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ARTHUR SCHOPENHAUER

wurde 1788 in Danzig geboren und starb 1860 in Frankfurt am Main. Er gilt heute als einer der bedeutendsten und eigenwilligsten Nachfolger der Lehre Kants. Sein Einfluss auf die Kulturgeschichte ist unschätzbar: Von Wagner und Nietzsche zu Tucholsky, von Hermann Hesse bis zu Thomas Mann beeinflusst sein Denken Künstler und Schriftsteller bis heute.

Zum Buch

Während das Werk Arthur Schopenhauers in der akademischen Welt wie eh und je ein Randdasein fristet, fällt es nicht schwer, die nicht nachlassende Begeisterung bei allen anderen Philosophie-Interessierten nachzuvollziehen. Schopenhauers einzigartige Position in der Philosophiegeschichte folgt vor allem aus der ungewöhnlichen Verbindung von östlichem Buddhismus und deutschem Idealismus. Seine pessimistische Lebensphilosophie geht - für die deutsche Tradition ungewöhnlich - davon aus, dass der Welt ein irrationales Prinzip zugrunde liegt und das Leben letztlich Leiden bedeutet. Diese Annahme führt ihn jedoch nicht zu einem intellektualisierten Zynismus, sondern zu einer altruistischen Mitleidsethik, die auch heute noch die philosophische Grundlage für ein vernünftiges Lebenskonzept bieten kann.

Die vorliegende Auswahl zeigt Schopenhauer als Meister der sprachlich verdichteten Lebensweisheit: Sein virtuoser Sprachgebrauch, seine genaue Beobachtungsgabe und sein polemisches Talent machen Arthur Schopenhauer nicht nur zu einem der literarisch herausragendsten deutschen Philosophen, sondern sind ein Beispiel dafür, dass Philosophie kein trockenes Handwerk sein muss.

"In Hinsicht auf die Schätzung der Größe eines Menschen gilt für die geistige das umgekehrte Gesetz der physischen: Diese wird durch die Ferne verkleinert, jene vergrößert." Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauer

Die Wahrheit kann warten

Arthur Schopenhauer

Die Wahrheit kann

warten,

denn sie hat ein langes Leben vor sich

Auswahl kleiner
philosophischer Schriften

Herausgegeben von
Bruno Kern

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0333-5

www.marixverlag.de

INHALT

„Das Leben ist eine missliche Sache!“

Über Philosophie und ihre Methode

Einige Betrachtungen über den Gegensatz des Dinges an sich und der Erscheinung

Einige Worte über den Pantheismus

Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur

Zur Ethik

Zur Rechtslehre und Politik

Zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod

Nachträge zur Lehre von der Nichtigkeit des Daseins

Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt

Über den Selbstmord

Nachträge zur Lehre von der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben

Über Religion

Über das Schöne

Über Gelehrsamkeit und Gelehrte

Selbstdenken

Über Schriftstellerei und Stil

Über Lesen und Bücher

Psychologische Bemerkungen

Gleichnisse, Parabeln und Fabeln

Einige Verse

„DAS LEBEN IST EINE MISSLICHE SACHE!“

DIE WEISHEIT EINES GELASSENEN PESSIMISTEN

Er ist wahrscheinlich der meistgelesene Philosoph im deutschen Sprachraum überhaupt. Bis heute erfreut sich Arthur Schopenhauer einer schier unglaublichen Popularität, während er doch innerhalb der akademischen Philosophie eher ein Randdasein fristet – zu Unrecht, wie hoffentlich auch an diesem Band deutlich wird. Wenn man Kants Kritik der reinen Vernunft nachsagte, sogar die Friseurlehrlinge hätten sie seinerzeit verschlungen, dann passt dieses Diktum in unseren Tagen am ehesten noch auf Schopenhauers Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung.

Sein Vater hatte für ihn eigentlich eine Karriere als Kaufmann vorgesehen und stellte ihm die Finanzierung einer Weltreise in Aussicht, falls er sich diesem Berufswunsch unterordnen würde. Der junge Schopenhauer akzeptierte den Deal, um freilich nach des Vaters Tod dessen Bedingung nicht zu erfüllen, seine Lehre abzubrechen, in schon fortgeschrittenem Alter ein Gymnasium zu besuchen und schließlich seine akademische Laufbahn mit einer Habilitation in Berlin zu krönen. Der innere Antrieb zur Philosophie aber erwuchs ihm zunächst aus der Erfahrung des Lebens selbst. Das biografische Schlüsselerlebnis, das ihn zum Nachdenken über das Dasein veranlasste, war das Leid von Galeerensklaven, das er in der französischen Hafenstadt Toulon erlebte. Der Anfang der Philosophie – für Aristoteles bekanntermaßen das Staunen – ist für ihn die Erfahrung des Leids der geschundenen Kreatur. Dies wird einen bleibenden Impetus seines Denkens bilden und begründet wohl auch seine Beschäftigung mit fernöstlichen Lehren wie dem Buddhismus.

Die Philosophie seiner Tage steht ganz im Zeichen von Kants „kopernikanischer Wende“. Kants „Transzendentalphilosophie“ wendet sich dem Nachdenken über die Bedingungen unseres Erkennens selbst zu, macht die Erkenntnistheorie anstelle der alten Metaphysik zur „prima philosophia“, zum Ausgangspunkt aller Philosophie. Mit den Anschauungsformen von Raum und Zeit und den Verstandeskategorien ist unser Erkennen Kant zufolge streng auf den Bereich der Erscheinungen beschränkt. Die objektive Ursache dieser immer schon von den subjektiven Voraussetzungen unserer Erkenntnisfähigkeit überformten Erscheinungen allerdings, das „Ding an sich“, bleibt unerkannt, das „ignotum X“, das man zwar eben als die Ursache der Erscheinungen postulieren muss, aber nicht „erkennen“ kann. Kant wird zum Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung philosophischen Denkens, näherhin des Deutschen Idealismus, der in Hegel seinen Höhepunkt findet. Die Denker des Deutschen Idealismus arbeiten sich auf je ihre Weise an den verbleibenden Widersprüchen, unbefriedigenden Erklärungen und „dogmatischen Resten“ bei Kant ab, die sie mit ihren Systemen überwinden wollen. Unbefriedigend zum Beispiel ist bei Kant das nahezu beziehungslose Nebeneinanderbestehen von theoretischer und praktischer Vernunft. Einen Widerspruch stellt es dar, wenn Kant das „Ding an sich“ als Ursache der Welt der Erscheinungen postuliert und damit die Kategorie der Kausalität, die nur im Bereich der Erscheinungen ihre Gültigkeit hat, außerhalb dieses Bereiches anwendet. Nicht geklärt ist auch die Rolle dessen, was der subjektiven Erkenntnis die letzte integrierende Einheit verleiht, Kants „transzendentale Apperzeption“, usw.

Arthur Schopenhauer beschreitet – fernab von denen, die die philosophische Szene beherrschen – hierbei seinen eigenen, höchst originellen Weg. Das unserer Vorstellung von der Welt zugrunde liegende Reale, das kantische Ding an sich, ist für ihn der Wille als universales Lebensprinzip! Bestimmend für diese Einsicht ist es, dass sich der Mensch nicht nur als erkennendes Subjekt, sondern unmittelbar in seiner Leiblichkeit erfährt! Dieser Wille nun manifestiert sich innerhalb der gesamten Natur in immer höheren Stufen der Objektivation, bis er schließlich im Intellekt des Menschen selbst die Voraussetzungen seiner eigenen Anschauung hervorbringt. Unsere Welt, in der wir leben, ist also zugleich ihrem ganzen Wesen nach durch und durch Wille und durch und durch Vorstellung. Der Wille als universales Prinzip der Natur ist das tragende Fundament. In unserem Intellekt wird diese Welt als Wille zur Vorstellung.1

Mit diesem höchst originellen Ansatz, Kants Erkenntnisphilosophie weiterzudenken, blieb Schopenhauer ein Außenseiter. Sein Hauptwerk, das er im Jahr 1818 abschloss, erwies sich als „Flopp“ und wurde eingestampft. Nur einmal bekam er in Berlin die Gelegenheit, sein philosophisches System innerhalb eines Semesters vorzutragen – vor einer Zuhörerschaft, die nahezu an einer Hand abzuzählen war. Gegen den großen Star Hegel hatte Schopenhauer keine Chance. Lange Zeit lebte er völlig zurückgezogen in Frankfurt am Main. Erst am Ende seines Lebens wurde ihm doch noch die Anerkennung zuteil, die sein Werk allemal verdient. Und bis heute bleibt er für eine große Zahl von Menschen, die nie eine philosophische Vorlesung besucht haben, der nahezu einzige Mystagoge ins Nachdenken über die menschliche Existenz und die Welt.

Erste öffentliche Aufmerksamkeit erlangte Schopenhauer durch eben jenes Werk, aus dem dieser Band eine kleine Auswahl besonders schöner Kostproben bietet.2 Die Parerga und Paralipomena (wörtlich etwa: „Nebenarbeiten und Nachträge“) boten in zwei recht voluminösen Bänden allgemein verständliche Formulierungen seiner Weltanschauung, illustrierende Beobachtungen dazu, Reflexionen zu vielen Aspekten des Daseins, die in seinem Hauptwerk nur knapp zur Sprache kommen, und nicht zuletzt eine erfrischende Polemik gegen die etablierte Gelehrtenwelt, die institutionalisierte Religion etc. Schopenhauer vereinigt mehrere Talente in sich: Kants scharfe Analyse, Lichtenbergs geschliffene Polemik und die Weisheit eines Buddha finden sich in ihm gleichermaßen. Überdies erweist er sich auch als ein Meister der „Introspektion“, das heißt der Beobachtung und Analyse innerer psychischer Prozesse am Beispiel seiner selbst.

Diese kleine Auswahl will natürlich zunächst mit Schopenhauer selbst vertraut machen und hat sich deshalb bemüht, möglichst viele seiner Facetten zum Funkeln zu bringen. Ich habe mich nicht gescheut, auch kleine Texte aufzunehmen, die die Grundgedanken seiner Weltanschauung wiedergeben: Hier sind sie nämlich besonders konzise auf den Punkt gebracht und geeignet, Appetit auf Schopenhauers Hauptwerk zu machen. Ein leitender Gesichtspunkt der Auswahl war allerdings – ganz im Sinne Schopenhauers –, beim Leser und bei der Leserin die Lust am „Selbstdenken“ zu wecken. Schopenhauers „Erfolgsrezept“ liegt meines Erachtens vor allem darin begründet, dass er nicht nur ein „System“ vorlegt, sondern dass er in seinem Denken wie Leben zur „philosophischen Existenz“ ermutigt. Es gibt kaum einen Philosophen, bei dem Denken und Leben – sein Vegetarismus, seine anrührende Tierliebe, seine Empfindsamkeit für das Leid anderer, bis hin zu seinen liebenswürdig-kauzigen Seiten – so sehr in Einklang sind. Und entsprechend erfahrungsgesättigt und lebensdurchtränkt sind seine Gedanken. Selbst dann noch, wenn man glaubt, ihm entschieden widersprechen zu müssen, wird man von ihm lernen. Und selbst sein allseits bekannter Pessimismus erweist sich als wirksames Antidot gegen den gerade heutzutage herrschenden Terror des „positiven Denkens“.

So soll dieser kleine Auswahlband nicht nur das Lesevergnügen beflügeln, sondern mit Schopenhauer verführen zu einem philosophischen Leben und zu gelebter Philosophie überhaupt.

Bruno Kern

1Ein sehr plattes populäres Missverständnis hat Schopenhauer die Leugnung der Außenwelt, also einer objektiven Realität außerhalb unseres Bewusstseins, unterstellt. Diese Frage hat Schopenhauer allerdings als völlig irrelevant von sich gewiesen.

2Verwiesen sei an dieser Stelle an den ersten Auswahlband: Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Wiesbaden 42012.

ÜBER PHILOSOPHIE UND IHRE METHODE

§ 1 Der Grund und Boden, auf dem alle unsere Erkenntnisse und Wissenschaften ruhen, ist das Unerklärliche. Auf dieses führt daher jede Erklärung, mittels mehr oder weniger Mittelglieder, zurück; wie auf dem Meer das Senkblei den Grund bald in größerer, bald in geringerer Tiefe findet, ihn jedoch überall zuletzt erreichen muss. Dieses Unerklärliche fällt der Metaphysik anheim.

§ 3 Zum Philosophieren sind die zwei ersten Erfordernisse diese: erstlich, dass man den Mut habe, keine Frage auf dem Herzen zu behalten; und zweitens, dass man alles das, was sich von selbst versteht, sich zum deutlichsten Bewusstsein bringe, um es als Problem aufzufassen. Endlich auch muss, um eigentlich zu philosophieren, der Geist wahrhaftig müßig sein: Er darf keine Zwecke verfolgen und also nicht vom Willen gelenkt werden, sondern muss sich ungeteilt der Belehrung hingeben, welche die anschauliche Welt und das eigene Bewusstsein ihm erteilen. –

Philosophieprofessoren hingegen sind auf ihren persönlichen Nutzen und Vorteil und was dahin führt bedacht: Da liegt ihr Ernst. Darum sehen sie so viele deutliche Dinge gar nicht, ja kommen nicht ein einziges Mal, auch nur über die Probleme der Philosophie, zur Besinnung.

§ 4 Der Dichter bringt Bilder des Lebens, menschliche Charaktere und Situationen vor die Fantasie, setzt das alles in Bewegung und überlässt nun jedem, bei diesen Bildern so weit zu denken, wie seine Geisteskraft reicht. Deshalb kann er Menschen von den verschiedensten Fähigkeiten, ja Toren und Weisen zugleich genügen. Der Philosoph hingegen bringt nicht in jener Weise das Leben selbst, sondern die fertigen, von ihm daraus abstrahierten Gedanken, und fordert nun, dass sein Leser ebenso und ebenso weit denke, wie er selbst. Der Dichter ist demnach dem zu vergleichen, der die Blumen, der Philosoph dem, der die Quintessenz derselben bringt. […]

§ 5 Der philosophische Schriftsteller ist der Führer und sein Leser der Wanderer. Sollen sie zusammen ankommen, so müssen sie, vor allen Dingen, zusammen ausgehen: Das heißt, der Autor muss seinen Leser aufnehmen auf einem Standpunkt, den sie sicherlich gemein haben: Dies aber kann kein anderer sein als der des uns allen gemeinsamen empirischen Bewusstseins. Hier also fasse er ihn fest an der Hand und sehe nun, wie hoch über die Wolken hinaus er, auf dem Bergespfade, Schritt für Schritt, mit ihm gelangen könne. So hat es auch noch Kant gemacht: Er geht vom ganz gemeinen Bewusstsein, sowohl des eigenen Selbst als auch der andern Dinge, aus. – Wie verkehrt ist es hingegen, den Ausgang nehmen zu wollen vom Standpunkte einer angeblichen intellektualen Anschauung hyperphysischer Verhältnisse, oder gar Vorgänge, oder auch einer das Übersinnliche vernehmenden Vernunft. Denn das alles heißt vom Standpunkte nicht unmittelbar mitteilbarer Erkenntnisse ausgehen, wo daher, schon beim Ausgange selbst, der Leser nie weiß, ob er bei seinem Autor stehe oder meilenweit von ihm.

§ 7 Weder unsere Kenntnisse noch unsere Einsichten werden jemals durch Vergleichen und Diskutieren des von andern Gesagten sonderlich vermehrt werden; denn das ist immer nur, wie wenn man Wasser aus seinem Gefäß in ein anderes gießt. Nur durch eigene Betrachtung der Dinge selbst können Einsicht und Kenntnis wirklich bereichert werden: Denn sie allein ist die stets bereite und stets naheliegende lebendige Quelle. Demnach ist es seltsam anzusehen, wie seinwollende Philosophen stets auf dem ersteren Wege beschäftigt sind und den andern gar nicht zu kennen scheinen, wie sie immer es vorhaben mit dem, was dieser gesagt hat und was wohl jener gemeint haben mag, sodass sie gleichsam stets von Neuem alte Gefäße umstülpen, um zu sehen, ob nicht irgendein Tröpfchen darin zurückgeblieben sei, während die lebendige Quelle vernachlässigt zu ihren Füßen fließt. Nichts verrät so sehr wie dieses ihre Unfähigkeit und zeiht ihre angenommene Miene von Wichtigkeit, Tiefsinn und Originalität der Lüge.

§ 11 […] Das, was man weiß, hat doppelten Wert, wenn man zugleich das, was man nicht weiß, nicht zu wissen eingesteht. Denn dadurch wird Ersteres von dem Verdacht frei, dem man es aussetzt, wenn man, wie zum Beispiel die Schellingianer, auch das, was man nicht weiß, zu wissen vorgibt.

§ 14 […] Die Religionen haben sich der metaphysischen Anlage des Menschen bemächtigt, indem sie teils solche durch frühzeitiges Einprägen ihrer Dogmen lähmen, teils alle freien und unbefangenen Äußerungen derselben verbieten und verpönen, sodass dem Menschen über die wichtigsten und interessantesten Angelegenheiten, über sein Dasein selbst, das freie Forschen teils direkt verboten, teils indirekt gehindert, teils subjektiv durch jene Lähmung unmöglich gemacht wird, und dergestalt die erhabenste seiner Anlagen in Fesseln liegt.

§ 15 Um uns gegen fremde, der unsrigen entgegengesetzte Ansichten tolerant und beim Widerspruch geduldig zu machen, ist vielleicht nichts wirksamer als die Erinnerung, wie häufig wir selbst über denselben Gegenstand sukzessive ganz entgegengesetzte Meinungen gehegt und solche, bisweilen sogar in sehr kurzer Zeit, wiederholt gewechselt, bald die eine Meinung, bald wieder ihr Gegenteil, verworfen und wieder aufgenommen haben; je nachdem der Gegenstand bald in diesem, bald in jenem Licht sich uns darstellte.

Desgleichen ist, um unserem Widerspruche gegen die Meinung eines anderen bei diesem Eingang zu verschaffen, nichts geeigneter als die Rede: „Dasselbe habe ich früher auch gemeint, aber …“ usw.

§ 16 Eine Irrlehre, sei sie aus falscher Ansicht gefasst oder aus schlechter Absicht entsprungen, ist stets nur auf spezielle Umstände, folglich auf eine gewisse Zeit berechnet; die Wahrheit allein auf alle Zeit, wenn sie auch eine Weile verkannt oder erstickt werden kann. Denn sobald nur ein wenig Licht von innen oder ein wenig Luft von außen kommt, findet sich jemand ein, sie zu verkündigen oder zu verteidigen. Weil sie nämlich nicht aus der Absicht irgendeiner Partei entsprungen ist, so wird zu jeder Zeit jeder vorzügliche Kopf ihr Verfechter. Denn sie gleicht dem Magneten, der stets und überall nach einem absolut bestimmten Weltpunkte weist; die Irrlehre hingegen einer Statue, die mit der Hand auf eine andere Statue hinweist, von welcher einmal getrennt sie alle Bedeutung verloren hat.

§ 17 Was der Auffindung der Wahrheit am meisten entgegensteht, ist nicht der aus den Dingen hervorgehende und zum Irrtum verleitende falsche Schein, noch auch unmittelbar die Schwäche des Verstandes, sondern es ist die vorgefasste Meinung, das Vorurteil, welches, als ein After-Apriori, der Wahrheit sich entgegenstellt und dann einem widrigen Winde gleicht, der das Schiff von der Richtung, in der allein das Land liegt, zurücktreibt, sodass jetzt Steuer und Segel vergeblich tätig sind.

EINIGE BETRACHTUNGEN ÜBER DEN GEGENSATZ DES DINGES AN SICH UND DER ERSCHEINUNG

§ 61 Ding an sich bedeutet das unabhängig von unserer Wahrnehmung Vorhandene, also das eigentlich Seiende. Dies war dem Demokritos die geformte Materie; dasselbe war es im Grunde noch dem Locke; Kanten war es = x; mir Wille. […]

§ 62 Wie wir von der Erdkugel bloß die Oberfläche, nicht aber die große, solide Masse des Innern kennen, so erkennen wir empirisch von den Dingen und der Welt überhaupt nichts als nur ihre Erscheinung, das ist die Oberfläche. Die genaue Kenntnis dieser ist die Physik, im weitesten Sinne genommen; dass aber diese Oberfläche ein Inneres, welches nicht bloß Fläche sei, sondern kubischen Gehalt habe, voraussetzt, ist, nebst Schlüssen auf die Beschaffenheit desselben, das Thema der Metaphysik. Nach den Gesetzen der bloßen Erscheinung das Wesen an sich selbst der Dinge konstruieren zu wollen ist ein Unternehmen dem zu vergleichen, dass einer aus bloßen Flächen und deren Gesetzen den stereometrischen Körper konstruieren wollte. Jede transzendente dogmatische Philosophie ist ein Versuch, das Ding an sich nach den Gesetzen der Erscheinung zu konstruieren, welcher ausfällt wie der, zwei absolut unähnliche Figuren durch einander zu decken, welches stets misslingt, indem, wie man sie auch wenden mag, bald diese, bald jene Ecke hervorragt.

§ 63 Weil jegliches Wesen in der Natur zugleich Erscheinung und Ding an sich, oder auch natura naturata und natura naturans3, ist, so ist es demgemäß einer zweifachen Erklärung fähig, einer physischen und einer metaphysischen. Die physische ist allemal aus der Ursache, die metaphysische allemal aus dem Willen; denn dieser ist es, der in der erkenntnislosen Natur sich darstellt als Naturkraft, höher hinauf als Lebenskraft, im Tier und Mensch aber den Namen Willen erhält. […]

§ 64 Alles Verstehen ist ein Akt des Vorstellens, bleibt daher wesentlich auf dem Gebiete der Vorstellung. Da nun diese nur Erscheinungen liefert, ist es auf die Erscheinung beschränkt. Wo das Ding an sich anfängt, hört die Erscheinung auf, folglich auch die Vorstellung, und mit dieser das Verstehen. An dessen Stelle tritt aber hier das Seiende selbst, welches sich seiner bewusst wird als Wille. Wäre dieses Sichbewusstwerden ein unmittelbares, so hätten wir eine völlig adäquate Erkenntnis des Dinges an sich. Weil es aber dadurch vermittelt ist, dass der Wille den organischen Leib und, mittels eines Teiles desselben, sich einen Intellekt schafft, dann aber erst durch diesen sich im Selbstbewusstsein als Willen findet und erkennt, so ist diese Erkenntnis des Dinges an sich erstlich durch das darin schon enthaltene Auseinandertreten eines Erkennenden und eines Erkannten und sodann durch die vom zerebralen Selbstbewusstsein unzertrennliche Form der Zeit bedingt, daher also nicht völlig erschöpfend und adäquat. […]

§ 66 Der Grundcharakter aller Dinge ist Vergänglichkeit. Wir sehen in der Natur alles, vom Metall bis zum Organismus, teils durch sein Dasein selbst, teils durch den Konflikt mit anderen, sich aufreiben und verzehren. Wie könnte dabei die Natur das Erhalten der Formen und Erneuern der Individuen, die zahllose Wiederholung des Lebensprozesses, eine unendliche Zeit hindurch aushalten, ohne zu ermüden, wenn nicht ihr eigener Kern ein Zeitloses und dadurch völlig Unverwüstliches wäre, ein Ding an sich, ganz anderer Art als seine Erscheinungen, ein allem Physischen heterogenes Metaphysisches? – Dieses ist der Wille in uns und in allem.

In jedem Lebewesen ist das ganze Zentrum der Welt. Darum ist seine Existenz ihm alles in allem. Darauf beruht auch der Egoismus. Zu glauben, der Tod vernichte es, ist höchst lächerlich, da alles Dasein von ihm allein ausgeht. […]

3Etwa: gewirkte (geschaffene) und wirkende (schaffende) Natur.

EINIGE WORTE ÜBER DEN PANTHEISMUS

§ 68 Die in jetziger Zeit unter den Philosophieprofessoren geführte Kontroverse zwischen Theismus und Pantheismus könnte man allegorisch und dramatisch darstellen durch einen Dialog, der im Parterre eines Schauspielhauses in Mailand während der Vorstellung geführt würde. Der eine Kollokutor, überzeugt, sich in dem großen, berühmten Puppenspieltheater des Girolamo zu befinden, bewundert die Kunst, mit welcher der Direkteur die Puppen verfertigt hat und das Spiel lenkt. Der andere sagt dagegen: Ganz und gar nicht! Sondern man befände sich im Teatro della Scala, der Direkteur und seine Gesellen spielten selbst mit und steckten in den Personen, die man da vor sich sehe, wirklich drin; auch der Dichter spiele mit.