Cover

Susanne Wess

VENEDIG

Eine Stadt in Biographien

TRAVEL HOUSE MEDIA GmbH

Herausgegeben von Norbert Lewandowski

INHALTSVERZEICHNIS

ÜBER DIESES BUCH

Wer war der erste prominente Stammgast des legendären Caffè Florian? Warum brachte ein Hund Paolo Veronese in Schwierigkeiten? Wer war der »rote Priester«? Die Identität einer Stadt entsteht mit den Lebensgeschichten ihrer Bewohner.

 

Zwanzig ausgewählte Biographien geben einen facettenreichen Einblick in Vergangenheit und Gegenwart, Kultur und Lebensgefühl der Stadt:

 

Enrico Dandolo

Ein blinder Greis wurde der kühnste aller 120 Dogen Venedigs

 

Marco Polo

Mit 17 brach er nach China auf, mit 41 war er der berühmteste Venezianer

 

Giovanni Bellini

Er war der genialste aus einer Familie von venezianischen Künstlern

 

Tizian

Beim Malerfürsten von Venedig standen gekrönte Häupter Schlange

 

Andrea Palladio

Ein großer Baumeister verherrlicht die Antike

 

Paolo Veronese

Der Maler und die Glaubenswächter – eine venezianische Komödie

 

Claudio Monteverdi

Er schenkte Venedig und der Welt eine neue Form der Barockoper

 

Leone da Modena

Das romanhafte Leben des großen Rhetorikers und Rabbiners

 

Antonio Vivaldi

Der »rote Priester« liebte die Frauen und noch mehr die Musik

 

Giovanni Battista Tiepolo

Seine berühmten Fresken sind noch heute ein Rausch der Farben

 

Faustina Bordoni

Sie war der größte Opernstar Europas – und sie liebte einen Deutschen

 

Floriano Francesconi

Er vollbrachte eine Großtat: die Gründung des Caffè Florian

 

Carlo Goldoni

Ein Dichter lebt seine Leidenschaften: Komödien, Libretti, Frauen

 

Giacomo Casanova

Der große Verführer hatte eine unerfüllte Liebe – Venedig

 

Thomas Mann

Der Schriftsteller suchte den Tod – und fand ihn in Venedig

 

Papst Johannes XXIII.

Nie werden die Venezianer ihren geliebten Patriarchen vergessen

 

Peggy Guggenheim

Die exzentrische Kunstmäzenin hinterließ eine Sammlung von Weltruf

 

Giuseppe Arrigo Cipriani

Der Gründer von Harry’s Bar inspirierte nicht nur Hemingway

 

Joseph Brodsky

Venedig war das wahre Exil des Dichters – über den Tod hinaus

 

Donna Leon

Mord und Totschlag in Venedig – das ist ihr Geschäft

IMPRESSUM

Liebe Leserinnen und Leser,

vielen Dank, dass Sie sich für einen Titel aus unserer Reihe MERIAN porträts entschieden haben. Wir freuen uns, Ihre Meinung zu diesem Buch zu erfahren. Bitte schreiben Sie uns an merian-portraets@travel-house-media.de.

 

© 2013 TRAVEL HOUSE MEDIA GmbH, München

MERIAN ist eine eingetragene Marke der GANSKE VERLAGSGRUPPE.

 

ISBN 978-3-8342-1540-6

1. Auflage

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeglicher Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

 

TRAVEL HOUSE MEDIA

Postfach 86 03 66

81630 München

www.merian.de

 

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Dr. Stefan Rieß

PROJEKTLEITUNG

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REDAKTION

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REDAKTIONSASSISTENZ

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BILDREDAKTION

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SCHLUSSREDAKTION

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REIHENGESTALTUNG

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SATZ

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Juliane Helf, Gloria Schlayer

PRODUKTION E-BOOK

pagina GmbH, Tübingen

 

ABBILDUNGSNACHWEIS

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THM 8-1540 04_2017_02

ISBN 978-3-8342-1540-6

DIE AUTORIN

Die Reisejournalistin und Buchautorin Susanne Wess hat lange im Veneto gelebt. Ihr Übersetzerstudium absolvierte sie in München und Verona. Schon damals zog es sie immer in das nahe gelegene Venedig.

Seither hat sie die Stadt mit dem morbiden Charme nicht mehr losgelassen. Regelmäßige Besuche der »Serenissima« gehören zum Pflichtprogramm der Italienspezialistin, die zahlreiche Artikel über das Leben in der Lagune veröffentlicht hat. Susanne Wess ist außerdem Autorin des Bandes »Rom« der Reihe MERIAN porträts.

Venedig wurzelt im Wasser. Auf vielen Millionen Baumstämmen, die in den Meeresgrund der Lagune gerammt wurden. Auf diesen Fundamenten gründet eine Stadt, die einzigartig auf der Welt ist.

Venedig, die Schöne, die Durchlauchteste aller Städte. La Serenissima. Sie führt diesen Titel seit der Zeit, als Venedig eine gewaltige Seemacht war. Von dieser Epoche rührt ein sagenhafter Reichtum und von dem wiederum eine Kultur, die Venedig zu einem einzigartigen Juwel macht.

In 20 Kapiteln beschreibt dieser Band der Reihe MERIAN porträts die Lagunenstadt, die nicht nur von ihren legendären Bauwerken geprägt wird, sondern auch von den Menschen, die hier gelebt und gewirkt haben oder hier gestorben sind. Diese Persönlichkeiten führen wie individuelle Reisebegleiter in das Innenleben dieser Stadt.

Wir werden Zeuge der Dogen-Politik, erleben die Skepsis an den Reiseberichten des Marco Polo sowie die Entstehung der Bilderwerke großer Künstler wie Bellini, Tizian, Veronese oder Tiepolo, vertiefen uns in die Musik Monteverdis oder Vivaldis, leiden mit am Schicksal Casanovas.

Natürlich ist es schwer, die »richtigen« 20 Personen auszuwählen; vermutlich ist es, objektiv betrachtet, sogar unmöglich, schließlich wurde Venedig in seiner 1200-jährigen Geschichte von weit mehr als 20 Menschen geprägt. Doch in der Summe soll unsere subjektive Auswahl jenes unverwechselbare Kaleidoskop ergeben – das Faszinosum Venedig.

Wir gehen ins weltberühmte Caffè Florian oder in Ciprianis Harry’s Bar. Wir schauen gebannt auf das Venedig, wie es die Schriftsteller Thomas Mann, Joseph Brodsky und Donna Leon wahrnehmen: die andere Seite Venedigs, die diffuse, schemenhafte, zuweilen auch düstere, wenn die Sonne sinkt und Wasser und Nebel steigen. Eine Symphonie in Grau.

Auch das ist La Serenissima, die Durchlauchteste.

AUF EINEN BLICK

Ohne ihre Bewohner wäre die Stadt eine andere. Ohne Marco Polo, Giacomo Casanova und Donna Leon … wäre Venedig nicht Venedig.

ORIENTIERUNG

Farbige Kästchen mit Ziffern 1 und farbige Buchstaben-Ziffern-Kombinationen ( D 3) verweisen auf die Orientierungskarte.

ENRICO DANDOLO

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Er war 85 Jahre alt und blind, als er zum 41. Dogen gewählt wurde und später Byzanz eroberte. Ein Greis war der kühnste der 120 Herrscher über Venedig. In seiner Ägide wurde die Lagunenstadt zur Weltmacht.

Diese Ästhetik, dieser unfassbare Reichtum! Die Pracht des mittelalterlichen Venedigs verschlägt seinen Besuchern immer wieder die Sprache. Wie konnte sich die relativ kleine Lagunenstadt im letzten Winkel der Adria zu so einem Weltreich aufschwingen? Welche Opfer und Winkelzüge waren nötig, um diese Macht, die einst vom Dogenpalast 25 ( F 5), dem Juwel der venezianischen Gotik, ausging, zu erlangen und zu konservieren?

Ein Mann gibt diesem Imperium sein Gesicht. Es ist weder besonders kühn oder kunstsinnig zu nennen noch hochfahrend herrschaftlich. In allen historischen Darstellungen des Dogen Enrico Dandolo sehen wir einen eher verschlagenen Menschen mit kalten Augen, einen, dem alles zuzutrauen ist. Ein besonders angenehmer Zeitgenosse scheint er nicht gewesen zu sein, keiner dieser Großvatertypen, die gemeinhin italienische Herzen erwärmen. Der machtbewusste Tatenmensch schmiedete einen Schritt vor dem Grab aberwitzige Pläne – und verwirklichte sie auch.

Die historischen Quellen wissen nicht allzu viel über Enrico Dandolo zu berichten, bevor er als 41. Doge die Bühne des Weltgeschehens betrat, das damals venezianisch war. Er entstammt einer Familie, die immerhin vier Dogen stellte, und kam 1107 im Sestiere San Marco in der Nachbarschaft des Campo San Luca ( E 4) zur Welt, als Sohn des Patriziers Vitale Dandolo, einem engen Berater des 38. Dogen Vitale II. Michiel, und als Neffe von Namensvetter Enrico, Patriarch von Grado. Bis im besten Mannesalter mag Enrico Dandolo im Schatten beider gestanden haben, auch ein Grund, dass er über sechs Jahrzehnte fern der Heimat in Byzanz verbracht hat. Dort gab es eine mächtige venezianische Kolonie, deren Mitglieder 1171 unter Basileus Manuel I. Komnenos, dem Kaiser von Byzanz, enteignet und einkerkert oder aus dem Byzantinischen Reich gejagt wurden. So geschah es auch Enrico Dandolo. Er kehrte nach Venedig zurück, das einen Vergeltungsschlag organisieren wollte, der jedoch schon beim Zusammenstellen der Truppen scheiterte.

Dandolo wurde ein Jahr später als Sonderbotschafter zu Verhandlungen nach Byzanz geschickt. Bei dieser Mission muss er noch im Besitz seines Augenlichts gewesen sein, das verrät ein Dokument, das er 1172 mit der damals üblichen Formel abzeichnete: »Ego Henricus Dandolo manu mea subscripsi« – »Ich, Henricus Dandolo, unterschreibe mit eigener Hand.« Ab 1182 unterzeichnete er kein Schriftstück mehr. Er hatte sein Augenlicht verloren, einer Legende nach ließ ihn der Kaiser von Byzanz blenden.

Den bereits betagten Venezianer hat der Verlust seiner Sehkraft keineswegs gebrochen. Er war zwar blind, aber körperlich wie geistig von einer ungewöhnlichen Vitalität, als er 1192 zum Dogen von Venedig gewählt wurde und man ihm, als Zeichen seiner Macht als Staatsoberhaupt, die Zogia aufs Haupt setzte, die prachtvolle Krönungskappe mit Edelsteinen von unermesslichem Wert. Vorher musste Dandolo als erster Doge auf den »promessio ducale« schwören, auf die neuen Verordnungen, welche die Macht des obersten Führers erheblich einschränkten. Immerhin blieb ihm der Oberbefehl über die venezianischen Truppen, und das war entscheidend. So wurde Dandolo als 41. Doge Bestandteil eines illustren Reigens der Macht.

Der Name »Doge« leitet sich vom lateinischen »dux« (Führer, Fürst) ab; er war bereits im 4. Jh. bei den Römern als Bezeichnung für den Kommandeur einer Grenzprovinz üblich. Paoluccio Anafesto war im Jahr 697 der erste Doge. Im traditionellen Sinn gewählt wurde allerdings erst der dritte Doge, mit dem eindrucksvollen Namen Ursus, der Bär, den ein Aufstand an die Spitze der Lagunensiedlung trug. Das war 726. Diodato Ipato, Vierter in der Dogenreihe, verlegte den Regierungssitz vom Festland auf die Lido-Insel, die besser zu verteidigen war vor dem Zugriff der Langobarden, die Norditalien fest im Griff hatten. Erster Regent auf Rialto – »rivus altus«, dem »hohen Ufer« – war Agnello Partecipazio; sein Sohn Giustiniano Partecipazio wurde 827 der elfte Doge, in dessen Ära die Überführung der sterblichen Überreste des Heiligen Markus fiel.

Kaufleute hatten sie einem Kloster in Alexandria für 50 Zechinen abgekauft und in einem Korb, zwischen Schweinehälften versteckt, aus dem islamischen Ägypten geschmuggelt. Jetzt hatte man einen prominenten Heiligen als Schutzpatron. Durch eine päpstliche Bulle, die jedem Christen beim Besuch von San Marco 2 ( F 5) den Sündenablass gewährte, setzte ein nicht abreißen wollender Strom von Pilgern ein, Venedig wurde zur Goldgrube. Umso schlimmer wog, dass Patrizier und Bürger am 11. August 976 aus Unzufriedenheit mit dem Dogen den Palazzo Ducale 25 ( F 5) ansteckten, und die Flammen schnell um sich griffen und etwa 300 Häuser und Kirchen, darunter auch die Basilica di San Marco 2 ( F 5) mit der wertvollen Reliquie, in Schutt und Asche legten.

Doch die Gebeine von Sankt Markus verkohlten – oh Wunder! – nicht. Sie tauchten über 100 Jahre später, am 25. Juni 1094, wieder auf, unversehrt, wie es der 32. Doge Vitale Falier im Traum vorhergesehen hatte, gerade rechtzeitig, um dem neu entstandenen Bau von San Marco einen eigenen Mythos zu geben. Und tatsächlich, unter dem Patronat des Heiligen und mit seinem Wappentier, dem geflügelten Löwen, als Stadtsymbol war der Aufstieg der »Serenissima«, der »Durchlaucht« Venedig, zur Weltmacht nicht mehr zu stoppen.

Domenico Selvo, verheiratet mit der byzantinischen Kaisertochter Theodora, sorgte dafür, dass dieser Machtzuwachs für alle Welt sichtbar wurde: Jedes Schiff musste aus der Fremde ein Stück Kunst zum Lobe des Stadtpatrons mitbringen. Selvos Nachfolger übernahmen gern diesen so überaus praktischen Raub-Erlass zu Ehren des Staatsheiligen, dessen Ergebnis zum Beispiel die 2643 Säulen und Säulchen von San Marco sind, 292 allein an der Außenfront der Kirche.

MIT 95 GING ENRICO DANDOLO AUF KREUZZUG

Überbieten konnte das nur einer wie Enrico Dandolo: Ihm ist die vergoldete Pferdequadriga zu verdanken, welche die Fassade der Basilika bis heute ziert. Das Original ist im Museo di San Marco ( F 5) zu bewundern, ein Beutegut aus Konstantinopel. Dandolo hatte 1202 als 95-Jähriger bei einem wohl kalkulierten dramatischen Auftritt in der Basilika von San Marco das Kreuz übernommen und an die Spitze der venezianischen Truppen des Vierten Kreuzzugs gestellt. Doch statt nach Jerusalem führte der Feldzug zunächst nach Dalmatien zur Stadt Zara, deren holzreiches Umland für die Flotte Venedigs hochinteressant war. Obwohl Papst Innozenz III. den Angriff auf die Stadt verbot und das gesamte Kreuzfahrerheer exkommunizierte, konnte Dandolo die Kreuzritter mit irrwitzigen Summen überzeugen, Zara doch zu erobern.

Dann wandte sich der Greis Konstantinopel zu, dem Venedig seit Jahrhunderten eng verbunden war. Dandolo hatte dabei nicht weniger im Sinn, als sich selbst auf den Thron von Byzanz zu setzen. 1204 hatte er Konstantinopel erobert, das von Venedig abhängige Kaiserreich war nun eine politische Wirklichkeit. Über fast allen griechischen Inseln und dem Peloponnes wehte Venedigs Banner, Byzanz war gedemütigt und stark geschwächt.

Im Alter von 97 Jahren fühlte sich Dandolo noch rüstig genug, um gegen die Bulgaren zu ziehen. Bei dieser Militäraktion starb er am 21. Juni 1205 an den Folgen eines Leistenbruchs. Der strapaziöse Ritt während eines plötzlichen Rückzugs bedeutete das Ende. So verrät eine Chronik unverblümt: »Ihm wurde das Bauchfell gesprengt, und sein Hodensack war riesig angeschwollen.« Bis zum heutigen Tage befindet sich Dandolos Grab in der Hagia Sophia, der ehemaligen Krönungskirche der byzantinischen Kaiser, im heutigen Istanbul: Keinem Zeitgenossen – auch nicht seinem Sohn Ranieri – war es eingefallen, die Gebeine in die Heimat zurückzuführen und zu begraben, wie es einem großen Staatsmann gebührt hätte.

Ein Name, der oft zusammen mit Enrico Dandolo genannt wird, ist Francesco Foscari, der 1423 als 65. Doge – mit 49 Jahren fast noch ein Küken – den Thron bestieg. Die Büste auf seinem Grabmal in der Santa Maria Gloriosa dei Frari 41 ( C 4) zeigt ein Antlitz mit Raubvogelzügen, hochgezogenen Brauen und scharf blickenden Augen, das Härte, Klugheit und Ehrgeiz widerspiegelt. Foscari, der das Amt 34 Jahre lang innehielt, länger als jeder vor ihm und danach, wurde wegen seiner ruinösen Expansionsgelüste zum »Totengräber Venedigs« erklärt. Nach verschiedenen politischen Intrigen und einem nur knapp gescheiterten Mordanschlag wurde Foscari vom Thron gejagt.

VERLOGENE EHRUNG EINES TOTEN DOGEN

Der 83-Jährige wurde – als einziger Doge – zum Rücktritt genötigt. Über die Scala dei Giganti, gestützt auf einen Stock und bar seiner Amtsinsignien, soll er nach einer aufgezwungenen Abschiedsrede den Dogenpalast 25 ( F 5) verlassen und eine Gondel bestiegen haben, die ihn zu seinem Palazzo am Canal Grande ( A-E 36) brachte. Dort starb er im Morgengrauen des 1. Novembers 1457 nur eine Woche nach der schrecklichen Schmach als gebrochener Mann. Zwei Tage später wurde der Leichnam der Tradition entsprechend im Dogenpalast in der Sala di Piovego aufgebahrt, als wäre er als Regierender verschieden: in Brokat gewandet, auf dem Haupt der Corno, die Dogenkappe, an seiner Seite den Befehlsstab, zu seinen Füßen die Sporen.

So ein Abschied war dem letzten Staatsoberhaupt Ludovico Manin nicht vergönnt. 1789 buhlte er mit Erfolg um die Gunst der Venezianer, wurde zum 120. Dogen gewählt und warf zum Dank Münzen im Wert von 5000 Dukaten aus der Prunksänfte unters jubelnde Volk. Keiner nach ihm würde je mehr die symbolische Vermählung mit dem Meer eingehen, bei der vom Boot aus der goldene Trauring ins Meer geworfen und dazu die Worte gesprochen wurden: »Mit dir, oh Meer, gehen wir eine Ehe zum Zeichen wahrhaftiger und dauernder Herrschaft.«

Die stolze Seefahrerrepublik hatte durch die Entdeckung der Neuen Welt und neuer Seewege ihre wirtschaftliche Bedeutung längst verloren. 1000 Jahre Souveränität hatten ihr Ende, als Napoleon 1797 einmarschierte – ohne jegliche Gegenwehr. Das Goldene Buch des Adels und die Herrschaftssymbole wurden auf der Piazza San Marco 28 ( E 5) verbrannt. Ludovico Manin zog sich in seinen Palast neben der Rialtobrücke ( E 4) zurück, legte die Rensa ab, die unter dem Corno getragene Leinenmütze, und übergab sie seinem Kammerdiener mit den Worten: »Nehmt sie, wir brauchen sie nicht mehr.«

PALAZZO DUCALE 25 F 5

Piazzetta San Marco, San Marco

www.visitmuve.it

Vaporetto: San Marco

SANTA MARIA GLORIOSA DEI FRARI 41 C 4

Campo dei Frari, San Polo

Vaporetto: San Tomà

MARCO POLO

12541324

Der Patron aller Reisenden ist 17 Jahre alt, als er zur größten Reise des Mittelalters aufbricht. Sie führt ihn bis nach China und dauert 24 Jahre. 1295 kommt er zurück – und damit beginnen auch die Probleme.

Das Reisen liegt den Polos im Blut. Sie sind Händler. Typische Venezianer ihrer Zeit, wenn man so will, obwohl die Familie erst Anfang des 13. Jh. von Dalmatien nach Venedig gekommen war. Venedig ist zu diesem Zeitpunkt die bedeutendste Handelsmacht Europas, der wichtigste Stützpunkt im Orienthandel. 120 000 Menschen leben um 1300 in dieser Metropole. Damit zählt Venedig zu den größten Städten des Abendlandes. An der Mole zwischen Dogenpalast 25 ( F 5) und dem Werften- und Handwerkszentrum Arsenale 1 ( G/H 5) legen die großen Segelschiffe ab, die mit ihren Handelsgütern das östliche Mittelmeer befahren. Sie begründen Venedigs Reichtum und seine Macht im östlichen Mittelmeerraum. Alles beginnt im alten Venedig mit dem Reisen.

Und alles könnte so enden. Diese Vision kann man durchaus haben, wenn wir 800 Jahre ins Jetzt und Heute überspringen. Schiffe erobern Venedig. Weiße Ozeanriesen von über 300 Metern Länge, die wie umgekippte Hochhäuser über das flache Wasser der Lagune am Dogenpalast vorbei in den Giudecca-Kanal ( A-E 6/7) fahren und einen der drei großen Kreuzfahrtanleger ansteuern. Über eine Million Besucher kommen jährlich auf diese Weise – für viele Venezianer mutet das wie eine Bedrohung aus einem Katastrophenfilm an, der Wirklichkeit geworden ist. Auch das ist Venedig: die filigrane »Serenissima«, die »durchlauchteste« Stadt einer glorreichen Vergangenheit, bedroht von Touristenmassen auf schwimmenden Kolossen, die nur wenige Hundert Meter entfernt an der einmaligen filigranen Architektur von San Marco 2 ( F 5) vorbeiziehen.

Dererlei Vergleiche zum Thema verloren gegangene Maßstäbe können angesichts des Arsenale 1 ( G/H 5) schon aufkommen. In der historischen Werft Venedigs wurden seit dem 12. Jh. die berühmten venezianischen Langschiffe gebaut, ausgestattet und repariert. Sie bildet das »Herzstück des Staates«, wie es in einem Dokument heißt. In den besten Zeiten arbeiten hier 16 000 Zimmerleute, die innerhalb weniger Tage ein ganzes Schiff bauen können. Hinzu kommen Schmiede, Segelnäher, Seiler. Jahrhundertelang liefen Handels- und Kriegsschiffe im Arsenale vom Stapel, bis die Werft 1917 stillgelegt wurde.

Zum größten Teil ist sie heute militärisches Sperrgebiet. Doch allein das mächtige Renaissancetor am Eingang lohnt den Abstecher. Zwei der vier Löwen zu beiden Seiten des Tores kamen 1687 als Beutestücke aus Athen nach Venedig. Ein Kuriosum sind die Schriftzeichen an der Flanke des größeren Tieres. Es handelt sich um Runeninschriften norwegischer Söldner aus dem 11. Jh. Das Museo Storico Navale ( G 5) am Campo San Biagio zeigt Schiffsmodelle des Arsenale; die einstige Seemacht präsentiert sich stolz.

Marco Polos Familie ist ein Teil dieser Handelsmacht. Vater Niccoló und Onkel Maffeo sind Juwelenhändler. Der Dritte der Brüder, Marco der Ältere, betreibt ein Handelskontor auf der Krim. Als der kleine Marco sechs Jahre alt ist, brechen Niccoló und Maffeo 1260 von Venedig aus zu einer ersten großen Handelsreise gen Osten auf. Marco bleibt mit seiner Mutter zurück.

Die beiden Brüder Niccoló und Maffeo führt ihr Weg zunächst zu Marco dem Älteren auf die Krim, dann geht es immer weiter Richtung Osten, entlang der Seidenstraße. Sie kommen schließlich bis Peking, an den Hof des Mongolenherrschers Kublai Khan, einem Enkel von Dschingis Khan. Fast zehn Jahre sind Vater und Onkel unterwegs, immer wieder aufgehalten von Kriegswirren, ehe sie 1269 nach Venedig zurückkehren.

Der Kublai Khan will sein Volk missionieren und hat die Venezianer mit einer heiklen Aufgabe betraut: Sie sollen ihm heiliges Öl aus der vermeintlichen Grabstätte von Jesus in Jerusalem mitbringen. Außerdem bittet er um 100 christliche Missionare, die in China das Evangelium verkünden sollen.