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Für meinen Cousin Tilman, den Hüter unserer Geschichten und Vorfahren.

Und für Michael, ohne den es diesen Roman so nicht gäbe.

ISBN 978-3-492-96756-3

Januar 2016

© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2014

Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin

Coverabbildung: Robert Jones/Arcangel (Bäume, Frau) Yolande de Kort/Arcangel (Tor); Stacy Yu/EyeEm/Getty Images (Himmel mit Zweigen)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Es gibt kein fremdes Land, der Reisende ist es nur, der fremd ist.«

Robert Louis Stevenson

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Henny

In dieser Nacht kommt er zu ihr und er sagt ihren Namen und sie fühlt die Kälte nicht mehr, den Hunger, auch nicht die Angst. Alles, was sie fühlt, ist ihre Hand in der seinen und wie sein Daumen das Grübchen neben ihrem Zeigefinger findet und streichelt, sachte, ganz sachte, damit es nicht kitzelt, also ist er es wirklich und ihre Freude ist unbeschreiblich.

Sie liegt sehr still, wagt kaum zu atmen, lauscht seiner Stimme. Ich liebe dich, du bist mein Leben, mein Alles. Du darfst jetzt nicht aufgeben, Liebste, du musst an uns glauben, es gibt eine Zukunft für uns, ich weiß es.

»Ich liebe dich auch! Ich warte auf dich!«

Henny erstarrt. Wie laut sie gesprochen hat, das darf sie doch nicht. Sie schlägt sich die Hand vor den Mund und blinzelt. Kommt da wer, sind das schon Schritte dort draußen? Hat sie ihn verraten?

Unter der Tür kriecht ein Lichtfaden hindurch, zitternd wie Espenlaub. Neben ihr auf dem Kissen glimmt ein rotes Auge. Sie wagt nicht mehr, sich zu rühren, wartet mit rasendem Herzschlag. Wo sind die anderen? Wo sind die Wachen? Haben die sie gehört, werden sie ihn jetzt holen?

Du musst an uns glauben, es gibt eine Zukunft. Atem rasselt, es ist ihr eigener, begreift sie nach einer zeitlosen Weile, sie ist alleine. Wenn du Angst hast, kannst du nichts werden. Wenn du Angst hast, bist du verraten. Wer hat das gesagt, der Vater, die Mutter? Nein, er. Diese unerschütterliche Zuversicht, sein Vertrauen in sie und in sich selbst. Ins Schicksal.

Sie setzt sich auf und tastet mit dem Zeigefinger der linken Hand behutsam nach dem Grübchen. Wie sie gelacht hat, als sein warmer Daumen das entdeckte. Wie er plötzlich ganz ernst wurde und ihre Hand hob, sie küsste.

Warum ist sie allein, sind die anderen tot? Und er, wo ist er? Sie steht auf, vorsichtig, stützt sich mit einer Hand auf die Bettkante. Der Boden ist tückisch, das weiß sie, er foppt sie und buckelt gern wie ein störrisches Pferdchen. Sie zwingt sich, stehen zu bleiben, und fixiert den Lichtstreif so lange, bis er nicht mehr zittert. Das ist gar kein Stein unter ihren Füßen, kein krustiger Lehm, sondern etwas Glattes, Warmes. Linoleum heißt das, plötzlich fällt ihr das ein. Gelbes Linoleum, das sie ihr ins Zimmer geklebt haben, weil es freundlich ausssieht und praktisch ist, einfach durchwischen und fertig, nach jedem Malheur, aber sie fand den Perserteppich trotzdem viel schöner.

Du darfst jetzt nicht aufgeben, Liebste. Wieder sein süßer Bariton in ihrem Ohr. Er hat recht, sie muss diesen Schrank finden und das, was sie darin verborgen hat, ihr süßes Geheimnis, ganz hinten, wo sonst keiner hinschaut.

Morgen, hat Frieda gesagt. Morgen ist es so weit. Oder nicht?

Was ist heute und wann ist morgen?

Sie muss das herausfinden, jetzt, unbedingt, sie muss wissen, ob es nicht vielleicht schon zu spät ist. Das rote Auge ist der Rufknopf, auch das fällt ihr jetzt wieder ein. Und hier auf dem Nachttisch steht dieser Kasten, aus dem manchmal Musik kommt. Sie neigt den Kopf. Radio. Wecker. An der Vorderseite leuchten Zeichen. Das erste ist ein Kreis. Daneben ist eine Schlange, was mag die bedeuten? Früher hat sie das gewusst. Früher war wann? Aufpassen, Henny, du musst achtgeben auf dich. Nicht den Rufknopf berühren, nur das Licht. Denn wenn nicht die nette Pflegerin kommt, hast du verloren.

Sie schaltet das Licht ein und zuckt zusammen. Möbel und Bilder springen sie an. Der Wandbehang. Sessel und Tisch vor dem Fenster. Die alte Kommode, über die sie sich immer ärgert, weil sie so schwer aufgeht. Jemand hat ihr ein komisches Ding mit Rädern in den Weg gestellt. Ein schwarzer Stock lehnt daran. Sie schiebt sich vorbei, Zentimeter für Zentimeter. Ihre Fußsohlen schaben. Rtsch. Rtsch. Lustig klingt das. Wenn sie keine Angst hätte, würde sie lachen.

Den Schrank kennt sie nicht, aber das, was darin ist, ist wohl doch ihres, denn es kommt ihr bekannt vor. Sie sinkt auf die Knie und langt hinein. Ein Stapel Tischwäsche quillt in ihren Schoß. Dicker Leinenstoff mit Fransen und schön geklöppelten Borten. Aber das ist nicht, was sie sucht. Sondern was? Es ist da, irgendwo hier ganz in ihrer Nähe, sie weiß es. Es muss einfach da sein. Sie muss es nur finden.

Brottücher sind das, was da vor ihr liegt, die breitet man über den Korb, wenn man die Jause hinaus auf die Felder trägt oder zum Kirchfest. Und hier sind auch die größeren Tücher, die über die Türen gelegt werden und über die Spiegel und Möbel. Wann macht man das noch? Wenn jemand gestorben ist. Alles weiß, alles verhängt, nicht nur in der guten Stube, das ist sehr wichtig.

›Wasch dich oft und kalt, bleibst gesund, wirst alt.‹ Sie kichert, das ist lustig und es reimt sich sogar. Bei einer Hochzeit dürfen die Schmucktücher auch bunt sein. Eine Hochzeit, genau, darum geht es. Eine Hochzeit, eine Liebe. Nur eine große in jedem Leben. Du bist mein Leben, mein Alles. Aline. Aline wird heiraten.

›Wer in Frieden sterben will, der dulde viel und schweige still.‹ Noch so ein Reim, woher ist der gekommen? Buchstaben tanzen vor ihren Augen, während sie weitere Fächer durchwühlt. Was war es gleich, was sie sucht, was war so wichtig? Wenn sie sich nur erinnern würde. Wenn nicht diese grausige Macht jeden Tag etwas anderes verschwinden ließe. Dinge und Zeiten und Menschen.

Du darfst jetzt nicht aufgeben, Liebste. Sie nickt, heftig, ein stummes Versprechen, und dann, endlich, findet sie die Schachtel aus Spanholz, und sie weiß, dass es das ist, was sie gesucht hat, und dass nun alles gut wird.