hatten, wütete nunmehr der Krieg im Königreich zwischen Hugenotten und Katholiken, und da sich die vorgenannten Städte in der Hand der Papisten befanden, hätte ihre Durchquerung Gefahr für unser Leben bedeutet, obgleich wir wohlbewaffnet waren. Doch mein Vater, die beiden Vettern Siorac, ich selbst, mein Halbbruder Samson, unser Diener Miroul, unser Gascogner Cabusse und der Steinbrecher Jonas, wir waren nur acht Mann: genug, sich der unterwegs im Hinterhalt lauernden Wegelagerer zu erwehren, aber zu wenig, um den Kampf mit den Kriegsmannen der königlichen Offiziere zu bestehen.

In Sarlat und im ganzen Sarladischen Land hatten selbst die Papisten (außer den ärgsten Fanatikern) Achtung vor uns, da mein Vater ein königstreuer Hugenott war, der niemals den Degen gegen seinen König gezogen; zudem hatte er während der Pest die Stadt mit Lebensmitteln versorgt und sie danach von dem Schlächterbaron zu Lendrevie und seinen Erzbösewichtern befreit. Doch in Carcassonne und Thoulouse waren wir niemandem bekannt, und da jeder Hugenott in jener Zeit als Rebell galt, der sogleich zu ergreifen und abzuurteilen war, hätte das für uns den sicheren Tod bedeuten können.

Sobald die Bergstraße für den Trab zu steil wurde, ließen wir unsere schweißbedeckten Rösser im Schritt gehen, und mein Vater, der jetzt an meiner Seite ritt und mich so nachdenklich sah, »schwarzen Gedanken nachhängend« (wie meine arme Fontanette gesagt hätte), ersuchte mich, ihm von meinem Leben als Scholar zu Montpellier zu berichten, doch in größeren Einzelheiten als in meinen Briefen und ohne etwas zu verblümen noch hinwegzulassen.

»Mein Herr Vater«, sagte ich, »so Ihr einen wahrhaftigen und ehrlichen Bericht wollet, lasset uns unserer Schar ein Stück vorausreiten. Aus Feingefühl möchte ich nicht von unseren Vettern Siorac oder unseren Leuten gehört werden und vor allem nicht von meinem vielgeliebten Bruder Samson, dessen Unschuld ich mit meinem Bericht allzusehr zu verletzen fürchte.«

Worauf mein Vater, aus vollem Halse lachend, zustimmte, seinem Pferd die Sporen gab und mit mir ein Stück vorausritt. Von meinem Leben, meinen Mühen, meinen Liebschaften, von den großen Widrigkeiten, Freuden und Gefahren, die mir zu Montpellier und Nismes begegnet waren, berichtete ich getreulich alles, ohne etwas zu verschweigen außer dem höchst beklagenswerten Ende meiner armen Fontanette; nicht daß ich es ihm hätte verhehlen wollen (ebensowenig die Rolle, die ich dabei gespielt), sondern weil ich befürchtete, bei meinem Bericht in Schluchzen auszubrechen, wie es mir in Barbentane zu Füßen meiner Angelina ergangen war.

»Mein Herr Sohn«, sprach mein Vater, als ich geendet, »Ihr seid ein Heißsporn voller Mut, der schnell seinem Mitgefühl, aber auch seinem Zorn nachgibt. Ihr waget zuviel. Ihr wollet stets alles Unrecht tilgen. Dies ist ein edeles, doch gefährliches Streben. Eure Bedachtheit in Euerm Tun ist ebenso groß wie Eure Unbedachtheit vor Euerm Tun. Beherziget stets die Weisheit: Zweifel, Vorsicht und Geduld sind die Nährmütter großer Taten. Wenn Ihr lange leben wollt in diesem grausamen Jahrhundert, so haltet Euch an diese Weisheit. Nehmet Rücksicht auf das Schicksal, so wird es Rücksicht auf Euch nehmen. Nosse haec omnia, salus est adolescentis.1«

Während er so sprach, betrachtete ich meinen Vater und war ganz gerührt, daß er seine Rede erwartungsgemäß mit einem Ciceroschen Zitat abschloß, denn der Held von Ceresole und von Calais war auf sein elegantes Latein fast ebenso stolz wie auf seine medizinische Kunst, der er sich ursprünglich verschrieben hatte. Er saß in tadelloser Haltung auf seinem Pferd, und mit seiner kräftigen wohlgewachsenen Gestalt ohne einen Ansatz von Dickleibigkeit, seinen blitzenden blauen Augen und dem trotz seiner fünfzig Jahre kaum ergrauten Haar erschien er mir so, wie ich ihn immer gekannt hatte.

»Mein Herr Vater«, sprach ich, »Eure Rede ist wohl wahr. Ich danke Euch für den weisen Rat und werde danach streben, meinen Mangel an Bedachtsamkeit auszugleichen. Allein«, so fuhr ich fort »wäret Ihr wohl Baron, Herr Baron von Mespech, wenn Ihr nicht alles gewagt hättet in Eurem ersten Duell, welches zur Folge hatte, daß Ihr den Arztberuf mit dem Waffenhandwerk tauschen mußtet?«

»Pierre de Siorac«, sagte mein Vater mit gestrenger Miene, »dies war ein Gebot der Ehre, und die Ehre stehet höher als das Leben. Doch könnt Ihr das gleiche sagen von den Gefahren, in die Ihr Euch begeben? Zum ersten steht doch außer Zweifel: wer sich mit einer reichen Dirne abgibt, dem droht Gefahr durch eines Gauners Messer.«

»Es ist dem Leichtfuß auch übel bekommen!«

»Und dabei hat er noch Glück gehabt. War es nicht gegen jedes Gesetz, daß Ihr mit Euren Gefährten die beiden Toten auf dem Friedhof zu Saint-Denis ausgrubet, sie zu sezieren?«

»Das hat der große Vesalius auch getan.«

»Und hat dabei sein Leben riskiert! War es weiter auch zum Zwecke der Sezierung, daß Ihr mit einer bezaubernden Zauberin auf dem Grabe des Großinquisitors Unzucht getrieben?«

»Ich mußte sie um jeden Preis von dem Ort der Grabesöffnung entfernen.«

»Entfernen?« sprach Jean de Siorac, »indem Ihr solcherart in sie dranget? Wahrlich, eine seltsame Art des Entfernens!«

Er lachte bei diesem kleinen Scherz, was auch ich tat, jedoch nicht ohne den Gedanken, daß er an meiner Stelle wohl ein Gleiches getan hätte, da jeder Weiberrock – auch wenn es nicht der einer Zauberin war – ihn magisch anzog.

»Und drittens, mein Herr Sohn«, fuhr er fort, wobei seine Miene wieder ernst wurde, »was hat Euch angefochten, daß Ihr den gottlosen Abbé Cabassus mit Eurer Büchse auf dem Scheiterhaufen totschosset?«

»Ich tat es aus Mitgefühl. Er litt gar große Schmerzen.«

»Und es war ebenfalls aus Mitgefühl, nehme ich an, daß Ihr den Bischof Bernard d'Elbène zu Nismes gerettet?«

»Gewiß.«

»Und das war recht getan. Es war ein Gebot der Ehre, einen ehrlichen Gegner vor feigem Mord zu bewahren. Jedoch für die Grabesöffnung, das Totschießen und die Unzucht gibt es keine Entschuldigung. Wo bleibt bei all dem das Gesetz, die Vernunft, die Umsicht? Ihr habt gehandelt wie ein Tollkopf!«

Ich schwieg dazu, ohne jedoch den Kopf zu senken, denn Demütigkeit lag nicht in meiner Natur.

»Mein Herr Sohn«, fuhr Jean de Siorac in höchst ernstem Ton fort, mich Auge in Auge anblickend, »ich habe beschlossen, daß Ihr nicht nach Montpellier zurückkehrt, solange unser Krieg mit den Papisten andauert.«

»Aber Herr Vater!« rief ich voller Schrecken und Bestürzung, »meine Medizinstudien! Was wird aus ihnen während all dieser Zeit?«

»Ihr werdet sie in Mespech mit meiner Hilfe weiter betreiben, indem Ihr fleißig in Euren Büchern studieret und mit mir zusammen sezieret.«

Worauf ich schwieg, nicht wissend, was ich antworten sollte, denn sosehr ich aus tiefstem Herzen Mespech mit seinen Ländereien liebte, erfüllte mich doch der Gedanke, eine so lange Zeit weit entfernt von Montpellier und – ich sage es offen – von Barbentane weilen zu müssen, mit großer Trauer und Betrübnis.

»Mein Pierre«, sprach darauf Jean de Siorac, der meine Gedanken erraten hatte, in milderem Ton, »grämet Euch nicht: eine große Liebe wird durch Trennung nur noch größer. Überdauert sie eine solche nicht, war sie nicht groß genug.«

So wahr diese Worte waren, vermochten sie mich dennoch nicht vollends zu trösten.

»Mir ist allein an Eurer Sicherheit gelegen«, sprach er, »und deshalb will ich Euch von den Wirren in Montpellier fernhalten, solange sich dort Hugenotten und Papisten im Namen Christi gegenseitig die Kehle durchschneiden.« Nach kurzem Schweigen fuhr er mit einer gewissen Traurigkeit in seinen sonst lebhaften und fröhlichen Augen fort: »François ist mein Ältester, also wird er Mespech erben. Und Ihr wißt, was von ihm zu halten ist. Doch Ihr, mein Zweitgeborener, glänzet durch so viel Mut und Talent, daß es Euch unzweifelhaft gegeben sein wird, dem Namen, den Ihr tragt, eines Tages zu großem Glanz zu verhelfen. Indes seid Ihr von heftiger Natur, unbedacht und vorschnell im Handeln. Also will ich mit Gottes Hilfe Euer Leben schützen, denn Ihr besitzet nur eines, und ich möchte nicht, daß Ihr es in der Blüte Eurer Jugend verliert, was mir in meinen alten Tagen großen Schmerz und Kummer bereiten würde. Mein Pierre, ich sage es freiheraus: Ihr bedeutet mir mehr als mein Baronat.«

Auf diese Worte, die mich zutiefst bewegten, schwieg ich, die Kehle wie zugeschnürt und Tränen in den Augen, denn mein Vater hatte mir noch nie offenbart, wie groß seine Liebe zu mir war, obgleich seine Rede gewöhnlich seinen Gedanken sehr nahe folgte, denn er war – wie ich, den er so geprägt hatte – ein freiherziger Mensch, der außer vor seinen Feinden nichts zu verbergen pflegte.

Oh, Leser! Wie herzlich wurde ich in Mespech aufgenommen (wo wir weniger als vierzehn Tage nach unserem Aufbruch von Barbentane anlangten, da wir manchen Tag kein Quartier gemacht und in schärfster Gangart geritten waren); wie glücklich fühlte ich mich als Liebling des ganzen Schlosses, wohlgelitten und verwöhnt von allen, ob Herren oder Gesinde, und meinerseits allen zugetan bis zum letzten Knecht; wie groß war meine Freude über das Wiedersehen mit meiner geliebten Amme Barberine, die mich mütterlich in die Arme schloß und an deren Busen ich mich abends schmiegte, ohne mich zu beschämen. Allein, sobald mein Vater Briefe aus dem Norden erhielt (und in diesen unruhigen Zeiten zirkulierten die Nachrichten schnell von Hugenott zu Hugenott), drang ich in ihn, sie lesen zu dürfen, und verschlang sie sogleich, immer auf den Sieg unserer Seite hoffend, das Ende dieses blutigen Krieges ersehnend, das ich aus Liebe zu den Menschen und zum Königreich, aber auch um meinetwillen, um meiner Rückkehr nach Montpellier und um meiner Angelina willen aus ganzer Kraft herbeiwünschte.

Gewiß, das Kriegsglück war uns nicht abhold, ganz im Gegenteil. Mit kaum zweitausend Mann waren Condé und Coligny in ihrer unglaublichen Kühnheit nach Paris vorgestoßen und hatten in dieser riesigen, ganz den Papisten ergebenen Stadt die zwanzigtausend Soldaten des Konnetabel de Montmorency eingeschlossen.

Ein wahres Wunder: die Fliege belagerte den Elefanten. Mehr noch: sie hungerte ihn aus. Sie plünderte die Dörfer, so sie sie nicht besetzt hielt wie Saint-Denis, Saint-Ouen und Aubervilliers, leerte die Scheunen, brannte die Mühlen nieder, fing die Viktualientransporte ab. Das Brot aus Gonesse gelangte nicht mehr in die Hauptstadt. Der Markt zu Saint-Cloud war leer, weder Butter noch Fleisch kamen mehr aus der Normandie.

Die vom Hunger geplagten und in ihrem Haß von den eifernden Pfaffen aufgereizten dreihunderttausend Pariser fieberten danach, über die Handvoll frecher Hugenotten herzufallen, deren Kühnheit der großen Stadt spottete. Doch der Konnetabel suchte Zeit zu gewinnen. Er zögerte, den Kampf aufzunehmen, nicht etwa, weil er beabsichtigte – wie man ihm vorwarf –, Condé und Coligny zu schonen, die seine eigenen Neffen waren (welch bezeichnendes Sinnbild dieses brudermörderischen Krieges!), sondern weil er in seiner übergroßen Vorsicht und seiner von Arroganz überdeckten Mittelmäßigkeit die Ankunft der spanischen Verstärkung abzuwarten gedachte, ehe er den Angriff wagte.

Doch die Tumulte, die daraufhin unter den Parisern ausbrachen, zwangen ihn dazu; und in seinem Zorn darüber, daß sie ihren Willen gegen ihn behauptet hatten, setzte der rachsüchtige Konnetabel als Vorhut noch vor den Reihen der Schweizer die Pariser Bürgerwehr ein, wohlbeleibte Männer, die ihre Schmerbäuche unter Goldtressen und blitzenden Waffen verbargen. Coligny stürzte sich mit seinen weißgewandeten mageren Gesellen auf sie, überrannte sie und schlug sie in die Flucht. In ihrem wilden Rückzug brachten die dicken Bürgerlein die Kampfordnung der Schweizer völlig durcheinander, was der Konnetabel in seiner Kurzsichtigkeit nicht vorauszusehen vermocht hatte.

Der türkische Botschafter, welcher sich auf dem Hügel des Dörfchens Montmartre postieret hatte, daß er das Geschehen besser überblicke, wußte sich kaum zu fassen vor Erstaunen über den Mut und die Kühnheit unserer Weißröcke. »Wenn Seine Hoheit diese Weißröcke hätte«, rief er aus, »würde er um die ganze Welt ziehen, und nichts könnte ihn aufhalten.«

In der Tat, nichts konnte Condé aufhalten, der an der Spitze seiner Reiter direkt auf den Konnetabel vorstieß. Was war das für ein Getümmel! Einer der Gefährten Condés, der Schotte Robert Stuart, welcher früher von den Papisten grausam gefoltert worden, kämpfte sich zu Montmorency durch und schoß ihn mit seiner Pistole über den Haufen.

Nun der Befehlshaber des königlichen Heeres tot war, zog sich unsere kleine Armee, die zuwenig Mannen zählte, um siegen zu können, ungeschlagen nach Montereau zurück, wo sie versuchte, ihre Reihen aufzufüllen, während Paris sich die von den hugenottischen Wölfen geschlagenen Wunden leckte und gleichfalls bestrebt war, seine Verluste wieder auszugleichen. So stellte sich eine Art Waffenstillstand ein, welcher den ganzen Winter andauerte, da jede Seite sich für den entscheidenden Angriff zu stärken suchte. Wie endlos schien mir jener Winter in meinem zinnenbewehrten Logis! Um so mehr, da er in unserem Perigord voller Raureif und Schnee war und mir diese Kälte nach der linden Luft von Montpellier gar sehr in die Glieder fuhr. Ich schrieb nach Montpellier an meinen »Studienvater«, den Kanzler Saporta, an meinen Quartierherrn, Meister Sanche, an meinen Studiengenossen Fogacer. Ich schrieb alle Tage, die Gott werden ließ, an meine Angelina. Und einmal schrieb ich an Madame de Joyeuse und an die Thomassine.

Letztere, so muß ich sagen, fehlten meinen Sinnen wie Angelina meinem Herzen. Nicht daß ich – sei es auch nur in Gedanken – meinem schönen Engel hätte untreu werden wollen, ganz gewiß nicht! Allein, wie sollte ich die Bitterkeit und Pein der Enthaltsamkeit so lange ertragen, da ich ein gar großes Verlangen nach dem holden weiblichen Körper in mir trug? Dazu dürften sich die animalischen Geister, welche den nicht zu bezähmenden Organen (von denen ein jedes bestrebt ist, seinen Daseinszweck um jeden Preis zu erfüllen) entspringen, nicht in solcher Menge in die Kanäle des Hirns drängen. Denn sobald unsere täglichen Vergnügen unterbrochen sind, lockt die Abstinentia selbige Geister in großer Menge hervor, und wir sehen uns tyrannisiert von unseren Träumen – des Tages, wenn wir unbeschäftigt sind, und des Nachts, sobald der Schlaf uns flieht. Indem nun mein Denken derart von Liebesverlangen beherrscht war, erinnerte ich mich wieder und wieder der Wonnen, welche ich gar viele Male im Nadelhaus der Thomassine und im Palais de Joyeuse genossen, was mich bei genauerer Überlegung doch recht verdroß, denn ich hätte immer nur von denen träumen wollen, welche ich mir mit Angelina erhoffte. Aber ach! wie wahr ist das Sprichwort aus unserem Périgord: Bratenduft allein macht nicht satt, und der Vorgeschmack von künftigem Liebesglück vermag den bescheidenen Brotkanten nicht zu ersetzen, welcher zur Hand ist, wenn der Magen leer und das Wasser im Munde zusammenläuft.

Gegenwärtig hatte ich jedoch gar nichts, weder himmlische Ambrosia noch irdischen Brotkanten, da ich in Mespech eingesperrt saß wie in einem Kerker und es mir verboten war, mich in Sarlat oder auch nur in unseren Dörfern zu zeigen, so sehr fürchteten die Herren Brüder (womit ich meinen Vater und Sauveterre meine), daß in diesen unruhigen Zeiten mein Leben in Gefahr kommen könne.

Während meiner Abwesenheit hatte sich mein Onkel Sauveterre verändert: sein Haar war noch stärker ergraut, der Hals in der kleinen hugenottischen Halskrause gemagert; sein verletztes Bein stark nachziehend, lief er griesgrämig umher, kaum drei Worte am Tage sprechend (und davon noch zwei aus der Bibel), mit mißbilligender Miene mehr denn je grommelnd über Jean de Sioracs Schwäche für Franchou, das ehemalige Kammermädchen meiner verstorbenen Mutter, obgleich er den Bastard, David geheißen, wohl leiden mochte, den mein Vater mit der Schönen gezeugt und welcher nun schon ein Jahr alt war.

Franchou, die ihn noch säugte, war bereits wieder schweren Leibes und sehr erfreut, daß der Baron ihr bedeutet hatte, ihm wäre auch ein Mägdlein recht, da es, wie er sagte, mit Jacquou und Anet (meinen Milchbrüdern, den Söhnen meiner Amme Barberine) und meinem Halbbruder David auf Mespech schon kleine Buben zur Genüge gebe und er diesmal etwas Hübsches wolle, das mehr Freundlichkeit in unsere alten Mauern hineinbringen möchte. Welchselbe Worte bewirkten, daß Franchou sich ohne Furcht den Freuden der kommenden Mutterschaft überließ, da sie gewiß sein konnte, daß die Frucht ihres Leibes in jedem Falle willkommen wäre, denn wenn mein Vater auch ein Mägdlein wollte, so hat man doch niemals einen Mann gesehen, der über männliche Nachkommenschaft die Nase gerümpft hätte.

Ah! welch ergötzliche Tischgesellschaft waren wir des Sonntags in jenem Winter trotz der Kälte und des Schnees, wenn Cabusse mit seiner Cathau von Le Breuil heraufkam, unser Steinbrecher Jonas mit der Sarrazine aus seinem Haus an der Grotte und Coulondre Bras de Fer mit seiner Jacotte aus der Beunes-Mühle, die drei Frauenzimmer trefflich anzusehen in Sonntagsstaat und Spitzenhäubchen, jede mit einem Kindelein auf dem Arm, ohne Franchou zu vergessen, welche von allen am stolzesten war, weil ihr David einen Baron zum Vater hatte. Zum Ende des Mahles (das an solchen Tagen höchst deliziös war) geschah es dann, daß die eine oder andere der vier ihr Mieder aufschnürte und eine weiße Brust hervorholte, um ihr Kind zu säugen; nur die Cathau drehte sich dazu um, weil Cabusse gar eifersüchtig war. Allein, der Anblick der drei anderen reichte hin, das Auge zu erfreuen und das Herz zu rühren, und von der Stirnseite des Tisches her unterbrach mein Vater mit der Hand Sauveterres ernste Rede, daß er schweigend die Schönheit dieses Anblickes genösse, an dem er sich nicht sattsehen konnte, so sehr liebte er das Leben. Sauveterre hingegen hielt die Augen gesenkt – überzeugt, das Weib sei nur Sinnestrug und Seelenverderb oder bestenfalls kurze Freude und lange Sorge, doch immerhin erfreut, daß sich auf Mespech die kleinen Hugenotten mehrten, welche nach uns die Fackel der wahren Religion auf dieser Erde weitertragen würden.

»Ach!« rief meine Barberine aus beim Anblick der Jacotte, welche ihrem Kinde die Brust gab, das den Vornamen Emmanuel trug und ganz im Unterschied zu seinem wortkargen Vater Coulondre Bras de Fer ein Schreihals war, desgleichen man in diesen Mauern noch nicht gehört hatte. »Ach! meine Zeit ist vorbei!« (Sie seufzte.) »Was bleibt mir hier, seit Madame nicht mehr ist?« (Letzteres sprach sie mit leiser Stimme, um Moussu lou Baron nicht zu betrüben.) »Was bin ich noch nütze, da ich nur verstehe, meine Milch zu geben wie eine arme Kuh im Stalle? Als Madame noch unter uns war, da ließ ich mich, sobald sie schwanger ging, von meinem Manne ebenfalls schwängern, so daß die Frau Baronin nur eine Aushilfsamme brauchen möchte, bis ich niederkäme und meine Milch schösse. Doch was tue ich alljetzt? Das Herz möchte mir zerspringen, wenn ich sehe, wie diese vortrefflichen jungen Weibspersonen ihren prächtigen Kleinen die Brust geben und sie mit ihrer guten Milch reichlichst säugen, wie ich es einst mit den keinen Sioracs getan. Ach, ich Ärmste! Was soll ich noch hier? da ich nicht einmal Braten oder andere Speise zu bereiten vermag wie die Maligou und auch nicht das Haus zu versorgen wie die Alazaïs.«

»Barberine«, sprach ich, »ist es etwa nichts, François de Siorac genährt zu haben, der Baron von Mespech werden wird? Und mich, der ich einst Medicus in der Stadt sein werde? Und meine kleine Schwester Catherine, welche hübsch genug ist, eines Tages einen hohen und mächtigen Herrn zu heiraten?«

Worauf Catherine errötend die Lider über ihre himmelblauen Augen senkte, vor Verlegenheit ihre blonden Zöpfe ergriff und deren Enden in den Mund steckte. Sie hatte gerade ihr dreizehntes Lebensjahr erreicht wie auch die Gavachette (die Tochter, von der die Maligou sagte, sie stamme von einem Zigeunerhauptmann, welcher ihr vermittels Zauberkraft fünfzehnmal Gewalt angetan in ihrer Scheune), und ich erinnerte mich gut, wie wütend meine kleine Catherine mit drei Jahren wurde, wenn ich die Gavachette auf meinen Schultern trug; die Tochter der Maligou war heute schon ein Weib und meine Schwester noch immer nur ein Kind, dessen einzige Schönheit ihr liebliches Gesichtchen war: ganz Milch und Blut, mit blauen Augen, blondem Haar, Kirschmund und Stupsnäschen; denn der Körper zeigte noch keine weiblichen Rundungen, die langen Beine waren noch ganz dünn, das Hinterteil flach und der Busen kaum gewölbt.

Deutlich wurde ich dieses Unterschiedes den darauffolgenden Tag gewahr, als ich, von Zimmer zu Zimmer schlendernd, den Raum im Ostturm betrat, den mein Vater im Spaß die »Badestube« nannte: vor dem Kamin, darin ein kräftiges Feuer loderte, war ein eichener Zuber aufgestellt, den Alazaïs, die Maligou und Barberine mit heißem, dampfendem Wasser aus der Küche gefüllt hatten.

»Ha! mein Pierre!« rief Barberine, »entferne dich, mein Kleiner! Es schickt sich nicht für einen Knaben, die Mägdelein im Bade zu beschauen!«

»Wie!« rief ich aus, »ist Catherine nicht meine Schwester? Und die Gavachette in gewisser Weise auch? Habe ich sie nicht beide in meinen Kindestagen mehr als hundertmal nackt gesehen?«

Während ich so sprach, näherte ich mich, die Hände auf die Hüften gestützt, dem Zuber und genoß das Vergnügen, die beiden jugendhaften Schönheiten in natura zu betrachten. Hochrot im Gesicht, tauchte Catherine sofort bis zum Hals ins Wasser, die Gavachette jedoch, keck, wie sie war, sprach plötzlich:

»Ich bin jetzt sauber genug, Barberine!«

Worauf sie ohne Scham in voller Nacktheit aus dem Zuber stieg, sich in wechselnden Stellungen vor dem Kamin plazierte, damit das Feuer sie trocknen sollte, und mich, mit den Lidern zwinkernd, aus großen dunklen Augen unter ihrem tiefschwarzen Haar hervor verstohlen anblickte. Ich brauchte mich nicht zu rühren, um das schöne Kind von allen Seiten mit den Augen liebkosen zu können: sie drehte und wendete sich gar eifrig, die mattbraune Haut vom Feuer gold überglänzt, Leib und Glieder schlank und anmutig, die Brust straff und bereits wohlgerundet, unter der zierlichen Taille das Hinterteil höchst vollkommen geformt, weder zu knöchern noch zu dick.

»Oh, du Schamlose!« schrie meine kleine Schwester Catherine, die blauen Augen dunkel vor Erregung. »Schamlose, verderbte Person! Liederliche Dirne! Willst du dich wohl bedecken, dunkelhäutiges Zigeunerweib! Weißt du nicht, daß es eine gar schlimme Todsünde ist, vor einer leibhaftigen Mannsperson zu zeigen, was du zeigst?«

»Geh, geh, meine kleine Perle!« sprach Barberine lachend, »nicht der Blick ist sündig, nur der Gebrauch. Sehen ist nicht kosten. Und kosten ist nicht verspeisen. Doch das eine kann aus dem andern entstehen, wie man wohl weiß. Und du, mein stolzer Hahn«, fuhr sie, zu mir gewandt, fort, »dir habe ich es schon einmal gesagt: Entferne dich! Ich weiß nicht, wofür noch für wen unser Herr diesen schönen Pfirsich hier bestimmt hat, und also steht es dir nicht an, solange du es nicht weißt, Gavachette mit deinen begehrlichen Blicken den Kopf zu verdrehen.«

»Meine gute Barberine«, sagte ich, indes ich zu ihr trat und sie auf Wange, Hals und Brustansatz herzte (zu meinem Vergnügen wie um sie zu besänftigen), »ich tue es ohne Arg, wie du dir wohl denken magst!«

Ich denke vielmehr das Gegenteil, du Schelm!« antwortete Barberine halb lachend, halb erbost. »Das Feuer schlägt dir aus den Nüstern wie dem Schälhengst auf der Weide, und es ist ein Jammer, daß du nicht deinem Bruder François davon abgeben kannst, welcher weniger Leidenschaft besitzt denn ein Hering im Faß.«

»Er ist so ganz ohne Leidenschaft nicht«, sagte ich, »denn er träumt beständig von seiner Diane de Fontenac.«

»Träumen ist eine Speis ohne Würze, wenn am Ende nicht die Erfüllung stehet. Und wie sollte François die Tochter des ärgsten Feindes von Mespech je heiraten?«

Diese Worte ließen mich an meine Angelina denken und an das Hindernis, welches die Religion ihrer Eltern (obgleich sie mir recht zugetan waren) für unsere Liebe darstellte, und Trauer zog in meinen Sinn, so daß ich die Badestube gar nachdenklich verließ. In dem Verlangen, meiner »schwarzen Gedanken« ledig zu werden, lenkte ich meine Schritte nach dem Saale, darin der Gascogner Cabusse meinen Bruder François in der Fechtkunst unterwies; François grüßte mich mit dem Degen, wobei sein Gesicht jedoch ohne Lächeln blieb und sein Auge ohne Glanz, denn er empfand gar wenig Liebe für mich, ganz im Gegensatz zu meinem Halbbruder Samson, welcher sich bei meinem Anblick sogleich von seinem Schemel erhob, mich gar herzlich umarmte und wohl ein dutzendmal küßte; in seiner Schönheit, Stärke und Unschuld war er wie ein Engel Gottes anzusehen. Ich setzte mich zu seiner Seite nieder und schaute, seine Hand in der meinen haltend, auf François, welcher – um der Wahrheit die Ehre zu geben – nichts von Häßlichkeit an sich hatte: er war von kräftiger Gestalt, nicht ungeschickt, focht eine gute Klinge mit jeglicher Hand, hielt sich trefflich zu Pferde, war auch nicht von simplem Verstande, jedoch verschlossen, in sich gekehrt, undurchdringlich, über alle Maßen nachtragend, höchst dünkelhaft ob seines Ranges als Erbe der Baronie, hochmütig gegenüber unseren Leuten und zu Lebzeiten meiner armen kleinen Hélix voller Geringschätzung für meine Zuneigung zu ihr, wie er seinerseits einer nahen Gefährtin von niederem Rang seine edle, unerfüllbare Liebe vorzog.

Und unerfüllbar war sie gewißlich, denn der raubsüchtige Baron de Fontenac, dessen Ländereien den unseren benachbart waren, erträumte, ersehnte und erstrebte nur unsere Vernichtung, welchselbige Gesinnung er jedoch unter dem Deckmantel der Religion verbarg, denn er war Papist. Zwar war ihm sein Eheweib mit ihrer sanften, christlichen Sinnesart nicht ähnlich, und seine Tochter kam – Gott sei's gedankt – der Mutter nach. Allein, was konnten die beiden armen Frauenzimmer ausrichten gegen diesen wütenden Eber? Er wollte mit einem Streich seinen Vater rächen, den die Brüder für seine Untaten hatten verbannen lassen, und gleichzeitig unsere schönen Ländereien sich einverleiben, welche ihn, vereinigt mit den seinen, zum mächtigsten Baron im ganzen Sarladischen Land gemacht hätten.

Eine Zeitlang hatte man in Mespech an eine Aussöhnung geglaubt, als nämlich Diane mit der Pest darniederlag, kein Medicus aus Sarlat sich dem Schloß auch nur nähern wollte und Fontenac meinen Vater in einem Brief gebeten hatte, daß er sie behandeln möge, worin mein Vater einwilligte unter der Bedingung, daß dies in Mespech geschähe; daselbst ließ er ihr, abgesondert in einer Kammer des Torhauses, eine so treffliche Behandlung angedeihen, daß sie geheilet ward, jedoch bei ihrem Abschied eine unheilbare Wunde in François' Herz hinterließ.

Leider hatte der Hundsfott von Fontenac nicht einmal die Dankbarkeit eines Hundes: sobald der Bruderkrieg unter den Untertanen ein und desselben Königs von neuem ausbrach, erhielten wir Kunde, er habe Sprache gehalten mit mehreren Adelsherren katholischen Glaubens im Sarladischen Land, welche er zu überreden versuchte, daß sie ein Bündnis schließen sollten zu dem Zwecke, Mespech anzugreifen und dieses »Ketzernest« zu zerstören, welcher Versuch überall auf Ablehnung gestoßen war, so sehr wurden die Herren Brüder geschätzt und so wenig er selbst. Puymartin (er war, obwohl Papist, gut Freund mit uns, da er an unserer Seite gegen den Schlächterbaron zu Lendrevie gekämpft) hatte uns als erster Mitteilung gegeben von dem Ränkespiel Fontenacs und uns bedeutet, wir sollten auf der Hut sein, denn nachdem der Versuch der offenen Aufwiegelung gegen uns fehlgeschlagen, stand zu befürchten, daß der Schurke seine Zuflucht zu Heimtücke und Hinterhalt nähme.

Diese Mitteilung, welche uns ein Reiter am 16ten Februar überbrachte, veranlaßte uns zu verdoppelter Wachsamkeit. Hatten wir schon vorher unsere schützenden Mauern kaum verlassen, so taten wir es jetzt noch seltener und stets angetan mit der eisernen Sturmhaube, Morion geheißen, und dem Brustpanzer, die Pistolen im Sattel, indes die Vettern Siorac vorausritten, welche treffliche Jäger waren, deren scharfem Auge und feinem Gehör nichts entgehen mochte.

Beim Herannahen der Nacht, wenn Mensch und Tier in ihrem Quartier waren, ward alles verriegelt; das mächtige Portal des Torhauses von innen mit einer eisernen Stange versperrt, das Fallgatter herabgelassen und – so es nicht regnete – die Fackeln in die Mauerlöcher gesteckt, um beim ersten Alarm angezündet zu werden, daß der nahende Feind, seine Zahl und seine Angriffsbewegungen erkannt würden. Dem im Torhaus wachenden Escorgol wurde mein Diener Miroul beigegeben (»Miroul mit den zwiefarbenen Augen, eines blau, eines braun«, sang meine arme kleine Hélix vor sich hin in den Augenblicken der Besserung während ihres langen Sterbelagers), welcher bei der ersten Wahrnehmung verdächtigen Geräuschs loslaufen und uns Kunde davon bringen sollte, denn er lief behender und schneller als ein Hase.

Auch nahm mein Vater mit mir und Samson den unterirdischen Gang in Augenschein, welchen er während meines Aufenthalts zu Montpellier hatte graben lassen als Verbindung zwischen der Burg und der Beunes-Mühle, welchselbige Mühle der schwache Punkt unserer Wehranlagen war, denn obgleich sie von unserem Steinhauer Jonas befestigt worden, welcher die Fensteröffnungen verkleinert und hier und da verdeckte Schießscharten angelegt hatte, stand sie doch direkt am Wege hingebaut, von einem großen Holzzaun umgeben, die Mauern nicht mächtig genug, einer Belagerung durch zwei Dutzend wagemutige Strauchritter zu widerstehen, zumal Coulondre und seine Jacotte die einzigen Verteidiger waren, welch beiden es zwar an Tapferkeit nicht gebrach, aber Coulondre hatte nur anderthalb Arme und Jacotte ein Wickelkind in den ihren.

Das ganze Jahr hindurch lagerten in dieser Mühle große Vorräte von Getreide (die ganze Umgebung ließ allhier mahlen), große Mengen von Nüssen, aus welchen Öl gepreßt ward, und befanden sich da auch viel Schweine – die unseren und die des Coulondre –, wohlgenähret mit der frischen Kleie aus dem Mahlwerk, welche Schätze in diesen Zeiten der Not angetan waren, das Verlangen der Strauchdiebe anzustacheln. Und hatte nicht der Fontenac 1557 (im sechsten Jahr meines Lebens), indes mein Vater und unsere Soldaten bei Calais im Kampfe lagen, eine zahlreiche Zigeunerbande aufgewiegelt, besoldet und gegen Mespech geschickt, welche es beinahe eingenommen hätten und denen mein Oheim Sauveterre zähneknirschend Lösegeld gezahlet, daß sie sich zurückzögen?

»Mein Herr Vater«, so sprach ich, »könnte dieser unterirdische Gang, welcher uns ermöglicht, der Mühle zu Hilfe zu kommen, nicht auch, so die Mühle eingenommen, dem Feinde ermöglichen, in die Burg einzudringen?«

»Mein Pierre«, sprach Jean de Siorac, »wisset zuerst, daß der Gang innerhalb der äußeren Befestigungsmauer mündet, von wo noch der die Burg umgebende See zu überwinden bleibt, zu welchem Zwecke der Feind sich erst der beiden Zugbrücken bemächtigen müßte, der äußeren, welche das feste Land mit der Insel verbindet, und der inneren, welche von der Insel zur Innenburg führet. Zum zweiten wird die Mündung des Ganges von einem gar mächtigen Fallgatter versperrt, welches nur von außen zu öffnen. Und schließlich senkt sich auf unseren Befehl hin zehn Klafter hinter dem ersten Gatter ein zweites hernieder, welches die Angreifer also in einer Falle einschließet und unserer Gewalt ausliefert.«

»Und auf welche Weise werden sie unserer Gewalt ausgeliefert?« fragte mein lieber Samson, die blauen Augen vor Staunen weit geöffnet und wie immer bei jedem S lispelnd.

»Durch diese Falltür hier«, sprach mein Vater, »hat man gebückt Zugang zu jenem Teil des Ganges, welcher sich zwischen den beiden Gattern erstreckt und wo die Decke aus losen Bohlen bestehet; also vermag man von oben den Feind, welcher gefangen in der Falle sitzet, mit Piken, Spießen oder Lanzen und – so er gepanzert ist – mit Büchsenkugeln zu durchbohren.«

»Ist's nicht ein Jammer«, sprach mein Samson mit einem Seufzer, »daß so viele Leute zuschanden gehen müssen?«

»Es ist ein Jammer«, sprach Jean de Siorac, »doch könnet Ihr Euch vorstellen, so sie Mespech einnähmen, was sie uns antäten? Und den Weibspersonen auf der Burg?«

Nach diesen Worten bewegte er die Gatter zwischen ihren Führungsbohlen auf und ab, sich zu versichern, daß sie sich auch gemäß seinem Willen hoben und senkten.

In der Nacht vom 24sten auf den 25sten Februar, kaum eine Woche nachdem uns die Warnung Puymartins erreicht hatte, trat mein Vater mit einer angezündeten Laterne in der Hand in meine Schlafkammer und sprach mit ruhiger Stimme, ich solle mich erheben und zum Kampfe rüsten, denn es sei ein Überraschungsangriff zu befürchten, Escorgol habe verdächtige Geräusche aus der Richtung unserer Beunes-Mühle gehört und einen Schein wie von Feuer über den Bäumen wahrgenommen. Spornstreichs tat ich, wie mir geheißen, rüstete und waffnete mich und stieg in den Hof hinunter. In der kalten klaren Nacht standen dort alle Männer der Burg in der allergrößten Stille versammelt, ein jeder angetan mit Morion und Brustpanzer, den Spieß oder die Arkebuse in der Faust. Mein Vater trug noch immer seine Laterne und hatte zwei Pistolen im Gürtel stecken.

»Mein Bruder«, sprach er zu Sauveterre, »ich nehme Pierre, Samson, meine Vettern Siorac sowie Miroul mit mir zur Verteidigung der äußeren Mauer um den See. Ihr behaltet Faujanet, François und Péromol zur Bewachung der Innenburg. Zündet die Fackeln in den Mauern nicht an, und keiner soll einen Laut von sich geben. Diese Schurken werden sich wundern. Die böseste Überraschung erlebt, wer überrascht wird, wenn er sich schon am Ziel glaubt.«

Ich war höchst erfreut, daß ich in der Gesellschaft meines Vaters verbleiben durfte, denn ich vermeinte, in jener Nacht an seiner Seite kühne Handstreiche zu erleben und zu Ehren kommen zu können; zumal er, kaum daß wir die beiden Zugbrücken hinter uns gelassen, Samson und die Vettern Siorac anwies, auf dem Wehrgang der Ringmauer zu patrouillieren, und nur Miroul und mich bei sich behielt, eine Wahl, die mich mit Stolz erfüllte. Mit der Laterne in der Hand, welche angesichts des hellen Mondscheines von wenig Nutzen war, schritt er unverzüglich auf den unterirdischen Gang zu; dort aber öffnete er nicht das erste Fallgatter, wie ich vermeint hätte, sondern ließ statt dessen das zweite herab.

»Wie«, sprach ich mit leiser Stimme, »steigen wir nicht in den Gang hinab, Coulondre und seiner Jacotte zu Hilfe zu eilen?«

»Tätest du solches an meiner Stelle?«

»Ei gewiß!«

Er lächelte, und im Mondschein glänzten seine Augen unter dem Visier seiner Sturmhaube.

»Das wäre gar leichtfertig gehandelt, denn wisset Ihr, ob nicht am anderen Ende schon der Feind steht?«

Worauf ich schwieg, die Lippen zusammengepreßt und gar sehr betrübt ob meiner Torheit. Doch wie verwundert war ich erst, als ich sah, daß mein Vater das erste Gatter öffnete.

»Mein Pierre«, sprach er, die Laterne vor sich haltend, »sobald ich darinnen bin, läßt du das Gatter am Eingang herab, ohne jedoch das zweite zu öffnen, welchselbes du erst auf meinen ausdrücklichen Befehl nach oben bewegst.«

»Aber Herr Vater«, sagte ich reichlich erschreckt, »was wollet Ihr tun in dieser Falle?«

»Mich in einer Nische verbergen, welche sich zur Linken befindet und gerade groß genug ist für einen Mann, sodann die Laterne verhüllen und warten.«

»Wessen wollet Ihr warten?«

»Der Jacotte.«

»Mein Herr Vater, und was soll ich indes tun?«

»Halte dich bereit, das Gatter am Ausgang zu öffnen, und Miroul möge gewärtig sein, das zweite zu öffnen und zu schließen. Halte dich außer Sicht, denn der Mond steht hoch.«

Ich hockte mich seitlich vom Gatter nieder, so daß ich außer Sicht war, und suchte mit meinen Augen die rabenschwarze Finsternis zu durchdringen, darinnen mein Vater verschwunden war wie der Fuchs in seinem Bau. Obgleich er seine Laterne verhüllet hielt, verbreitete sie doch einen schwachen Schein; hingegen verstand er sich so vollkommen still zu verhalten, daß ich – sosehr ich auch meine Ohren anstrengte – nicht einmal seinen Atem wahrnahm. Was ich indes bald gar deutlich vernahm, war das eilige Klappern von Jacottes Holzschuhen auf der nackten Erde des Ganges.

»Wer da?« rief mein Vater, ohne sich mit dem kleinsten Teil seines Körpers zu zeigen und ohne den Schein seiner Laterne freizugeben.

»Jacotte.«

»Allein?«

»Mit dem Kindelein.«

Darauf sprach mein Vater die folgenden Worte, welche mich in großes Erstaunen versetzt, hätte ich nicht an der Art, wie er sie sprach, erkannt, daß sie im voraus verabredet waren:

»Geht es dem Kindchen gut, Jacotte?«

»Es geht ihm gut.«

Was ganz sicherlich bedeutete, daß sie frei und ohne Zwang sprach und niemand ihr den Degen in den Rücken setzte; denn mein Vater streckte den Arm mit der Laterne hervor, ohne jedoch sein Versteck zu verlassen. Nun sah ich die Jacotte hinter dem Gatter stehen, keuchend vom schnellen Lauf, das Gesicht ganz fahl und die Augen voller Schrecken. Sie war in der Tat allein.

»Miroul, das Gatter!« befahl mein Vater.

Miroul zog augenblicks das Gatter nach oben und ließ es, sobald die Jacotte hindurchgeschritten, wieder herab.

»Pierre, das Gatter!« rief mein Vater.

Ich öffnete das Gatter am Ausgang, und mein Vater, welcher das wackere Weibsbild am Arm gefaßt, kam mit ihr aus dem Gang heraus.

Jacotte war eine gar große, kräftige und beherzte Frauensperson, die mit einem Messer, welches sie am Gürtel trug, zwei Jahre zuvor einen von vier Strauchdieben niedergestochen, die ihr Gewalt antun wollten. Coulondre Bras de Fer, welcher von ungefähr des Weges kam, machte die drei anderen nieder, aus welchem Grunde sie ihn geehelicht hatte, wiewohl er doppelten Alters denn sie selbst war. Jetzt zitterte diese kräftige Weibsperson, so beherzt sie auch war, gleichwohl wie eine Hündin vor dem Wolf, doch keineswegs um ihretwillen, sondern um ihren Mann, den sie in der Mühle allein gelassen.

»Wie viele sind es?« fragte mein Vater mit leiser Stimme.

»Nicht weniger als ein Dutzend und nicht mehr als zwanzig.«

»Haben Sie Feuerrohre?«

»Gewiß, doch sie schießen nicht. Und gemäß Euerm Befehl schießt Coulondre ebenfalls nicht. Aber der Arme«, fuhr sie mit zitternder Stimme fort, »kann sich nicht lange halten; diese Hundsfötter haben unsere Reisigbündel vor der Tür aufgehäuft und in Brand gesetzt, und obgleich es eine eichene Tür ist, wird das Feuer sie bald zerstören.«

»Es wird sie zerstören«, sprach mein Vater mit schneidender Stimme, »doch die Schnapphähne werden keinen Grund zum Jubeln haben. Miroul, lauf und hole mir Alazaïs herbei! Aber hurtig!«

Miroul eilte hinweg, schnell wie der Pfeil einer Armbrust, und die kurze Weile, bis er, von Alazaïs gefolgt, zurückkam, stand mein Vater nachdenklich da, seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger reibend, und ich wagte kein Wort zu sprechen, da ich ihn also in Gedanken versunken sah.

Alazaïs, welche – wie mein Vater zu sagen pflegte – die »Stärke zweier Männer besaß, nicht gerechnet ihre moralische Stärke« (denn sie war eine strenge und standhafte Hugenottin), war erschienen, den Oberkörper, welcher bar jeder weiblichen Rundung, mit einem Brustpanzer umgeben und zwei Pistolen nebst einem Messer im Gürtel.

»Alazaïs«, sprach mein Vater, »die du so schnell läufst, wie der Vogel fliegt, eile zu Cabusse auf Le Breuil und zu Jonas am Steinbruch und gib ihnen Bescheid, sie mögen die Waffen bereithalten und auf der Hut sein, denn es kann geschehen, daß auch sie angegriffen werden.«

»Ich eile«, antwortete sie.

»Und sage Escorgol, er möge mir Samson und meine Vettern Siorac schicken. Wir wollen Coulondre Bras de Fer zu Hilfe eilen.«

»Oh, Moussu lou Baron!« sprach Jacotte, über alle Maßen erleichtert; sie vermochte indes nicht weiterzusprechen, das Gesicht ganz und gar von Tränen benetzt.

»Jacotte«, sprach mein Vater, ihr mit beiden Händen besänftigend über die Arme streichend, »lauf zu dem Herrn Stallmeister und sage ihm, wohin wir uns begeben, und er möge nichts unternehmen bis zu meiner Rückkehr. Und du, laß dein Kind in Barberines Obhut in der Innenburg, dann komme wieder hierher zurück und schließe das Gatter hinter uns.«

Was sie getreulich tat. Wir eilten indes den unterirdischen Gang entlang: Samson, Miroul, die Vettern Siorac, ich selbst und mein Vater, welcher, obgleich er sich im vierundfünfzigsten Jahr seines Alters befand, lief wie ein Hase auf dem Felde, die Laterne vor sich haltend. Freilich verlief der Gang sehr abschüssig, da Mespech, wie sein Name wohl besagt (pech, das ist: Hügel), auf einer Anhöhe gelegen und die Beunes-Mühle in einer Niederung.

Coulondre war heilfroh, da wir in seiner Mühle erschienen, obgleich seinem kummervollen Gesicht nichts Derartiges anzusehen war und er stumm blieb wie ein Fisch. Das Gelaß, in welchem der Gang mündete, war reichlich groß und wies zur Linken vorgemeldte Tür auf, welche die Angreifer dem Feuer auszuliefern trachteten, dessen Knistern durch die eichenen Bohlen zu hören war; und zur Rechten eine Art Gatter, hinter welchem sich der Schweinestall befand, wo Sauen, Ferkel und Bärche ohrenbetäubend quiekten und grunzten, als fühlten sie die Gefahr, welche von den Flammen ausging.

»Herr Baron«, sprach Coulondre mit gedämpfter Stimme, »wollet Ihr, daß wir die Schweine in den Gang treiben und also in Sicherheit bringen?«

»Nein«, sprach mein Vater mit einem Blick zur Tür, hinter der das Feuer prasselte. »Dazu fehlt uns die Zeit; wir haben Dringenderes zu tun, Männer«, fuhr er fort, »stapelt die Getreidesäcke aufeinander, damit wir dahinter Deckung finden, mit dem Rücken zum Gang, welcher uns, so dies vonnöten sein sollte, die Flucht ermöglichen wird. Lasset es dem Wall nicht an Dicke fehlen und führet ihn auf bis in Schulterhöhe, damit wir dahinter sicher sind vor den Blicken oder gar den Kugeln der Angreifer.«