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Der gleichnamige Spielfilm erhielt den Deutschen
und den Hessischen Filmpreis und ist im Handel erhältlich.
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»Krücke« im Unterricht – in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62582-3
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
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ISBN 978-3-407-78178-9 Print
ISBN 978-3-407-74274-2 E-Book (EPUB)
© 1994 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
© 1986 Beltz & Gelberg
Einbandgestaltung: Max Bartholl unter Verwendung eines Fotos
aus dem gleichnamigen Spielfilm © pwe
Gesamtherstellung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
Printed in Germany
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Ein paar Sätze zuvor:

Diese Geschichte spielt in den Jahren 1945 und 1946. In einer Zeit, als der von Adolf Hitler angezettelte Krieg zu Ende ging. Viele Städte lagen in Trümmern. Ungezählte Menschen hatten ihr Leben lassen müssen. Es war gefoltert und gemordet worden. Ganz in dem Sinn eines bösen Sprichworts: Der Mensch ist des Menschen Wolf. Der Mensch ist der unerbittliche Feind des Menschen.
Ich habe mein Buch gegen dieses Sprichwort geschrieben. Es ist Krücke und Thomas gewidmet, die uns die Botschaft hinterließen, dass der Mensch auch des Menschen Freund ist.

Eine Tür ohne Haus

Die Frau saß auf der steinernen Türschwelle, das Kopftuch tief in die Stirn gezogen. Taschen und Bündel hatte sie neben sich aufgebaut wie einen Wall.
Was Thomas vor sich sah, war einfach verrückt, kaum zu glauben. Es sollte das Haus sein, nach dem er tagelang in Wien gesucht hatte. Von ihm war nichts übrig als der Türrahmen, in dem die Frau saß. Sie bewachte einen Eingang, der zu einem Trümmerhügel führte. Wahrscheinlich saß sie schon Ewigkeiten da.
Vielleicht spinne ich, dachte Thomas, und die Frau gibt es gar nicht. Ich bilde sie mir bloß ein.
Schritt für Schritt näherte er sich ihr. Es musste das Haus Hellergasse 9 sein, in dem Tante Wanda gewohnt hatte. So hatte es ihm Mutter eingeprägt: Hellergasse 9. Vergiss es nicht! Nur gab’s dieses Haus nicht mehr.
Er drückte den Brotbeutel gegen die Brust und wagte noch einen Schritt.
Entschuldigen Sie, ist das hier die Hellergasse neun?
Als die Frau den Kopf hob, sah er, dass sie gar nicht so alt war, sicher nicht älter als Mutter. Doch ihr Gesicht war sonderbar starr, und die Augen wirkten blind, als hätte sie lange in ein Feuer gesehen.
Hellergasse neun?, fragte sie.
Ja, sagte er, hier soll meine Tante wohnen, Frau Wanda Watzlawiak.
Hier?
Ja, sagte Thomas und fügte leise hinzu: Da hat sie gewohnt.
Das kann sein, murmelte die Frau.
Haben Sie auch hier gewohnt?, fragte er.
Wenn ich es wüsste, antwortete sie.
Es hatte keinen Sinn. Von ihr würde er keine Auskunft bekommen. Vielleicht würde er in der Nachbarschaft jemanden finden, der Bescheid wusste.
Er murmelte: Auf Wiedersehen, wollte gehen, da fing die Frau an, mit einer veränderten, hellen und freundlichen Stimme zu sprechen: Bist du allein, Junge?
Völlig überrascht kam Thomas gar nicht dazu zu schwindeln, wie er es in den letzten Wochen oft getan hatte.
Ja, antwortete er.
Deine Eltern? Deine Mutter?
Meine Mutter war plötzlich verschwunden. Ich hab sie verloren. Wir haben in Kolin lange auf den Zug gewartet. Als er dann kam, drängelten die Leute gemein und jemand hielt mich fest. Die hätten mich beinahe umgetrampelt. Plötzlich war Mutter weg. Ich wusste nicht, ob ich mit dem Zug fahren sollte, bis mich jemand in den Wagen riss.
Er sah wieder die verzerrten Gesichter der Menschen vor sich, spürte Angst und Wut in sich hochsteigen und war nahe daran zu heulen.
Die Frau nickte, nahm eines der Bündel auf den Schoß, zeigte auf das frei gewordene Stück Schwelle und forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen.
Aber helfen werde ich dir nicht können, sagte sie.
Er zwängte sich zwischen die Frau und den Türrahmen, gab sich Mühe, sie nicht zu berühren. Sie sah ihn von der Seite an, zog das Kopftuch aus der Stirn.
Seit wann bist du allein?
Ich weiß nicht.
Er wusste es wirklich nicht. Eine Weile hatte er die Tage gezählt und manchmal Leute gefragt, was für ein Tag sei.
Auf jeden Fall war da noch Krieg, sagte er. Und jetzt ist Frieden.
Die Frau nickte. Ein schöner Frieden. Kein Dach überm Kopf. Nichts zu fressen.
Nach einer Pause fragte sie: Was hast du vor, wo willst du hin?
Er zog die Schultern hoch. Eigentlich wollte ich zu Tante Wanda.
Die Frau fing an zu lachen. Es war ein lautloses Lachen, das sie hin und her schüttelte und ihr Tränen aus den Augen trieb. Da sie eng nebeneinander saßen, konnte er dem stummen Gelächter nicht ausweichen, sondern wurde mitgerüttelt. Hätte die Angst ihn nicht festgehalten, wäre er lieber davongerannt.
Allmählich beruhigte sie sich, zog hörbar Luft ein, prustete: Nein, mein Junge, dieses »eigentlich« vergesse ich nicht. Das hast du mir geschenkt. Damit hast du mir unsere ganze beschissene Zeit erklärt: Eigentlich müsste ich jetzt zu Hause im traulichen Heim auf meinen Ehegatten, den Hauptmann Kruse, warten. Eigentlich sollte das Haus hier, in dem eigentlich deine Tante Wanda wohnt, noch stehen. Eigentlich sind wir beide, du und ich, überhaupt nicht vorhanden. Eigentlich müsste mir das Herz weich werden und ich dir sagen, Jungchen …
Sie sprach nicht zu Ende. Mit ihrem Ellenbogen schlug sie hart gegen seine Rippen, wandte den Kopf von ihm ab, sagte mit der alten rauen Stimme, die sie am Anfang hatte: Hau ab! Deine Tante Wanda kannst du nicht ausbuddeln. Hier findest du niemanden mehr. Deine Mutter auch nicht. Solltest du Hunger haben, geh da vorne in das Haus, das zur Hälfte noch steht. In der Waschküche wird Suppe gekocht.
Thomas verstand sie nicht. Weshalb trieb sie ihn mit einem Mal weg? Er wäre sowieso gegangen. Nun behandelte sie ihn wie einen, der sie bestehlen wollte.
Ist ja gut. Auf Wiedersehen.
Er wand sich aus der Enge zwischen ihr und dem Türrahmen, richtete sich auf und blickte auf das Kopftuch. Sie hatte ihren Mann Hauptmann Kruse genannt. Auf Wiedersehen, Frau Kruse, sagte er.
Da hob sie den Kopf und lächelte zum ersten Mal. Eigentlich Frau Kruse, sagte sie, aber das war einmal. Sie klopfte mit ihrem Zeigefinger gegen seine Brust. Auf Wiedersehen, Junge. Iss dich da drüben satt. Sieh zu, dass du deine Mutter findest oder irgendwo einen Unterschlupf.
Es fiel ihm schwer, sich nicht nach ihr umzuschauen. Nun spürte er, wie müde und schwer seine Beine waren. Noch ein paar Schritte, spornte er sich an. Nur noch ein paar Schritte bis zu dem Haus da drüben. Vielleicht gibt’s da wirklich was zu futtern.
Das gab es. Und mehr. Sogar eine Schlafstelle. In dem weitläufigen Keller herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Zwei Frauen schöpften aus einem Waschkessel, der sich offenbar nie leerte, dicke Suppe.
Thomas hielt sein Kochgeschirr hin.
Wieder wurde er gefragt, ob er allein sei. Wieder erzählte er seine Geschichte. Wieder bekamen die Frauen mitleidige Augen. Du wirst sie schon finden, deine Mutter. Selbstverständlich könne er über Nacht bleiben.
Ein alter Mann, der die Schlafplätze zuteilte, öffnete ihm einen Lattenverschlag, wies auf eine schmale Liege und wünschte ihm eine gute Nacht. Da hast du es gut getroffen, sagte er, Karaseks Keller ist nie feucht gewesen.
In einer Holzkiste fand er eine ausgefranste Soldatendecke. Unter der hatten schon viele geschlafen. Sie roch nach Keller und irgendwie nach Schuhwichse.
Nur noch mühsam schaffte er es, sich bequem hinzulegen, den Brotbeutel unter den Kopf zu stopfen, sich zuzudecken. In seinem Kopf war nichts mehr, bloß noch Schlaf.
Zwei Tage lang hielt er sich in dem Keller auf, achtete darauf, dass er niemandem auffiel. In der zweiten Nacht wurde er unsanft geweckt. Er riss die Augen auf, vom Licht einer Taschenlampe geblendet. Beschwichtigend sagte jemand: Es ist ein Kind, lasst es doch schlafen.
Die Hand jedoch, die nach ihm griff, gab nicht nach, zog ihn hoch. Er starrte auf eine Uniformjacke, stand vor einem russischen Soldaten.
Papiere, sagte der Soldat.
Wie kann er Papiere haben, schimpfte der alte Mann. Er ist ein Kind.
Ein Kind, wiederholte der Soldat, so, als lerne er das Wort, ohne seine Bedeutung zu kennen: Ein Kind.
Noch immer hielt der Soldat Thomas am Arm fest. Auf einmal lockerte sich der Griff. Die Hand wurde freundlich und strich Thomas über die Schulter.
Gutt, sagte der Soldat, blieb jedoch unschlüssig stehen. Der alte Mann drängte ihn, überraschend mutig. Der Soldat gab nach und verschwand.
Am frühen Morgen verabschiedete sich Thomas von seinen Gastgebern. Der nächtliche Besuch war ihm nicht geheuer. Vor ein paar Tagen hatte er gehört, dass die Polizei und die Russen streunende Kinder aufgriffen. Das durfte ihm nicht passieren.
Die Frauen steckten ihm Brot und Dörrobst in den Brotbeutel. Der alte Mann begleitete ihn bis auf die Straße.
Thomas war auf die Helligkeit und auf die Hitze nicht gefasst und legte den Arm schützend vor die Augen.
Komm gut an, mein Junge, murmelte der alte Mann und gab ihm einen Schubs. Thomas lief einfach in die Richtung, in die ihn der Alte gestoßen hatte.

Nenn mich Krücke

Auf einmal war der Einbeinige vor ihm. Wie aus dem Boden gewachsen. Thomas folgte ihm, er konnte gar nicht anders. Der hüpfende, hastende Mann, der zwischen zwei Krücken hing, zog ihn wie ein Zauberer hinter sich her.
Er war gekleidet wie einer vom Zirkus. Genau genommen sah er verboten aus. Auf dem Kopf trug er eine zu kleine Schirmmütze. Die blaue Jacke hatte bestimmt einmal zu einem vornehmen Anzug gehört. Nur war sie dem Einbeinigen viel zu groß. Sie hing an ihm wie ein zu weiter Mantel. Die Uniformhose erinnerte daran, dass er Soldat gewesen war und es wohl nie mehr sein würde: Das linke Hosenbein war auf Kniehöhe abgeschnitten und franste aus. Ein großer Stoffbeutel, den er sich umgehängt hatte, schwang bei jedem Krückenschritt mit. Er war dick gefüllt.
Der muss einer von denen sein, dachte Thomas, die hamstern können, die wissen, wo es was gibt, Pferdewurst oder frisches Brot. Solchen Kerlen war er öfter begegnet. Meistens waren sie Einzelgänger, legten Wert darauf, für sich zu bleiben.
Vielleicht, ging es ihm durch den Kopf, vielleicht ist der anders.
Unversehens verschwand der Einbeinige, zwischen seinen Krücken schwingend, in einer Ruine. Thomas blieb erschrocken stehen. Womöglich hatte der Mann ihn bemerkt und wollte ihn nur loswerden. Dann entdeckte er in der Ferne, in einer Staubwolke, einen Jeep. Wahrscheinlich eine russische Streife. Und wusste, weswegen sich der Mann verkrümelt hatte. Er tat es ihm nach, kletterte über eine bröckelnde Mauer, ging in die Hocke, presste sich gegen den warmen Stein und wartete ab, bis sich der Motorenlärm entfernte.
Als es wieder still war, richtete er sich auf, lugte über die Mauer hinweg – der Einbeinige war bereits wieder unterwegs. Thomas hielt einen größeren Abstand als zuvor. Auf keinen Fall wollte er vorzeitig entdeckt und von dem Mann verscheucht werden. Es interessierte ihn, wohin es ihn so zielstrebig zog.
Die Sonne begann zu stechen, und es fiel ihm ein, wie er in dem Zug, den er Wagen für Wagen nach Mutter absuchte, gefroren hatte. Das war lange her.
Sie liefen nun durch Straßen, die von Bomben verschont geblieben waren. Menschen waren unterwegs. Eine Straßenbahn klingelte, trieb ihn zur Seite. Und dann endete die Stadt. Die Häuser wurden niedriger, schäbiger, lösten sich voneinander, standen nicht mehr eng in einer Zeile. Der Himmel weitete sich, und Thomas hatte das Gefühl, er atme leichter.
Vor ihm breitete sich eine merkwürdige Landschaft aus, eine Steppe, in der sich wie auf Inseln Bäume zusammendrängten, struppige Büsche vergeblich versuchten, sich zu Hecken zu vereinen, vereinzelt Häuschen oder Hütten standen. In dieser Steppe gab es Leben. Wo immer sich Menschen bewegten, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit einem Leiterwagen, wirbelten Staubwölkchen auf. Sie wanderten, trieben auseinander, sammelten sich von neuem.
Der Einbeinige sang. Thomas verstand kein Wort, aber es musste ein vergnügtes Lied sein.
Sie liefen in die Weite hinein. Nach einer Weile schwang sich der Mann über einen schmalen Graben, hüpfte auf einen räderlosen, aufgebockten Bauwagen zu, öffnete dort eine Tür und verschwand.
Unentschlossen setzte sich Thomas auf einen Feldstein vor dem Graben. Es war ihm klar, dass er eine Grenze markierte, die er nicht ohne Erlaubnis überschreiten durfte.
Er wartete.
Der Mann machte sich im Wagen zu schaffen, öffnete den Laden der Fensterluke. – Plötzlich stand er in der Tür und schaute zu Thomas hinüber.
Thomas richtete sich auf. Er schaffte es, den Blick des Einbeinigen auszuhalten. Der Mann hatte den komischen Jackenmantel ausgezogen, auch das Hemd, wenn er überhaupt eines darunter anhatte. Das zerrissene Unterhemd hing um einen ausgemergelten Brustkorb.
Hau ab, sagte der Mann, ohne dass sich seine dünnen Lippen bewegten.
Thomas rührte sich nicht und schaute dem Mann in die Augen. Es waren tief in den Höhlen liegende braune Augen.
Hau ab, wiederholte der Mann und hob drohend die eine Krücke. Mach ’ne Mücke.
Was, fragte Thomas, was soll ich machen?
’ne Mücke, wiederholte der Mann. Wenn du es so besser verstehst: Verkrümele dich, verpiss dich, zieh Leine! Ist das klar?
Klar war ihm das schon. Aber er hatte keine Lust, wieder alleine herumzustreunen. Jeden Abend von Angst gebeutelt zu werden, keinen Unterschlupf zu finden, um ein Stück Brot, ein paar Löffel Suppe betteln zu müssen. Das reichte ihm. Er hatte auch den Eindruck, dass es der Einbeinige nicht so ernst meinte.
Thomas setzte sich wieder auf den Stein. Er ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen, blieb auf dem Sprung.
Der Mann lehnte sich locker gegen den Türrahmen, griff in die Hosentasche, fischte Tabak und einen Fetzen Papier heraus, begann, sich eine Zigarette zu drehen. Mutter hatte das »wutzeln« genannt. Das Wort hatte ihm damals gefallen.
Soll ich dir Beine machen?, fragte der Mann. Mit der Zungenspitze fuhr er über den Papierrand und drückte die Zigarette zusammen. Er hatte mehr sich gefragt als Thomas.
Thomas entspannte sich. So wie es aussah, hatte er beinahe gewonnen. Nun musste er nur noch abwarten und jedes falsche Wort vermeiden.
Der Mann sah über ihn hinweg, als beobachte er in der Ferne irgendeine Bewegung. In seinem schmalen, knochigen Gesicht saßen die Schatten wie Wundmale.
Bist du allein?, fragte er, sog an der Zigarette und blies den Rauch aus der Nase.
Gleich kommt er ihm aus den Ohren raus, dachte Thomas. Dann antwortete er: Ja.
Hast du keine Eltern?
Mein Vater ist gefallen. Bei Woronesch, fügte er hinzu. So hatte es in der Zeitungsanzeige gestanden: Gefallen bei Woronesch.
Der Mann blies diesmal den Rauch zwischen den Zähnen durch. Woronesch, das kenne ich. War ziemlich beschissen. Nichts als Schlamm. Und deine Mutter?
Sie war plötzlich weg, als wir in Kolin miteinander auf den Zug gewartet haben. Ich hab sie nicht mehr gefunden. Und Wanda auch nicht. Hier in Wien.
Wer ist Wanda?
Meine Tante. Bei der wollten wir uns treffen, wenn wir uns mal aus den Augen verlieren. Aber das Haus steht nicht mehr.
Ja, sagte der Mann. Da ist eine Menge verschwunden.
Er schien über alle die Menschen und Häuser, die verschwunden waren, nachzugrübeln.
Ich darf bloß nichts Blödes sagen, dachte Thomas erleichtert, dann geht nichts mehr schief. Bestimmt nicht.
Er beobachtete, wie der Einbeinige, den Rücken gegen den Türrahmen gepresst, langsam in die Hocke ging und sich setzte.
Wie heißt du?
Thomas, antwortete er, Thomas Schramm.
Wie alt bist du?
Im August werde ich dreizehn.
Also bald, stellte der Mann fest. Es gelang ihm, die Kippe so weit zu schnipsen, dass sie zischend in den Wassergraben fiel.
Hast du Hunger?, fragte der Mann.
Ja.
Der Mann lachte, strich sich mit der Hand über das heile Bein. Das war schon eine blöde Frage. Er sah Thomas wieder an. Seine Augen wurden um eine Spur größer, trauriger, aber auch freundlicher.
Es hat keinen Sinn, dass wir uns belauern und bekriegen, was? Wir sind beide arm wie die Kirchenmäuse, obwohl ich noch nie eine arme Kirchenmaus gesehen habe. Das kommt davon, dass ich selten in Kirchen gehe.
Der Mann forderte ihn auf, über den Graben zu springen, doch da war Thomas schon drüber. Denn noch immer konnte der alles zurücknehmen. Dem wollte er zuvorkommen. Der Mann kniff die Augen zusammen, ließ ihn an sich vorbei, sagte: Geh mal rein in diese Villa. Auf dem Tisch liegt mein Sammel- und Vorratsbeutel. Pack das Brot aus, die Pferdewurst, hol aus dem Karton neben dem Öfchen Messer und Teller und deck uns den Tisch.
Thomas ließ sich das nicht zweimal sagen. Er erledigte alles ungeheuer schnell.
Fertig?, rief der Mann.
Klar, antwortete Thomas.
In dem Bauwagen gab es erstaunlich viel Platz. Alles Notwendige war vorhanden. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Regal aus gestapelten Obstkisten, die mit Wäsche und Hemden voll gestopft waren. In einer Ecke lag ein Strohsack, auf dem der Einbeinige wohl schlief.
Hilf mir den Tisch hinaustragen, forderte der Mann ihn auf. Hier drinnen ist es zu stickig. Und die Stühle bring nach.
Sie saßen sich gegenüber. Der Mann schnitt die Wurst, das Brot, legte das Messer ab und sagte: Es ist besser, wir reden beim Essen nicht. Wir genießen jeden Bissen. Aber sobald wir fertig sind, muss ich dir was sagen.
Und das tat er dann auch: Ich muss dir was sagen. Du stinkst. Du stinkst wie ein Geißbock, wie eine Tonne Jauche, wie ein Biber. Du stinkst, mein Junge, nach Dreck, nach Schweiß, nach Kohlenfeuer, nach Kellerschimmel. Wann, frage ich dich, hast du zum letzten Mal deine Sachen ausgezogen und gewaschen?
Ich weiß nicht.
Er konnte sich tatsächlich nicht mehr erinnern, wann er sich richtig gewaschen hatte. Sicher, das Gesicht und die Hände schon, wenn sich die Gelegenheit ergab, an kleinen Wasserbecken in Hausgängen oder an Regentonnen.
Pass auf, sagte der Mann. Hinter unserer Villa gibt es eine Wasserpumpe. Und auf dem Öfchen steht ein Topf, den füllst du, doch nur drei viertel voll, sonst kracht der Ofen zusammen. Dann machst du mit Papier und Holz ein Feuer, und sobald das Wasser heiß ist, wäschst du dich. Deine Klamotten ziehst du aus und hängst sie hinten auf die Leine. Deine Unterhose solltest du am Ende auswaschen. Schmierseife gibt’s auch. Also los. Ich räume inzwischen ab.
Bei jedem anderen hätte Thomas aufbegehrt. Bei dem nicht.
Den fand er in Ordnung. Und das mit dem Geruch war ihm selber schon aufgefallen.