Angela Troni

Ein Kater feiert Weihnachten

Zwei Romane in einem Band

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Inhaltsübersicht

Der entlaufene Weihnachtskater

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Dank

Kater Flo und das Weihnachtswunder

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Epilog

Informationen zum Buch

Über Angela Troni

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Der entlaufene Weihnachtskater

Prolog

Wohlig rekelt sich Kater Flo auf dem Kaminsims, dessen Wärme auf seinen Körper abstrahlt, ehe er sich zusammenrollt und den Kopf auf die Vorderpfoten legt. Endlich Ruhe und Frieden!

Von seinem Lieblingsplatz aus sieht er zu, wie die Schneeflocken draußen vor dem Fenster über den Dezemberhimmel tanzen. Die Rasenfläche im Garten leuchtet weiß, und die Zweige der Bäume und Sträucher biegen sich unter ihrer Last, seit es am frühen Nachmittag endlich angefangen hat zu schneien. Im Schnee sind noch immer die Spuren seines letzten Reviergangs zu erkennen. Die wirbelnden Flocken findet er ja ganz spaßig, auch wenn er sie nicht richtig fangen kann, weil sie sich immer gleich in Luft auflösen, sobald er doch mal eine erwischt hat. Auf das unangenehm kalte Nass an seinen Pfoten bei seinem täglichen Rundgang könnte er hingegen gut verzichten.

Im Wohnzimmer riecht es angenehm nach Tannennadeln, und auch ein Rest Bratenduft liegt noch immer in der Luft. Ein erster Weihnachtsabend, wie er perfekter nicht sein könnte.

Wieso die Menschen immer so ein Bohei darum machen, ob es an Weihnachten schneit oder nicht? Flo weiß es nicht. Das Wichtigste für ihn an diesem Fest ist und bleibt immer noch zweierlei: zum einen die Berge aus herumliegendem Geschenkpapier, in denen man sich so wunderbar vergraben kann und die so schön knistern, wenn man hineinbeißt und sie in tausend Einzelteile zerfetzt. Und zum anderen der Entenbraten, von dem er wie jedes Jahr auch diesmal ein ordentliches Stück abbekommen hat. Sein Bauch spannt ein bisschen, so viel hat er gefressen, aber er ist nun mal kein Kostverächter, und wenn sich schon mal eine solche Köstlichkeit in seinen Futternapf verirrt …

Davon abgesehen ist der Mäusefang im Winter einfach zu beschwerlich.

Verdient hat er sich den servierten Braten dieses Jahr allemal, denn die letzten vierzehn Tage zählten zu den härtesten in seinem Leben. Und der elfjährige Kater hat wahrlich schon einiges erlebt. Umzugschaos, gestresste Menschen, die sein Leben durcheinanderbringen, Revierkämpfe mit kraftstrotzenden Rivalen – da hat er sich ein bisschen Erholung und gutes Futter über die Feiertage verdient.

Sein Blick fällt auf die beiden Menschen, die aneinandergekuschelt auf dem Sofa sitzen und leise miteinander reden. Von dem Punsch auf dem Wohnzimmertisch steigt Dampf auf, und ein zarter Duft weht zu dem Kater herüber. Er seufzt wohlig und schließt die Augen.

Die zwei gehören einfach zusammen, auch wenn es eine Weile gedauert hat, bis sie es beide gemerkt haben. Aber zum Glück gibt es ja ihn, der ihnen selbstlos den rechten Weg gewiesen hat.

Alles ist gut.

1.

Gar nichts war gut. Kater Flo rümpfte die Nase und wandte sich von der grünen Plastikschale ab, die so stark nach Chemie roch, dass sie den Duft seines Futters überlagerte. Sein Napf war offenbar in einem dieser riesigen braunen Pappungetüme verschollen, die überall in der fremd riechenden Wohnung gestapelt waren. Genauso wie sein Katzenbett, das er schmerzlich vermisste. Von dem warmen Kaminsims, auf dem er sich im Winter so gerne zusammenrollte, ganz zu schweigen.

Als Katrin gestern mit der Transportbox angerückt war, die ihn seit je in höchste Alarmbereitschaft versetzte, hatte er für einen Moment befürchtet, er müsse wieder zum Tierarzt, und war erst mal geflohen. Der kugelrunde ältere Herr mit kreisrundem Fellausfall am Hinterkopf und dem starren weißen Zelt, in dem er allerlei Gerätschaften verbarg, war gewiss kein Unmensch. Er konnte gut mit Tieren umgehen, auch wenn er schrecklich roch, nach Medizin und Angst und … Hund. Aber wenn er mit seinem Pikseisen anrückte, war es bei Flo mit der Beherrschung vorbei.

Ein Besuch bei Dr. Herberger war dem Kater diesmal erspart geblieben, allerdings wusste er nicht, ob die muskelbepackten Kerle, die am frühen Morgen die Wohnung gestürmt und eines seiner Lieblingsteile nach dem anderen weggetragen hatten, das bessere Los waren. Fast hätten sie ein Brett auf ihn fallen lassen; in letzter Sekunde hatte Flo sich unters Bett retten können. Allerdings nicht lange, denn kurz darauf hatten die Männer es in seine Einzelteile zerlegt und ihn seiner schützenden Höhle beraubt. Als Katrin ihn daraufhin erneut in den Transportkorb gebeten hatte, war er zum ersten Mal in seinem Leben freiwillig hineingegangen.

Obendrein war Kater Flo vergangene Nacht kaum zur Ruhe gekommen, weil er in dem ganzen Durcheinander keine einzige Ecke gefunden hatte, die er auch nur entfernt als Schlafplatz hätte akzeptieren können. Außerdem war es furchtbar kalt gewesen. Die Heizung hatte sich am späten Abend automatisch ausgestellt, und auf der Fensterbank hatte es gezogen. Und nun vermieste ihm Katrin auch noch das Frühstück, indem sie ihm sein Futter in einer ausgedienten Obstschale vorsetzte.

Das ist unter meiner Katzenwürde, dachte er verärgert. Das lasse ich mir als echte Europäisch Kurzhaar nicht bieten! Sein Magen signalisierte unzweifelhaft erhöhte Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme, aber es gab Grenzen.

Schnurstracks eilte er mit senkrecht aufgerichtetem Schwanz, dessen weiße Spitze zitterte, ins Bad und machte sich daran, ein Zeichen zu setzen. Vor dem Katzenklo, versteht sich. Davon abgesehen, dass er der begriffsstutzigen Katrin eine unmissverständliche Botschaft übermitteln wollte, sah er es als langjähriger Freigänger beim besten Willen nicht ein, eine mit Streusand gefüllte Plastikkiste zu benutzen, in der man seine Hinterlassenschaften nicht anständig verscharren konnte. Zumal die winzigen Körnchen immer zwischen den Pfoten hängen blieben und unangenehm juckten.

Kater Flo war noch nicht ganz fertig mit seiner Unmutsäußerung, da ging das Licht an, und Katrin stieß bei seinem Anblick einen spitzen Schrei aus.

»Du kleine Kröte! Pinkelst hier einfach in mein neues Bad!«, fuhr sie ihn an. Ihre schrille Stimme schmerzte empfindlich in seinen Ohren.

Hilfe, dachte er, wieso ist die Frau denn auf einmal so hysterisch? Sie war doch bisher immer ganz nett. Hat sie heute Nacht etwa genauso schlecht geschlafen wie ich? Irgendwie wirkt sie komplett überfordert. Hat ihr die Ortsveränderung etwa auch so sehr zugesetzt? Weiter kam er nicht mit seinen Überlegungen, denn …

»Na warte, mein Freundchen, dir werde ich helfen!«

Von der Waschmaschine, hinter deren Schaufenster sich so oft verlockend bunte Sachen drehten, die man aber nie fangen konnte, nahm sie ein Handtuch und schleuderte es ihm entgegen.

Sie musste wirklich sehr schlecht geschlafen haben.

Doch Katrin war eben nur ein Mensch und damit viel zu langsam für den schwarz-weißen Kater, der ihr längst durch die Beine geflitzt war. Hinter dem Stapel aus Umzugskartons im Flur suchte er Zuflucht und duckte sich vorsorglich, auch wenn er sicher war, dass sie ihn nie dort finden würde. Auf ihre Nase war im Gegensatz zu seiner eben kein Verlass.

Mit gespitzten Ohren lauschte Flo, wie Katrin die Lache auf den Fliesen fluchend beseitigte. Dabei überlegte er, wie er diesem Chaos hier entkommen könnte. Schließlich war er von Anfang an gegen eine Ortsveränderung gewesen. Nur leider hatte ihn niemand gefragt, ob er aus der gemütlichen Dreizimmerwohnung mit Garten und Katzenklappe in diese winzige, unangenehm nach Farbe und Lösungsmittel riechende Bude umziehen wollte. Noch dazu ohne Olaf.

Der war nämlich ein echter Katzenmensch. Katrin war durchaus nicht unnett, aber manchmal etwas schwer von Begriff. Olaf hatte sofort erkannt, dass Kater Flo ein Feinschmecker war und es nicht mochte, wenn die angebrochene Dose mit dem Futter auf der Fensterbank in der Sonne stand – statt im Kühlschrank, wo sie hingehörte. Aber nun war Olaf verschwunden, und er saß hier mit Katrin zwischen gefühlten tausend Kisten.

Der schwarz-weiße Kater hatte seit Wochen geahnt, dass eine Veränderung anstand, weil seine beiden Dosenöffner sich auf einmal so seltsam verhalten hatten. Zum einen hatten sie plötzlich kaum noch gestritten, was wirklich sehr ungewöhnlich war, wenn auch sehr angenehm für seine sensiblen Ohren. Zum anderen hatten sie eines Tages alle Möbel in der gesamten Wohnung und sogar im Keller mit gelben und roten Zetteln versehen. Kater Flo hatte mehrfach daran geschnuppert, war jedoch zu keinem brauchbaren Ergebnis gekommen. Vorsorglich hatte er sich an allen Möbelstücken noch mal ausgiebig gerieben und sie so markiert. Man konnte ja nie wissen.

Als Olaf und Katrin dann auch noch angefangen hatten, den kompletten Hausstand einzupacken, rechnete der Kater mit nichts Gutem.

Bei strömendem Regen und eisigen Temperaturen waren Flo und Katrin am vergangenen Morgen nun in die Zweizimmerwohnung gezogen. Olaf dagegen war auf Nimmerwiedersehen verschwunden und hatte zu Flos Ärger alle Möbel mit rotem Zettel mitgehen lassen. Darunter auch sein Lieblingsstück, einen alten, abgewetzten Cordsessel. Der hatte immer so lecker nach Minze gerochen, seit Katrin mal eine Tasse Tee darauf verschüttet hatte.

Der Kater war der Verzweiflung nahe.

Allerdings hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es sich nur um ein Missverständnis handelte und Olaf jeden Moment vorbeikam, um ihn von seinem Schicksal zu erlösen. Selbst beim kleinsten Geräusch im Treppenhaus huschte er daher zur dunkelbraun gestrichenen Wohnungstür und lauschte aufmerksam. Aber bisher hatten die Schritte alle nicht geklungen wie das vertraute Stampfen seines Lieblingsmenschen. Das hätte Flo nämlich aus allen Geräuschen dieser Welt herausgehört.

Resigniert drehte er sich zweimal um sich selbst und kringelte sich in seinem Versteck auf dem unangenehm kalten Fliesenboden zusammen. Katzen sind bekanntlich sehr geduldig und können lange reglos verharren, bis sie im richtigen Moment vorschnellen und ihre Beute packen. Diese Eigenschaft machte sich Flo nun zunutze und beschloss, abzuwarten und erst mal den fehlenden Schlaf nachzuholen. Schließlich war er mit seinen elf Jahren nicht mehr der Jüngste, und so ein Umzug ging an die Katzensubstanz.

»Wieso passt das denn nicht zusammen?«

Katrin fluchte zum wiederholten Mal an diesem späten Sonntagmorgen. Seit geschlagenen eineinhalb Stunden versuchte sie nun, die Schlafzimmerkommode zusammenzubauen – ohne jede Chance auf Erfolg. Ohne Montageanleitung war das auch eine überaus große Herausforderung. Olaf hätte aus den verschieden großen Brettern und Schrauben sicher längst ein fertiges Möbelstück gezaubert. Oder er hätte die Anleitung mit seinem Hightech-Handy im Internet gesucht. Mit ihrem alten Knochen dagegen konnte sie gerade mal telefonieren und SMS verschicken. Und im Umgang mit Hammer und Schraubenzieher wollte sich ihr Talent einfach nicht entfalten.

»Es muss auch so gehen«, sagte Katrin mit Nachdruck zu sich selbst. »Olaf gibt es nicht mehr. Jedenfalls nicht in meinem Leben!« Sie atmete tief durch und startete einen neuen Versuch.

Kurz darauf biss sie sich auf die Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie war überfordert. Nicht nur mit dem Umzug und dem Kater, der ihr im Laufe der Jahre fremd geworden war, sondern auch mit ihrer neuen Lebenssituation. Für sie war ein Traum geplatzt. Und sie hatte nicht mal genügend Zeit gehabt, um die Scherben zusammenzukehren. Alles war so schnell gegangen.

Sie musste nun ohne den Mann an ihrer Seite klarkommen. Nach über acht Jahren würde das sicher nicht leicht werden. Aber alleine zu sein war immer noch besser, als sich ständig gegenseitig Vorwürfe und Vorhaltungen zu machen. Olaf und sie passten eben nicht zusammen, ihre Lebensentwürfe waren zu verschieden. Dabei hätte alles perfekt sein können. Vermutlich zu perfekt.

Katrin hatte sich die Zukunft schon in den schillerndsten Farben ausgemalt. Erst die Hochzeit, dann die Schwangerschaft und zwei Jahre Elternzeit. In ihrem Job als Buchhalterin bei einem Autozulieferer wäre das problemlos möglich gewesen, denn ihr Chef war sehr familienfreundlich und flexibel.

Aber dann, an einem sonnigen Junitag, als sie gemeinsam im Garten die Laubhecken zurückgeschnitten hatten, war die Situation endgültig eskaliert. Katrin konnte sich noch an jedes Detail erinnern, sogar an die rotweißkarierte Bluse, die sie getragen hatte, und dass Olaf einen Dreitagebart hatte. Wie schon so oft hatte sie gestichelt, dass es allmählich an der Zeit sei, zu heiraten und an Nachwuchs zu denken. Normalerweise zog Olaf sich dann immer mit einem Witz aus der Affäre oder wechselte zielsicher das Thema. Diesmal jedoch reagierte er ungewohnt heftig.

»Wie oft willst du dieses Thema denn noch diskutieren?«, blaffte er mit hochrotem Kopf los. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst mich nicht so unter Druck setzen. Jetzt reicht’s!«

Völlig verdattert ließ Katrin die Heckenschere sinken. »Was soll das heißen, jetzt reicht’s? Ständig sagst du, du brauchst noch ein bisschen Zeit, aber mir läuft allmählich die Zeit davon. Ich werde nicht jünger und möchte in der Kita nicht für die Großmutter meiner Kinder gehalten werden. Mir reicht’s auch langsam.« Sie hatte sich immer mehr in Rage geredet und funkelte ihn herausfordernd an.

»Ich will nun mal …« Weiter kam er nicht.

»Na klar«, fiel sie ihm ins Wort. »Was ich will, ist ja nicht maßgebend. Du denkst immer nur an dich und deine Karriere. Ich kann das echt nicht mehr hören. Wie es mir geht, ist dir doch egal!« Dabei kam sie ihm mit der Heckenschere gefährlich nahe.

Olaf riss ihr das Gartengerät aus der Hand. »Wer hat denn seinen Willen durchgesetzt? Oder hab ich meine Pläne etwa nicht für dich auf Eis gelegt?«

»Pah! Willst du mir jetzt die Schuld dafür in die Schuhe schieben, dass du in Deutschland geblieben bist? Das ist ja wohl das Letzte! Tu doch, was du nicht lassen kannst!«

»Wenn das so ist, dann kann ich ja mein Zeug packen und gehen. Mir stinkt’s eh schon seit langem. Ich hab weder Lust auf dein ständiges Genörgel noch auf Kinder.« Damit warf er ihr die Heckenschere vor die Füße und ließ sie stehen.

Mit offenem Mund starrte Katrin ihm nach.

Das konnte jetzt nicht sein Ernst sein, war ihr erster Gedanke. Dann wurde ihr klar, was Olaf gerade gesagt hatte, und ein Schauer kroch ihr über den Rücken. So heftig hatten sie bisher erst einmal gestritten, und damals hatte sie sich geschworen, dass es nie wieder vorkommen werde. Nun war der Eid gebrochen.

Erst war sie versucht, ihm nachzulaufen, doch stattdessen griff sie zur Heckenschere und schnitt weiter. Wie ein Roboter. Dass ihr dabei Tränen über die Wangen liefen, merkte sie nicht einmal.

Im Nachhinein konnte sich Katrin ihr Verhalten nicht mehr erklären, aber auch wenn sie in dem Moment versucht hätte, mit Olaf zu sprechen, wäre nichts anders gewesen. Er war tatsächlich gegangen und erst spätabends betrunken zurückgekommen. Sie hatten erneut leidenschaftlich gestritten und sich anschließend ebenso leidenschaftlich versöhnt.

Das war nun genau ein halbes Jahr her. Sie hatten zunächst tatsächlich wieder zueinander gefunden, aber der Frieden täuschte. Der Bruch war da, und sie hatten es nicht geschafft, den Riss wieder zu kitten. Anfang November hatte Olaf ihr dann eröffnet, dass er sich trennen wolle, weil er sich sein Leben anders vorgestellt habe. Er wollte noch mal ins Ausland, etwas wagen. Hier hatte er das Gefühl zu versauern. Resigniert hatte Katrin eingewilligt, denn sie hatte gespürt, dass sich bei ihm ein Schalter umgelegt hatte.

Olafs Offenbarung hatte Katrin schwer getroffen. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass all ihre vorausgegangenen Versuche, ihn von ihrem Lebensentwurf zu überzeugen oder vielmehr zu überreden, grandios fehlgeschlagen waren. Irgendwann hatten sie sich nur noch gegenseitig vorgeworfen, die besten Jahre an den anderen verschwendet zu haben, und aus der Endlosschleife waren sie nicht mehr herausgekommen. Auch wenn sie ihn vielleicht doch noch zu Heirat und Kind hätte überreden können, ein ungutes Gefühl wäre immer zurückgeblieben. Und das würde sich irgendwann rächen.

Der Schmerz saß tief, aber was half es? Sie musste nach vorne blicken und neu anfangen. Vielleicht lernte sie ja noch mal einen Mann kennen, mit dem sie an Familienplanung denken konnte. Katrin war jetzt fünfunddreißig, noch war es nicht zu spät.

Sie strich sich die blonden, schulterlangen Haare hinters Ohr und beschloss, den Zusammenbau zu vertagen, bis Peter vorbeikam. Der Mann ihrer besten Freundin Louisa hatte versprochen, ihr zu helfen, obwohl er als Filialleiter eines Elektromarktes im Dezember besonders eingespannt war. Sie überließ die Kommode ihren Einzelteilen, ging in die Küche und machte sich daran, die Umzugskartons mit dem Geschirr und den Gläsern zu leeren.

Die Küche hatte sie von den Vormietern übernommen, weshalb sie die Schränke sofort einräumen konnte. Die hellen Holzfronten waren ganz nach ihrem Geschmack, und schon beim ersten Betreten war klar gewesen, dass dies ihr Lieblingsraum werden würde. Die Wohnung war recht klein, dafür aber relativ günstig und gut geschnitten. Viel Zeit zum Suchen hatte sie so kurz vor Weihnachten ohnehin nicht gehabt. Olaf hatte ein enormes Tempo vorgelegt, kaum dass sie die Trennung beschlossen hatten, und ihre schöne Gartenwohnung umgehend gekündigt. Die ungewöhnlich kurze Kündigungsfrist von vier Wochen hatte einen kompletten Neuanfang im Turbogang möglich gemacht.

Ausgerechnet am zweiten Adventswochenende hatten sie nun umziehen müssen. Katrin wäre gerne in der alten Wohnung geblieben, konnte sie sich bei ihrem Gehalt jedoch nicht alleine leisten. Ihr war das sowieso alles viel zu schnell gegangen, und sie hätte am liebsten einen Rückzieher gemacht. Aber nun war es zu spät. Olaf war weg.

Das Klingeln ihres Handys riss Katrin aus ihren trüben Gedanken.

»Na, meine Liebe, wie läuft’s? Soll ich dir eine Portion Chili con carne vorbeibringen? Ich hab mal wieder für eine komplette Fußballmannschaft gekocht«, ertönte die Stimme ihrer Freundin Louisa.

Katrin nickte dankbar. Dann sagte sie schnell: »Danke, du rettest mich vor dem Hungertod.«

Keine Viertelstunde später stand die dunkelhaarige Louisa mit einem großen Topf und einer gut gefüllten Einkaufstasche vor der Tür und funkelte Katrin aus ihren meergrünen Augen an. Sie trug einen eleganten Fischgrätmantel und ein graues Wollkleid, und Katrin musste spontan lachen, als sie an ihrer Jogginghose und dem verwaschenen Sweatshirt herunterblickte.

»Bitte verzeih meinen Aufzug, ich hab heute noch nicht geduscht«, sagte sie und hob entschuldigend die Hände.

»Kein Problem, ich werde mir die Nase zuhalten, wenn’s zu schlimm wird«, sagte Louisa und bahnte sich einen Weg in die Küche, wo sie den Topf auf den Herd setzte. »Wie ich dich kenne, hast du wieder mal gar nichts im Haus«, sagte sie fröhlich und begann den Kühlschrank mit Milch, Butter, Joghurt, Wurst und Käse zu füllen.

»Danke, dich schickt der Himmel.«

Louisa winkte ab. »Kein Problem. Das Fest der Nächstenliebe steht schließlich vor der Tür.«

Katrin knuffte sie daraufhin nur freundschaftlich in die Seite.

Das Geräusch der sich öffnenden Kühlschranktür hatte Kater Flo aus seinem Versteck gelockt, der Louisa nun auffordernd um die Beine strich und seinen Kopf an ihrer Strumpfhose rieb. Dabei schnurrte er so laut wie ein Dieselmotor.

»Na, kleiner Mann? Hast du dich schon eingelebt?«

Katrin schnaubte. »Von wegen! Den ganzen Tag versteckt er sich, und fressen tut er auch nicht. Dafür hat er mir heute Morgen ins Bad gepinkelt. Als hätte ich nicht schon genug Sorgen.«

»Jetzt mach aber mal halblang«, versuchte Louisa ihre Freundin zu beschwichtigen. »Für ein Tier in seinem Alter ist so ein Umzug bestimmt nicht leicht. Flo braucht Zeit, bis er sich an die neue Umgebung gewöhnt hat, so ganz ohne Garten.« Mitleid schwang in ihrer Stimme mit.

Katrin seufzte. »Du hast leicht reden. Trotzdem hast du recht, ich bin in letzter Zeit sehr ungeduldig mit ihm.« Sie beugte sich zu Flo herunter und kraulte ihn am Kinn, woraufhin dieser sein Köpfchen in ihre Hand schmiegte. »Vertragen wir uns wieder?«, fragte sie das schnurrende Tier.

»Wieso überlässt du den Kater denn nicht Olaf, wenn du dich alleine so schwer mit ihm tust?«, unterbrach Louisa den Versöhnungsversuch.

Katrin fühlte sich ertappt, ein zartes Rot überzog ihre Wangen. Hastig drehte sie sich zum Herd und rührte das Chili um. »Kommt nicht in die Tüte«, murmelte sie nur knapp.

Niemals hätte sie zugegeben, dass sie Flo als Druckmittel benutzt hatte, in der Hoffnung, Olaf würde es sich noch einmal überlegen. Doch ihr Plan war nicht aufgegangen. Nun saß sie knapp zwei Wochen vor Weihnachten da – ohne Mann und die Aussicht auf ein Kind, dafür mit einem rebellischen Kater. Beim Gedanken an das bevorstehende Fest wurde ihr ganz übel, denn nach Beschaulichkeit und Harmonie stand ihr ganz und gar nicht der Sinn.

Louisa holte sie in die Gegenwart zurück. »Lass uns was essen«, sagte sie, »und dann helfe ich dir beim Einräumen. Es wird Zeit, dass dein neues Leben endlich beginnt! Du bist jetzt frei.«

2.

Endlich frei!, dachte Olaf, als er gegen Viertel vor zwölf die Tür zu seinem Apartment aufschloss. Nach einer langen Sonderschicht war er hundemüde, aber nicht unzufrieden, auch wenn er die Augen kaum noch offenhalten konnte. Die möblierte Einzimmerwohnung, die er nach der Trennung von Katrin angemietet hatte, war genau nach seinem Geschmack: schlicht eingerichtet, mit Spülmaschine und großem Fernseher und nur eine Querstraße von seiner Dienststelle entfernt gelegen. So konnte er sich bis spätabends in die Arbeit stürzen und hatte es nicht weit bis nach Hause. Viel Stress im Job bedeutete wenig Zeit zum Nachdenken, und das kam ihm gerade recht.

Daher hatte er sich freiwillig gemeldet, als nach dem Verschwinden eines sechsjährigen Jungen im Nachbarort eine Sonderkommission gebildet worden war. Seit vier Tagen arbeitete er so gut wie durch, weil die Soko extrem knapp besetzt war, leider bisher ohne brauchbare Ergebnisse. Die Eltern des Jungen, der nach einer Weihnachtsfeier in der Schule nicht nach Hause gekommen war, hatten von Beginn an Druck gemacht. Der Vater war mit dem Bürgermeister befreundet und versuchte seine Beziehungen auszuspielen. Entsprechend nervös waren alle Beteiligten und fahndeten unter höchster Anspannung nach dem Täter.

Olaf machte die gereizte Stimmung unter den Kollegen nichts aus. Er stürzte sich geradezu in die Koordination der Fahndung, mit der er beauftragt worden war, und war fest davon überzeugt, den Fall noch vor den Feiertagen lösen zu können. Jedenfalls hatte er vor, alles in seiner Macht Stehende dafür zu tun.

Der Zufall wollte es, dass Katrin und er nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnten. Anfangs war es ihm nicht recht gewesen, denn er wollte ihr nur ungern unverhofft über den Weg laufen und fühlte sich beobachtet. Allerdings hatten sie sich am Ende nicht im Streit getrennt und wollten sowieso wegen Flo in Kontakt bleiben. Daher war sein ungutes Gefühl bald Gleichgültigkeit gewichen.

Wenn er ehrlich war, ging es ihm nun besser als vorher, und er vermisste nichts. Weder die vielen Auseinandersetzungen mit Katrin noch die plüschige Wohnungseinrichtung, noch die Gartenarbeit, die ihm nie richtig Spaß gemacht hatte und die überwiegend an ihm hängen geblieben war. Einzig Kater Flo ging ihm ab. Er hätte seinen eigensinnigen Kumpel nur zu gerne behalten, aber Katrin hatte darauf bestanden, ihn mitzunehmen. Olaf hatte deswegen keine Diskussion vom Zaun brechen wollen, nachdem die Trennung so friedlich verlaufen war. Dennoch hegte er die stille Hoffnung, dass Katrin es sich nach ein paar Wochen anders überlegen und ihm das Tier überlassen würde.

Zwar hatte sie den damals dreijährigen Kater seinerzeit unbedingt haben wollen und ihn auch im Tierheim ausgesucht, doch gekümmert hatte sie sich so gut wie nie um Flo. »Der geht doch viel raus, der braucht uns nicht«, hatte sie immer gesagt. Nun lebten die beiden im dritten Stock, und der passionierte Mäusefänger war den ganzen Tag eingesperrt. Da bedurfte es nicht allzu viel Phantasie, um sich auszumalen, wie die Möbel bald aussehen würden …

Aber das waren Katrins Sorgen, darüber brauchte er sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Ihn beschäftigte vielmehr seine weitere berufliche Laufbahn, der er sich nun ohne Einschränkungen und ohne schlechtes Gewissen widmen konnte.

Nachdem er seine Schuhe im Flur abgestreift und die Jacke auf die kleine Kommode geworfen hatte, setzte er sich mit dem Thai-Curry, das er sich auf dem Heimweg beim Asia-Imbiss mitgenommen hatte, an den Küchentisch. Aus Bequemlichkeit aß er direkt aus der Plastikschale und nahm nicht mal richtiges Besteck aus der Schublade. Hungrig schlang er das lauwarme Essen herunter und versuchte, nicht daran zu denken, dass Katrin ihm häufig noch spätabends etwas gekocht oder warmgehalten hatte.

Er war dieses Jahr dreißig geworden und hatte beruflich noch einiges vor, da war ein warmes Essen nicht so wichtig. Am liebsten wollte er ins Generalsekretariat von Interpol nach Lyon wechseln, wo eine große Karriere auf ihn wartete. Er sprach hervorragend Französisch und war nach dem Abitur für ein Jahr in Bordeaux gewesen, wo er dank seines Onkels ein Praktikum bei der Police Municipale hatte absolvieren können. Nach der Schule hatte er unbedingt rausgemusst aus dem Vierzigtausend-Einwohner-Ort, in dem er aufgewachsen war. Frankreich hatte ihn schon zu Schulzeiten fasziniert, und ein längerer Aufenthalt dort stand seit Jahren auf der Liste seiner Lebenswünsche.

Dennoch war er erst mal nach Deutschland zurückgekehrt, um auf die Polizeischule zu gehen. Er hatte die höhere Beamtenlaufbahn eingeschlagen und war nun seit zwei Jahren Kommissar. Der Job füllte ihn aus und machte ihm Spaß, aber der Wunsch nach einem Leben im Ausland war stets mehr oder weniger stark präsent. Hätte er Katrin nicht vor acht Jahren kennengelernt, wäre er sicher längst nicht mehr in Deutschland. Ihretwegen war er geblieben und hatte es lange Zeit auch nicht bereut.

Katrin war anfangs von seinen Plänen fasziniert gewesen und hatte ihn bestärkt, doch je konkreter sie wurden, desto zurückhaltender reagierte sie. Vor knapp einem Jahr hatte er sie dann gefragt, ob sie mit ihm für drei Jahre nach Frankreich gehen wolle. Sie hatten an einem lauen Sommerabend beim Spanier um die Ecke das Wochenende bei einem Glas Rioja ausklingen lassen. Einträchtig saßen sie nebeneinander, ließen sich eingelegte Oliven und Manchego schmecken. Olaf hielt den Moment für günstig und wagte es, seinen Wunsch in Worte zu fassen.

»Nein«, lautete Katrins ebenso knappe wie ernüchternde Antwort. »Das kommt für mich nicht infrage.«

Olaf ließ den Zahnstocher mit der Olive wieder sinken. »Warum nicht? Was spricht denn gegen ein bisschen Abwechslung in unserem Leben?«

Sofort fühlte sie sich angegriffen. »Was soll das denn heißen? Ist es dir etwa langweilig mit mir?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn abwartend an.

Damit war die harmonische Stimmung verpufft. Die milde Abendluft fühlte sich auf einmal unangenehm klamm an.

»Nein, keineswegs.« Olaf versuchte diplomatisch zu sein, auch wenn das nicht zu seinen Stärken gehörte, und hob abwehrend beide Hände. »Ich dachte nur, dass wir zusammen noch mal was Neues beginnen sollten …« Aufmunternd sah er seine Freundin an. Er war wirklich bereit, diesen Schritt mit ihr gemeinsam zu gehen, und wünschte sich nichts mehr, als dass sie ihn begleitete.

Katrin schüttelte den Kopf. »Das klingt vielleicht verlockend, aber es geht einfach nicht. Denk doch mal nach, Olaf. Wie sollen wir das organisieren? Ich müsste meinen Job kündigen. Wir müssten die schöne Wohnung aufgeben. So ein Umzug ins Ausland ist ein Riesenakt. Und was machen wir mit Flo?« Sie war beim Sprechen immer lauter geworden, als müsste sie ihren Worten Nachdruck verleihen.

Olaf hätte auch so erkannt, dass er sie niemals würde umstimmen können. Resigniert zuckte er die Achseln und kippte den restlichen Wein in einem Zug herunter. »Na schön, dann eben nicht.« Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, noch einen Satz hinterherzuschieben. »Lasse ich die tolle Karrierechance eben sausen.« Sie sollte ruhig wissen, worum es für ihn ging.

Der Satz brachte das Fass bei Katrin offenbar zum Überlaufen. Ohne sich um die anderen Gäste zu kümmern, die schon seit einer Weile zu ihnen herübersahen, pampte sie los: »Im Gegensatz zu dir Nimmersatt bin ich eben zufrieden mit dem, was ich habe, und muss nicht ständig noch mehr haben. Was kann ich dafür, dass dir der höhere Dienst bei der Polizei zu Kopfe gestiegen ist? Glaub ja nicht, dass ich wegen deinem Größenwahn bereit bin, auf der Strecke zu bleiben.«

Als sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, wurde es Olaf zu viel, und er sprang auf. Er legte fünfzehn Euro auf den Tisch und wandte sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen. Katrin, die sich der Blicke der Umsitzenden auf einmal bewusst wurde, zog ihre Strickjacke an und folgte ihm.

Auf dem Nachhauseweg hatten sie geschwiegen. Jeder hatte seinen Gedanken nachgehangen. Dies war der erste richtig heftige Streit gewesen, und es war, als wäre an jenem Abend das starke Tau, das sie miteinander verband, im Verborgenen angerissen. Mit der Zeit wurde es immer poröser und schwächer, bis die Liebe zwischen den beiden nur noch an einem seidenen Faden hing – der schließlich endgültig riss.

An diesen stummen Spaziergang musste Olaf zurückdenken, als er ein Weizenbier aus dem Kühlschrank nahm und es sich einschenkte. Das Glas in der einen, die Post in der anderen Hand ging er ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Er öffnete die Briefe, konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren. Mehrfach wanderten seine Gedanken zu dem Abend bei dem Spanier zurück, an dem das Ende ihrer Beziehung seinen Anfang genommen hatte.

Olaf trank einen tiefen Schluck und fragte sich, ob er sich so sehr in Katrin getäuscht hatte. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie ihm trotz des Altersunterschieds von fünf Jahren jünger vorgekommen als einige seiner bisherigen Freundinnen. Sie hatte vor Lebenslust und Energie gesprüht und war kaum zu bremsen gewesen. Wie oft hatte sie ihn abends vom Sofa gejagt und zum Sport, ins Kino oder in ein Konzert gelockt. Er hatte sich von ihrem Elan anstecken lassen und es sehr genossen.

Was war aus dieser lebendigen Katrin geworden? Wieso hatte sie so viel Angst vor allem Neuen? Was befürchtete sie? Mit gerade mal fünfunddreißig war sie erstaunlich unflexibel und nicht sonderlich erpicht auf Abenteuer. Sie schätzte ihre Freunde und ihr soziales Umfeld sehr und war nicht gewillt, dies alles für eine »ungewisse Zukunft« aufzugeben, wie sie sich ausgedrückt hatte. Olaf, der bis zu diesem Streit der Ansicht gewesen war, dass sie gemeinsam jede Hürde meistern konnten, war schwer enttäuscht gewesen.

Nach der Auseinandersetzung in dem Lokal hatte ihn zum ersten Mal das Gefühl beschlichen, dass Katrin doch nicht die Richtige sein könnte. Der Gedanke war unangenehm und schmerzte, aber einmal gedacht, ließ er sich nicht mehr gänzlich verdrängen. Wann immer in der nächsten Zeit etwas nicht rund gelaufen war oder sie gestritten hatten, hatte er sich wieder in Olafs Bewusstsein geschoben. Wie das flaue Gefühl im Bauch, das einen schwindeln lässt, wenn man sich auf einem hohen Turm zu weit nach vorne beugt, um in die Tiefe zu blicken. Der stete Tropfen hatte den Stein gehöhlt, und mit Katrins Wutausbruch beim Heckenschneiden war das Maß voll gewesen.

Eigentlich schade, dachte er und trank einen weiteren Schluck Bier. Katrin ist eine tolle Frau. Nur leider nicht für mich.

Um sich abzulenken, schaltete er den Fernseher ein und zappte sich durch die Programme. Zu später Stunde kamen oft spannende Filme oder interessante Dokumentationen, außerdem konnte er viel besser abschalten, wenn er sich noch ein wenig berieseln ließ, bevor er schlafen ging. Dass er vor Erschöpfung oft meist nach wenigen Minuten einschlief und mitten in der Nacht frierend und mit steifem Nacken aufwachte, störte ihn nicht weiter. Jedes Mal nahm er sich vor, nur kurz Nachrichten zu schauen, und dann blieb er doch wieder irgendwo hängen. Katrin hatte immer gemeckert, wenn sie die halbe Nacht alleine im Bett lag, doch nun wartete niemand mehr auf ihn.

Auch diesmal verfolgte er anfangs gebannt einen Tatort, der im Drogenmilieu spielte. Dann fielen ihm die Augen zu, und er dämmerte weg. Der Fernseher war so programmiert, dass er sich nach sechzig Minuten automatisch ausschaltete, das Licht im Wohnzimmer brannte dagegen die ganze Nacht.

In einer großzügigen Wohnung knapp drei Kilometer Luftlinie entfernt brannte ebenfalls noch Licht. Die Ergotherapeutin Heike saß in einer Ecke des Wohnzimmers über ihrem Antrag auf Existenzförderung am Schreibtisch und versuchte, Ordnung in ihre Unterlagen zu bringen.

Eigentlich hatte sie sich schon im Herbst den Traum von der eigenen Praxis erfüllen wollen, doch chaotisch, wie sie war, hatte sie für die vielen Formalitäten deutlich länger gebraucht als geplant. Ihre Chefin, die aus privaten Gründen kürzer treten wollte, hatte ihr angeboten, sie beim Schritt in die Selbstständigkeit zu unterstützen. So hatte sie die Kinder und Jugendlichen, mit denen ihr die Arbeit am meisten Spaß machte, unter den Patienten übernommen und ihren eigenen Kundenstamm gebildet. Noch arbeitete sie ihrer alten Chefin zu, aber sobald der Antrag durch war, würde sie auf eigenen Beinen stehen.

Immerhin hatte sie inzwischen nach langer Suche die idealen Räumlichkeiten gefunden: eine ausreichend große, helle Erdgeschosswohnung mit einem zusätzlichen Zimmer samt Gästebad im Souterrain, das über das Treppenhaus zu erreichen war. Den kleinen Vorraum im Keller hatte sie kurzerhand zum Wartezimmer umfunktioniert, und auf der Tür zum Gästebad prangte ein Schild mit der Aufschrift »Patiententoilette«. Das war zwar nur eine Notlösung, aber für den Anfang praktikabel, da der Wohn- und Therapiebereich getrennt waren. Eine richtige Praxis mit verschiedenen Behandlungsräumen und einem Außenbereich inklusive Spielgeräte war vorerst nicht drin, da sie knapp kalkulieren musste.

Zum Glück hatte ihr das Paar, das vor ihr hier gewohnt hatte, die Küche und einige andere Möbelstücke überlassen, so dass die Liste ihrer Anschaffungen einigermaßen überschaubar blieb. Sie war sich mit der netten Vormieterin, mit der sie verhandelt hatte, schnell einig geworden. Die Esszimmerstühle der beiden eigneten sich hervorragend als Bestuhlung für den Wartebereich, und den großen Esstisch aus mattiertem Milchglas hatte sie einfach zu ihrem Schreibtisch umfunktioniert.

Müde stützte Heike den Kopf in die linke Hand und tippte mit dem rechten Zeigefinger weiter. Immer wieder fielen ihr dabei die langen, dunklen Locken ins Gesicht. Sie versuchte, sie im Nacken zusammenzudrehen, doch ohne Haargummi lösten sich sofort wieder einige Strähnen.

»So wird das nichts«, murmelte Heike kurz darauf und klickte auf »Datei speichern«, ehe sie das Dokument schloss und den Rechner herunterfuhr. Ihre Augen brannten, und sie konnte sich kaum mehr konzentrieren. Sie gähnte herzhaft und beschloss, am nächsten Abend damit weiterzumachen. Auf einen Tag mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an. Vermutlich würde so kurz vor Weihnachten sowieso niemand mehr ihren Antrag bearbeiten.

Ein Blick auf die Uhr entlockte ihr ein Seufzen: halb eins. Heike rieb sich die Schläfen und massierte mit geübtem Griff ihren Nacken. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen, denn in sechseinhalb Stunden wartete schon der kleine Lukas auf sie. Er war bekennender Frühaufsteher und morgens putzmunter, weshalb seine Mutter um einen Termin vor Unterrichtsbeginn gebeten hatte.

Auch wenn Heike zurzeit nur wenig Schlaf bekam, in ihrem Job gab sie immer alles und war voll bei der Sache. Das war sie ihren kleinen Patienten schuldig. Sie behandelte fast ausschließlich Kinder, bei denen im Rahmen der üblichen Vorsorgeuntersuchungen motorische Defizite oder Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert wurden. Dabei arbeitete sie wie bisher bei ihrer Chefin auch weiterhin eng mit einer befreundeten Logopädin zusammen.

Für die beiden Frauen gab es nichts Schöneres, als die Entwicklung der Kinder zu begleiten und ihre Fortschritte hautnah mitzuerleben. Die emotionale Stärkung in der Therapie setzte in den meisten Fällen eine erstaunliche Entwicklung in Gang. Wenn beispielsweise ein Mädchen im Kindergartenalter, das weder eine Schere richtig halten geschweige denn etwas ausschneiden konnte, auf einmal mit Begeisterung einen Nikolaus bastelte und ihn anschließend stolz präsentierte, freuten sie sich oft genauso wie die Eltern. Oder wenn ein Schüler, dem es bisher unmöglich war, sich längere Zeit auf einen Text oder eine Aufgabe zu konzentrieren, mit Erfolgserlebnissen beim Lösen von Textaufgaben belohnt wurde, war dies das größte Geschenk für sie. Heike hatte wahrlich ihre Berufung gefunden, und mit der eigenen Praxis hatte sie sich einen großen Traum erfüllt.