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Über dieses Buch:

„Ihr macht kein Babyschwimmen? Ja, war es denn kein Wunschkind?“ Wer heutzutage Kinder hat, der muss sich mit dem Thema Babyschwimmen beschäftigen, schon deswegen, weil es alle tun. Leistungsdruck unter Eltern, schüchterne Phasen bei den Kleinen, Liebesdramen auf dem Spielplatz – charmant und witzig erzählt Maximilian Buddenbohm aus seinem Alltag mit Herzdame, Sohn I und Sohn II. Was macht ein Kind in der Küche, wenn es sich unbeobachtet fühlt? Warum sind Hello-Kitty-Haarspangen beim Fahrradfahren so unpraktisch? Und wieso sind Babys morgens eigentlich immer so prächtig gelaunt?

Maximilian Buddenbohm schildert das ganz alltägliche Chaos auf höchst amüsante Weise und mit großer Leichtigkeit – denn schließlich ist alles nur eine Phase.

Bei dotbooks veröffentlichte Maximilian Buddenbohm außerdem „Zwei, drei, vier – Wie ich eine Familie wurde“.

Über den Autor:

Maximilian Buddenbohm, geboren 1966 in Lübeck, studierte Bibliothekswesen in Hamburg. Heute arbeitet er als Autor für Zeitungen, Zeitschriften und Onlinemedien und nebenbei als Controller. In seinem Blog „Herzdamengeschichten“ berichtet er vom Leben mit seiner Frau (der Herzdame) und seinen zwei Söhnen.

Maximilian Buddenbohm im Internet: http://www.herzdamengeschichten.de

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Neuausgabe September 2014

Copyright © der Originalausgabe 2011 Sankt Ulrich Verlag GmbH, Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

ISBN 978-3-95520-319-1

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Maximilian Buddenbohm

Das Rosinenbrötchen

Meine Familie, das Chaos und ich

dotbooks.

Für Julia & Tobias

Mit Dank an die Herzdame,
die unglaubliche Opfer gebracht hat,
damit ich genug Zeit zum Schreiben hatte.
(Man macht sich keinen Begriff, was passiert wäre, wenn ich das nicht genau so da hingeschrieben hätte)

Die wichtigste Mahlzeit des Tages

Es ist immer interessant, was Kinder tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Man wirft einen Blick auf das echte Wesen des Kindes, das sich gerade nicht irgendeiner erzieherischen Anforderung beugen muss oder jemandem gefallen will, das seine Handlungen nicht auf Aufmerksamkeit ausrichtet und nicht aus Trotz agiert. Es ist einfach so, wie es ist. Pur und ohne jeden Anpassungsdruck.

Es war noch sehr früh am Morgen, Sohn I vermutete mich gerade im Badezimmer. Er stromerte durch die Wohnung und betrat schließlich die Küche. Er ahnte nicht, dass ich zufällig gerade im dunklen Flur stand, von wo aus ich ihn gut sehen konnte. Der Sohn ging zum Kühlschrank, öffnete lässig die Kindersicherung und machte die Tür auf. Er nahm eine Packung Jagdwurst und riss sie mit den Zähnen auf, zerrte drei Scheiben Wurst aus der Packung und warf sie auf den Küchentisch. Dann trat er die Kühlschranktür schwungvoll zu und schloss sorgsam die Kindersicherung. Er schob sich einen Stuhl an die Arbeitsplatte, kletterte hinauf und angelte mit langem Arm nach dem Brotkasten. Er nahm das Toastbrot heraus und steckte eine Scheibe in den Toaster.

Guck an, dachte ich erfreut, ist die tausendfach gepredigte Botschaft „keine Wurst ohne Brot“ doch tatsächlich bei ihm angekommen, wer hätte das gedacht. Hat es am Ende doch seinen Sinn, wenn man elterliche Botschaften jeden Morgen in Endlosschleife wiederholt. So etwas freut einen als Vater ungemein, wenn die pädagogischen Bemühungen so offensichtlich Früchte tragen. Der Sohn kletterte wieder von der Arbeitsplatte runter, ging zum Küchentisch und stopfte sich die drei Scheiben Wurst auf einmal in den Mund. Dann kletterte er schnell noch einmal zum Toaster, der gerade das Brot ausspuckte. Er nahm die geröstete Scheibe, stieg ab, ging zum Müll und warf sie weg. Er fegte mit dem Zeigefinger sorgfältig zwei Krümel vom Mülleimerrand und blieb einen Augenblick stehen, denn das Kauen der Wurstmenge erforderte seine ganze Konzentration. Seine vollgestopften Backen hatten etwas Hamsterhaftes. Er schluckte angestrengt.

Dann ging er aus der Küche, um nachzusehen, was der Rest der Familie so trieb. Er sah mich im Flur, schluckte schnell und würgend den allerletzten Wurstrest und sagte dann freudestrahlend: „Hab ich gefrühstückt. Mit Brot!“

Der böse Blick

Nachdem mein erstes Buch erschienen war, wollte der Norddeutsche Rundfunk ein kurzes oder, besser gesagt, ein winziges Porträt über mich drehen. Ein paar heitere Einstellungen, auf denen man diesen Spielplatz sehen sollte, der in meinen Texten so oft vorkam. Ein Kameraschwenk auf die Herzdame, einen auf die Söhne und dann vielleicht noch ein, zwei Szenen aus meinen Geschichten, zum Beispiel Sohn II vor der Winkekatze [siehe den Text „Sohn II übernimmt“ weiter hinten in diesem Buch]. Das klang soweit recht einfach und machbar. Ich habe sofort zugesagt.

Das Fernsehteam vom NDR war dann überraschenderweise immerhin vier Mann stark. Ein Redakteur, der tatsächlich mit einem klischeehaften Klemmbrett unter dem Arm herumlief, eine Frau mit großer Kamera, ein Mann für den Ton – und dann noch eine Frau, die nur für den Fall da war, dass es noch etwas zu tun gebe. Diese Technikerin trug einen Werkzeuggürtel mit einer McGyver-haften Ausrüstung und stand etwas verloren auf dem Spielplatz neben der Sandkiste, an der es beim besten Willen für sie nichts herumzuschrauben gab.

Der Mann vom NDR besah sich die Szene und sagte, die Herzdame solle einmal böse gucken, das sei ja wohl typisch für die Familienszenen bei uns, das mache ja den Reiz der Geschichten aus, dieses etwas ruppige und doch irgendwie liebevolle Miteinander.

„Genau“, sagte ich, „super, so machen wir das. Ich spiel hier mal lustig mit den Kindern rum und sie guckt böse und schlecht gelaunt von da drüben. Alles wie immer, alles ganz einfach. Los geht’s.“

Ich stemmte den fröhlich lachenden Sohn II auf der Wippe hoch und runter, Sohn I buddelte engagiert vor uns im Sand herum, die Herzdame stand etwas weiter weg, sah uns zu – und lächelte wie eine Madonna.

„Böse gucken bitte“, sagte der Mann vom NDR irritiert, „böse gucken, so wie im Buch. Sie wissen schon.“ Die Herzdame grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Da stimmt etwas mit deinem Gesicht nicht“, sagte ich. Die Herzdame strahlte mich an, als wäre ich Prince Charming in Person. „So hast du mich zuletzt bei der Hochzeit angesehen“, sagte ich, „das wird mir hier gleich unheimlich.“ Der Mann vom NDR sagte noch einmal „böse gucken, bitte“, er sprach es jetzt sehr langsam aus und betonte die Silben etwas deutlicher. Die Herzdame drehte sich um, sah in den Himmel und massierte ihre Wangen.

„Ich krieg’s nicht weg“, sagte sie dann und grimassierte bedenklich, „ich kann nicht aufhören. Die Kamera. Das geht so alles nicht.“

Der Mann vom NDR sagte, wir könnten auch einfach etwas warten, sie hätten heute keinen weiteren Drehtermin, das ginge schon. Ich sagte, ja, zwei, drei Minuten müssten reichen, länger als zwei Minuten freundlich zu gucken sei extrem wesensfremd für Menschen aus Nordostwestfalen, da könne er ganz beruhigt sein. Die Herzdame stand neben uns und strahlte weiter, als hätte es mehrere Glas Prosecco zum Frühstück gegeben.

„Schluss jetzt“, sagte ich, „sonst kneife ich dieses Kind hier, dann hast du einen Grund für böse Blicke.“ Ich nahm Sohn II hoch, der wütend protestierte, weil er dringend weiter wippen wollte. Die Herzdame lachte freundlich. Sie legte den Kopf schief wie ein balzender Wellensittich und guckte mich lächelnd an. „Vielleicht sollten wir einfach eine andere Frau filmen“, schlug ich vor. „Irgendeine schlechtgelaunte Dame wird hier ja leihweise zu finden sein, immerhin ist das ein Spielplatz und Hauptsache, da ist eine Frau im Bild.“

Die Herzdame machte die seltsamsten Gesichtsausdrücke, ein böser war nicht dabei. „Was hat Mama denn?“, fragte Sohn I und guckte seine Mutter besorgt an. „Mama versucht nur normal zu sein“, sagte ich, „alles in Ordnung. Glaube ich.“ Die Herzdame sah aus, als würde sie das Beißen in Zitronen pantomimisch nachspielen, diese Art des Grimassierens hatte ich zuletzt bei den etwa Dreijährigen im Kindergarten gesehen. Nach einer Weile gingen ihre mühsam und mit letzter Willenskraft nach unten gezerrten Mundwinkel aber unvermeidlich wieder nach oben, wie von starken Fäden gezogen. „Nichts zu machen“, sagte sie schließlich, „wenn das mal bloß kein bleibender Schaden ist.“

Die Frau mit der Kamera sah mittlerweile ziemlich gereizt aus, der Redakteur blätterte gelangweilt in den Blättern auf seinem Klemmbrett. Der Mann mit dem Mikro half währenddessen anderen Kindern auf der Rutsche und die Frau mit dem Werkzeuggürtel verteidigte ihre Schraubenzieher gegen ein Rudel von kleinen Jungs, die energisch an den Gerätschaften herumzogen und alles ganz genau erklärt haben wollten.

Der Redakteur ging auf dem Spielplatz auf und ab und sah sich nach anderen Motiven um. Dann ging die ganze Filmmannschaft zu den großen Reifenschaukeln, um dort etwas zu besprechen. Der Herzdame wurde es jetzt zu viel, sie sah gestresst aus und fragte, ob wir das jetzt endlich beenden könnten, sie habe übrigens auch gar nicht ins Fernsehen gewollt, das sei hier alles nur so schwierig, weil ihr Mann unbedingt Bücher schreiben müsse und überhaupt.

„Jetzt“, rief ich den Filmleuten zu, „jetzt ist der Blick da!“. Ich winkte über den Spielplatz. Die Kamerafrau drehte sich um und schulterte in bemerkenswerter Geschwindigkeit ihr schweres Gerät, der Mann vom Ton wirbelte mit dem Mikro herum und stürmte stolpernd durch die Sandkiste auf uns zu.

Das Gesicht der Herzdame heiterte sich schlagartig auf, als würde sie gerade den Musikantenstadl moderieren. Die Filmleute blieben abrupt stehen. „Hoffnungslos“, sagte ich. Die Herzdame sagte, sie könne sich das gar nicht erklären, das sei anscheinend ein bisher nicht bekannter Lächelzwang vor Kameras, sie könne leider absolut nichts dagegen machen.

„Ja“, sagte ich, „das ist nicht zu übersehen. Interessante Sache. Könnten wir nicht vielleicht im Schlafzimmer eine Kamera an die Wand montieren?“

Und da hat sie dann doch noch richtig finster geguckt. Aber da haben die vom NDR schon wieder in der Sandkiste gesessen und über ihrem Drehplan gebrütet.

Mission Schwein

Die Bilderbücher für Kleinkinder sind auch heute noch durchweg der heilen Welt aus seliger Vergangenheit verhaftet, weswegen der Nachwuchs weiterhin in dem Glauben groß wird, es gebe irgendwo da draußen romantische Bauernhöfe, auf denen sich im sonnigen Hof eine Kuh mit einem Schwein unterhält, während ein paar Hühner fröhlich um sie herum golden leuchtende Körner vom Lehmboden aufpicken, die eine pummelige Bauersfrau in bunter Tracht gerade lässig mit einem Reisigbesen zusammenfegt. Hinter dem Hof ein idyllischer Teich, auf dem Enten und Gänse gemütlich schaukeln und dicke Frösche fröhlich planschen, umschwebt von schillernden Libellen. Auf dem alten Baum daneben eine Eule, die mit einem Eichhörnchen über das Wetter redet. Tatsächlich sieht zwar nicht einmal der nächste Demeter-Hof auch nur annähernd so aus, aber das scheint niemanden zu stören. Es sind nicht einige wenige Bilderbücher, in denen es um diese seltsame Bauernhofidylle geht, es sind sehr viele, es sind, man kann das in jeder Buchhandlung überprüfen, alle. Kinder brauchen genau solche Bauernhöfe, mag der eine oder andere vielleicht denken. Ich weiß nicht recht.

Wir leben im Zentrum einer Millionenstadt, hier gibt es Hunde und Tauben und Enten und sonst nicht viel mehr Getier, wenn man von den gewöhnlicheren Insekten einmal absieht. Es gibt hier auch keine Felder, keine Äcker und keine Scheunen voller Heu. Wenn wir die Straße entlanggehen, treffen wir vielleicht tausend Menschen, aber wahrscheinlich ist kein einziger von ihnen Landwirt. Vielleicht arbeitet einer von ihnen als Lobbyist der Tierfutterindustrie, aber näher kommen wir dem Thema Landwirtschaft hier nicht. Möglicherweise ist es aus irgendeinem Grund trotzdem pädagogisch wertvoll, dem Kind jeden Tag Bilder von Strohballen und Mistgabeln zu zeigen. Wenn es dann später im Leben in irgendeinem heimatkundlichen Museum endlich einmal eine richtige Mistgabel sieht, dann kann es immerhin vergnügt in seinen frühen Kindheitserinnerungen kramen und sich denken: „Ah, da war doch was“. Welchen Sinn diese Märchenwelt sonst noch haben sollte, das weiß ich tatsächlich nicht. Wir stellen in Bilderbüchern ja auch nicht lang und breit dar, wie die Wäsche jeden Sonnabend mit der Hand am Fluss gewaschen wird, um hinterher auf Sommerwiesen am Alsterlauf zum Trocknen ausgebreitet zu werden – warum lügen wir bei den Lebensmitteln?

Wenigstens haben wir Sohn I frühzeitig die eine oder andere Kuh in Wirklichkeit vorführen können, die stehen in der freien Natur vor den Toren der Stadt noch erfreulich häufig herum, man muss nicht einmal die Autobahn verlassen, um sie zu sehen. Entsprechend nahm er Kühe in Bilderbüchern billigend in Kauf und glaubte uns auch wohlwollend das „Muh“, obwohl er es vermutlich noch nie gehört hatte, denn so eine Kuh neigt nicht gerade zur Geschwätzigkeit. Ein Schwein allerdings kannte er lange Zeit nicht aus der Wirklichkeit. Entsprechend strafte er alle Bilderbuchseiten, auf denen Schweine abgebildet waren, mit Verachtung. Schweine kommen aber leider als Besichtigungsobjekt in der Wirklichkeit nicht allzu oft vor, man findet hier in der Nähe nur noch die zerteilten Häppchen an den Frischetheken – und ich wollte mich nicht mit dem Bilderbuch in der Hand neben eine Supermarktkühltruhe stellen und dem Sohn erklären, dass es sich bei den Plastikschalen dort um ein Schwein handelte, nur eben in Teillieferungen, obwohl diese Art der Aufklärung sachlich mittlerweile sicherlich angemessen wäre.

Das Vorführen von Hängebauchschweinen im Wildpark brachte nichts, die waren aber auch nicht leuchtend rosa, viel zu klein und sahen überhaupt sehr anders aus als die auf den Abbildungen in den Büchern. Auch einem Kleinkind kann man nicht einfach alles glaubhaft machen. Das soll ein Schwein sein? Man macht sich gar keinen Begriff, wie skeptisch Menschen schon in frühester Kindheit gucken können.

Wir fuhren aus pädagogischen Gründen für ein paar Tage in das Heimatdorf der Herzdame und suchten im wilden Nordostwestfalen nach einem Biobauern, der noch frei herumlaufende Schweine hatte. Es ist tatsächlich nicht eben einfach, bei einer Landpartie im Vorbeifahren ein Schwein zu sehen, denn Schweinemast findet meist hinter verschlossenen Türen statt. Aus gutem Grund, es ist kein sehr vorzeigbares Geschäft. Nicht wenige Menschen sind nach näherer Beschäftigung mit dem Thema spontan Vegetarier geworden. Wir wollten uns also bei einem Biobauern mit halbwegs glücklichen Schweinen an den Zaun stellen und die dort auf dem Ackerboden fröhlich herumstrolchenden Schweine bestaunen. Ich hatte fest vor, auf die Tiere zu zeigen und „Schwein“ zu sagen, bis es im Hirn von Sohn I merklich Klick machen würde.

Und kaum fuhren wir tatsächlich los und erreichten die ersten Dörfer, schlief der Herr Sohn seelenruhig ein und dachte gar nicht daran, sich für das Nutzvieh hinter den Gattern an den Landstraßen zu interessieren. Wahrscheinlich hätte er es sogar für eine echte Schweinerei gehalten, wenn wir ihn geweckt hätten, nur um ihm eine Sau zu demonstrieren. Wobei das ohnehin nicht so einfach gewesen wäre, wie ich es mir gedacht hatte, denn die vermeintlich lustig freilaufenden Biosauen wohnen in kleinen Holzhütten, die sie bei Kälte klugerweise nicht verlassen. Kleine Holzhütten, die ähnlich wie große Kisten aussehen. Und ich wollte dem Sohn nicht so eine Bretterkiste mitten auf einem Acker zeigen und sagen „guck mal, das ist ein Schwein“, denn er hat den Kleinen Prinzen ja noch gar nicht gelesen.

Die Mission Schwein war im ersten Anlauf gescheitert. Der Sohn hatte noch monatelang keinen Bezug zu diesen Tieren. Vermutlich ist es bei deutschen Kleinkindern so, dass sie Schweine zwar nicht kennen, aber theoretisch für möglich halten, wie etwa auch den Weihnachtsmann oder den Osterhasen. Die schmecken ja auch gut, das passt in einem kleinen Kopf dann alles schnell zusammen.

Sohn II übernimmt

Man kann sich als Erwachsener natürlich nicht richtig vorstellen, was im Kopf eines Kindes vorgeht, das nur sechs Monate alt ist. Es denkt noch ohne Sprache, es gibt sich ohne jede geistige Kontrolle so gut wie jedem Affekt hin. Die Stimmung schwankt alle paar Minuten und es guckt dabei mit unstillbarer Neugier in diese seltsame Welt, die es mit immer neuen Zauberdingen überrascht, und deren Zusammenhänge ihm mehr als rätselhaft sind. In den Augen des Kindes ein immerwährendes Staunen, um den Mund herum eine unverkennbare Bereitschaft, diesen ganzen Irrsinnsbetrieb, den wir Alltag nennen, sehr, sehr lustig zu finden. Zumindest, solange es noch satt ist.

Ob so ein Baby aber mehr als nur flüchtige Bilder denkt, ob es überhaupt schon irgendwelche Zusammenhänge bastelt, mit welchen Gedanken oder sogar Einsichten es den Personen und Abläufen ringsum begegnet – wer weiß. Bei einem Einjährigen kommt man ganz allmählich dahinter, wie er tickt, schon an den ersten Wörtern und den allmählich zielsicherer werdenden Gesten kann man einiges festmachen – bei einem jüngeren Kind hat man aber nicht viel Chancen. Das Baby gluckst und strahlt, was in ihm dabei vorgeht, das bleibt rätselhaft. Das Denken ohne Worte ist für uns eben nicht einmal mehr denkbar. Aber manchmal bekommt man doch einen unvermuteten kleinen Einblick.

Sohn II saß und guckte. Er saß, wo man ihn gerade hingesetzt hatte und er guckte auf das, was da gerade vor ihm war, denn sonderlich mobil war er noch nicht. Wenn da vor ihm zufällig sein großer Bruder saß, dann guckte er eben den an, wenn vor ihm eine Winkekatze stand, dann guckte er eben die Winkekatze an. Eine von diesen kleinen batteriebetriebenen Katzenfiguren aus Plastik, die man aus asiatischen Restaurants, Lebensmittelgeschäften oder Souvenirläden kennt. Eine Pfote nach oben gestreckt, in unermüdlicher Bewegung, winkend, winkend, winkend. Die rechte Pfote oben steht für Wohlstand, die linke Pfote oben für viele Besucher. Falls Sie eine Winkekatze als Souvenir aus Asien zu Hause haben und seit längerer Zeit auf den Geldsegen warten, während gleichzeitig immer mehr entfernte Verwandtschaft auftaucht – prüfen Sie doch einfach einmal, welche Pfote da eigentlich winkt. Aber das nur am Rande.

Sohn II saß vor der Katze, deren rechte Pfote winkte und winkte, der Sohn guckte zu. Die Augen des Sohnes waren halb geschlossen, er sah ein wenig wie ein kleiner Buddha aus. Leerer Blick, sanftes Lächeln, dickes Bäuchlein, entspannte, aber gerade Haltung – in seinen Augen spiegelte sich die Katze und winkte. Der Kleine saß ganz still davor und atmete sachte. Ein Bild des wunderbaren Friedens.

Dann passierte, was eigentlich nicht passieren sollte, die Katze hörte auf. Die winkende Pfote wurde allmählich langsamer und langsamer, dann stand sie still. Die Batterie war alle, der Schwung war weg. Sohn II machte die Augen irritiert weiter auf, legte den Kopf schief und guckte jetzt ganz genau hin. Nichts. Die Katze rührte sich nicht mehr. Der Sohn sah konzentriert aus, er schien nachzudenken. Er legte den Kopf auf die andere Seite. Er sah die unbewegliche Katze lange an. Dann hob er langsam den rechten Arm und fing an zu winken. Erst noch ein wenig ungelenk, dann immer flotter, nach wenigen Minuten machte er es schon so korrekt wie ein alter Winkeprofi. Die Katze saß vor ihm und guckte zu. In ihren schwarzlackierten Augen spiegelte sich das winkende Kind.

Ein wenig später legten wir den Kleinen ins Bett, er sah müde aus. So ein Dauerwinkebetrieb ist ja auch anstrengend, zumal, wenn man gar nicht batteriebetrieben ist. Nach einer Weile gingen wir noch einmal in das Kinderzimmer, um nachzusehen, ob er auch wirklich eingeschlafen war und auch um zu prüfen, was das für ein leises Klopfen war, das wir seit geraumer Zeit aus der Richtung des Bettes hörten. Sohn II lag auf seinen Kissen, er hatte die Augen geschlossen. Sein rechter Arm klopfte unentwegt auf die Bettdecke, er winkte auch im Liegen weiter. Er winkte und winkte, stoisch, unentwegt, rhythmisch, glückskatzenhaft.

Er war erst sechs Monate alt, aber er hatte doch schon eine elementare Regel des Lebens verstanden: Es gibt Jobs, die einfach gemacht werden müssen.

Das schüchterne Kind

Kleinkinder machen die seltsamsten Phasen durch. Das Kind, das sich eben noch jedem Menschen strahlend an den Hals geworfen hat und fröhlich in jede Kamera winkte, fängt von heute auf morgen an zu fremdeln. Ein Kind, das wochenlang vergnügt und spielerisch Vokale und Konsonanten lallend durcheinander mischte, antwortet einem plötzlich im ganzen Satz. Ein anderes Kind, das sich zwei Jahre lang kaum getraut hat, unter seinen Haaren hervorzugucken, brennt plötzlich vom Spielplatz durch und rennt los, um die weite Welt auf eigene Faust zu erkunden. Kein Blick zurück, es hatte einfach plötzlich die Erkenntnis, dass jetzt eine einsame Entscheidung angebracht war. Phasen wechseln bei Kindern gerne unmittelbar. Man sieht sein Kind staunend an, fragt sich, ob es in der Nacht ausgetauscht wurde und wirft sicherheitshalber einen Blick in den Medizinschrank, um festzustellen, ob etwas Verdächtiges fehlt – aber tatsächlich hat sich im Kind nur einfach ein Schalter umgelegt. So ging es uns auch mit der Schüchternheit von Sohn I.

Nachdem er längere Zeit als Charmeur des Viertels bekannt war, der insbesondere bei fremden Frauen ein phänomenal erfolgreiches Flirtverhalten entwickelt hatte, um das ihn so mancher Möchtegern-Casanova beneidet hätte, wurde er von heute auf morgen schüchtern. Und zwar nicht in der dezent-niedlichen Variante mit leichtem Erröten, gesenktem Blick und dezenter Stimmlage, sondern in der schweren Variante, in der das Kind nicht einmal mehr in der Lage war, überhaupt noch mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, wenn es nicht gerade die Eltern, der kleine Bruder oder die vertrauten Kindergärtnerinnen waren.

Ich ging eines Morgens in die Bäckerei, in der Sohn I bis dahin jeden Morgen heiter mit den Verkäuferinnen gescherzt hatte und fragte ihn wie jeden Morgen, was er haben wollte. Als ungewöhnlich lange keine Antwort kam, sah ich nach unten, wo das Kind hätte sein müssen, aber da war nichts. Ich sah mich um, kein Kind weit und breit. Ich starrte den Fußboden an, der sich anscheinend gerade aufgetan hatte, um meinen Sohn zu verschlingen, als ich ein leichtes Ziehen am Hosenbein spürte. Das war Sohn I, der wie ein schmaler Schatten an der Rückseite meines Beins klebte und mich mit den Händen sachte zum Rückwärtsgang aufforderte – bloß raus hier. Die Verkäuferinnen beugten sich über den Tresen und sahen nach ihrem kleinen Liebling, der daraufhin hektisch um meine Beine herumwuselte, um nur bloß den Blicken der Damen zu entkommen, als wären es tödliche Laserstrahlen. Er sah gehetzt aus. Nanu, dachte ich, da hat aber einer einen sehr schlechten Tag erwischt.

Nach kurzer Zeit merkten wir, dass es sich keineswegs nur um einen schlechten Tag, sondern viel eher um eine schlechte Phase handelte. Es war nicht mehr daran zu denken, dass der Sohn in einem Laden etwas selbst bestellte. Es war auch nicht mehr daran zu denken, dass er im Beisein anderer Erwachsener den Mund aufmachte, und beim Betreten von Räumen, in denen sich Fremde aufhielten, entwickelte er verblüffende Talente darin, sich in Sekundenschnelle zu dematerialisieren.

Wir waren einmal auf einem Flohmarkt und ich trug ihn auf dem Arm, weil es um uns herum sehr voll war und er sonst nur Beine hätte sehen können, als eine der Verkäuferinnen ihn sah und begeistert „Oh, ist der süß“ rief. Dann langte sie über ihren Tisch, um ihm einen Lolli zuzustecken. Der Sohn, der auf meinem Arm weder weglaufen noch sich ausreichend verstecken konnte, wandte ohne Bedenkzeit einen alten Trick an, den man auch aus Tierfilmen kennt: er stellte sich tot. Ich hatte plötzlich einen vollkommen leblosen Körper im Arm, das Gewicht des Kindes schien sich in einer Sekunde zu verdoppeln. Ein nasser Sack mit äußerst geringem Tragekomfort. Der Kopf kippte nach hinten, die Arme baumelten herab, weder durch Schütteln noch durch Ansprache war ihm irgendeine Reaktion zu entlocken. Hätte ich nicht gesehen, dass er durch den schmalen Spalt eines Auges die Hand der Verkäuferin mit dem Lolli darin weiter aufmerksam beobachtete, ich hätte mir tatsächlich Sorgen um ihn gemacht.

„Was hat der Kleine denn?“, fragte die Verkäuferin. „Wir nennen es Schüchternheit“, sagte ich. Sie steckte mir den Lolli zu und ich versprach, ihn zu übergeben, sobald sich der Kleine wiederbelebt hätte, was wie durch ein Wunder bereits nach zwei, drei Schritten geschah. Sein Kopf tauchte wieder neben meinem auf, seine Hände tasteten suchend an mir herum: „Wo ist der Lolli? Der war für mich!“

Die Herzdame und ich versuchten, den Sohn wieder und wieder zu ermutigen. Wir forderten ihn bei jeder Gelegenheit zu kleinen und kleinsten Gesprächen mit Fremden auf, beteten ihm Formulierungen vor, verbanden kleine Erfolge mit Belohnungen. Es gab Kuchen, wenn er ihn selbst bestellte, es gab Schokolade, wenn er sie selbst bezahlte, er konnte so oft Karussell fahren, wie er wollte, wenn er selbst zum Schalter ging. Natürlich machten wir das nur, wenn es seiner Laune zuzumuten war. Also fast nie. Lange Zeit waren wir uns gar nicht sicher, ob diese Methode nützlich war oder nicht, großartige Fortschritte waren nicht zu erkennen. Vielleicht war es auch falsch, den Jungen auf diese Art zu fordern, wir waren uns nicht sicher, vielleicht hätte man die Phase einfach hinnehmen müssen. Fast wäre ich in Versuchung gewesen, das Problem in einem Erziehungsratgeber nachzulesen. Kinder können einen manchmal wirklich bis zum Äußersten treiben.

Bis ich eines Morgens beim Bäcker stand, den Sohn wieder auf dem Arm. Ich sah mir die Auslage mit den Brötchen an, ich wusste nicht recht, was ich eigentlich haben wollte. Ich überlegte und überlegte, dem Sohn dauerte das nach einer Weile entschieden zu lange. Als ich mich nach einer ihm wohl unmenschlich lang erscheinenden Ewigkeit immer noch nicht für ein Brötchen entschieden hatte, beugte er sich vertrauensvoll über den Verkaufstresen und winkte die Verkäuferin heran. Als diese sich ihm zuwandte, teilte ihr der Sohn in freundlichen Worten leise mit: „Ich möchte ein Rosinenbrötchen. Aber das muss Papa gleich bestellen, weil ich bin doch so schüchtern.“ Dann hielt er unauffällig seine Hand auf. Die Verkäuferin nahm ein Rosinenbrötchen, reichte es ihm und sagte: „Verstehe. Dann lassen wir das Brötchen besser von Papa bestellen. Aber bis dahin kannst du ja schon einmal abbeißen.“ Der sehr schüchterne Sohn nickte ihr verschwörerisch zu und knabberte dabei grinsend an dem Brötchen.

Es gibt Eltern, die ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Es ist alles nur eine Phase“ tragen. Ich verstehe das.

Einweihung

Das Kleinkind lernt zunächst auf eine eher banale Art. Es erweitert zum Beispiel seinen Sprachschatz sehr pragmatisch; gestern konnte es nur Hammer sagen, heute kann es Zange und Bohrer, von Gegenstand zu Gegenstand, immer im gleichen Begriffsumfeld einen weiter. Als Sohn I und sein kleiner Freund mich einmal bei der Arbeit störten, schickte ich die beiden ins Badezimmer und bat sie scherzhaft, die Waschmaschine zu reparieren. Ich dachte, das wäre ein Spitzenplan, so könnten sie eine halbe Stunde lang Handwerker spielen und ich hätte meine Ruhe, um noch ein paar Zeilen zu schreiben.

Die beiden gingen ins Bad. Der Kumpel von Sohn I öffnete sachkundig die Tür der Waschmaschine und sah in die Trommel. Bewegte die Tür in der Angel etwas hin und her, drückte kurz auf den Knöpfen herum, betastete eine innenliegende Schraube und kam dann wieder zu mir: „Ich brauche einen Maulschlüssel. Sonst geht das nicht.“ Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ein Maulschlüssel war, aber das Kind vor mir sah mich an, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Denn Kinder werden Fachmänner, wenn sie lernen. Techniker. Wissenschaftler. Monteure. Sie werden zunächst keine Zauberer, keine Philosophen, Dichter, Priester oder Künstler. Menschliches Wissen fängt bei Gegenständen an.

Nur manchmal, in ganz besonderen Momenten, kann man mit Kleinkindern über die großen Fragen reden.

Es war ein früher Herbstmorgen, ich verließ mit Sohn I das Haus. Er musste zum Kindergarten, ich musste zur Arbeit, zwei Menschen an einem Werktag, von der Pflicht gerufen. Es war ein kalter und dunkler Morgen, der Wind pfiff uns um die Ohren, es war schon spät im Jahr, kurz vor dem ersten Frost. Die Luft roch bereits nach Schnee. Wir setzten uns die Kapuzen auf, zogen Handschuhe an und machten die Jacken zu.

Am Himmel sah man zwischen den schwarzen, jagenden Wolken eine magere Mondsichel, silberblass stand sie über dem Dach der Kirche, gleich neben dem Drachen von Sankt Georg. Der Sohn sah hinauf, fasste mich am Arm, zeigte nach oben und sagte: „Guck mal, die Sonne!“

„Sohn“, sagte ich und beugte mich zu ihm hinab, „das ist doch der Mond. Die Sonne ist es, wenn einem warm dabei wird und alles hell ist. Die Sonne ist immer rund und immer am Tag. Das blasse Ding da, das ist der Mond. Tagsüber Sonne, nachts Mond. Das ist eigentlich ganz leicht zu merken.“ Der Sohn sah weiter nach oben. Ich streichelte ihm über die Kapuze und dachte nach.

Was haben die Menschen im Laufe der Kulturgeschichte nicht alles geschrieben, gedichtet und gesungen über die Unterschiede zwischen diesen beiden Himmelskörpern. Was hat man ihnen schon vor Tausenden von Jahren nicht alles an Göttlichkeit angehängt, an geschlechtlicher Zuordnung, an Zuständigkeit für Freud und Leid, für Wetter, Klima, Katastrophen, Stimmungen und Schicksale. Was haben sich Menschen darüber den Kopf zerbrochen, wer von beiden was repräsentiert. Welche Unzahl von Gedichten befasst sich mit ihnen, in wieviel Märchen kommen sie vor, in wieviel Geschichten und Romanen beleuchten sie silbern oder golden die entscheidenden Stellen. Liebesszenen, Mordszenen – ganze Bibliotheken könnte man damit füllen. Einer der elementaren Gegensätze unseres Erlebens, Sonne und Mond, von der Steinzeit bis heute. Man darf annehmen, dass bereits die allerersten Menschen über diese beiden nachgedacht haben. Höhlenmaler haben sie mit den Händen an Wände gezeichnet, sogar die Neandertaler werden schon staunend auf sie gezeigt und sich etwas gedacht haben, in ihrem noch etwas begrenzten Hirn. Und mein Sohn konnte sie nicht unterscheiden.

Ich hockte mich neben dem Sohn, nahm seine Hand und dachte kurz und vergnügt daran, dass ich schon bald mein reiches Wissen über Dichtung und Mythologie an den sicherlich interessierten Kleinen weitergeben können würde. Sonne und Mond, was für ein herrliches Einstiegsthema in die Weltdeutung, das war ja, als ob man ganz korrekt von vorne anfangen würde. Wie nach Lehrplan, jedenfalls wenn es einen Lehrplan für die Weltdeutung mit Kleinkindern gebe. Die Grundlagen der Philosophie aus der reinen Naturbetrachtung, mir wurde schon ganz feierlich bildungsbürgerlich zumute. Seit Jahrmillionen erklären Väter ihren Söhnen, was da am Himmel zu sehen ist, und nun war ich dran. Mich durchwallte ein weihevolles Gefühl und ich wusste, ich war ein Mann, der tut, was er als Vater tun muss. Ein ausgesprochen erhebender Moment.

Der Sohn sah noch einmal hoch und sagte achselzuckend: „Mond? Auch gut.“

„Ja“, antwortete ich nach kurzer Überlegung, stand auf und nahm den Sohn an die Hand. „Ja, das fasst es eigentlich ganz gut zusammen.“

Babyschwimmen

Früher wurden Kinder kurz vor der Einschulung in ein öffentliches Schwimmbad geschleift, wo ihnen mit rustikalen Methoden beigebracht wurde, sich brustschwimmend über Wasser zu halten. Ich zum Beispiel wurde zu Beginn der Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch aus pädagogischen Gründen ohne Vorwarnung vom Ein-Meter-Brett geworfen, auf dass mir endlich klar werden sollte, wie wichtig es sei, sich im Wasser strampelnd zu bewegen und beständig nach oben zu streben. Meine Mutter sonnte sich währenddessen am Beckenrand, zog an ihrer Zigarette und gab vor, nichts zu sehen. Der Mensch, der mich da warf, war natürlich nicht irgendein Unhold, sondern ein professioneller Schwimmlehrer. Der machte so etwas täglich.

„Komm mal her, ich zeig dir was“, sagte er am Fuße des Springturms und hielt mir freundlich die Hand hin, das war dann der letzte Satz, den ich hörte, bevor ich wasserscheu wurde. Wenn man in meiner Generation herumfragt, hört man die erstaunlichsten Gruselgeschichten über Schwimmkurse, es ist eigentlich ein Wunder, dass wir später überhaupt wieder freiwillig in ein Schwimmbad gingen.