Vorwort

Dass die Zeit schnell vergeht und man sie nicht zu fassen bekommt, ist einer der häufigsten und banalsten Sätze, die man täglich hört. Es gibt Menschen, die an Ostern davon sprechen, dass bald Weihnachten ist, und an Weihnachten daran erinnern, dass Ostern nicht mehr weit ist. Begegnet man ihnen, weiß man sofort, dass sie den Kampf mit der Zeit entweder aufgegeben oder nie aufgenommen haben. Pech gehabt, dumm gelaufen, auf Wiedersehen!

Menschen, die der Zeit ewig nur hinterherjagen oder hinterhertrödeln, sind mit ihrer ewigen Klagenummer aber nicht nur lästig, sie haben auch ein ernsthaftes Problem. Vierzig Jahre alt – und kaum noch Erinnerungen an die Jahre vor dem zwanzigsten! Sechzig Jahre alt – und gerade noch ein paar immer gleiche Geschichten von früher auf Lager! Was sie nie geweckt und entwickelt haben, ist ihr autobiografisches Potenzial.

Autobiografisches Potenzial? Was soll das sein? Wahrscheinlich etwas von Akademikern Erfundenes, künstlich Kompliziertes, das eigentlich kein Mensch braucht! Oder steckt doch etwas dahinter, etwas, von dem man leider nur noch nie gehört hat? Eine Zauberpille vielleicht oder ein Medikament, das dem Gedächtnis aufhilft? Am Ende gibt es längst ein Stimulans des Gehirns und der Erinnerung, in geheimen Labors entwickelt und von Probanden getestet, die jetzt mehr autobiografisches Material parat haben als jede Facebook-Timeline anbieten kann.

Richtig, so ist es. Autobiografisches Material in unglaublicher, unbegrenzter Fülle entwickelt man durch autobiografisches Schreiben. Damit sind aber nicht wie früher langatmige Memoiren oder schöngefärbte Lebensrückblicke gemeint, wie sie gegenwärtig noch alle paar Tage auf den Buchmarkt kommen. Autobiografisches Schreiben auf der Höhe der Jetztzeit besteht vielmehr aus lauter eleganten, mit neuen und alten Medien verbundenen Textformen, die ein Leben spielerisch befragen, detailliert erkunden und in Segmenten erzählen.

Keine ausholenden Lebensberichte mehr von der Geburt bis zur ersten Herzoperation! Keine steigerungssüchtigen Resümees von Lebensetappen, die von Fuhlsbüttel mitten ins Zentrum von Berlin führen! Heutzutage ist autobiografisches Schreiben angelegt wie eine bunte Textskala mit lauter unterschiedlichen sprachlichen Tönungen und Farbnuancen, von denen der kluge Biograf seiner selbst mehrere geschickt miteinander kombiniert.

So entsteht kein dickes Buch, sondern ein Lebensarchiv, das mit den Jahren immer weiter aus- oder umgebaut werden kann. Die Arbeit an ihm hat auf Dauer etwas unendlich Befriedigendes. Sie stemmt sich gegen das Tempo der Zeit, verlangsamt sie, nimmt sie in ihren Details ernst und lässt den Schreiber von allen Stressempfindungen genesen. Keine Panik mehr, kein Lamento, ein Ende aller Klagen! Letztlich nämlich sind diese Klagen vor allem deshalb so laut, weil sie etwas verbergen wollen: die große Bequemlichkeit oder die nicht eingestandene Unfähigkeit, sich das eigene Leben in all seiner Eigenart und Schönheit genau zu vergegenwärtigen. Nach Lektüre dieses Buches ist damit Schluss. Schreiben über sich selbst ist dann, was es sein sollte: eine lebensnotwendige, lebensverlängernde, lebensintensivierende Kraft.

Hanns-Josef Ortheil, im Juli 2013

Inhalt

Vorwort

Inhalt

Einführung Die neuen Spielformen des Autobiografischen

Textprojekte und Schreibaufgaben I: Ego-Dokumente mündlich

  1. Protokollieren

  2. Sich befragen lassen 1

  3. Sich befragen lassen 2

  4. Sich befragen lassen 3

  5. Sich gegenseitig befragen

Textprojekte und Schreibaufgaben II: Ego-Dokumente schriftlich

  6. Kommentieren

  7. Sich ausbreiten

  8. Nach vorn und zurück blicken

  9. Magische Wörter finden

10. Stabile Wörter finden

Textprojekte und Schreibaufgaben III: Selbstporträts

11. Selbstporträt mit Foto

12. Selbstporträt mit Musik

13. Selbstporträt mit Körperteilen

14. Selbstporträt mit Landschaft

15. Selbstporträt mit Büchern

Textprojekte und Schreibaufgaben IV: Zeitmomente der Kindheit

16. Ich erinnere mich

17. Kindheitsszenen

18. Frühste Erinnerungen

19. Kindheitswelten

20. Ein Gang durch die Kindheit

Textprojekte und Schreibaufgaben V: Zeitphasen des Lebens

21. Die Familie

22. Große und kleine Natur

23. Liebe und Freundschaft

24. Die jungen Jahre

25. Ein Brief an die Enkel

Nachbetrachtung:
Die Praxis des autobiografischen Schreibens

Literaturverzeichnis

Zitierte Primärliteratur

Weitere Primärliteratur

Sekundärliteratur

Einführung: Die neuen Spielformen des Autobiografischen

Lange Zeit hat man mit dem autobiografischen Schreiben die Vorstellung umfangreicher Memoiren des gesamten Lebenswegs oder dickleibiger Autobiografien bestimmter Lebensabschnitte verbunden. In ihnen resümiert ein oft bereits älterer Autor aus dem Rückblick die Geschichte seines eigenen Lebens. Besonders Memoiren von Politikern, Sportlern oder Boulevardgrößen prägen noch heute eine solche Vorstellung von der Autobiografie. Ihre Bücher dienen häufig der Selbstdarstellung des Schreibenden, der bemühten Fixierung seines Bildes in der Geschichte oder der Aufwertung seiner angeblich erbrachten Leistungen. Die Stationen des eigenen Lebens laufen dann auf ein möglichst homogenes Selbstbild hinaus und haben vor allem den Zweck, dieses Selbstbild in leuchtender Form in der jeweiligen Gegenwart zu etablieren.

Memoiren oder ausführliche Autobiografien von Lebensphasen in dieser marktkonformen Form sind oft Produkte der gegenwärtigen Bestsellerindustrie. Mit dem eigentlichen Entstehungsimpuls von Autobiografien in der Geschichte haben sie wenig gemein, verdankt sich dieser Impuls doch dem anspruchsvollen Versuch, den Verlauf des eigenen Lebens zu reflektieren, Rechenschaft abzulegen, gute und schlechte Seiten des Selbst abzuwägen und Bekenntnis abzulegen vor einem höheren Richterstuhl.

Genau diese zentralen Momente spielen in einer der frühsten und für das Genre folgenreichsten Autobiografien, den »Bekenntnissen«1 des Kirchenvaters Augustinus (350–430 n. Chr.), eine entscheidende Rolle. An der Schwelle zwischen heidnischer Spätantike und christlichem Frühmittelalter erzählt er von sich selbst als einem in jungen Jahren hedonistischen Heiden, der die antiken, heidnischen Kulturen abstreift und sich zum Christentum bekehrt.

Dramatische Lebensmomente, plötzliche Lebensumbrüche und weitreichende Neuorientierungen im eigenen Leben darzustellen, waren seither für viele Autobiografen reizvolle und spannungsreiche Erzählmotive. In der Moderne des 18. Jahrhunderts intensivierten sich diese Motive noch und führten zu Lebensbeschreibungen, die auch vor den persönlichsten und intimsten Zügen des eigenen Selbst nicht mehr haltmachten. In diesem Sinn klingen noch heute die ersten Sätze der »Bekenntnisse« des französischen Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) wie ein Fanal: »Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein. Ich lese in meinem Herzen …«2

Selbstprüfung und Selbstoffenbarung gingen seither in der Geschichte der Autobiografie enge Allianzen ein. Zeitweilig entwickelte das Genre sich zu einer Mixtur aus Erzählen und Bekennen und damit zu einer weltlichen Form der christlichen Beichte. Das Ich untersuchte sich selbst minuziös, formulierte Diagnosen und verabreichte sich Medikamente für eine bessere Zukunft. So bewegte die Autobiografie sich im 19. und 20. Jahrhundert in eine stark therapeutische Richtung, bis die große Skepsis gegenüber dem Genre begann.

Sie entwickelte sich vor allem in den letzten Jahrzehnten zu einer vehementen Kritik an seinen auf Harmonisierung, Schönfärberei und breite Panoramatechnik setzenden Erzählmomenten. Die abgerundeten und zudem am fiktiven Romangenre orientierten Bilder von reibungslos ineinandergreifenden Entwicklungsstufen hielt man fortan für pure Illusion. So wurde die längst klassische Ausprägung der Autobiografie als Form eines unreflektierten, naiven Erzählens abgetan. Im süffigen Breitwandformat konnte sie nicht mehr überzeugen, das aufgebläht wirkende, überhöhte Genre schrumpfte deshalb zusammen – und zurück blieb die Essenz: »das Autobiografische« und all seine munteren Spielformen.

Dabei handelt es sich um kurze, überschaubare und von jeweils klar definierten Voraussetzungen ausgehende autobiografische Mitteilungen. Meist sind sie fragmentarisch und konzentrieren sich jeweils nur auf einen bestimmten autobiografischen Aspekt. Reiht man aber viele dieser Fragmente aneinander und beginnt man sie zu ordnen, aufeinander zu beziehen oder miteinander zu konfrontieren, ergeben sie ein prinzipiell offenes, erweiterbares Archiv. An die Stelle des scheinbar opulenten, selbstgewissen und deutungssüchtigen Rückblicks auf ein ganzes Leben tritt so eine Sammlung von erzählenden Erinnerungssplittern, Hypothesen, kurzfristig angelegten Bekenntnissen und momentanen Selbstanalysen.

Genau um das Schreiben solcher präzis angelegter Texte geht es in diesem Buch. Die Textprojekte und Schreibaufgaben orientieren sich daher nicht an den bekannten großen Memoiren oder Autobiografien. Sie folgen vielmehr den Winken und Empfehlungen, die von einem hellwachen und neuartigen, vor allem in den USA und Frankreich in den letzten Jahrzehnten entworfenen Schreiben ausgehen. Dieses Schreiben ist experimentell, spielerisch und medial angelegt und läuft auf ein intelligentes Entwerfen von Texten hinaus, die man auch als »Ego-Dokumente« bezeichnen könnte.

Der Begriff stammt aus den Geschichts- und Literaturwissenschaften, wo er historische Dokumente kürzerer Art (wie Notate, Briefe, Selbstcharakteristiken etc.) bezeichnet.3 Solche Dokumente hat es in der antiken Literatur, die noch keine Memoiren oder klassischen Autobiografien im Stil des Augustinus hervorgebracht hat, in großer Zahl gegeben.4 Heutzutage leuchten ihre skizzenhaften, spontanen und direkten Ausdrucksformen in neuer Frische. Sie verweisen auf Menschen, die ununterbrochen damit beschäftigt waren, ihre Erlebnisse und Einsichten zu fixieren, ohne diese Lebensmomente von vornherein in ein beengendes Korsett zu pressen oder gar zu überhöhen.

Archive in diesem Sinn sind Brutstätten und experimentelle Felder besonders aufmerksamer, vitaler und umsichtiger Kreativität. Sie machen das Leben zu einem immensen Forschungsvorhaben und das Schreiben zu einer fortlaufenden Performance des eigenen Selbst. Eine solche Performance verbindet sich mit den Neuen Medien und ihrem Tempo. Sie lebt von ihren Impulsen, sorgt aber gleichzeitig auch dafür, dass diese Impulse aufgefangen, tiefer geerdet, geleitet und strukturiert werden. Als Spielformen des Autobiografischen sind »Ego-Dokumente« daher hochgradig reflektierte und gestaltete Formen einer jungen, ambitionierten Literatur, die mediale Entdeckungen auch zu wirklich literarischen macht.

  1  Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse.: Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, hrsg. und kommentiert von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Mit einer Einl. von Kurt Flasch. Stuttgart 2012.

  2  Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Übersetzt von Alfred Semerau, durchgesehen von Dietrich Leube. München 2012, S. 9.

  3  Vgl. auch: Günter Niggl: Zur Theorie der Autobiografie. In: Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen. Hrsg. von Michael Reichel, S. 1 ff.

  4  Michel Foucault hat sie als »ethopoetisches Schreiben« bezeichnet. Vgl. seinen instruktiven Essay »Über sich selbst schreiben« in: Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Übersetzt von Michael Bischoff u.a. Frankfurt/M. 2007, S. 137 ff.