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I

Die Mauer bei Queienfeld

Bei Queienfeld in Thüringen gab es eine Besonderheit der innerdeutschen Grenze: Aufgrund der bergigen Landschaft war es zu Unregelmäßigkeiten in der Statik der Grenzbefestigungsanlagen gekommen. Dies war beim eiligen Bau nicht bemerkt worden, erst ein Gefreiter namens Bilz vom 14. Regiment meldete bei der Wachübergabe an die Spätschicht des 15. Januar 1973 dem diensthabenden Feldwebel die Wahrnehmung verdächtiger Knirschgeräusche im Bereich der Verfugungen. Nachdem die Meldung ihren ordnungsgemäßen Weg durch die Befehlskette nach oben genommen hatte, ordnete Armeegeneral Karl-Heinz Hoffmann, der damalige Minister für Nationale Verteidigung der DDR, die Untersuchung durch die Bauakademie an. Das Urteil war niederschmetternd: Der gesamte als Abschnitt XII/17 bezeichnete Teil der Grenze drohte auf einer Länge von 1,2 Kilometern zu bersten. Zur Lösung des Problems unterbreiteten die Fachleute zwei Vorschläge. Der erste Vorschlag einer Holzverschalung auf gesamter Länge mit anschließendem Massivausguss durch Beton wurde aus Kostengründen und wegen der schwierigen geografischen Lage verworfen.

Daher entschloss man sich zur zweiten vorgeschlagenen Lösungsvariante: der täglichen Öffnung von XII/17 für fünfundachtzig Minuten. Zu diesem Zweck wurde eines der Betonsegmente entfernt und gegen eine Stahlwand auf Rollen ausgetauscht. Diese konnte nun täglich für den genannten Zeitraum aus der Konstruktion herausgerollt werden. Durch die entstandene Lücke konnten sich die Tag für Tag entstehenden Materialspannungen entladen. Der innovative Lösungsvorschlag war erfolgreich, Mauerabschnitt XII/17 stand bis zu seinem planmäßigen Abriss 1990 stabil. Da nach Empfehlung der Bauakademie eine unmittelbare Nähe von Grenztruppen in den fünfundachtzig Minuten der Öffnung wegen der Gefahr von Steinschlag zu riskant gewesen wäre, entstand aber ein nicht unerhebliches Sicherheitsproblem. Daher legte man die Öffnung in die Zeit zwischen 3 Uhr und 4.25 Uhr, um spontane oder versehentliche Grenzübertritte zu vermeiden. Dennoch kam es immer wieder zu unvermeidbaren Fluchten, die jedoch aus Furcht vor Nachahmern geheim gehalten wurden. Unter anderem entfernten sich zahlreiche Mitglieder der ostdeutschen Bauakademie sowie der Gefreite Bilz in das Staatsgebiet der BRD. Als Kuriosum sei genannt, dass Bilz kurz darauf bei Wiesbaden die Schwester des verantwortlichen Gutachters der Bauakademie ehelichte.

II

Der Tvättsten-Effekt

An der Geschichte der DDR und ihrem anschließenden Beitritt zur Bundesrepublik ließ sich erstmals die Richtigkeit eines nach dem schwedischen Soziologen Gösta Tvättsten benannten Effekts eindeutig beweisen. Der aus dem nordschwedischen Umeå stammende Tvättsten hatte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die Hypothese entwickelt, dass sich Art und Häufigkeit von Erkrankungen im Zusammenspiel mit den verfügbaren medizinischen und pharmakologischen Möglichkeiten entwickeln. Tvättstens Hypothesen waren seinerzeit auf einhellige Ablehnung gestoßen. Der namhafte Geologe Danderut, damals Präsident der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften, wurde mit seinem Ausspruch berühmt: »Gösta [Tvättsten], ob du dir hier oder im Kongo ein Bein brichst, bleibt dasselbe.« Tvättsten zog sich verbittert aus der Welt der Forschung zurück und starb vergessen 1938 auf den Skären vor Huddinge.

Als Schwäche von Tvättstens Thesen galt stets, dass sie sich auf ungenaue historische Angaben stützten und keine prospektiven Studienergebnisse anführen konnten. Doch 1952 schloss ein junger Wissenschaftler der Universität Umeå einen Kooperationsvertrag mit der Regierung der DDR. Asmus Berling erschien die DDR als besonders geeignetes Untersuchungsgebiet, da es ein zentralisiertes Gesundheitssystem und praktisch keine Möglichkeiten der Migration in andere Länder aufwies. Daraus ergab sich eine geschlossene, leicht zu erfassende Untersuchungspopulation. Im Austausch gegen einige Fahrzeuge der Marke Volvo für hohe Regierungsmitglieder wurde Berling Zugang zu allen Gesundheitsdaten gewährt. Seine Ergebnisse sollten seinen Landsmann und geistigen Vater Tvättsten mehr als rehabilitieren.

Berling konnte zeigen, dass von 1952 bis 1954 über 60 Prozent aller Kranken in der DDR an einem Katarrh litten. In der damaligen Phase befand sich eine eigene pharmazeutische Industrie gerade erst im Aufbau. Lediglich das Radebeuler Katarrhlytikum Anedon war frei verfügbar. Die anderen 40 Prozent hatten Knochenbrüche und offene Wunden. Gips und Verbandsmaterial waren als typische Artikel der Leichtindustrie bereits gut verfügbar. Von 1954 bis 1963 trat die Diagnose Katarrh zugunsten des häufigeren Ausflusses in den Hintergrund. In Jena hatte eine Medikamentenfabrik aufgemacht, die Lonedan, eine den Ausfluss hemmende Salbe, produzierte. Mit der weiteren Differenzierung der Produktpalette kam es auch zu einer weiteren Auffächerung der Diagnosen, sodass schon in den Siebzigerjahren Koliken, Spaltungsirresein, Schlaflosigkeit sowie Angina das Spektrum erweiterten. Sicher auch durch den Einfluss der Westmedien traten in den Achtzigerjahren Bronchitis, Bindehautentzündung, Gürtelrose sowie Krampfadern hinzu.

Doch erst nach der Wende breiteten sich Krankheiten wie Herpes, Neurodermitis und Allergien aus. Das Bahnbrechende an Berlings Forschung war nun, dass er diese Entwicklung vorhergesehen hatte und konkludent zeigen konnte, dass diese Erkrankungen noch Monate zuvor nicht im Blut nachweisbar gewesen waren und erst mit Verfügbarkeit der neuen Medikamente auftraten. Lediglich bei einem DDR-Bürger fanden sich Herpes-Viren im Blut, dabei handelte es sich jedoch um ein nicht näher genanntes Mitglied des Politbüros mit privilegiertem Zugang zu Westmedikamenten. Die gesundheitliche Anpassung an das Westniveau vollzog sich dementsprechend erst nach der Währungsunion 1990 und nicht etwa nach dem Mauerfall. In einer schönen Einzelstudie beschreibt Berling die Insel Hiddensee, deren Inselarzt noch bis 1995 ausschließlich Katarrhe diagnostizierte und behandelte. Postalisch ließ er sich mit Anedon direkt versorgen und stellte das Medikament seinen Patienten zur Verfügung. Seine Heilungs- und Todesraten entsprachen internationalen Durchschnittswerten. Erst mit Öffnung der ersten Apotheke auf der Insel, die mit aggressiven Werbemaßnahmen einherging, stellten sich auch bei den Inselbewohnern Herzrhythmusstörungen und Refluxkrankheit ein. Nachfolgend kam es zu vielen Komplikationen und auch Todesfällen, da der Inselarzt nach fünfzig Jahren Berufserfahrung mit Katarrhen nun mit der neuen Problematik überfordert war.

Asmus Berling ging übrigens 1997 nach Schweden zurück, nach mehr als fünfzig Jahren in der DDR konnte er mit dem neuen, sehr offenen System nichts anfangen, da es auch wissenschaftlich für ihn keine Perspektiven bot. Aber auch in Schweden fand Berling keinen Anschluss mehr. Er bewirkte allerdings noch die Benennung der Universität Umeå in Tvättsten-Universität, konzentrierte sich in seiner Arbeit aber nachfolgend ausschließlich auf die Produktion von Kartoffelschnaps sowie dessen Konsum.

III

Ein Streifen beiderseits der Autobahn

Beide Seiten hatten kein Interesse daran, dass einer breiteren Öffentlichkeit alle Punkte des am 17. Dezember 1971 ratifizierten Transitabkommens zwischen der BRD und der DDR bekannt wurden. Am heikelsten war wohl die Regelung, die der damalige BRD-Unterhändler Mischnik im Austausch für die unbegrenzte Anzahl von Fahrzeugen ausgehandelt hatte, die zwischen Westberlin und der BRD verkehren durften. Honecker wollte nur zehntausend Fahrzeuge jährlich gestatten und danach pro Fahrzeug eine Art Zoll kassieren, das hätte 1972 noch kaum einen Unterschied gemacht, aber bereits 1982 wäre die Transitstrecke nur bis April kostenlos genutzt worden. Honecker hatte offensichtlich die Entwicklung der Pkw-Zulassungen in der BRD gut eingeschätzt. Aber auch Mischnik hatte verstanden, dass es sich um einen heiklen Punkt handelte. Nur so lässt sich jedenfalls erklären, dass er Paragraf 28 zustimmte. Durch diesen Passus wurde geregelt, dass alle Kinder, die einen zwanzig Meter breiten Geländestreifen zu beiden Seiten der Transitstrecke verließen, automatisch zu DDR-Bürgern wurden und als solche behandelt werden durften. Ein heikler Punkt, aus Gründen der Glaubwürdigkeit konnte die westdeutsche Regierung nicht einmal ihre Bürger warnen, der Vertrag wurde als großer Erfolg gefeiert. Mischnik allerdings soll die Angelegenheit viel Kopfzerbrechen bereitet haben, obwohl er stolz war, durch eine Unachtsamkeit von Honecker immerhin aus den zwanzig Zentimetern Meter gemacht zu haben.

Die DDR schickte mobile Einsatzkommandos los, die links und rechts entlang der Streifen patrouillierten. Aber die Ausbeute war enttäuschend. Die weitaus meisten Westdeutschen bretterten schnellstmöglich über die Autobahn, und die geringe Qualität des Essens in den DDR-Raststätten trug wohl das Ihrige dazu bei, kaum Reisende zum Verweilen einzuladen. So kam es erst 1976, fast fünf Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens, zum ersten Fall: Holger Danzer, ein elfjähriger Knabe aus Wiesloch-Rauenberg, entfernte sich bei einer kurzen Toilettenpause seiner Eltern aus dem Schutzstreifen. Bevor er aufgegriffen wurde, soll Danzer wüste Verwünschungen in Richtung seiner Eltern von sich gegeben haben und leistete angeblich keinen Widerstand. Vorausgegangen war wohl eine Diskussion über Jeansmarken.

Holger wurde nach seinem Aufgreifen von den DDR-Behörden als elternloses Kind behandelt und zur Adoption freigegeben. Nur acht Stunden später hatte er ein neues Zuhause in Borna, bei Hans-Joachim und Dagmar Smicek. Die Smiceks waren privilegiert behandelt worden, da beide SED-Mitglieder waren und Hans-Joachim Smicek zudem Brigadier in einer Aktivistenbrigade.

Nach anfänglicher Freude kam es bald zu heftigen Debatten zwischen Holger Danzer und den Smiceks. Seine schon recht ausgeprägten Kleiderwünsche waren in Borna praktisch nicht erfüllbar. Sein Tagesablauf, der über Jahre hinweg stark am Fernsehprogramm orientiert gewesen war, kam vollkommen durcheinander, da in Borna lediglich das Programm DDR 1 akzeptabel zu empfangen war. Argumentativ konnten ihm die Smiceks nicht immer beikommen und baten nach nur sechs Wochen die zuständigen Stellen um Rücktritt von ihrer Adoption. Man versuchte, Kontakt mit den Danzers in Wiesloch-Rauenberg aufzunehmen, jedoch zunächst ohne Erfolg. Erst durch eine Intervention des damaligen Bundesinnenministers Maihofer (FDP) gelang es, die leiblichen Eltern zu einer Rücknahme von Holger zu verpflichten. Die Danzers zeigten sich sehr erleichtert und gaben an, ein vollkommen verändertes Kind erhalten zu haben. Holger sei nach seiner Bornaer Zeit deutlich folgsamer und anspruchsloser gewesen.

Inzwischen hatte die Angelegenheit über die Transitautobahn die Runde gemacht. Zwar wusste man nichts Genaues, weshalb die ganze Geschichte immer ein Gerücht blieb, das man sich hinter vorgehaltener Hand zuraunte. Dennoch waren alle Reisenden auf der Strecke wachsamer als sonst. Die DDR zog bald ihre Einsatztruppen von den Schutzzonen ab, sodass Holger Danzer der einzige Fall seiner Art blieb. Er wurde später Industriekaufmann und ist bis heute unverheiratet.

IV

Die Scharfstein-Aussprache

Der Mathematiker Paulmartin Scharfstein unterbreitete 1950 einen Vorschlag zur Umstellung der deutschen Sprechweise. Statt der üblichen Formulierung »fünfundvierzig« sollte man jetzt beispielsweise »vierzigfünf« sagen. Scharfstein argumentierte, dass man mit dieser veränderten Systematik den internationalen Bruderstaaten näher käme, insbesondere dem Volk der Sowjetunion, in dessen russischer Sprache schon längst diese Reihenfolge angewandt werde. Außerdem sei es die logisch richtige Formulierung, da ja zuerst die Zehner- und dann die Einerpotenz genannt werde. Es sei durchaus möglich, dass Schüler, denen die neue Systematik beigebracht werden würde, wesentlich bessere Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik erzielen könnten, weil Verwechslungen seltener vorkommen würden. Auch die Steuerung von Großmaschinen und andere technische Abläufe würden weniger störanfällig werden.

Bei einem Vorschlag von solcher Tragweite wurde natürlich die oberste Partei- und Staatsführung befragt. Ulbricht war der Idee zunächst zugetan, obwohl er wegen seiner eigenen begrenzten Möglichkeiten ihre praktischen Auswirkungen wohl nicht in vollem Umfang erfasste. Er war begeistert von der Möglichkeit, bessere Entwicklungschancen als die westdeutschen Sektoren zu haben, und hoffte auf die Zustimmung Stalins zur Verrussischung der deutschen Sprache.