Hell-go-land

Natürlich gibt es dieses total verkitschte Helgolandbild, von wegen einzige deutsche Hochseeinsel, tolle Luft, dieses Zeugs. Da denkt man idyllisches Inselchen mit Reetdachhäuschen und weißen Stränden, Möwen schwingen sich postkartenmäßig in den Himmel, Robben wälzen sich fotografiertauglich am Meer. Alles Unfug. Helgoland ist nämlich in Wirklichkeit der letzte Ort, an dem man sein möchte. Jedenfalls, wenn man Xaver heißt, neunundzwanzig Jahre alt ist und aus der Münchner Schickeria kommt. Xaver findet Helgoland so richtig scheiße. Schon auf der Hinfahrt ist ihm schlecht, er kotzt geschätzte zwanzig Mal, vielleicht auch öfter, das weiß er nicht genau, nach dem fünfzehnten Mal hat er aufgehört zu zählen. Der Schiffsbegleiter fragt ihn dauernd, ob er einen Arzt rufen soll, aber Xaver füllt weiter tapfer die Kotztüten, die ihm der Schiffsbegleiter hinhält, und zwischendurch keucht er: Nein, keinen Arzt, passt schon.

Und dann, Helgoland selbst: ein entsetzlich hässlicher Ort. Irgendwann in den 50ern oder 60ern haben sie die Insel neu bebaut, weil nach dem Krieg ja alles kaputtgegangen war, also komplett kaputt, nachdem die Briten versucht haben, die gesamte Insel in die Luft zu blasen, und so sehen die Häuser jetzt auch aus, damals brauchten die Leute noch nicht so viel Platz wie heute, da waren Zimmer in Hasenstallgröße ausreichend. Und weil man auf so einer Insel naturgemäß nicht richtig expandieren kann, was die Immobilienlandschaft angeht, sind die Häuser heute immer noch winzig. Und eben hässlich. Schön, das gab es nach dem Krieg nicht. Schön ist woanders, in München zum Beispiel, da gibt es schöne Häuser mit großen Wohnungen. In Schwabing zum Beispiel, wo Xaver wohnt. Er hat vier Meter hohe Decken und kein Zimmer in seiner WG ist kleiner als zwanzig Quadratmeter. Und was den Rest angeht: Die Möwen scheißen zielgenau auf Xavers Jacke, Robben hat er noch keine gesehen, wurde aber schon gewarnt, auf dem Schiff, bevor er das Kotzen angefangen hat, von wegen bloß nicht zu nah ran an die Viecher, besonders wenn sie Junge haben, und das haben sie wohl gerade, und Strand, also Strand, so wie ihn sich Xaver vorstellt, Strand ist erst ab fünfundzwanzig Grad im Schatten und ohne diesen Dreckswind, der einen ganz verrückt macht, der ist nicht mal warm wie der Föhn, der ist kalt und schneidet einem wie blöde ins Gesicht.

Also kurz: Xaver hasst Helgoland. Und die Ferienwohnung, die er sich gemietet hat, sieht längst nicht so glamourös aus, wie er sich das von den Bildern im Internet her gedacht hat. Ja, lacht der Vermieter, den er Henry nennen soll, hier ist alles etwas enger, aber gemütlicher. Gemütlich, denkt sich Xaver, gemütlich wär jetzt, wenn er seinen Laptop ans Internet anschließen könnte, dazu einen Espresso, aber das geht irgendwie gerade nicht mit dem Internet. Außerdem Tee statt Espresso, und Xaver wird den Verdacht nicht los, dass es hier weit und breit kein Breitband gibt. Handyempfang hat er mit seinem Anbieter auch keinen, es sei denn, er geht – sagt Henry – rauf auf den Berg ins Oberland, je nach Wind ist es manchmal ein bisschen schwierig, mit dem Handy und besonders mit dem Anbieter, den Xaver hat. Xaver fragt sich, wo der Berg auf Helgoland ist, bis er versteht, dass Henry den Hügel hinterm Haus meint. Berg, will Xaver erklären, ist was anderes, auf einem Berg kann man Skifahren und Snowboard, aber Henry lacht nur und sagt: Wir Helgoländer haben unseren eigenen Rhythmus. Was das mit dem Berg zu tun hat, weiß Xaver nicht, aber wahrscheinlich will ihm dieser Henry so durch die Blume erklären, dass alle auf Helgoland voll entspannt sind und die Uhren, haha, langsamer ticken und er sich jetzt darauf einstellen soll. Von wegen.

Ihn nervt jetzt schon alles ganz gewaltig. Auch, dass es hier auf der ganzen Drecksinsel nichts Richtiges zu Essen gibt. Mal eben zu einem guten Italiener, so wie es die in München an jeder Ecke gibt, ist hier nicht. Henry will ihm dauernd ein Fischlokal aufschwatzen, aber mal im Ernst, Xaver will sich nicht umbringen lassen von diesen Fischköppen, wär ja noch schöner, dass er hier an einer Gräte erstickt, nachdem er gerade mühevoll erst seinen Uropa und dann seine Oma vergiftet hat. Das war monatelange Planung, mühevolle Recherche, bis er alles todsicher durchkalkuliert hatte, und das soll ja wohl kaum umsonst gewesen sein. Xaver quetscht aus Henry raus, wo er eventuell ein schönes Wiener Schnitzel bekommen könnte, damit er halbwegs über die Runden kommt, und bevor er irgendwas anderes macht, rennt er in den Edeka, wo alles ungefähr fünfmal so teuer ist wie zu Hause in München, obwohl es in München schon so teuer sein soll, sagen jedenfalls alle, die nicht in München wohnen und dann immer so tun, als würden sie’s von den Lebenden nehmen, die Münchner. Auf Helgoland nehmen sie’s von den Lebenden, ehrlich, aber Xaver beschließt, jetzt erst mal nicht auf den Preis zu schauen, sondern sich einzudecken mit Essen, wer weiß, ob die hier überhaupt außer Fisch was kochen können. Und wenn alles nach Plan geht, und im Planen ist Xaver ein Guter, so als studierter Betriebswirt, wenn also alles nach Plan geht, ist er in ein paar Tagen sowieso ein reicher Mann. Nur deshalb ist er hier, einen anderen Grund, auf diese Drecksinsel zu fahren, gibt es nämlich nicht.

Die Sache ist ganz einfach: Xavers Uropa stammt von Helgoland. Ein ganz zäher Kerl, der allen Ernstes vorhatte, Hundert und noch älter zu werden. Wäre er auch fast geworden, wenn Xaver nicht rechtzeitig nachgeholfen hätte. Xaver hat deshalb nachgeholfen, weil ihm sein Uropa, der John hieß, erzählte, dass er während des Kriegs auf Helgoland sein ganzes Gold verbuddelt hatte. Das liegt da immer noch, sagte der jedes Mal, wenn er seine Geschichte vom verbuddelten Gold erzählte. Das liegt da immer noch, ich kann mit dem Finger auf die Stelle zeigen, wenn du mir eine Karte gibst. Erst interessierte Xaver das nicht übermäßig, eigentlich nur so, wie einen ein Märchen interessiert, aber da war er auch noch klein.

Als er größer war, interessierte es ihn dann doch. Irgendwann hielt er seinem Uropa eine Karte unter die Nase, und John zeigte auf eine Stelle. Klar, musste er ja. Aber Xaver wiederholte das mit der Karte, und John zeigte immer auf dieselbe Stelle. Auch dann, wenn Xaver eine andere Karte genommen hatte, oder die Karte falschrum hinhielt. Immer dieselbe Stelle. Na, und eines Tages erzählte ihm seine Oma, die ja die Tochter von John war, dass sie als Kind dabei gewesen war, wie ihr Vater das Gold vergraben hatte. Sie konnte zwar nicht die Stelle auf der Karte zeigen, wo er gebuddelt hatte, aber Xaver wusste jetzt ganz sicher, dass es das Gold gab. Und wenn sein Uropa keinen Schmarrn erzählte, handelte es sich um einen ganzen Haufen Gold. Von dem man bequem eine Weile leben konnte. Weil, damals auf Helgoland war sein Uropa ein wichtiger Mann, und ein reicher Mann, deshalb musste er ja das Gold verbuddeln, damit es ihm der Feind nicht abnahm, nach fünfundvierzig, so war das, damals.

Jedenfalls, genau das hat Xaver jetzt vor, bequem leben, weshalb ja der Uropa und anschließend die Oma aus dem Weg geräumt werden mussten. Von wegen Erbfolge und so was. Dazu muss man wissen, dass Xaver keine Eltern mehr hat. Also vielleicht einen Vater, aber der ist unbekannt, und die Mutter – das ist eine schlimme Geschichte, weswegen er ja bei seiner Oma aufgewachsen ist. Da soll noch mal einer sagen, Kinder brauchen ihre Eltern, schließlich ist auch ohne Eltern was aus ihm geworden, studiert hat er, und bald hat er auch seinen Doktortitel. Und mal ehrlich, sein Uropa war wirklich steinalt, was hätte der noch von dem Gold gehabt, oder vom Leben, und mit der Oma sah es jetzt nicht so viel besser aus, die war ein bisschen durcheinander, nachdem ihr Vater gestorben war, also Xavers Uropa, und dann ja auch noch ihr Mann, also Xavers Opa, aber damit hatte Xaver wirklich nichts zu tun.

Jetzt hat Xaver also freie Bahn. Er muss weder an seine Oma noch an seinen Uropa das Gold abgeben, er wird nicht mal Erbschaftssteuern zahlen, da hat er sich schon was überlegt, damit er das nicht muss. Das Studium soll ja nicht umsonst gewesen sein. Wenn die beiden noch leben würden, dann wäre seine Oma vielleicht von dem Geld ins Heim gegangen, und so was kostet ja, paartausend Euro im Monat, da ist so ein Vermögen ruckzuck weg, und wer weiß, was sein Uropa für Flausen im Kopf gehabt hätte. Jetzt muss Xaver nur noch das Gold ausbuddeln, wo es der Uropa eingebuddelt hatte, und gut ist’s. Natürlich hat sich Xaver schlau gemacht: An der Stelle, an der das Gold verbuddelt worden ist, steht kein Haus, das ist bis heute kein Bauland, und außerdem gehört der Grund und Boden sowieso dem Uropa. Und jetzt natürlich Xaver als einzigem Erbe.

Da schaut Xaver ganz schön blöd aus der Wäsche, als er mit seiner Ausrüstung inklusive Kompass und allerlei Vermessungsgerät an der Stelle ankommt, an der das Gold liegt. Von wegen nicht bebaut. Überall hat hier jemand was hingebaut, einen Schrebergarten an den nächsten, jede einzelne Parzelle mit einem kleinen Häuschen. Als ob sie nicht schon genug kleine Häuschen hätten, hier auf Helgoland. Xaver kann es nicht glauben. Die Stelle, an der das Gold liegt, befindet sich seinen Berechnungen nach bei einem Häuschen, vor dem eine St.-Pauli-Flagge weht. Am Flaggenmast der Nachbarparzelle weht eine HSV-Flagge. Das sind mit Sicherheit keine guten Nachbarn, denkt sich Xaver, was ihn jetzt aber auch nicht weiterbringt. Er überlegt, ob er rausfinden soll, wem diese Drecksparzelle gehört, oder ob er heute Nacht einfach drauflosbuddeln soll, das Gold nehmen und abhauen.

Das wäre eine Möglichkeit, aber Xaver zögert noch ein bisschen. Weil, wie kann das sein, dass da jemand einfach seine Drecksschrebergartenanlage auf seinen Grund und Boden stellt? Ob sein Uropa davon gewusst hat? Den kann er schlecht fragen. Xaver beschließt, Henry zu fragen, was es mit dieser Schrebergartendreck auf sich hat. Henry ist nämlich nicht nur sein Vermieter, sondern offenbar auch so was wie der Ortsvorsteher, jedenfalls kennt er jeden und weiß alles und ist Helgoländer in der hundertsten Generation, quasi zusammen mit dem Störtebeker sind seine Vorfahren hier angespült worden und nie wieder weggegangen. Außer damals nach dem Krieg, als alle wegmussten. Da dann schon.

Xaver findet Henry hinterm Haus, in dem die Ferienwohnung ist, wo der gerade mit seinem Nachbarn steht und rumdiskutiert wegen der Bebauung, was wohl nicht geht, weil alles untertunnelt ist, von wegen Hitler und Bunker und was nicht alles, und wenn nur die Blindgänger nicht wären. Von Blindgängern hat Xaver noch nichts gehört. Wenn er Internet in seiner dämlichen Ferienwohnung hätte, würde er mal nachschauen, was er da so drüber findet. Henry schwadroniert gerade weiter mit seinem Kollegen rum, und bei Xaver macht es endlich klick: Blindgänger, klar. Erst hatten die Briten versucht, siebenundvierzig die gesamte Insel zu sprengen, eben wegen dieser ganzen Tunnel und Bunkeranlagen, und dann, als die Insel nicht untergehen wollte, nahmen sie sie als Bombenabwurfplatz her. Deshalb die vielen Blindgänger auf der Insel. Gut, dass er das rechtzeitig mitbekommen hat, das muss man sich vorstellen, was, wenn Xaver heute Nacht im Dunkeln nach dem Gold gebuddelt und mal eben an einem Blindgänger rumgekratzt hätte.

Xaver beschließt also, ab jetzt ganz genau zuzuhören. Er horcht Henry und den anderen Kerl aus, und über die Schrebergartenanlage erfährt er, dass natürlich alle wissen, dass das Land dem alten John gehört, falls er noch lebt, und wenn nicht, gehört es eben seinen Kindern, aber da sich der alte John schon seit dem Krieg nicht mehr hat blicken lassen, haben sie irgendwann angefangen, die Schrebergartensiedlung auf seinem Grund anzusiedeln. Ist kein Bauland, wird kein Bauland, was soll der alte John schon dagegen haben. Oder seine Kinder.

Xaver muss sich jetzt was überlegen. Sein Plan war, heimlich das Gold auszubuddeln und sich wieder aus dem Staub zu machen. Bloß damit keiner Fragen stellt oder das am Ende noch irgendwo meldet. Aber andererseits, wozu die Heimlichtuerei? Das Land gehört ihm, das Gold auch, und lieber einen Batzen versteuern, als den Batzen gar nicht erst haben. Also winkt Xaver nach dem Abendessen in einer Kneipe Henry an seinen Tisch, Henry ist da wohl Stammkunde, bestellt Schnaps für sie beide, obwohl er Schnaps nicht abkann, und sagt ihm, wer er wirklich ist, nämlich der Urenkel von John, dem rechtmäßigen Besitzer von dem ganzen Land, auf dem jetzt diese grässlichen Schrebergartenhütten vor sich hingammeln, aber das sagt er nicht laut, das mit dem Grässlich und dem Vor-sich-Hingammeln. Henry staunt nicht schlecht, stößt fröhlich mit ihm an und nennt ihn ab jetzt Cousin. Irgendwie sind sie wohl verwandt, erklärt er, der alte John und sein Opa, die waren verwandt, wie wohl überhaupt so ziemlich alle auf der Insel irgendwie entweder mit Henry oder mit dem alten John verwandt sind. Xaver wird es ganz schlecht, weil er Angst hat, dass es irgendwo noch ein paar Erben gibt, mit denen kein Mensch rechnen konnte. Nach dem fünften Schnaps erzählt ihm Henry dann auch tatsächlich was von einem unehelichen Kind, das John mit einer Cousine von Henrys Oma gezeugt hat, bevor er mit seiner Familie aufs Festland abgehauen ist, einem Sohn, um genau zu sein.

Warum Xavers Uropa damals abgehauen ist, das war auch so eine Sache. Soweit Xaver weiß, war der alte John ganz vorne mit dabei, erste Reihe, sozusagen. John hatte höchstpersönlich mitgeholfen, den Besuch Hitlers auf Helgoland zu organisieren. Durfte ihm als Erster die Hand schütteln. Und als sich dann so langsam abzeichnete, dass das nichts wurde mit dem Tausendjährigen Reich, verbuddelte er sein Gold, verzog sich bei der erstbesten Gelegenheit nach Bayern und hielt da schön die Bälle flach. Weshalb er nie wieder zurück nach Helgoland gekommen war, und auch nie versucht hatte, sein Gold zu holen. Gut für Xaver, wenn man so will. Aber da redet Xaver natürlich nicht mit Henry drüber. Xaver hört lieber weiter zu.

Der Sohn von John, sozusagen Xavers Großonkel, hat keine Nachfahren. Das ist die gute Nachricht für Xaver. Die schlechte ist, dass er immer noch quietschlebendig auf Helgoland rumspringt. Ihm gehört einer dieser Ramschläden, in denen man Whisky und Zigaretten und Schokolade und Wasnichtalles kaufen kann. Auf dem Weg vom Hafen zur Ferienwohnung hat Xaver schon einige gesehen, was ihn spontan angenervt hat. Er ist da von Haus aus misstrauisch, wenn ihm Sachen für wenig Geld angeboten werden, die eigentlich viel Geld kosten. Dann, als er rauf ist aufs Oberland, um nach dem Gold zu schauen, ist er an gefühlt tausend solcher Ramschläden vorbeigekommen. Xaver kauft ja eher bei Ralph Lauren oder La Martina oder Tommy Hilfiger, drunter macht er’s nicht, eher drüber, Maximilianstraße und so, und diese T-Shirts mit »Bier formte diesen wunderschönen Körper« drauf, die fand er schon so richtig scheiße, da war er gerade mal zehn. Dass da heute immer noch einer drüber lacht und so ein T-Shirt kauft, das kann sich Xaver gar nicht vorstellen. Und seinem Großonkel gehört also auch so ein Laden. Na gut. Verwandtschaft heißt ja zum Glück nicht immer zwangläufig, dass man sich ähnlich ist. Gerade bietet Henry ihm an, ihn mit seinem Großonkel bekannt zu machen, der natürlich auch John heißt und von allen der junge John genannt wird, obwohl er schon über sechzig ist, aber alle wissen, wer in Wirklichkeit sein Vater ist, nämlich der alte John. Xaver hebt abwehrend die Hände und tut so, als sei das mit dem unehelichen Kind eine echt harte Nuss für ihn, die er erst mal knacken müsse. Klar, das versteht Henry, bestimmt liegt es daran, dass Xaver aus Bayern kommt, CSU, Trachtenverein, katholisch, ja, das versteht Henry. Und zum Glück erzählt ihm Henry dann noch, wo genau der Laden vom jungen John ist. Falls Xaver mal die Nase reinstecken und nachschauen will.

Das tut Xaver auch am nächsten Tag, nachdem er vorsichtshalber seinen Aufenthalt bei Henry um zwei, drei Tage verlängert hat. Der junge John sieht ein bisschen aus wie ein missglückter Mafioso, Sonnenbrille, tiefbraun gebrannt (aber von wegen wettergegerbt, das ist Selbstbräuner, das sieht Xaver sofort), und wie der alte Mann da so in seinem Laden an der Kasse sitzt und die Touristen zutextet, in einer Sprache, die Xaver nicht richtig versteht, eine Mischung aus Englisch und, was ist das andere, Dänisch? Niederdeutsch? Xaver hat keine Ahnung, aber auch, wenn er seinen Großonkel nicht versteht, eins weiß er doch, der Kerl ist ein Halsabschneider, ein ganz gewiefter. Denn wenn sich Xaver mit was auskennt, dann mit teurem Zeugs, und das teure Zeugs, das bei seinem Großonkel angeboten wird für weniger Geld als auf dem Festland, das ist entweder gefälscht oder es stimmt sonstwas nicht damit. Er geht in den Laden nebenan, dann in noch einen und noch einen und stellt fest, dass nur in dem Laden von seinem Großonkel beschissen wird, was das Zeug hält, woanders ist es okay. Eine interessante Verwandtschaft, die er da hat. Unter betriebswirtschaftlichen Aspekten könnte er sicher eine Menge von dem alten Gauner, also dem jungen John, lernen. Das Problem ist nun nur, dass mit dem jungen John ein direkter Erbe vom alten John da ist. Und das Land gar nicht Xaver, sondern diesem Möchtegern-Mafioso gehört.

Xaver brütet jetzt erst mal vor sich hin. Dazu schließt er sich in seiner Ferienwohnung ein, ihn nervt nämlich, dass es keine Minute windstill ist, und das Gekrähe von diesen Möwen, davon will er erst gar nicht anfangen. Er geht also in den käfiggroßen Zimmer auf und ab, starrt dann und wann aus dem Fenster, von wo aus er den Hafen sehen kann und diese bunten Blechhütten, die sie hier Hummerbuden nennen. An der einen Hummerbude steht »Baumarkt« dran, Xaver kann es gar nicht glauben, dass es so einen kleinen Baumarkt geben kann, und überhaupt fragt er sich, wie man hier überleben soll, so ohne richtige Geschäfte und mit dem Wind und den Drecksmöwen.

Und dann fällt ihm ein, dass nicht nur der junge John der einzige lebende Verwandte ist, den er noch hat, sondern dass das auch umgekehrt so ist. Und wenn der junge John jetzt tot wäre, dann würde doch Xaver wohl alles erben. Dann würde er aber so was von auf der Stelle diesen blöden Ramschladen verkaufen, irgendeiner würde ihm den schon abnehmen, und wenn nicht, oder falls da Schulden drauf wären, dann könnte er das Erbe immer noch ablehnen. Bis dahin hätte er längst das Gold ausgebuddelt und sich aus dem Staub gemacht. Dann würde er in München sitzen und hätte einen Spitzensportwagen und eine geile Wohnung und könnte so richtig auf dicke Hose machen. Klar, da würden sich sicher die meisten als Erstes eine Yacht für den Starnberger See kaufen, aber Xaver hasst das Wasser, ob nun als Meer oder als Fluss oder als See, Wasser ist ihm unheimlich, das braucht er nicht, es sei denn, es ist gefroren und liegt als Schnee auf dem Berg. Am Strand liegen, wo’s warm ist, okay, das ging, aber ins Wasser gehen, never ever. Oder aufs Wasser. Die Fahrt nach Helgoland ist schon elend genug gewesen, zurück wird er wohl einen Flieger nehmen, weil, noch mal kotzen ist ihm dann auch zu arg.

Bis zum Abend ist Xaver immer noch nichts eingefallen, außer, dass dieser junge John im Weg ist und entsorgt gehört. Henry kommt vorbei und sagt ihm, dass er extra für ihn einen bayrischen Abend mit Büfett in der einen Kneipe da geplant hat, und Xaver ahnt schon, was passieren wird: Halb Helgoland wird kommen, damit sie erfahren, dass der Urenkel vom alten John da ist. Und dann wird er ihnen früher oder später sagen müssen, dass der alte John tot ist. Obwohl. Muss er gar nicht. Wird ja keiner die Todesanzeigen aus Fürstenfeldbruck, wo sein Uropa gewohnt hat, hier auf Helgoland lesen.

Tatsächlich ist die kleine Kneipe brechend voll, als Xaver kommt. Wie es Henry geschafft hat, Weißwurst zu organisieren, will er nicht verraten, aber Xaver freut sich dann doch ein bisschen und genießt auch die Aufmerksamkeit. Er erspäht irgendwo im Getümmel seinen Großonkel, und als er sieht, wie der junge John da so säuft und raucht, denkt sich Xaver: Da wird doch so ein kleiner Unfall drin sein. Treppensturz, oder die Klippen runter, irgendwie wird das doch hinzukriegen sein.

Xaver trinkt also an dem Abend nicht so viel, er tut nur so, als würde er kräftig mitsaufen, und er gibt sich auch total leutselig, auch wenn es ihm so vorkommt, als würden ihn alle angaffen wie ein Tier im Zoo. Bayrisch reden soll er dann auch noch, und er muss nur »Grüß Gott« sagen, schon liegen alle vor Lachen auf dem Boden, es ist der Wahnsinn. Der junge John legt gleich mal den Arm um ihn und nennt ihn seinen Neffen, später dann seinen Jungen, und so gegen drei Uhr morgens schleppen sich endlich auch die letzten nach Hause. Xaver lässt sich vom jungen John zu seiner Ferienwohnung bringen, und er versichert sich, dass auch wirklich alle, die die Augen noch halbwegs offen haben, das mitbekommen.

Er schleicht sich dann kurz drauf weg, huscht in der Dunkelheit den Weg entlang, von dem er glaubt, dass ihn der junge John gegangen sein muss, jagt die Treppe zum Oberland rauf, wo der junge John, wie er rausbekommen hat, wohnt, und erwischt ihn, wie er an dem Mäuerchen steht, sich eine Pfeife stopft und melancholisch übers Unterland schaut. Praktisch, denkt sich Xaver. Wenn er es schafft, ihn da runterzubefördern, wird jeder denken, der junge John war so besoffen, dass er über das Mäuerchen gefallen ist. Aber dann denkt sich Xaver, nein, es ist zwar nur ein Mäuerchen, aber es ist nicht niedrig genug, um drüber zu stolpern, also muss er sich was anderes überlegen.