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Claudia Knöfel

Alexis

Das Geheimnis des roten Samtbeutels

Weihnachtsgeschichten für (junggebliebene) Erwachsene

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Alexis

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Hintergrund des Covers: Jacquard-Gewebe MUSEE DU TISSU

Alle Rechte vorbehalten!

Impressum

eISBN 978-3-939829-94-2

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Inhaltsverzeichnis

Einige Begriffe aus dem Weihnachtshimmel zum besseren Verständnis

Die Geschichte von Alexis und dem Geheimnis des roten Samtbeutels

Die Geschichte von Alexis, dem quer gestreiften Nikolaus, dreißig kaputten Fernsehern und vom Krawattenheini, der so gerne Kölsch trank

Die Geschichte von Alexis, einem geklauten Buffet, einer Open-Air -Weihnachtsfeier und dem Revival einer alten Liebe

Die Geschichte von Alexis, randalierenden Teufeln, pikanten Details einer prinzlichen Ehe im Hause Bourbon und gaaaanz viel Musik

Die Geschichte von Alexis, mehr als stattlichen Leibesumfängen, einem österreichisch-englischem Kulturkampf, einem Räubersbua und einer dicken Überraschung

Die Geschichte von Alexis, faulen Zähnen, einem Weltliteraten, zweierlei Mondörfern und ’nem Schlauch voll Eierlikör

Die Geschichte von Alexis, einem seltsamen Piraten, einer Schiffshavarie und einem ungewöhnlich hilfsbereiten Nikolaus

Danksagung

Anmerkungen

Einige Begriffe aus dem Weihnachtshimmel zum Verständnis:

Backhimmel:

Besteht aus ganz vielen Backstuben, die aneinandergereiht, die Erde wie ein Äquator umspannen. Seit 1937 unter der Leitung des Krummziebel Josef, einem begnadeten Wiener Zuckerbäcker und Pokerspieler. Wurde aus der Hölle verbannt.

Bescherungspläne:

Riesige Teigplatten aus Lebkuchen, auf denen die Provinzen mit den zuständigen Weihnachtsengeln vermerkt sind.

Fegefeuer:

Nicht nur höllischer Brandherd, sondern auch Kneipe auf halbem Weg zur Hölle. Liegt an der großen Himmelstreppe. Hier zockt der Krummziebel Josef gelegentlich mit einigen Teufeln.

Himmelstreppe:

Treppe zwischen Himmel und Hölle, hat Abermillionen Stufen und wird ungern gereinigt.

Pfefferminzbonbons:

Dopingmittel für Rentiere

Qualitätsprüfung:

Jede neue Plätzchensorte wird vom Nikolaus höchstpersönlich auf Aussehen und Geschmack geprüft. Ein Grund dafür, warum der ehemalige Bischof von Myra zur Vollschlankheit neigt.

WCCB:

World-Christmas-Center-Bureau

Logistisches Zentrum der WGVHS. Hier werden die Bescherungspläne ausgearbeitet. Centermanagerin ist Liselotte von der Pfalz (1652-1722), die einzige Frau im Weihnachtshimmel, die etwas zu sagen hat.

WGVHS:

Weihnachtsgeschenkeverteilungshauptstelle

Himmlische Behörde und Logistikzentrum. Von hier aus werden die Weihnachtsgeschenke für ganze Welt auf die Schlitten bzw. in die Wolken geladen.

WGVRL:

Weihnachtsgeschenkeverteilungsrichtlinien

Ergänzende Anweisungen zur Weihnachtsverfassungsordnung. Sie regeln die Verteilung der Weihnachtsgeschenke und sind für alle Weihnachtsengel bindend.

WVO:

Weihnachtsverfassungsordnung

Gesetzmäßiger Rahmen. Verstöße dagegen können mit Suspendierung geahndet werden.

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Die Geschichte von Alexis und dem Geheimnis des roten Samtbeutels

Es war saukalt. Ich lag nackt mit angezogenen Beinen auf einer Steinstufe. Die dicke Marthe, eine Küchenhilfe im Dienste Ludwigs XIII., hatte mir gerade die Federn ausgerupft und mich unsanft auf die Kellertreppe des Louvre befördert. Höchstens noch eine halbe Stunde, dann würde ich im Verein mit anderen jungen Hühnern, Gewürzen und Speck in einem Schmortopf köcheln und später als „Poularde à la Reine“ auf dem Tisch des Königs landen. Wie freute ich mich auf das warme Herdfeuer …

„Alexis, he, wach auf!“ Irgendjemand rüttelte an mir. Mit gemischten Gefühlen schlug ich die Augen auf. Einerseits bedauerte ich, dass ich nicht im kuscheligen Bräter landen würde, auf der anderen Seite war es auch kein Vergnügen, die letzten Stunden eines Masthähnchens zu durchleben.

Ich lag in verdrehter Haltung auf dem Rücksitz eines Schlittens. Um mich herum war alles dunkel und sehr, sehr eisig. Noch ein wenig benommen nahm ich wahr, dass es der Chef war, der mich aus den Träumen gerissen hatte. Der Nikolaus, dessen Knopfaugen besorgt auf mich herabblickten, sah ziemlich übel aus. Gesicht und Hände waren stark verschrammt und die rote Samtmütze, die seine Haarpracht bändigte, hatte das Weite gesucht. Seine Frisur war ziemlich zerzaust.

Meine Gliedmaßen waren taub vor Kälte. „Chef, wo sind wir hier gelandet?“ „Na, ich vermute mal auf einem Eisberg“, entgegnete der oberste Weihnachtsmann. So langsam dämmerte mir, was geschehen war.

Der Nikolaus war am Morgen des 20. Dezember 2009 zu mir in die WGVHS gekommen, wo ich gerade Pakete sortierte. Begeistert hatte er mir erzählt, sein Schlitten sei nun endlich gründlich überholt worden. Die himmlischen Mechaniker hätten ihm eine ultramoderne Steuerung eingebaut. Das Kufenmobil sei nun viel wendiger und ob ich nicht Lust hätte, einen kleinen Probeflug mit ihm zu unternehmen? Ich überlegte nicht lange. Ja, ich muss gestehen, dass ich mich ein klein wenig geschmeichelt fühlte. Schließlich ist es eher die Ausnahme als die Regel, dass der Chef mich zu einer Ausflugsfahrt einlädt. Außerdem ist der Schlitten des obersten Weihnachtsmannes schließlich so etwas wie der bevorzugte Rolls Royce der Queen, ein wahres Luxusgefährt. Neben beheizbaren Sitzen und Pelzdecken verfügt er auch über eine kleine Glühweinzapfanlage und über einen eingebauten Plätzchen-Vollautomaten, der im Prinzip wie eine dieser neumodischen Kaffeemaschinen funktioniert: Ein Knopfdruck, und schon hält man die neuesten créations des Krummziebel Josef in der Hand, natürlich ofenwarm.

Der Chef und ich flogen zur Schlittenreparaturwerkstatt. Auf dem Vorplatz stand das auf Hochglanz polierte Gefährt. Renate und Hildegard, zwei Rentiere aus den himmlischen Ställen, bildeten das Gespann. Wir stiegen ein und hoben ab. Über Belgien drehten wir eine kleine Runde, dann lenkte der Chef den Schlitten über den Ärmelkanal. Dort übte er einige Wendemanöver, Steilflüge und Loopings. Alles klappte perfekt. Der Chef, sonst eher ein kritischer Charakter, war restlos begeistert über das reibungslose Zusammenspiel zwischen Schlitten und Rentieren und sang lauthals Weihnachtslieder. Obwohl er gänzlich unmusikalisch ist, singt er immer, wenn er sich freut. Ich stimmte ein, und so intonierten wir, während wir Richtung Schottland sausten, lauthals „Santa Claus is coming to town!“

Es war ein grandioser Wintertag. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser, es war kalt, aber nahezu windstill. Und in vier Tagen war Weihnachten! Konnte es etwas Schöneres geben?

„Was meinst du, Alexis, haben wir noch ein wenig Zeit für einen Flug zum Nordpol?“ Eigentlich hätten wir umkehren müssen, denn bis zum Heiligabend waren es noch viele Tausend Pakete, die es zu verladen galt. Aber der Flug in diesem Superschlitten machte mir so viel Spaß, dass ich entgegnete: „Naturellement, Chef, warum nicht?“ Also flogen wir weiter. Es wurde schnell kälter. Ich wickelte mich fester in die weiche Pelzdecke. Über Island wurde das Wetter schlechter, Sturm brauste auf und der Regen peitschte uns um die Ohren. Der Chef lenkte den Schlitten nach oben über die Wolken. Wir flogen weiter. Als das Wetter sich beruhigte, tauchten wir wieder in die Wolkendecke ein, um den Ausblick auf das ewige Eis zu genießen. Aber gerade, als der Chef sagte: „Es ist Zeit zur Umkehr!“, bekam Renate den Schluckauf. Auweia, der sogenannte Rentier-Gluckser ist eine gefährliche Krankheit und unter Hirscharten zudem sehr ansteckend. HICKS, HICKS – der Schlitten hoppelte im Takt von Renates Zwerchfellkontraktionen durch die eisige Atmosphäre. Es dauerte nicht lange, und Hildegard hickste ebenfalls. Mes amis, Sie ahnen sicherlich, was dann passierte. Die Rentiere waren so sehr mit ihrem Schluckauf beschäftigt, dass sie sich nicht mehr lenken ließen. Der Schlitten machte heftige Bocksprünge und verlor dabei stetig an Höhe. Irgendwas an der Steuerung klemmte. Der Eisberg unter uns kam immer näher …

„FEEESTHALTEN!!“, brüllte der Nikolaus und ich bemühte mich, seinem Wunsch Folge zu leisten. Doch das nützte nun auch nichts mehr. Ich vernahm ein letztes synchrones „Hicks“ von Renate und Hildegard, dann schrammte unser Gefährt die Spitze des Eisbergs. Die beiden Rentiere, deren Geschirre sich gelöst hatte, purzelten den Berg hinunter, der Schlitten mitsamt dem Chef und mir sauste hinterher. Dann verlor ich die Besinnung.

„Wenn nur nicht bald Weihnachten wäre“, seufzte der Nikolaus und klapperte vor Kälte mit den Zähnen. So langsam kehrte meine gewohnte Tatkraft zurück. Zunächst galt es einmal, die Lage zu peilen, was gar nicht so einfach war, denn es war wegen der Polarnacht sehr dunkel. Anscheinend waren wir auf einem Eisbergplateau gelandet. Hinter uns befand sich eine eisige Wand. Vor uns lag, soweit ich das überblicken konnte, eine riesige Schneefläche. Ich versuchte, optimistisch zu wirken. „Alles halb so schlimm, Chef. Wir lassen den Schlitten erst mal hier und fliegen zurück. Hildegard und Renate nehmen wir ins Schlepptau.“ Die beiden Rentier-Damen schienen den Sturz unbeschadet überstanden zu haben, wenn man von dem Schluckauf absah. Sie standen in einigen Metern Entfernung und hicksten leise vor sich hin.

„Tja, das wird wohl kaum funktionieren. Ich muss mir was im Rücken eingeklemmt haben und kann mich nicht rühren, geschweige denn fliegen. Du aber auch nicht, denn du hast leider keine Flügel mehr.“ Erschrocken tastete ich meinen Rücken ab. Doch ich fühlte dort nur ein paar spitze Flügelzacken. Der Chef hatte recht: Beim Sturz hatte ich meine beiden besten Stücke verloren.

Mes amis, als treue Leser meiner Abenteuer wissen Sie, dass die Flügel eines Engels äußerst empfindliche Gliedmaßen sind. Wenn diese abbrechen, dauert es einige Zeit, bis sie nachwachsen.

Es war eine vertrackte Situation. Bald schon war Heiligabend. Doch wie sollte ohne den obersten Weihnachtsmann und seinen wichtigsten Mitarbeiter die Bescherung stattfinden?

Der Chef schien meine Gedanken gelesen zu haben. „Ich denke, wir können nur eines tun, nämlich abwarten. Die Schlittenmechaniker wissen, dass ich einen kleinen Inspektionsflug unternehmen wollte. Früher oder später wird man uns finden. Das hoffe ich jedenfalls“, fügte er leise hinzu. „Chef, der Sternenstaub“, fiel mir ein.

Wir Weihnachtsengel haben nämlich alle einen Erste-Hilfe-Kasten im Schlitten, das ist Vorschrift. Darin befinden sich, neben einigen anderen nützlichen Dingen, auch morphine Kekse, die eine einschläfernde Wirkung haben. Diese Plätzchen sind ein sensationelles Produkt, das der Krummziebel Josef vor einigen Jahren zusammen mit dem französischen Chemiker Seguin entwickelt hat. Es gibt Kekse für drei Gewichtsklassen: Die erste ist für Tiere wie Bären, Walrösser und Elefanten bestimmt, die dritte für Schlangen, Hunde, Katzen und anderes Kleingetier. Die zweite Gewichtsklasse aber ist die Interessanteste. Auf dem Aufdruck dieser Zellophan-Verpackung steht: Für Bullen, Gnus und Chefs.

Eine weitere nützliche Sache, die sich in dem Erste-Hilfe-Kasten befindet, ist die Sprühdose mit glitzerndem Sternenstaub. Diese, ich nenne es mal „Glitter-Farbe“, hat eine ungeheure Leuchtkraft. Sie strahlt hell bis in den Himmel, allerdings nur achtundvierzig Stunden. Dann läss die Leuchtkraft nach.

Ich nahm also die Dose aus dem Kasten und besprühte Hildegards und Renates Rücken mit dem Zeug. Sofort bildete sich eine helle Lichtsäule, die sich mit den Tieren bewegte und in den Nachthimmel leuchtete. Ich hätte auch ein großes SOS in den Schnee sprühen können, aber das wäre unklug gewesen. Da wären uns sofort die Spionageabteilungen sämtlicher Länder auf den Pelz gerückt. Man denke nur an die erdumfassende Satellitenüberwachung.

So konnte höchstens der Eindruck entstehen, auf dem ewigen Eis fände eine dieser brandaktuellen Lasershows statt.

„Bravo, Alexis. Ein guter Einfall!“, lobte mich der Nikolaus und mein Brustkorb schwoll deutlich an vor Stolz.

Als nächstes galt es, aus dem reichlich vorhandenen Schnee eine einigermaßen windgeschützte Unterkunft zu bauen, denn es war nicht nur saukalt, sondern mittlerweile auch recht stürmisch geworden. Doch leider konnte ich nicht auf die Hilfe des Chefs zählen, denn jeder seiner Versuche, dem Schlitten zu entsteigen, endete mit eindringlichen Schmerzenslauten. Der arme Kerl, wahrscheinlich hatte es seinen Ischiasnerv erwischt. So blieb diese Aufgabe an mir hängen.

Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich vor einigen Jahren während eines Urlaubs in Siorapaluk spaßeshalber an einem Überlebenstraining teilgenommen hatte? Dort, nur etwas mehr als 1.300 Kilometer vom Nordpol entfernt, hatte ein alter Inuit uns Seminarteilnehmern gezeigt, wie man in kurzer Zeit ein Iglu bauen kann. Ich rief mir die Handgriffe ins Gedächtnis und legte los. Aus dem Schnee formte ich Bausteine, die ich um den Schlitten herum auftürmte. Der Chef reichte mir gelegentlich einen frisch gezapften Becher Glühwein, der auch bitter nötig war, wollte ich nicht zur Eissäule erstarren. Nach gefühlten zehn Stunden war das Iglu endlich fertig. Ich ließ es oben offen, damit der Nikolaus auch alles mitbekam, was sich um ihn herum abspielte.

Doch bevor ich meine vereisten Knochen unter warmen Pelzdecken auftaute, ging ich noch einmal zu Renate und Hildegard. Die beiden hatten hicksend und mit einigem Erstaunen in den braven Rentieraugen meiner Bautätigkeit zugesehen. Ich fütterte sie mit zwei Menthol-Bonbons, die ich in meiner Jackentasche gefunden hatte, und kraulte ihre Hälse.

Als ich mich bückte, um endlich in das Schneezelt zu kriechen, stießen meine Finger an etwas Weiches, Samtiges. Nanu, was war denn das? Ich umschloss das kleine Teil, an dem eine Schnur befestigt war. Mit klappernden Zähnen erklomm ich den Schlitten und schlüpfte unter die Felldecken. Dann trank ich noch ein wenig Glühwein. Schnell entfaltete der Alkohol seine Wirkung und ich schlief ein.

Keine Ahnung, wie lange ich mich schließlich Morpheus‘ Armen hingegeben hatte, aber als ich erwachte, fühlte ich mich frisch und voller Tatendrang. Neben mir fütterte der Chef die Rentiere, die abwechselnd ihre Nasen über die Schneemauer steckten, mit Leckerlis aus dem Plätzchenvollautomaten. Das war nicht ganz einfach, denn die Geweihe bildeten dabei ein natürliches Hindernis und der Chef musste seinen Arm ziemlich lang ausstrecken. „Ja, Butzi, Butzi, ihr seid meine Süßen, bald seid ihr wieder im warmen Stall. Noch ein paar Plätzchen mit Pfefferminzfüllung gefällig?“ Renate, die besonders verfressen war, leckte dem Nikolaus begeistert die Hand. Dabei hickste sie immer noch. „Chef, wie spät ist es?“, wollte ich wissen. „Alexis, frag lieber, den wievielten wir heute haben“, entgegnete er verzweifelt. „Bestimmt ist morgen Heiligabend und wir sitzen hier immer noch fest!“

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„Na ja, das glaube ich kaum, denn dann wäre ja die Leuchtfarbe bereits verblasst“, beruhigte ich ihn. „Könnt Ihr Euch denn immer noch nicht bewegen?“

„Ich hab‘s ja versucht, aber mein Rücken spielt nicht mit!“ Der Nikolaus versuchte, aus dem Schlitten zu klettern und ließ sich sogleich unter Schmerzenslauten auf den Sitz zurückfallen. „Auweeh, ich glaube, HAATSCHII, ich bekomme auch noch eine Erkältung!“ Und der Nikolaus nieste wieder, sodass der Schlitten wackelte. Vergeblich fahndete er in den Taschen seines roten Samtanzuges1 nach einem Taschentuch. Ich reichte ihm mein fast 400 Jahre altes, mit Brüsseler Spitzen besetztes Schnupftuch, das ich einst von der Gräfin Bordelaise geschenkt bekommen hatte und aus sentimentalen Gründen stets bei mir trug. Doch das ist eine andere Geschichte, auf die ich zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher eingehen werde. Der Nikolaus nahm das Stückchen Stoff und prustete kräftig hinein.

„Nanu, was ist denn das?“, fragte er, als ihm der rote Samtbeutel, den ich in mon mouchoir eingewickelt hatte, auf den Schoß fiel. Rasch öffnete er das Bändchen und zog ein Stück Sandelholz heraus, das trotz der Kälte einen wunderbar orientalisch anmutenden Duft verströmte. „Dachte ich mir‘s doch. Hatte ich dieses Teil nicht einst diesem Querkopf Richard geschenkt?“2 Ich nickte. „Wahrscheinlich hat es in dem Schlitten gelegen …“ Wir sahen uns an und ich merkte, dass wir den gleichen Gedanken hatten. „Richard hat die Steuerung bearbeitet“, sagte ich bitter. „Er hasst Weihnachten wie die Pest!“

„Noch ist nichts bewiesen“, entgegnete der Nikolaus. „Es kann auch reiner Zufall sein, dass der Beutel hier plötzlich aufgetaucht ist.“ Ich blieb skeptisch, denn ich kannte die canaille Richard nur zu gut. Mehr als einmal hatte er versucht, das Weihnachtsfest zu sabotieren.

Der Nikolaus ließ das Stückchen Holz sanft durch seine Finger gleiten und blickte fast zärtlich darauf hinab. Ich erinnerte mich, dass der Chef einmal auf die Frage, woher das Sandelholz stammte, in Verlegenheit geraten war. Eine Antwort hatte er mir damals nicht gegeben. Meine Neugierde war geweckt.

„Woher habt Ihr das Holz?“, fragte ich den Chef. „Ach, Alexis, das ist eine lange Geschichte. Sie ist mehr als tausend Jahre alt. Nein, eigentlich ist sie viel, viel älter.“ Der Nikolaus versank in tiefes Nachdenken. Ich spürte, dass er gerade ganz woanders war. „Warum erzählt Ihr sie mir nicht?“, wollte ich wissen. „Wenn du mir versprichst, Stillschweigen zu bewahren, dann will ich sie dir wohl erzählen. Schließlich haben wir im Moment Zeit im Überfluss.“ Ich warf mich in die Brust. „Ihr könnt mir vertrauen.“ Der Chef schien einen Moment zu überlegen, aber dann nickte er. „Also gut. Es ist viele Jahrhunderte her. Reisen wir in das späte Imperium Romanum …“

Um den Nikolaus ranken sich viele Erzählungen. Mein Chef hatte als Bischof von Myra im 4. Jahrhundert nach Christus gelebt. Myra, das liegt heute in der Türkei, genauer gesagt, in der Provinz Antalya. Aber damals gehörte der Ort zum Römischen Reich. Später, als der römische Kaiser Theodosius im Jahre 395 starb, teilten seine Söhne das riesige Reich in einen Ost- und in einen Weströmischen Teil auf. Einundsiebzig Jahre später herrschte Odoaker als germanischer König in Rom und vertrat die Auffassung, dass die Kaiser im Westteil des einstigen Riesenreiches ausgedient hätten. Das war dann das Ende des weströmischen Reiches.

Das Land, in dem der Nikolaus aufwuchs, gehörte damals zum Herrschaftsgebiet des Oströmischen Reiches, das auch byzantinisches Reich oder kurz Byzanz genannt wurde, und war geprägt von einer Kultur, die griechische Wurzeln hatte. Antike und Christentum schlossen einander nicht aus. Die Menschen bewahrten die Sagen und Mythen der alten Welt, ebenso wie sie an das Neue Testament glaubten. Baumeister schufen wunderbare Kirchen und Klöster in einem einzigartigen Stil, bauten alte zerstörte Städte wieder auf oder errichteten neue. Das Kunsthandwerk erlebte seine Blüte.

Der Nikolaus seufzte. „Ich könnte dir von herrlichen Goldschmiedearbeiten erzählen. Unsere Produkte waren bei unseren Nachbarn sehr begehrt. Auch die Kunst des Mosaiks erfreute sich bei denen, die es sich leisten konnten, einer großen Beliebtheit.“

Der Chef schwelgte einen Moment in erbaulichen Erinnerungen. „Du weißt vielleicht, dass ich als junger Mann ein recht großes Vermögen geerbt hatte. Da erfuhr ich, dass ein Bekannter von mir beabsichtigte, seine drei Töchter der Schande zu überlassen. Normalerweise hätten die drei Mädchen in wohlhabende Familien eingeheiratet, doch dazu fehlte ihnen die Mitgift, denn die Familie war unverschuldet in Not geraten. Konnte ich zulassen, dass aus den Mädchen Dirnen wurden? Wohl kaum. Also beschloss ich, ihnen zu helfen. Ich schlich mich an drei Abenden an das Haus heran und warf jeweils ein Säckchen Gold durch das Fenster, für jede Tochter eine stattliche Mitgift. Am dritten Abend jedoch legte sich der Vater auf das Dach des Hauses und lauerte mir auf. Du ahnst nicht, Alexis, was danach los war. Mit orientalischem Temperament sprang das Familienoberhaupt auf mich zu und so landeten wir dann beide auf dem Boden. Meine Versuche, den Küssen und Umarmungen des alten Herrn zu entkommen, waren vergeblich. Seine lauten Freudenbezeugungen lockten alle Nachbarn aus ihren Häusern. Als sie erfuhren, was geschehen war, feierten sie mich, als hätte ich ihre Stadt vor dem sicheren Untergang gerettet. Lämmer wurden geschlachtet und ein Freudenfeuer angezündet.“

„Lasst mich raten, Chef, dann hat Euch Euer Freund das Sandelholz geschenkt?“

„Nein, mein Sohn. Habe noch ein wenig Geduld. Ich erzähle dir diese Geschichte, weil sie von Belang ist für die späteren Ereignisse. Die Töchter heirateten also in vornehme Familien ein, ebenso ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Auch nach meinem Tod hatte ich stets ein Auge auf die vielen Nachkommen meines Freundes. Die Jahrhunderte vergingen …“