KÖNIG KÖNIG

 

ROMAN

 

 

VON

ROBERT KRAFT

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 1997 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1655-7

 

 

EDITION USTAD

 

im

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL


Der vorliegende Roman spielt um 1900.

1. Kapitel

 

In einer deutschen Residenzstadt, deren Einwohnerzahl sich schon der Million nähert, wurde ein an der Ecke zweier Hauptstraßen stehender Schutzmann von einem alten Herrn nach der Färbergasse gefragt.

Die Frage war sehr höflich gestellt, mit einem ‚Bitte‘ eingeleitet, und die ganze Erscheinung des alten Herrn war eine derartige, dass der Schutzmann gleich eine außergewöhnlich stramme Stellung einnahm.

‚Geheimrat oder mindestens Professor‘, mochte er einschätzen, während er sachgemäße Auskunft gab.

Der alte Herr dankte, lüftete dabei sogar etwas den Hut, setzte seinen Weg in der bezeichneten Richtung fort.

Es ist eine gar alte Stadt. Mitten zwischen den eleganten Hauptstraßen, von den prächtigen Gebäuden begrenzt, liegt der älteste Teil, ein Quartier von baufälligen Häusern. Einst wohnten hier die reichsten Patrizier, aber Geschmack und Lebensansprüche haben sich eben geändert, heute wohnen in diesen Steinbaracken nur noch die Ärmsten der Stadtbevölkerung, deren Beruf den Auszug nach einem billigen Vorort nicht zulässt, kleine Handwerker und dergleichen, die Familie bis zur äußersten Grenze der polizeilichen Erlaubnis zusammengedrängt, um womöglich noch Raum für einige Aftermieter zu bekommen.

Färbergasse Nummer achtzehn – der alte Herr hatte sein Ziel erreicht, ging noch einmal mit drei Schritten hinüber auf das andere Trottoir, auf dem sich zwei Menschen nicht ausweichen konnten, und musterte das vierstöckige Haus, das schmal wie ein Turm war, denn es besaß in jeder Etage nur zwei Frontfenster.

Der alte Herr hatte allen Grund, den grauen Kopf zu schütteln. Hier war es die höchste Zeit, dass endlich die Bauspekulation begann.

Er begab sich wieder hinüber, betrat den Hausflur, prallte mit einer Person zusammen, die in dem Halbdunkel gar nicht zu erkennen war.

„Entschuldigen Sie – wohnt in diesem Hause ein Herr Otto König?“

„Otto König?“, wiederholte fragend eine helle Kinderstimme. „Was soll ’r denn sin?“

„Er ist früher Lehrer gewesen, jetzt privatisiert er wohl.“

„E Lehrer? Nee, das weeß ’ch nich, ich bin selber ganz fremd.“

„Oder“, hielt der Herr den Jungen, der fort wollte, noch einmal zurück, „eine Frau Winter?“

„Die Waschfrau Winter?“

„Jawohl, jawohl, sie ist Waschfrau.“

„Von der komme ich gerade. Die wohnt oben in der fünften Etage untern Dach.“

Der Junge entfloh in die sonnige Freiheit und der alte Herr, der eine Brille trug, suchte sich weiter im Finstern zu orientieren. Zwar gewöhnte sich nach und nach auch sein schwaches Auge an das Halbdunkel, er gewahrte den Anfang einer Treppe, aber gleich nach dem Erklimmen der ersten Holzstufen, die unter seinem Tritt ächzten, verließen ihn die Lichtgötter wieder.

Die Polizei verlangte, dass auf diesen Treppen auch am Tage immer eine Petroleumlampe brannte. Das Gebot wurde nicht eingehalten, wenigstens heute nicht. Der alte Herr ließ das Geländer los und zog eine Streichholzschachtel hervor, brannte ein Zündholz an und so ging es in Etappen weiter empor, immer tastend und leuchtend, das noch glimmende Streichholz, das seinen Dienst für sechs Stufen getan, stets sorgsam austretend. Nur auf jedem Absatz wurde es etwas heller, dann ging es wieder in den Orkus der Nacht hinein.

Himmel, was für bescheidene Leute müssen die damaligen Patrizier doch gewesen sein! Mit den kostbaren Silbersachen und den reichgeschnitzten Möbeln, die einst die Räume füllten, wird heute ein schwunghafter Raritätenhandel getrieben, aber diese Wohnungen selbst... Ob es auf den Treppen schon damals so ge... rochen hat?

Also sogar fünf Etagen hatte dieses Haus. Das war von unten gar nicht zu sehen, wegen des schrägen Dachs. Doch schließlich siegte die Beharrlichkeit des Treppenkraxlers und auch seine Streichhölzer hatten ausgehalten.

Hier oben auf dem Flur der fünften Etage war es sogar ziemlich hell. Auch recht sauber sah es aus. Drei einzelne Türen waren vorhanden. An der mittleren verkündete ein Porzellanschild, dass hier Frau Anna verwitwete Winter den Beruf einer Wäscherin ausübte; die rechte Tür trug keinen Vermerk, an die linke war ein Stück beschnittene Pappe angeheftet, worauf mit Tinte geschrieben stand, und zwar in schönen Schriftzügen: Otto König.

Dieser Tür wandte sich der alte Herr zu – aber als er den gebogenen Finger ausstreckte, um dagegenzupochen, wurde er wie von einer großen Erregung befallen, er musste die Hand wieder zurückziehen.

Ein Räuspern und wieder ein Kopfschütteln, als er die selbstgeschriebene Visitenkarte, die braungestrichene Tür und den ganzen in seiner Sauberkeit so armseligen Flur betrachtete.

„O quae mutatio rerum[1]!“, kam es wie in tiefster Erschütterung aus dem weißbärtigen Munde.

Noch hatte er die Hand nicht zum zweiten Mal ausgestreckt, als sich die mittlere Tür öffnete, und von dem ausströmenden heißen Dunstwall umwoben erschien auf der Schwelle eine alte Frau, in der Hand das Bügeleisen.

„Sie wollen zu Herrn König? Herr König sind nicht zu Hause. Oder Sie wollen doch nicht etwa die freie Schlafstelle... Ach nein, nein, ich bin ja eine dumme Gans, so ein Herr, wie Sie einer sind...“

Und in der nächsten Minute erfuhr der alte Herr, dass gestern die beiden Schlafburschen ausgezogen waren, die hier rechts gewohnt hatten, und dass heute in den ‚Neusten Nachrichten‘ deswegen eine Annonce gestanden, die sie eine Mark fünfzig gekostet hatte, und dieses Geld müsse nun doch erst wieder eingenommen werden, und was für schlechte Zeiten jetzt überhaupt seien, und gerade hier die Miete so unerschwinglich hoch, und gerade hier wolle niemand mehr als eine Mark pro Woche Schlafgeld zahlen, und so weiter.

Geduldig hatte der alte Herr den Hitze- und Redeschwall über sich ergehen lassen.

„Sie wollen also zu Herrn König? Ist es doch seit elf Jahren das erste Mal, dass jemand Herrn König besuchen kommt – na ja, mit Ausnahme – damals, wo er die schöne Stelle angeboten bekam, die der komische Mensch partout nicht annehmen wollte, da wurde er ja auch überlaufen. Herr König sind ausgegangen.“

Sie gebrauchte, wenn sie von diesem ihren linken Schlafburschen sprach, tatsächlich immer den Plural, wenn es nur irgend möglich war.

„Aber er wohnt noch hier bei Ihnen?“

„Ja, aber in seine Stube kommt niemand hinein. Er nimmt den Schlüssel auch immer mit. Der Herr König fegen auch sein Zimmer selber und putzen seine Fenster selber. Freilich sehr selten. Aber Sie können doch nicht hier draußen stehenbleiben – und der Herr König werden wirklich jeden Augenblick wiederkommen – wenn Sie einstweilen bei mir eintreten wollen, ich bin nur eine arme Witwe...“

Und während der nächsten Minuten erfuhr der alte Herr, dass Frau Anna Winter schon seit fünfzehn Jahren Witwe war, alle ihr lebendig gebliebenen Kinder gut und glücklich untergebracht hatte, dass sie aber doch lieber allein sei, dass sie Waschfrau wäre, in herrschaftliche Häuser zum Waschen ging, das sei nun einmal ihr Lebensglück, und wenn sie nichts zu waschen habe, dann plätte sie in ihrer eignen Wohnung.

Ja, das bekam der alte Herr alsbald zu merken. Auf dem Dach brannte die Junisonne und hier in der kleinen Kammer wurde ein großes Herdfeuer unterhalten, und Tür und Fenster durften nicht geöffnet werden, weil sonst gleich der Ofen schrecklich zu rauchen anfing.

Nun, der noch sehr rüstige alte Herr schien gegen Hitze ganz unempfindlich zu sein, und eingesunken in ein vorsintflutliches Sofa sitzend, sorgte er selbst dafür, dass das Mundwerk der plättenden Waschfrau niemals stille stand.

Er wollte wissen, wer dieser Otto König sei, und er verstand zu fragen, ohne dass dies besonders als Neugier auffiel.

Wir geben hier mit weit kürzeren Worten wieder, was er erfuhr.

Otto war in diesem Hause geboren worden, aber vornehm, unten in der ersten Etage, als das einzige Kind einer Hebamme, die dort auch bis zu ihrem vor elf Jahren erfolgten Tode gewohnt hatte.

Er war schon ein merkwürdiges Kind gewesen. Viel, viel zu artig für einen Jungen! Na ja, er war auch von jeher ein schwächliches Geschöpf gewesen, allerdings niemals krank. Prügeln hätte er sich mit Spielgefährten nie können, da hätte er immer den Kürzeren gezogen. So menschenscheu hätte er deshalb freilich nicht zu sein brauchen.

Aber gescheit, gescheit! In der Schule immer der Erste. Der Erste mit noch vielen Sternchen. Der Sohn der nur für reich geltenden Hebamme hatte selbstverständlich studieren müssen. Allerdings nicht auf der Universität. Nicht einmal aufs Gymnasium war Otto gekommen. Nur aufs Seminar. Der Hebamme und ihren Beratern hatte das Seminar eben als die höchste Schule gegolten, derer ein ganz gescheiter Kopf würdig ist, und einen andern Protektor hatte der kleine Otto nicht gefunden.

Nun, ein Seminar ist ja auch schon gut genug und man braucht auch nicht beim Oberlehrer stehenzubleiben.

Auch auf dem Seminar glänzte der verschlossene Jüngling mit seinen Geistesgaben. Deshalb wurde er nach bestandenem Examen freilich noch nicht gleich Schuldirektor, sondern vorläufig erst zweiter Hilfslehrer auf einem kindergesegneten Dorf. Alles hübsch der Reihe nach.

Ein Jahr bekleidete Otto König diesen Posten. Besondere Gelegenheit, seine glänzenden Geistesgaben weiter zu beweisen, wird er ja wohl als zweiter Dorfhilfsschulmeister nicht gehabt haben.

Da starb plötzlich die Mutter, ein Schlaganfall vor Schreck oder Kummer. Sie war durch einen Bauspekulanten um ihr ganzes erspartes Vermögen beschwindelt worden. So wenigstens hatte sie selbst gejammert. Dann aber zeigte sich, dass noch 6.000 Mark in vierprozentigen Staatspapieren da waren, abgesehen von ihrer hübschen Einrichtung.

Kaum erfuhr Otto von diesen 6.000 Mark, als er den Schulmeisterdienst quittierte. Ohne Kündigung, ging Knall und Fall davon, pfiff der Schulbehörde einfach etwas.

Frau Winter war schon immer eine gute Freundin von der Frau König gewesen. Nach dem Begräbnis der Mutter, das noch aus dem vorhandenen Bargeld hatte bestritten werden können, begab sich Otto zur Nachbarin in den fünften Stock.

„Frau Winter, Sie haben doch gerade ein Zimmer leer – wollen Sie es mir unmöbliert vermieten?“

„Aber, mein lieber Otto, warum haben Sie denn nur gleich Ihre schöne Stellung...?“

„Das mach ich, wie ich will. Wollen Sie mir das Zimmer geben oder nicht? Sie bekommen von zwei Schlafburschen zwei Mark in der Woche, nicht wahr? Das gebe ich Ihnen auch und ich bringe meine Möbel und mein Bett sogar selbst mit.“

Frau Winter sagte natürlich zu und Otto verkaufte die ganze Einrichtung für rund 100 Taler, behielt nur ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, eine Kommode, den ältesten Waschtisch, eine kleine Lampe – mit diesen noch nicht einmal sieben Sachen siedelte er in die fünfte Etage hinauf.

Wenn man in der Färbergasse geglaubt hatte, der so gescheite und stille Jüngling würde sich nun als ein Lebemann entpuppen, der er im Grunde genommen schon immer gewesen, der nur seine Leidenschaften zu verbergen gewusst hatte, das heißt, er würde jetzt die Erbschaft schleunigst durchbringen, so hatte man sich gründlich geirrt.

Eigentlich sahen doch auch die Vorbereitungen, die Otto traf, gar nicht nach so etwas aus. Wer verkauft denn eine ererbte Wohnungseinrichtung und siedelt nur mit den allernotwendigsten Gegenständen erst in ein Dachzimmer, wenn er dann flott leben will? Und Otto trug die 100 Taler auch sofort auf die Sparkasse. Er verkaufte ferner noch anderes mehr, die überflüssige Wäsche und die Anzüge, mit denen ihn die Mutter beim Antritt der Lehrerstelle reichlich ausgestattet hatte, behielt nichts weiter als einen Gehrockanzug, einen Schlafrock und ein einziges Paar Stiefel, er verkaufte alle seine Bücher, seine silberne Uhr, den Ring des Vaters und den der Mutter, und das Geld dafür legte er ebenfalls auf der Sparkasse an.

Und wozu dies alles? Nur, um als Rentier leben zu können. Von den 6.000 Mark hätte er vierteljährlich 60 Mark Zinsen gehabt, so waren es 64 Mark und fünf Pfennig geworden, die er am ersten jeden Quartals abhob.

„Na und davon lebt er nun. Seit schon elf Jahren. Und er kommt damit aus. Mit noch nicht einmal fünf Mark in der Woche. Und ich glaube sogar, er spart noch dabei.“

„Mit fünf Mark in der Woche?“

„Jawohl. Und dabei bezahlt er schon für sein Zimmer zwei Mark. Da bleiben ihm noch zwei Mark siebenundneunzig Pfennig. Ich hab’s mir doch ganz genau ausgerechnet. Sagen wir also drei Mark. Davon gibt er nun noch fünf Groschen wöchentlich für Papier aus, einen Groschen für Tinte, einen weiteren Groschen für Stahlfedern, Seife, Salz, Streichhölzer und was der Mensch sonst braucht. Also bleiben ihm noch zwei Mark dreißig Pfennig, und davon muss er nun leben.“

„Ja, wie macht er denn das, was isst er denn da?“

„Nu, Brot und Pflaumenmus.“

„Gar nichts weiter?“

„Weiter nischt!“

„Das ist ja gar nicht möglich!“

„Der macht’s schon möglich. Das Brot muss er sich natürlich einteilen und mit dem Pflaumenmus geht er wie mit Gold um. Und im Winter kommt nun auch noch Petroleum dazu, das will auch erst wieder abgeknapst sein.“

„Bei solcher kärglichen Nahrung muss er ja verhungern!“

„Der verhungert nicht. Das macht er doch schon seit elf Jahren und er lebt heute noch. Fett wird er freilich nicht dabei.“

„Ja, wie ist es denn nun mit seiner Wäsche?“, fing sich der alte Herr immer mehr für diesen modernen Diogenes zu interessieren an.

„Die muss ich ihm mit für die zwei Mark besorgen, das haben wir gleich ausgemacht. Aber nicht einmal die Bettwäsche, die hat er gleich im Anfang wieder abgeschafft – solch einen Luxus hätte er nicht nötig, sagte er damals – er schläft auf der Matratze und wickelt sich in eine Wolldecke.“

Daraus, dass der alte Herr gar nicht fragte, ob der Sonderling eine Nebeneinnahme habe – denn wozu sonst das Papier und die Tinte? –, konnte man schließen, dass er doch schon etwas über die Lebensweise dieses Einsiedlers wissen müsse. Jetzt wollte er sich nur noch über die Einzelheiten orientieren, er interessierte sich wirklich dafür.

„Er braucht doch Kleidung.“

„Kleidung? Er hat ja seinen schwarzen Anzug, wenn er einmal ausgeht. Aber wann geht er denn aus? Wenn er sich seine Zinsen abholt, alle Vierteljahre einmal. Na ja, und wenn ich mal nicht zu Hause bin – oder gerade viel zu tun habe, so wie heute. Denn rücksichtsvoll ist Herr König – rücksichtsvoll sage ich Ihnen...“

„Er braucht Stiefel!“

„Nu, er hat ja ein Paar.“

„Die nutzen sich doch einmal ab.“

„Wenn er alle Monate einmal zum Bäcker oder zum Papierhändler hinübergeht? Nee, ach nee, da latschen sich die Sohlen nicht so schnell ab. Der hat in den elf Jahren seine Stiefel noch nicht besohlen zu lassen brauchen.“

„Was trägt er denn da zu Hause?“

„Nu, seinen Schlafrock und Pantoffeln. Und wenn da mal was durchgeht, da wird immer wieder ein alter Lappen draufgeflickt.“

„Rasieren, Haare schneiden?“

„I, der lässt’s wachsen, wie’s wächst. Nur wenn die Haare einmal gar zu lang sind, muss ich sie ihm mit der Schere wegschneiden, einfach hinten ab. Aber Sie denken wohl, der wäre geizig? Gott bewahre! Ja, für sich selbst verbraucht er nichts, er hat ja auch nichts, aber sonst – vornehm, stolz, sage ich Ihnen! Sehen Sie, mir hat’s oft genug, besonders in der ersten Zeit, ins Herz geschnitten, wenn er mir für das kleine Zimmer zwei Mark gab. Freilich, ich könnte es an zwei Schlafburschen vermieten, dann würde ich so viel dafür bekommen. Da habe ich ihm gesagt, er soll sich doch ein anderes Zimmer nehmen, draußen in einem Vorort, auf dem Land – er braucht ja gar nicht in der Stadt zu wohnen, geht niemals aus – und da kann er schon für eine Mark ein ganz hübsches Zimmerchen bekommen – nein, gibt’s nicht, er kann sich die zwei Mark für seine Wohnung leisten. Und auch sonst – der will nichts umsonst haben – nichts geschenkt – immer gleich bar bezahlen, und das reichlich und ohne zu handeln – nein, geizig ist der ganz und gar nicht...“

Und die Alte fuhr noch einige Zeit fort, von ihrem Zimmerherrn zu schwärmen. Der Grund zu ihrer Begeisterung war nicht so leicht begreiflich. Es war eben die reine Achtung, die dieser moderne Diogenes ihr abgerungen hatte.

„Im Winter braucht er doch Kohlen.“

„Wozu denn? Er hat ja gar keinen Ofen drin.“

„Da muss er aber doch frieren.“

„Der friert nicht, und wenn er auch vor Kälte kirschblau im Gesicht aussieht und den Federhalter kaum noch halten kann. Aber der hält nicht einmal die Hände über die Lampe, nur die Tintenflasche, wenn die Tinte einfriert, und dann schreibt er lustig weiter.“

„Was schreibt er denn?“

„Na, wenn ich das wüsste! Einen Buchstaben so schön wie den anderen und dabei fix wie ein Advokat, und so hat er schon alle Fächer von seiner Kommode mit Papier vollgepfropft und alle Bogen ganz eng beschrieben.“

„Romane?“

„Romane? Ja, ja, ich weiß schon, was Sie meinen. Vielleicht. Aber fortschicken tut er nichts, Geld bekommt er nicht dafür. Einmal konnte ich in die oberste Schublade gucken, da war auf die erste Seite nur eine Zeile geschrieben und das war doch wohl sicher ein Titel.“

„Und wie lautete dieser?“

„Da stand ganz groß und zierlich mit lauter Schnörkeln geschrieben: ,Wenn ich König wäre‘ – und dahinter ein dickes Ausrufungszeichen.“

„Wenn ich König wäre!“, wiederholte der alte Herr, in Gedanken versunken.

Die fleißige Hand der Plätterin ruhte einmal. Erst jetzt mochte ihr einfallen, dass sie noch immer nicht wusste, wer der alte Herr eigentlich war.

„Kennen Sie den Herrn König?“

Der Gefragte fuhr aus seinen Träumen empor.

„Nein. Persönlich nicht. Habe aber doch schon viel von ihm gehört.“

„Von wem denn?“

„Von einem Herrn, der mich beauftragt, ihn zu besuchen.“

„Ach, Sie sollen ihm wohl eine Stelle anbieten?“

„So etwas Ähnliches“, lautete wiederum die abweisende Antwort.

„Hören Sie, da brauchen Sie sich gar keine Mühe erst zu geben. Das ist schon ein paarmal versucht worden. Herr König muss doch ziemlich beliebt gewesen sein. Gleich im Anfang kamen ein paar Herren zu ihm, Lehrer, oder es war wohl sogar ein Schuldirektor dabei, die haben ihn himmelhoch gebeten, er solle doch keinen solchen dummen Streich machen, gleich seine schöne Stelle aufgeben – aber bei Herrn König gab’s nichts. Dann später wurden Erkundigungen über ihn eingezogen, immer wieder kam einmal jemand, der ihm schriftliche Arbeit bringen wollte, Adressen schreiben und dergleichen, auch ganz gelehrte Arbeiten, die hoch bezahlt werden sollten – nein, Herr König wollte als unabhängiger Rentier leben. Erst vor zwei Jahren war wieder einer da, ein Fabrikdirektor, der bot ihm eine gute Stellung an, ich weiß nicht, mit wie viel im Monat – sehr viel war’s – nein, Herr König braucht nichts weiter als Brot und Pflaumenmus – und dann eben seine Freiheit, dass er immer schreiben kann...“

„War vor zwei Jahren nicht auch ein alter Herr da, der hier gleich gewohnt hat?“

„Der Herr Zöllner. Jawohl, der hat hier das rechte Zimmer ein halbes Jahr gehabt. Das war auch so ein Sonderling, hatte auch nur so ein schwarzes Röckchen und wusch sich am liebsten gar nicht. Aber der war schon sehr alt. Und dann ging er auch regelmäßig aus, aß richtig in der Restauration. Ja, das ist der Einzige gewesen, mit dem Herr König einmal verkehrt hat. Wie die Freundschaft zu Stande gekommen ist, weiß ich nicht. Ich glaube, der alte Herr Zöllner hat einmal drüben angeklopft, ob sein Nachbar ihm einen Briefbogen abgeben könne. Er ist hineingekommen und ist gleich die ganze Nacht drüben geblieben, und dann ging er jeden Tag hinüber und ich glaube, da hat ihm Herr König auch stets vorgelesen, was er geschrieben...“

Die immer tüchtig plättende Frau schwatzte weiter, aber der alte Herr, der noch immer nicht seinen Namen genannt, hörte sie wohl kaum, er war auf seinem Sofa wieder ganz in Gedanken versunken, bis sich diese Gedanken auch einmal in Worten Luft machten.

„In diesem schwächlichen Körper“, sagte er halblaut vor sich hin, „glüht ein Feuergeist, verbunden mit einer eisernen, alles überwindenden Energie...“

„Meinen Sie mich?“

Die alte Dame hatte gerade einen glühenden Bolzen aus dem Feuer geholt und ihn in die Plätte gesteckt, richtete jetzt ihre ziemlich korpulente Gestalt wieder empor.

„Meinen Sie mich oder meinen Sie den Herrn König? Ja, da haben Sie Recht, Energie hat der, und der ist auch nicht etwa unglücklich – der ist eben ganz anders als wir andern Menschen – der kümmert sich um gar nichts mehr in der Welt – der will nichts weiter haben als seine Freiheit mit ein bisschen Brot und Pflaumenmus...“

Sie unterbrach ihre philosophische Auseinandersetzung, indem sie lauschte.

„Da ist er ja schon wieder zurück – ich höre ihn drüben!“

 

 

 

2. Kapitel

 

Das Meublement des linken Zimmers haben wir schon genannt und mehr war in die Dachstube in den elf Jahren auch nicht hineingekommen.

Vor dem Tisch saß ein Mann im Schlafrock und beschrieb Seite nach Seite mit flüchtiger Hand.

Nein, fett war Herr König in den elf Jahren allerdings nicht geworden. Das Gesicht des jetzt dreißigjährigen Mannes sah einfach verhungert aus. Unterernährung. Es glich ganz der Hand, an der jeder Knochen und jede Ader zu erkennen waren. Dazu nun noch überwuchert von einem ziemlich langen Bart, der aber das Vorwort ‚Voll‘ nicht verdiente, und die langen Haarsträhnen gaben ihm auch kein manierlicheres Aussehen. Eine an sich schon ganz schwächliche Gestalt, die dünnen Handgelenke von Kinderfingerchen zu umspannen, aus Mangel an der nötigen Nahrung dem langsamen Hungertod verfallen.

Aber nun diese Augen! Wenn man in die blickte, so konnte man mit einem Mal ganz anderer Meinung werden. Aus diesen blauen, strahlenden Augen leuchteten eine unverwüstliche Lebenskraft und ein eiserner Wille, der über solche lächerliche Kleinigkeiten wie Körperkonstitution und dergleichen erhaben war. Wenn diese seelische Willenskraft wollte, dann hatte der Körper ganz einfach zu gehorchen, und damit basta!

Es klopfte. Sofort legte der Schreiber einen Bogen Löschpapier über die letzten beschriebenen Seiten.

„Wer ist da?“, fragte er mit merkwürdig metallischer Stimme, die man der schwachen Brust gar nicht zugetraut hätte, und dann presste er die schmalen, blutleeren Lippen zusammen, sodass sie einen Gedankenstrich bildeten.

„Hier ist ein Herr, der Sie sprechen möchte“, entgegnete Frau Winter.

„Was für ein Herr? Wie heißt er?“

Jedes Mal, wenn er gesprochen, wurde schnell der Gedankenstrich gebildet.

„Ich bringe eine Empfehlung und Bestellung von Herrn Zöllner.“

„So. Warten Sie!“

Der Schreiber, ebenso klein wie schwach gebaut, erhob sich, verschloss die beschriebenen Seiten in einem Kommodenschubfach, strich die blonden Haarsträhnen aus der fast übermäßig hohen Stirn, schlug den aus hundert Lumpen zusammengeflickten Schlafrock um die hageren Glieder und schlurfte auf Fußbekleidungen, die aus nicht weniger Lumpen in wunderbarer Weise zusammengeflickt waren, nach der Tür, drehte den innen steckenden Schlüssel um.

Sie standen sich beide gegenüber, der alte, stattliche, würdevolle Herr im tadellosen Gehrock und die eigentlich noch junge, aber so verkommene Schreiberseele.

„Pierson ist mein Name.“

„König.“

„Konsul der Vereinigten Staaten von Nordamerika.“

„So.“

„Darf ich Sie unter vier Augen sprechen?“

„Bitte.“

Der Schlafrock machte hinter dem Gehrock die Tür zu, rückte den einzigen Stuhl etwas vor, deutete einladend darauf, setzte sich selbst auf das unüberzogene Bett, ordnete den Schlafrock über seinen Beinen und machte mit den Lippen einen Gedankenstrich – nun fange du an, ich kann warten.

„Sie kennen einen Herrn Zöllner?“

„Ja.“

„Der vor zwei Jahren ein halbes Jahr hier als Ihr Nachbar gewohnt hat?“

„Ja.“

„Sie haben freundschaftlich mit ihm verkehrt?“

„Ja.“

„Hat er sich Ihnen sonst weiter offenbart?“

„Nein.“

„Er war ein Amerikaner.“

„So.“

„Ein New Yorker.“

„So.“

„Hatte er Ihnen das nicht mitgeteilt?“

„Nein.“

„Er ist vor drei Tagen in New York gestorben.“

„So.“

„An einem Lungenschlag.“

„So.“

Also nicht die geringste Teilnahme. Dieses Gesicht mit dem Gedankenstrich unter der Nase war überhaupt gar keines Gefühlsausdrucks fähig.

Jetzt zog der alte Herr zunächst aus der Brusttasche zwei große, versiegelte Schreiben, das heißt Kuverts, von denen das eine schon erbrochen war.

„Ursprünglich war dieser Herr Karl Zöllner ein geborener Deutscher, nannte sich in Amerika nur Charles Customer.“

„So.“

„Er galt als einer der größten Sonderlinge Amerikas, war als Geizhals verschrien, lebte auch wie ein Diogenes, obgleich er dabei viel in der Welt herumreiste – aber immer unter den denkbar bescheidensten Verhältnissen, im Zwischendeck, vierter Klasse, jeden Groschen sparend.“

„So.“

„Sie haben noch nichts von diesem Charles Customer gehört?“

„Nein.“

„Und dabei war dieser alte Herr einer der reichsten Männer Amerikas.“

„So.“

„Einer von den Milliardären.“

„So“, erklang es nach wie vor mit unerschütterlichem Gleichmut. Einfach erhaben über alles. Nur dass die blauen Augen nicht etwa trübe blickten. Diese strahlten vielmehr von einem innerlichen Feuer. Aber es war eiskaltes Feuer. Oder man konnte dieses in metallischem Blau schimmernde Auge auch mit einem zweischneidigen Schwert vergleichen, und wenn das Lid einmal darüber gesenkt wurde, so war es, als ob dieses Schwert in die Scheide gesteckt würde.

„Er hatte sein ungeheures Vermögen allein in Hausgrundstücken angelegt, in Zinshäusern, in New York, Philadelphia und in anderen großen Städten.“

„So.“

„Die Einnahme daraus hat er, wie es in Amerika sehr üblich ist, an verschiedene Gesellschaften gegen Zahlung einer jährlichen Pauschalsumme von zehn Millionen Dollar verpachtet.“

„So.“

„Jährlich zehn Millionen Dollar Einkünfte – das wären zweiundvierzig Millionen Mark.“

„Ja.“

„Dieses Einkommen ist todsicher.“

„So.“

„Mr. Charles Customer ist ohne erbberechtigte Nachkommen gestorben.“

„So.“

Der alte, würdevolle Herr sah gar nicht so wie ein Yankee aus, der nichts weiter als die Macht des Dollars kennt, aber jetzt verlor er etwas die Fassung, er rang nach Atem.

„Mr. Charles Customer – hat – Sie – Herr Otto König – zum – Universalerben eingesetzt!“

„So.“

„Hier – ist – die – die – Abschrift des Testaments!“

Der auf dem Bett Sitzende streckte die durchsichtige Hand nach dem Schreiben aus, das der Konsul aus dem Kuvert gezogen hatte, nahm es, faltete es auseinander, ruhig, ganz ruhig, die stahlblauen Augen lasen bedächtig die Zeilen...

Da plötzlich kam die Reaktion, dieser junger Mann bewies, dass auch er nur ein von einem irdischen Weibe geborener Mensch sei, eine dunkle Blutwelle überflog plötzlich das hagere, geisterhaft blasse Antlitz, er hielt das Schreiben schnell zur Seite, beugte sich vor – ein Blutstrom brach aus seinem Gesicht hervor.

Aber es war nur ein einfaches Nasenbluten, nichts weiter.

3. Kapitel

 

„Da kommt der verhungerte Dichter“, sagten die Nachbarn in der Färbergasse untereinander.

Ja, so sah er auch aus. Einfach eine lächerliche Erscheinung aus einer anderen Welt, in der er selbst im Geiste lebte.

So sehr er das schwarze Röckchen auch geschont hatte, den grauen Anstrich des Alters hatte er nicht fernhalten können, so wenig wie von dem steifen Filzhut, aus diesem auch nicht die versehentlich hineingekommenen Beulen, und nun unter diesem steifen Hut die lang hervorquellenden Haarsträhnen, dazu das ziemlich kleine Gesicht mit dem spärlichen Vollbart, alles so verhungert wie der ganze Körper – eine göttliche Gestalt! Selbst ein Witzblatt hätte solch eine Karikatur für gar zu übertrieben gefunden, und hier lief sie wirklich herum.

Doch Herr Otto König kümmerte sich nicht darum, was die Leute über ihn sagten, er marschierte stracks seines Weges, etwas gebeugt durch das fortwährende Sitzen am Schreibtisch, aber sonst nicht gerade unbeholfen.

Nur aus der Färbergasse heraus, dann kannte ihn schon niemand mehr. Er selbst verließ diese Gasse ja nur alle Vierteljahre einmal, wenn er sich seine Zinsen abholte. Da fiel seine Gestalt allerdings stets so auf wie heute, aber dann wurde sie doch wieder vergessen.

Eine stadtbekannte Figur war er also durchaus nicht. Auf das Gleichnis mit dem verhungerten Dichter kam freilich so ziemlich jeder, der nicht ganz und gar prosaisch veranlagt oder gar zu dumm war, und nicht lange dauerte es, so hatte der arme Mann denn richtig auch einige Kinder hinter sich, und ein Schutzmann überlegte schon, ob er da nicht einmal nach der Legitimation fragen solle. Denn zwischen einem echten, verhungerten Dichter und einem Landstreicher ist ja gar kein so großer Unterschied, und die Beschaffenheit des ganzen Anzuges war auch wirklich danach.

Als der verhungerte Dichter in eine Hauptstraße einbog, wurde ein Droschkenpferd scheu. Wir wollen nicht gerade behaupten, dass der verhungerte Dichter daran schuld war, sondern wollen einen Zufall annehmen.

Unbekümmert darüber steuerte das Monstrum aus einer anderen Welt seinem Ziel weiter zu und das war ein elegantes Haus in dieser baumbepflanzten Hauptstraße.

In der ersten Etage wohnte der Justizrat Dr. Lenz. Dieser Herr hätte lieber etwas weniger kostspielig wohnen sollen. Der Fleischermeister, der die Ehre hatte, für die Familie des Herrn Justizrats zu liefern, hatte schon einmal den mit gleicher Ehre ausgezeichneten Bäckermeister im Vertrauen gefragt, von wegen... Der Herr Justizrat hatte zwar sehr große Einnahmen, aber da waren einige erwachsene Söhne vorhanden, die noch sehr viel Geld kosteten. Zwar war da auch noch die Fräulein Thusnelda Lenz da, die einzige Tochter, heiratsfähig, eine stadtberühmte Schönheit – aber ist denn so eine heiratsfähige Tochter wirklich eine Garantie, und wenn sie auch schön wie Aphrodite ist und sogar beinahe studiert hätte? Wenn sie nun doch sitzenbleibt? Hol’s der... Und außerdem kostet solch eine heiratsfähige Tochter erst recht viel Geld, von wegen der Festlichkeiten und so.

Ein Portier war unten nicht angestellt, so hochnobel war dieses Haus denn doch noch nicht. Also, das Männlein stieg die teppichbelegte Treppe hinauf, und zwar recht elastischen Schrittes.

Er drückte an der Flurtür des Herrn Justizrats den Knopf der elektrischen Klingel. Nicht lange währte es, so öffnete eine hübsche, junge Dame, von der wir aber gleich verraten wollen, dass es nur das Dienstmädchen war.

Nur einen Blick auf die seltsame Erscheinung, und...

„Mir gem nischt!“, sagte die Dienstdame und machte schleunigst die Tür wieder zu.

Eine kleine Pause, von Herrn Königs Lippen mit einem Gedankenstrich ausgefüllt, und er drückte zum zweiten Mal den weißen Knopf.

Jetzt wurde drinnen an dem Gucklochsieb herumgefingert, noch eine halbe Minute, dann wurde ganz vorsichtig die Tür um einen Zoll geöffnet, ein Stück Brot flog heraus und die Tür schloss sich wieder.

Der verhungerte Dichter hob die Brotrinde auf, besah sie sich von allen Seiten, befühlte ihre Härte und steckte sie hinten in seinen Rockfittich.

Wieder zwei Minuten Pause. Dann drückte er zum dritten Mal den Knopf – aber jetzt klingelte es nicht mehr, der Strom war abgestellt.

Nun, dann fing Herr Otto König einfach zu pochen an.

Da sprang die Tür weit auf und im Rahmen stand die Frau Justizrat wie eine Rachegöttin im Nachmittagsnegligé, und die forcht’ sich net, brauchte sich auch nicht zu fürchten, denn hinter ihr zu ihrem Schutz stand noch die schöne Tochter und hinter dieser das Dienstmädchen und hinter diesem das Stubenmädchen, und jede hatte die Hand auf dem Rücken und in dieser Hand etwas drin, vom Hackebeil an bis zum Feuerschürer, und nun ging es bei der vordersten Göttin los:

„Sie unverschämter Mensch – wir sind Mitglied des christlichen Vereins gegen Hausbettelei – schämen Sie sich denn gar nicht? So ein gesunder, starker Mensch – danken Sie doch Ihrem lieben Gott, dass Sie noch arbeiten können – hacken Sie Holz – kleines Himmelreich Nummer 46 im Hofe links – da melden Sie sich – und wenn Sie jetzt nicht sofort gehen, rufe ich augenblicklich den Schutzmann!“

Also hatte die Frau Justizrat losgewettert, etwas leise, aber immer noch keifend genug, und das war alles so glatt herausgekommen, als ob sie dieses Sprüchlein täglich zehnmal herunterbetete.

Der vermeintliche Bettler hatte sie ruhig ausdeklamieren lassen, dann zog er den Hut, machte den Gedankenstrich auf und sagte:

„Otto König ist mein Name.“

„Was?“

„Otto König ist mein Name.“

Es machte doch Eindruck. Der Herr Justizrat hatte zwar sein besonderes Büro, aber doch auch in seine Privatwohnung kam manches Individuum, und je verkommener ein solches aussah, desto mehr wurde daran verdient.

„Ja, was wollen Sie denn?“

„Herrn Justizrat Lenz sprechen.“

„Sind Sie denn hierherbestellt worden?“

„Der Herr Justizrat erwartet mich hier.“

„Verteidigt Sie denn der Herr Justizrat?“

„Vorläufig noch nicht, aber...“

„Sie sind also wirklich herbestellt?“

„Der Herr Justizrat erwartet mich wirklich ganz bestimmt.“

„Warten Sie eine Minute.“

Die Tür blieb halb offen, Mutter und Tochter rückten ab, öffneten im Korridor eine Tür.

„Papa, hier ist ein Kerl, den du herbestellt hättest...“

„Wie heißt er denn?“, erklang drinnen eine verschlafene Stimme.

„Otto König, er sieht ganz zerlumpt aus...“

„In mein Arbeitszimmer, in mein Arbeitszimmer – zweiundvierzig Millionen Schock Schwerenot! Ich komme sofort. O Gott, mein Kopf, mein Kopf!“

Der Herr Justizrat war nämlich erst etwas spät am Nachmittag vom Frühschoppen nach Hause gekommen, hatte ganz gegen seine Gewohnheit eine Droschke benutzt.

„Kommen Sie herein!“

Die couragierte Tochter hatte es gesagt. Sie ließ den Klienten eintreten, ging ihm durch den Korridor voran, aber ihn doch immer so etwas von der Seite im Auge behaltend, öffnete eine Tür.

„Hier herein!“

Es war wirklich ein sehr schönes Mädchen und dabei hoheitsvoll und stolz bis in die Fingerspitzen hinein, mit denen sie jetzt neben die Tür deutete.

„Hier bleiben sie stehen!“

Otto, den Hut in der Hand, präparierte sich gehorsam zur Statue – Fräulein Thusnelda schwebte einer anderen Tür zu.

Aber mitten im Zimmer blickte sie sich noch einmal um und mit einem kleinen Schreckensschrei flog sie zurück.

Neben der Tür stand ein Tischchen und auf diesem lag in handgreiflicher Nähe dieses unsicheren Kantonisten Papas goldene Uhr mit Kette.

Also hastig die goldene Uhr aufgegriffen, noch einen misstrauischen Blick auf den verhungerten Dichter, noch einmal sich im ganzen Zimmer umgesehen, ob da nicht sonst noch etwas Mitnehmenswertes lag, und jetzt schwebte sie wirklich hinaus.

Der lockige Jüngling stand wie eine Statue, das Gesicht ebenso unbeweglich, die Lippen einen ganz korrekten Gedankenstrich machend.

Da ertönte draußen ein unterdrückter Schreckensschrei.

„O über euch Frauenzimmer!“, zürnte der Herr Justizrat.

Eine kleine Pause, dann öffnete sich wieder jene Tür, Fräulein Thusnelda Lenz schwebte herein, mit ganz verklärtem Gesicht auf die an der Tür stehende Statue zu und nun noch drei Schritte vor und mit tiefer Kniebeuge drei wieder zurück.

„Herr König – es ehrt mich ungemein – bitte – verzeihen Sie nur – wir sind alle unglücklich – wie konnten wir aber auch an solch eine hohe Ehre denken – bitte – nehmen Sie doch endlich Platz...“

So und anders flötete Fräulein Lenz mit der zu ihrem Namen gehörenden Nachtigallenstimme.

Dabei hatte sie auch schon ein Fauteuil herbeigerollt, aber nicht neben die Tür, nahm von der Rücklehne die gestickte Decke, wischte erst einmal über das Polster, welches die Ehre haben sollte, den hintersten Teil dieses Milliardärs aufnehmen zu dürfen.

Die Sache war nämlich die, dass Herr Konsul Pierson schon heute früh bei Justizrat Lenz im Büro gewesen war, ihm von dem neuen Milliardär mitteilend, und dass die ganze Angelegenheit, soweit das Gericht mit ins Spiel kam, durch die Hände des Justizrats gehen würde.