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Den Jungen der Sexta 1937, Emil-Fischer-Gymnasium in Euskirchen, die im Zweiten Weltkrieg als Luftwaffenhelfer und als Soldat eingesetzt waren.
ÜBER DAS BUCH:
Ein Junge aus katholischem Elternhaus erlebt mit der national-sozialistischen Machtübernahme, dass sich auch seine Eltern dem neuen System anpassen. Die soziale Komponente der Bewegung erscheint ihm als entscheidender Schritt zur Aufhebung der Klassenschranken. Das Pogrom des 9. November 1938 macht ihm die Schändlichkeit der Judenverfolgung bewusst. Die meisten Jungen seines Jahrgangs empfinden den Krieg nicht als Katastrophe, sondern – zunächst – als Abenteuer. Ihre Bereitschaft, dabei auch ihr Leben einzusetzen, rührt aus der Hingabe an das Vaterland, nicht aus der Hinwendung zum Nationalsozialismus und zum Führer.
 
DIE AUTOREN:
Dr. Hans Josef Horchem (1927–2004) war gelernter Jurist. Von 1955 bis 1957 war er Richter im Rheinland. Danach trat er in den Dienst des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln. 1968 folgte ein Aufenthalt am NATO-Defense-College in Rom. Von 1969 bis 1981 stand Dr. Horchem dem Landesamt für Verfassungsschutz in Hamburg vor.
Bis 1993 war er Direktor des Instituts für Terrorismusforschung in Bonn, danach bis 1997 Präsident der »Groupe International de Recherche et d’Information sur la Sécurité« in Brüssel.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eISBN 978-3-8132-1012-5
ISBN 978-3-8132-0955-6
Sonderausgabe
Verlag E. S. Mittler & Sohn Hamburg, Berlin, Bonn
© 2014 by Maximilian Verlag, Hamburg
Ein Unternehmen der Tamm Media
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Hans-Peter Herfs-George,
unter Verwendung zweier Abbildungen vom Ullstein Bilderdienst, Berlin
Herstellung: Nicole Laka

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Frühe Formierungen
Hakenkreuz und Kruzifix
Klasse und Rasse
Stadt und Land
Das Spiel mit Waffen
Die letzte Offensive
Mörder und Marodeure
Das Ende des Reiches
Epilog
Personenregister

Vorwort

Dieses Buch schildert deutsche Geschichte in Form von Geschichten, den Geschichten, wie sie ein junger Mensch, der 1927 geboren und in das Mahlwerk des Dritten Reiches geraten, erlebte und das Glück hatte, lebend dem Desaster zu entkommen. Einfache Geschichten aus jener Zeit. Weder geschönt, noch verlogen. Bis auf die im Falle des Autors vorgegebenen Bindungen an die katholische Kirche unreflektiert und selbst, was diese Bindungen angeht, ohne ein nachträglich erfundenes nachdenkliches Ergebnis. Was also, könnte man fragen, soll dieses Buch? Was macht seinen Sinn aus? Das Interessante ist, daß es tatsächlich Sinn macht, weil die Darstellung jener Zeit eindrucksvoll von den üblicherweise gültigen Schemata abweicht, sich die eigene Geschichte schön zu lügen und die historische Geschichte nach der Bewußtseinslage der Gegenwart zu beurteilen und zu bewerten, statt aus der Bewußtseinslage der Zeit, da sie Gestalt annahm. Insofern durchbricht das Buch ein Klischee, das uns heute den Blick auf die Vergangenheit so wirkungsvoll verstellt.
Das heute zu Ende gehende Zeitalter der Ideologien sucht allzu oft in der Betrachtung der Geschichte nur noch einmal eine Selbstbestätigung. Alles, was diese Ideologien so lange Zeit als unumstößliche Wahrheit postuliert hatten, soll nun noch einmal in die Historie zurückgeblendet werden. Dabei entsteht dann ein Bild etwa der deutschen Geschichte, nach der es von Luther bis zu Hitler eine wie mit dem Lineal gezogene fortlaufende Entwicklungslinie gibt, die in dem Dritten Reich der Nationalsozialisten endet und noch heute als die Gefahr des Faschismus bekämpft werden muß. So wird gelebte Geschichte vom Leben getrennt, Akten werden zum Symbol der Wahrheit, Überzeugungen erhalten den Vorrang vor sachlicher Forschung, und Verallgemeinerungen ersetzen Differenzierungen. Das Berufsmerkmal deutscher Historiker ist, zu klischieren oder zu schweigen.
Nicht daß das Buch nun etwa seinerseits die Wahrheit verkündete oder die Geschichte der Zeit adäquat schilderte. Dazu fehlen ihm nun seinerseits die Akten, die Kenntnisse von Zusammenhängen, Personen und Motiven oder die Gerätschaften einer durchgreifenden Analyse zur prinzipiellen Wertung des Geschehens. Was an uns vorbeizieht, ist eine Kette von Bildern, von Vorkommnissen, Ereignissen, an Dokumenten nicht festgemacht, als Erlebnisse einfach nur zeitlich orientiert, und sie bringen dann plötzlich vieles an den Tag, was selbst ein nicht ideologisch verbogener Historiker nur allzu leicht übersieht: zum Beispiel – und das ist vielleicht das Wichtigste – die unüberwindliche Lust einer Generation junger Menschen, in die Katastrophen ihrer Zeit geworfen, einfach nur zu leben, jung zu sein, lachen zu können, lieben zu wollen, den Krieg zu überleben. Darum geht es, nicht um das, was »die da oben« machen …|7|
Ja, ja, »die da oben« – Heil Hitler. Und Fähnleinführer zu sein, ist ja auch ganz schön und das Gemeinschaftsgefühl einer Gruppe auch und so ein bißchen Krieg zu spielen, hat junge Leute ja schon immer gereizt. Also, solange es mit dem Krieg nicht ernst wurde, war das doch alles gar nicht so schlimm.
Was wissen Historiker schon von der Kraft, Lebenslust auszuleben? Und wenn es ernst wird zu überleben. Was wissen Historiker schon, was in solchen Lagen noch zählt, und was wissen Historiker schon, was es für junge Leute bedeutet, von objektiven Informationen unausweichlich ausgeschlossen und dafür zugleich in ununterbrochener Folge jeder Art von Propaganda ausgesetzt zu sein. Was verstehen Historiker schon von der Wirkung eines Zeitgeistes, den die Politik der Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag schuf – durch eine rücksichtslos erzwungene Wiedergutmachung und eine Reparationspolitik, die Deutschland zum Krüppel Europas machte. Was begreifen Historiker schon davon, wie die dadurch ganz und gar verstörten Eltern ihre Kinder in einem geistigen Umfeld aufwachsen ließen, das es dieser Generation praktisch unmöglich machte, sich ein eigenes von ihrem Umfeld womöglich abweichendes Bild dessen zu bilden, was in dieser Welt richtig oder falsch ist. Der Zeitgeist war nationalistisch, aber der Zeitgeist der Franzosen und Briten auch. Versailles war das beste Beispiel dafür. Deutschland war nicht viel anders als die anderen. Die Historiker des Zeitgeistes unserer Zeit können sich das nicht vorstellen und wollen es auch nicht. Dazu ist ihre intellektuelle Sensibilität durch den dogmatischen Rigorismus allzu beschädigt.
Auch dieses Buch kann ihnen nicht helfen. Der seriösen, der klassischen historischen Wissenschaft dagegen schon. Es kann ihr zeigen, wie wirkungslos der Nationalsozialismus an einer Generation vorbeigegangen ist, die, ohne »Mein Kampf« gelesen zu haben, mit dem Hitlergruß grüßte, aber in erster Linie nur leben wollte und schließlich überleben. Ihre Welt reichte nicht dazu aus, Revolutionäre zu sein und Nazis im ideologischen Sinn auch nicht. Sie paßten sich ihren Eltern an und diese paßten sich dem Machtgefüge an. Und wie viele der Historiker, die mit dem Pfund der zu spät Geborenen heute so überzeugend wuchern, hätten sich den damals herrschenden Bedingungen nicht auch angepaßt. Alle? Alle! Sie werden diesem Satz aufgeregt widersprechen, und es wird auch Ausnahmen gegeben haben. Aber der Rest wäre einfach nur nicht ehrlich. Es ist die Ehrlichkeit dieses Buches, das ihnen das voraus hat.
Und was die Zehnjährigen dann selbst erlebt haben, mußte sie ja auch nicht abstoßen. Im Gegenteil. In der »neuen Zeit« wurde ihr Vaterland »endlich wieder wer«. Die Arbeitslosigkeit, die ihr Elternhaus bedrängt hatte, war verschwunden. Für sie ging es nicht um das Warum, sondern um das Das. Und noch eins: hatten nicht selbst ihre sozialdemokratischen Väter, wie auch der sozialdemokratische Vater des Autors, immer wieder von der Überwindung des Klassengegensatzes gesprochen? Nun kommandierte der Sturmführer der SA |8|als Arbeiter den 1933 schnell noch in die Partei eingetretenen Chef seines eigenen Betriebes. Keine Klassen mehr also. Statt dessen Volksgemeinschaft. Wer genau hinsehen konnte, sah, wie man sie benutzte. Aber die gerade aufwachsende Generation konnte das eben nicht. Und noch einmal, wie sollte sie auch? Ohne irgendeinen ununterbrochenen neutralen Informationsfluß, ohne Zeitungen, ohne Rundfunk, ohne Fernsehen, den Medien, die heute jeden Tag jeden zumindest alles jenseits der »political correctness« wissen lassen. Das ist, weiß Gott nicht alles, aber es ist eben doch sehr viel. Ohne Bücher, in denen sie von der Welt der Freiheit etwas erfahren konnten, und mit dem Tod im KZ bedroht, wenn sie es versuchen würden. Wie sollten sie auch? Wie sollten sie unter diesen Umständen darauf kommen, es zu versuchen –, sie, die in ihrer Zeit keinen höheren Wert anzuerkennen gelernt hatten als den Wert zu überleben. Den Aufstand gegen Hitler am 20. Juli 1944 haben sie weder begrüßt noch verurteilt. Sie haben ihn überhaupt nicht gemerkt. Auch das steht in diesem Buch. Und das ist seine erschütterndste Stelle. Was es erzählt, will nicht politisch sein und ist nicht politisch. Aber es ist ganz ungewollt ein Dokument gegen jeden Versuch, dem deutschen Volk eine Kollektivschuld aufzudrängen.
Rüdiger Proske|9|

Frühe Formierungen

Am Sonntag, dem 13. Januar 1935, stimmte die Bevölkerung des Saarlandes darüber ab, ob das Saargebiet zu Deutschland zurückkehren, ob es weiter – wie seit 1920 – unter der Verwaltung des Völkerbundes bleiben, oder ob es an Frankreich fallen sollte. Das war im Versailler Vertrag so verordnet worden. Bis dahin hielt Frankreich das Mandatsgebiet besetzt und beutete die saarländischen Kohlengruben und Hüttenwerke aus.
Meine Eltern und ich wohnten damals in Mechernich, einem Bergarbeiterstädtchen in der Nordeifel, das an der Eisenbahnstrecke Köln-Trier liegt. Es gehörte zur preußischen Rheinprovinz, die sich von Kleve bis zum südlichen Hunsrück erstreckte und an die sich das Saargebiet anschloß.
Lehrer Baur hatte uns in der Volksschule wochenlang auf die Abstimmung vorbereitet. Er verband das immer wieder mit Erläuterungen des Versailler Vertrages und seiner Knebelungsparagraphen. So nannte er das. Den Vertrag selbst bezeichnete er als »Versailler Diktat«.
Weiteres Wissen über die Weimarer Zeit floß mir zu aus den Erzählungen meines Vaters und aus den Schilderungen der Brüder und Schwäger meiner Mutter.
Meine Kenntnisse über geographische Gegebenheiten orientierten sich damals nach Ländern, Regionen und Städten, die man dem Reich nach dem Ersten Weltkrieg genommen hatte. Das fing an mit den früheren deutschen Kolonien und ging bis zu Danzig, Nordschleswig, dem Memelland, dem Saarland und dem Hultschiner Ländchen.
Den Ausdruck »Reich« oder »Deutsches Reich« gebrauchte man noch völlig unbefangen und selbstverständlich. Anders als 1806, als Kaiser Franz II. auf ein Ultimatum Napoleons hin die römisch-deutsche Kaiserwürde niederlegte und damit das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation besiegelte, war das neue deutsche Reich, die Gründung Bismarcks, mit der Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg nicht untergegangen.
Die Weimarer Republik blieb nach Verfassung und Sprachgebrauch »Deutsches Reich«. Diese Einstellung galt nicht nur für die Nationalsozialisten, sondern für alle Parteien einschließlich der Kommunisten. Für viele Deutsche bedeutete die häufige Verwendung des Begriffs auch den Rückzug auf ein geistiges Reduit, von dem man glaubte, den Belastungen und Demütigungen, die der Versailler Friedensvertrag mit sich gebracht hatte, besser begegnen zu können. Erst die mystische Überhöhung des Reichsbegriffs, die von den Nationalsozialisten betrieben wurde, führte zu Unbehagen und hielt konservative und liberale Bürger zurück, die eigene natürliche Vaterlandsliebe mit dem aus der nationalsozialistischen Rassenideologie bezogenen Vormachtanspruch gleichzusetzen.
Die skeptische Distanz war angebracht. Das »Dritte Reich«, das einen Bestand von tausend Jahren haben wollte, brachte es nur auf zwölf. Einige Zeit nach |10|seinem Zusammenbruch wurde der Reichsbegriff von Rechtsradikalen besetzt und bis heute mißbraucht.
Die Erläuterungen zu Versailles, die man mir im Schulunterricht vermittelte, wurden unterstrichen und erhärtet durch Bemerkungen meines Vaters und durch Diskussionen, die er mit Verwandten und Freunden führte und denen ich zuhören konnte. Während der Vorbereitungen auf die Wahl im Saargebiet erzählten mir mein Vater und ein Onkel, der in Berlin wohnte, daß die meisten Deut-schen tatsächlich einen Schock bekommen hätten, als die Friedensbedingungen bekannt gemacht worden seien. Nach der Veröffentlichung des Vertragstextes am 7. Mai 1919 sei ein Sturm der Entrüstung durch Deutschland gegangen. Unsere Regierenden hätten den vierzehn Punkten vertraut, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 verkündet habe. Statt zum »Gerechtigkeitsfrieden« von Wilson sei es aber zum Diktat des französischen Ministerpräsidenten George Clemenceau gekommen.
Das Deutsche Reich verlor seine Kolonien. Elsaß-Lothringen wurde an Frankreich, Eupen-Malmedy an Belgien, Nordschleswig an Dänemark und das Hultschiner Ländchen an die neugegründete Tschechoslowakei abgetreten. Das Memelland fiel an Litauen. Ostoberschlesien, Westpreußen und Posen wurden dem wiedergegründeten polnischen Staat zugesprochen. Das Saarland wurde dem Völkerbund unterstellt und der Ausbeutung durch Frankreich überlassen.
Die deutsche Volkswirtschaft büßte dadurch 75 Prozent der Eisenerzvorkommen, 68 Prozent der Zinkerze und 26 Prozent der Kohlenreserven ein. Die Roheisenproduktion ging um 44 Prozent, die Stahlproduktion ging um 38 Prozent zurück.
Das deutsche Reich verlor zehn Prozent seiner Bevölkerung (3,2 Prozent im Westen, 6,8 Prozent im Osten) und dreizehn Prozent seiner Territorien (3,6 Prozent im Westen, 9,4 Prozent im Osten).
Das linke Rheingebiet wurde von alliierten Truppen besetzt, mit drei Brückenköpfen auf dem rechtsrheinischen Ufer (Mainz, Koblenz und Köln). Nach fünf bis zehn Jahren sollten die besetzten Gebiete wieder geräumt werden.
Das Reich hatte den Krieg 1918 mit einem Schuldenberg von 157 Milliarden Goldmark beendet. (Zum Vergleich: das Jahresbudget des Reichs belief sich 1913 auf fünf Milliarden Goldmark). Anfang 1921 setzten die Alliierten die Kriegsentschädigung, die Deutschland zu zahlen hatte, auf 269 Milliarden Goldmark fest, zahlbar in 42 Jahresraten. Außerdem sollte das Reich 42 Jahre lang eine Abgabe von zwölf Prozent des Wertes der deutschen Exporte an die Alliierten abführen. Das waren jährlich ein bis zwei Milliarden Mark.
Im Jahre 1924 ermäßigten die Alliierten die deutschen Reparationsverpflichtungen. Sie folgten damit den Vorschlägen des amerikanischen Finanzmannes Charles Dawes. Bis 1928 sollte Deutschland jährlich 1,75 Milliarden Mark |11|zahlen und danach jährlich 2,5 Milliarden. Die endgültige Höhe der Entschädigung und die Dauer der Zahlungsverpflichtungen blieben offen.
Im Juni 1929 revidierten die Alliierten das Dawes-Abkommen. An seine Stelle trat der Young-Plan, benannt nach dem amerikanischen Vorsitzenden der Revisionskommission Owen Young. Die deutsche Reparationsschuld wurde für die ersten 37 Jahre auf 30,95 Milliarden Mark festgesetzt und für die Gesamtzeit des Young-Plans (59 Jahre, bis 1988) auf 34,5 Milliarden Mark.
Die Bestimmungen des Versailler Vertrages, die sich mit dem militärischen Sektor befaßten, dienten dazu, den Militärapparat Deutschlands zu zerschlagen. Der Große Generalstab wurde aufgelöst, die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben. Die bewaffneten Streitkräfte wurden auf ein Berufsheer von 100 000 Mann und auf eine Berufsmarine von 15 000 Mann begrenzt.
Deutschland mußte darüber hinaus die Unabhängigkeit des Rumpfstaates Österreich als »unabänderlich« anerkennen.
Die Österreicher, die Südtirol mit 250 000 deutschsprachigen Einwohnern an Italien verloren hatten, durften ihren neuen Bundesstaat nicht »Deutsch-Österreich« nennen. Der Anschluß an das Deutsche Reich, 1919 von der Wiener Nationalversammlung beschlossen, wurde verboten.
Mit Gebietsverlusten hatten die Deutschen nach dem verlorenen Krieg gerechnet. Auch die Reduzierung der Streitkräfte wurde von der Bevölkerung zunächst akzeptiert. Die unangemessen hohen Reparationszahlungen belasteten die Weimarer Republik während der gesamten Jahre ihrer Existenz. Empörung aber brach aus über Artikel 231, der Deutschland allein die Schuld am Krieg gab.
Dieser Artikel leitete Teil VIII des Versailler Vertrages ein, in dem die Wiedergutmachung behandelt wurde. Danach war Deutschland »der Urheber aller Verluste und aller Schäden …, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten« hatten.
Die neue Reichsregierung unter Philipp Scheidemann, der am 9. November 1918 die Republik ausgerufen hatte, erklärte dazu, der Vertrag verfolge den Zweck, »dem deutschen Volk die Ehre zu nehmen«. Am 12. Mai 1919 bezeichnete die Weimarer Nationalversammlung den Vertrag als unannehmbar. Scheidemann sprach von einem »Schandvertrag«. Er lehnte die Unterzeichnung ab und trat im Juni 1919 zurück.
Nach Abschluß der Friedenskonferenzen der Alliierten mit Deutschland, mit Österreich-Ungarn, mit Bulgarien und der Türkei brachen in mehreren deutschen und deutschsprachigen Grenzgebieten Konflikte aus.
Serbische Freischaren drangen in die Steiermark und nach Kärnten ein. Österreichische Heimwehren konnten die Angreifer nach erbitterten Kämpfen zurückwerfen. Nach einer Volksabstimmung am 10. Oktober 1920 verblieben die von Jugoslawien beanspruchten Gebiete bei Österreich.|12|
In Oberschlesien stimmten bei einem Plebiszit am 20. März 1921 60 Prozent der Wahlberechtigten für ein Verbleiben beim Deutschen Reich. Dennoch sprachen die Alliierten im Oktober 1921 die wertvollsten Teile des Industriegebiets (Lublinitz, Rybnik, Kattowitz, Königshütte und Tarnowitz) den Polen zu. Danach kam es zu langen und blutigen Auseinandersetzungen zwischen polnischen Freischaren und deutschen Freikorpskämpfern.
Das Memelland wurde im Januar 1923 von litauischen Freischaren besetzt. Die Alliierten akzeptierten die illegale Okkupation.
Ein pittoresker Akt von Aggression entwickelte sich im kroatischen Istrien. Die Alliierten hatten in den Friedensverhandlungen die Stadt Fiume (Rijeka), die Teil von Ungarn gewesen und überwiegend von Kroaten bewohnt war, nicht Italien, sondern Jugoslawien zugesprochen. Daraufhin besetzte am 12. September 1919 Gabriele d’Annunzio – berühmter Poet und Romancier und ein Freund von Benito Mussolini – mit einem Haufen unausgebildeter Freiwilliger und meuternder Soldaten handstreichartig die Stadt. Er residierte wie ein Renaissance-Fürst und forderte in pathetischen Ansprachen, Fiume dem italienischen »Imperium« anzugliedern. Die Horden von Marodeuren, die er befehligte, nannte er theatralisch »Römische Legion«. Er verkörperte wie kaum ein anderer die operettenhafte Seite des Faschismus, eine Facette, die auch dem Nationalsozialismus nicht fremd blieb. Immerhin erreichte er, daß die Alliierten Fiume zur »Freien Stadt« erklärten. Nach fünfzehn Monaten gab er die Stadt auf. Am 27. Januar 1924 verzichtete Jugoslawien endgültig auf Fiume zugunsten Italiens.
Onkel Albert, vom Rheinland nach Berlin verzogen und bis 1933 mit Funktionen in der SPD, war von Gabriele d’Annunzio fasziniert. Er erzählte mir aus seinen Romanen »Die tote Stadt« und »Feuer«. Die Darstellung der Besetzung von Fiume würzte er mit Anekdoten.
Unter dem Postulat des Wilsonschen »Selbstbestimmungsrechts der Völker« gewannen die Tschechen, die Slowaken, die Ungarn und die Polen Unabhängigkeit. Jugoslawien wurde auf Druck Clemenceaus zu einem Vielvölkerstaat, der unter dem Kommando der Serben und als Bündnispartner Frankreichs deutsche Einflußmöglichkeiten auf dem Balkan neutralisieren sollte.
Für die Deutschen galt das Selbstbestimmungsrecht nicht. Elsaß-Lothringen, Posen und Westpreußen, das Memelgebiet und das Hultschiner Ländchen mußten ohne Abstimmung abgetreten werden oder gingen durch illegale Besetzung verloren. Selbst dort, wo abgestimmt wurde (wie in Oberschlesien), korrigierten die Alliierten das Ergebnis zum Nachteil Deutschlands.
Die Entwicklung im nahegelegenen Eupen-Malmedy, kaum fünfzig Kilometer von unserer Heimat entfernt, demonstrierte für uns besonders deutlich die Rechtlosigkeit der Besiegten.
Die preußischen Landkreise Eupen und Malmedy waren – mit Ausnahme der Stadt Malmedy – ausschließlich deutschsprachig. Dennoch wurde der |13|Bevölkerung das Recht vorenthalten, über ihre Zugehörigkeit zum Reich abzustimmen. Den rund 63 000 Einwohnern wurde lediglich zugestanden, sich binnen sechs Monaten in Listen einzutragen, falls sie Deutsche bleiben wollten. Wer solcherart für Deutschland votierte, mußte innerhalb eines weiteren Jahres seinen Wohnsitz in das »Reich« verlegen.
Der damalige Kölner Erzbischof, Kardinal von Hartmann, zu dessen Jurisdiktion die Dekanate Eupen, Malmedy und St. Vith gehörten, protestierte in einem scharfen Schreiben an den Vorsitzenden der deutschen Waffenstillstandskommission und in einem nachdrücklichen Appell an den Vatikan gegen die Abtrennung der Kreise von Deutschland. Er forderte eine allgemeine und geheime Volksabstimmung. Er erreichte damit genau so wenig wie das deutsche Reich mit seinen entsprechenden Einsprüchen an die Alliierten. Am 10. Januar 1920 besetzte Belgien die Grenzkreise.
Das einzige Zugeständnis des Vatikans war die Ernennung eines Apostolischen Administrators, der bis zum Ablauf der Frist zur Eintragung in die Optionslisten darauf achten sollte, daß die Interessen der (deutschen) Katholiken in den Kreisen Eupen und Malmedy gewahrt wurden.
Kurz danach besuchte der Administrator, Nuntius Erzbischof Nicotra, die Grenzgebiete. Der Generalvikar der Diözese Lüttich begleitete ihn. Bei einer Ansprache in Malmedy kündigte der Generalvikar an, daß die drei ehemals deutschen Dekanate bald in die Diözese Lüttich aufgenommen würden.
Der neue Kölner Erzbischof, Kardinal Karl Joseph Schulte, beschwerte sich wegen dieses Vorgehens bei Papst Benedikt XV.
Am 23. Juli 1920 wurden die Listen, auf denen die Einwohner der Grenzkreise für Deutschland optieren konnten, eingezogen. Die Scheinabstimmung war von den belgischen Behörden massiv beeinflußt und zum Teil mit Waffengewalt behindert worden. Von den 34 000 Wahlberechtigten hatten sich 271 für das Deutsche Reich und damit gleichzeitig dafür entschieden, ihre alte Heimat zu verlassen.
Der Völkerbund wertete dieses Ergebnis, das auf Erpressung und Betrug beruhte, als eindeutiges Votum für Belgien. Er stimmte zu, daß die Kreise Eupen und Malmedy endgültig dem belgischen Staat einzugliedern seien.
Kardinal Schulte reiste im Oktober 1920 nach Rom, um in einem persönlichen Gespräch mit dem Papst zu erreichen, daß die Dekanate Eupen, Malmedy und St. Vith wenigstens kirchenrechtlich bei der Erzdiözese Köln verbleiben konnten. Der Vatikan zögerte. Die belgische Regierung hatte Rom ein Memorandum übermittelt, das die Errichtung einer neuen Diözese Eupen-Malmedy vorsah, die dem Bischof von Lüttich unterstellt werden sollte. Nach mehreren Monaten entschied sich der Vatikan für den belgischen Vorschlag.
Am 11. Oktober 1921 wurde die Pfarrkirche von Malmedy zur Kathedrale erhoben und der Bischof von Lüttich, Martin Hubertus Rutten, feierlich in das |14|Episkopat der neuen Diözese eingewiesen. Der vatikanische Nuntius Nicotra leitete die Zeremonie. Als Bischof Rutten in die Stadt einzog, marschierten je 50 belgische Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett vor und hinter dem Baldachin des Bischofs.
Die Abtretung der Grenzkreise hatte Familien, die seit Generationen verwandt und verschwägert waren, getrennt und fruchtbare Verbindungen in Handel und Gewerbe zerschnitten. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten viele Bauern der Grenzregion des Kreises Schleiden ihr Vieh in Eupen verkauft. Das war nun nicht mehr möglich. Hinzu kamen die Belastungen durch die Besatzung. Das waren zuerst britische Truppen und später (bis zum 1. Dezember 1929) belgische und französische Soldaten.
Das Mechernicher Bleibergwerk und die kleineren Industriebetriebe in Mechernich und Kall lagen danieder. Viele Bürger resignierten.
In einigen Dörfern an der Grenze des Kreises Schleiden taten sich ehemalige Soldaten zusammen, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, um in den früheren preußischen Staatsforsten des Kreises Malmedy zu wildern. Sie hatten aus dem Krieg Karabiner und genügend Munition mit nach Hause gebracht. Nachts gingen sie über die Grenze, um Rotwild oder Wildsauen zu schießen. Das war nicht sehr gefährlich, weil die belgische Forstverwaltung für die neuen Wälder nur sehr langsam aufgebaut wurde. In mehreren Fällen veranstalteten die jungen Männer sogar Treibjagden. Es ging nicht um Trophäen, sondern um Fleisch. Alle waren sich aber einig, daß auch die Geweihe der Hirsche und Rehböcke, die man erlegt hatte, mit nach Hause genommen werden mußten. Man durfte den belgischen Behörden keine Hinweise auf die illegalen Jagden hinterlassen.
Das Jahr 1923 brachte für das Reich, vor allem für das Rheinland, erneut schwere Belastungen. Der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré behauptete, Deutschland sei vorsätzlich seinen Reparationsverpflichtungen für Kohlelieferungen an Frankreich nicht nachgekommen. Er setzte durch, daß sich die Reparationskommission am 9. Januar 1923 diesem Votum anschloß. Großbritannien stimmte dagegen. Die Feststellung der Kommission genügte Poincaré, den Einmarsch starker französischer Truppenverbände in das Ruhrgebiet zu befehlen. Am 11. Januar besetzten die Franzosen Essen und innerhalb weniger Tage die anderen Städte des Reviers. Belgische Truppen begleiteten die Operation.
Am 13. Januar verkündete Reichskanzler Cuno im Parlament den »passiven Widerstand« gegen die Okkupation. Die Kohlelieferungen wurden eingestellt und die Zechen stillgelegt. Die Reichsbahner in den französisch besetzten Gebieten verließen ihre Arbeitsplätze. Löhne und Gehälter liefen weiter. Mein Vater, der schon bei der Reichsbahn arbeitete, sagte später, er habe damals sieben Monate »bezahlten Urlaub« gehabt.
Die verbliebenen Löhne reichten aber nicht aus, den Lebensunterhalt der Arbeiter und Angestellten zu decken. Im Herbst 1923 hatte die Inflation in |15|Deutschland ihren Höhepunkt. Für eine Milliarde Mark konnte man noch nicht einmal eine Schachtel Streichhölzer kaufen. Ein Liter Milch kostete 360 Milliarden Mark.
Am 31. März 1923 versuchten französische Soldaten bei Krupp in Essen Automobile zu requirieren. Arbeiter wollten das verhindern. Die Franzosen erschossen dreizehn Männer, 41 wurden verletzt. Insgesamt starben beim Ruhrkampf 140 Menschen.
Die Eisenbahner aus Euskirchen, Mechernich und Kall, die ihre Arbeitsplätze auf Weisung der Reichsregierung verlassen hatten, glaubten, daß »die Fremden« mit den deutschen Lokomotiven und Eisenbahnwaggons nicht fertig werden würden. Den Belgiern und Franzosen gelang es aber, mit eigenen Kräften zunächst die vorhandenen Halden abzuräumen und dann die Kohle mit der Eisenbahn über Köln, Trier und Ehrang nach Frankreich zu bringen. Schon einige Wochen nach der Ruhrbesetzung dampfte Zug um Zug mit Kohle und Koks nach Südwesten.
Die Kohlezufuhren für das Bleibergwerk in Mechernich wurden von den Franzosen gesperrt. Auch die anderen Industriebetriebe, einschließlich der für die industrielle Infrastruktur notwendigen Gasfabrik, erhielten weder Kohle noch Koks. Vom 13. Mai bis zum 10. Juni mußte die Grube – mit mehr als 1000 Arbeitern – stillgelegt werden. Die Bergwerksverwaltung versuchte, Briketts aus den nahen Braunkohlegruben bei Liblar mit Lastkraftwagen heranbringen zu lassen, um wenigstens die Dampfkessel für die Fördermaschinen beheizen zu können. Das wurde von der Besatzungsmacht verboten. Danach mußte das Bleibergwerk erneut geschlossen werden. Das dauerte vom 15. September 1923 bis zum 7. Februar 1924.
Die Waggonfabrik mit 450 Arbeitern stand still vom 28. April 1923 bis zum 20. Oktober 1924. In dieser Zeit wurden die bis zum April angelaufenen Aufträge von Unternehmen im unbesetzten Teil Deutschlands übernommen. Der Mechernicher Waggonfabrik gelang es weder nach dem Ende der Ruhrbesetzung noch nach dem Abzug der französischen Besatzungstruppen Ende 1929, die alte Position wiederzugewinnen. Im Jahre 1932 arbeiteten nur noch 45 Mann in dem Betrieb.
Nach Beginn des »passiven Widerstands« drohten die Franzosen, 150 Güterwaggons, die fertiggestellt und zum Abtransport in den unbesetzten Teil des Reichs bereitgestellt waren, zu beschlagnahmen. Einige Arbeiter fuhren die Waggons daraufhin auf abseitig gelegene Geleise, die von hohen Kiefern verdeckt waren. Sie entfernten die Kupplungen, um den Weitertransport zu verhindern. Die Güterwagen blieben länger als ein Jahr im Wald versteckt.
Während der Regie-Zeit – so nannte man die Periode der Ruhrbesetzung – versuchten die Franzosen, auch den Personenverkehr zwischen Trier und Liblar aufrechtzuerhalten. In Liblar begann die britische Verwaltungszone. |16|Die Eifelbewohner sabotierten die französischen Bemühungen. Wer in Köln zu tun hatte, ging zu Fuß nach Liblar oder ließ sich mit Pferdefuhrwerken bis in das britische Gebiet bringen.
Die Fahrschüler aus der Eifel, die das Gymnasium in Euskirchen besuchten, weigerten sich ebenfalls, die französische Regiebahn zu benutzen. Sie versuchten, bei Freunden in der Stadt unterzukommen. Nur wenigen gelang das. Die meisten blieben in ihren Dörfern. In Mechernich stellten sich drei Volksschullehrer zur Verfügung, um die Gymnasiasten des Ortes und der nahegelegenen Dörfer zu unterrichten.
Im April 1923 verübten Unbekannte mehrere Sprengstoffanschläge gegen Unterkünfte belgischer und französischer Soldaten. Militärfahrzeuge wurden zerstört.
Organisator dieser Sabotageakte war Albert Leo Schlageter, der mit Heinz Oskar Hauenstein das »Sturmregiment« aufgebaut hatte, das 1921 den Annaberg in Oberschlesien eroberte. Durch den »Sturm auf den Annaberg« konnte verhindert werden, daß ganz Oberschlesien an Polen fiel. Jetzt war Hauensteins Organisation das Kernstück des »passiven Widerstands« an der Ruhr.
Nach den ersten Anschlägen in der Eifel verordneten die Franzosen, daß sich die Bewohner dem »Bahnkörper«, d. h. den Gleisen, innerhalb von geschlossenen Ortschaften höchstens bis auf einen Abstand von einem Meter nähern durften; außerhalb der Ortschaften durfte man den Schienen nicht näher als hundert Meter kommen. Zuwiderhandlungen wurden mit Erschießen bedroht.
In Mechernich konnte man die Bahnübergänge an der Weierstraße, an der Turmhofstraße, in Burgfey und in Roggendorf-Strempt nur zwischen fünf Uhr morgens und zwanzig Uhr abends überschreiten. Die kleineren Bahnübergänge »Im Höfchen« und in Katzvey wurden vollständig gesperrt. Der Übergang an der Friedrich-Wilhelm-Straße war von fünf Uhr bis dreiundzwanzig Uhr offen.
Zur Überwachung und zum Schutz der Bahnanlagen setzten die Franzosen mehrere Bataillone farbiger Soldaten aus ihren Kolonien ein. Dennoch gelang es der Gruppe Schlageter Anfang Mai 1923, die Eisenbahnbrücke bei Burgfey in die Luft zu sprengen. Der Transport von Kohle und Koks nach Frankreich wurde für mehrere Tage unterbunden.
Ein junger Mann aus Kommern und ein Schüler der Oberstufe des Gymnasiums in Euskirchen hatten sich an dem Attentat beteiligt. Sie konnten untertauchen. Albert Leo Schlageter wurde kurze Zeit später von den Franzosen gefangen. Ein Standgericht verurteilte ihn wegen Sabotage zum Tode. Am Samstag, dem 26. Mai 1923, wurde er in der Golzheimer Heide bei Düsseldorf füsiliert.
Karl Radek, maßgebendes Mitglied des Präsidiums der »Kommunistischen Internationale«, würdigte Schlageter als »guten Soldaten der Konterrovolution«.
Adolf Hitler hatte sich schon kurze Zeit nach der Parlamentsrede von Reichskanzler Cuno gegen den »passiven Widerstand« ausgesprochen. Er wollte |17|verhindern, daß die Weimarer Regierung mit dieser Aktion ein nationales Thema besetzen konnte. Die Nationalsozialisten erklärten Schlageter auch erst nach 1933 zu einem ihrer Helden. Die Kriegsmarine benannte am 30. Oktober 1937 eines ihrer Segelschulschiffe nach ihm.
Die Ruhrbesetzung hatte für Frankreich mehr Nachteile als Profite gebracht. Nachdem die Vorratshalden abgeräumt waren, konnten die Franzosen im ersten Halbjahr 1923 mit eigenen Kräften nur so viel Kohle fördern, wie die deutschen Bergleute sonst in zwei Wochen gefördert hatten. Während dieser Zeit flossen nur zehn Prozent der früheren Fördermenge nach Frankreich. Schon im März mußte die lothringische Stahlindustrie einige Hochöfen stillegen, weil Brennstoff fehlte. Die Ruhroperation hatte den Franc – nach mehreren vorhergegangenen inflatorischen Schüben – noch weiter entwertet.
Für Deutschland waren die Konsequenzen der Ruhrbesetzung noch schlimmer. Die Kosten des »passiven Widerstands« stürzten die deutsche Wirtschaft in die finanzielle Katastrophe. Zahlreiche Betriebe brachen zusammen, die Bürger verloren alle Ersparnisse, der Mittelstand war für die nächsten Jahre zerstört. Am 26. September 1923 mußte der »passive Widerstand« abgebrochen werden. Damals war Gustav Stresemann Reichskanzler. Die belgischen und französischen Truppen verließen das Ruhrgebiet erst Ende Juli 1925.
Die unmittelbaren ökonomischen Belastungen, die der »passive Widerstand« gegen die Ruhrbesetzung gebracht hatte, beschleunigten die Bemühungen um eine Währungsreform. Deren Erfolg war aber davon abhängig, daß die exorbitanten Unterstützungszahlungen in das französisch besetzte Gebiet gestoppt werden konnten. Es gab Erwägungen, die Subventionen sofort einzustellen und Ruhrgebiet und Rheinland sich selbst zu überlassen. Dies stieß auf Widerspruch im Kabinett.
Konrad Adenauer, zu dieser Zeit Oberbürgermeister von Köln und Präsident des preußischen Staatsrats, erklärte, daß die Rheinlande dem Reich notfalls eine zweite und dritte Währungskrise wert sein sollten.
Am 11. November 1923 wurde mit der Rentenmark eine neue Währungsordnung eingeführt. Eine Billion Papiermark war jetzt eine Rentenmark.
Mit der Reform gingen rigorose Sparmaßnahmen Hand in Hand. Das Personal des Reichs wurde drastisch abgebaut. Mehr als 300 000 öffentliche Bedienstete wurden entlassen. Die Gehälter der Beamten und Angestellten wurden auf sechzig Prozent der Vorkriegssätze festgelegt.
Im besetzten Rheinland waren die Probleme mit dem Ende des »passiven Widerstands« noch nicht vorbei. Hier hatte sich seit 1919 eine Bewegung entwickelt, die sich pazifistisch nannte und die eine rheinische »Friedensrepublik«, eine neutrale Zone zwischen Frankreich und Deutschland, errichten wollte. Sie stand unter dem Schutz von Belgien und Frankreich und wurde von den Regierungen dieser beiden Länder gefördert.|18|
Bis zur Ruhrbesetzung hatte die Bewegung nur geringe Bedeutung. Zulauf erhielt sie erst, als mit Ruhrkampf, Belastung der Wirtschaft durch Reparationszahlungen und galoppierender Inflation immer mehr Bürger in Existenznot gerieten.
Die meisten Separatisten kamen aus dem Zentrum und aus den bäuerlichen Bereichen der Eifel und der Zülpicher und Euskirchener Börde. Die Leute aus den Arbeitergebieten in Kall und in Mechernich waren gegen den Separatismus.
Vor allem der preußische Landrat des Kreises Schleiden, Josef Graf Spee, wandte sich gegen die Rheinische Republik. Er machte das auch öffentlich deutlich. Er bezeichnete den Bürgermeister von Hergarten, der überzeugter Pazifist war, in einer Rede als »unzurechnungsfähig«. Einen Bauern aus Hostel, der sich ebenfalls aktiv für die neue Republik einsetzte, nannte er »Dieb und Betrüger«.
Am Sonntag, dem 21. Oktober 1923, riefen die Separatisten die Rheinische Republik aus. Regierungssitz war Koblenz, Ministerpräsident wurde ein Journalist namens Matthes. Auf dem Rathaus in Aachen wurde die grün-weiß-rote Fahne der Separatisten gehißt. Düren und Schleiden wurden einen Tag später »republikanisch«, Euskirchen am 24. Oktober.
Am 22. Oktober verhafteten die Separatisten den Landrat. Sie brachten ihn zunächst nach Daun und dann nach Koblenz. Dort verlangten sie von ihm, daß er die Rheinische Republik mit seiner Unterschrift anerkennen müsse. Graf Spee weigerte sich. Die Separatisten ließen ihn frei und schickten ihn nach Berlin.
Ein Onkel aus der Familie meiner späteren Frau Maria hatte sich am 21. Mai 1921 mit Albert Leo Schlageter am Sturm auf den Annaberg in Oberschlesien beteiligt. Anfang 1923 war er Polizeioffizier in Aachen geworden. Am 26. Oktober 1923 wollte er heiraten. Am Nachmittag des 25. Oktobers traf er sich mit einigen Kameraden, um das Ende seines Junggesellendaseins zu feiern. Auf dem Heimweg kam er am Rathaus vorbei. Er sah die Separatistenfahne vom Turme wehen und kletterte hoch, um sie abzunehmen. Als er das Fahnentuch in seinem Jackett verstauen wollte, traf ihn die Kugel eines Separatisten. Er war sofort tot.
Die preußische Regierung veranlaßte, daß er in einem Ehrengrab auf dem Friedhof seiner Heimatpfarre in Gemünd/Eifel beigesetzt wurde. Der Stadt Aachen wurde aufgegeben, für die Grabpflege zu sorgen.
Im Sterberegister der Pfarre ist – erstaunlicherweise in lateinischer Sprache – vermerkt, daß er »Anno Domini MCMXXIII, die 25. mensis Octobris (am 25. Tag des Monats Oktober), aetatus vero 32« (erst im 32. Lebensjahr) in »Aquisgranum« (Aachen) dahingeschieden sei, und zwar »necatus a rebellibus« (ermordet von Rebellen).
Die Bergarbeiter in Mechernich waren auf die Abwehr eines möglichen Angriffs der Separatisten vorbereitet. Abgesehen von einigen Jagdflinten, die ihnen vom Förster des Bergwerks zur Verfügung gestellt worden waren, hatten sie keine Waffen. Sie hatten aber vor dem Rathaus und einigen Schulen (auch das waren Objekte, die in Nachbargemeinden von den Separatisten besetzt |19|worden waren) zentnerweise scharfkantige Hüttenschlacke angehäuft, um sie als Wurfgeschosse gegen die Angreifer benutzen zu können. Die Kämpfer für die Rheinische Republik hatten aber offensichtlich keine Neigung, einen so großen Ort wie Mechernich (damals 5000 Einwohner) anzugreifen, der von mehr als tausend kräftigen Bergleuten verteidigt werden konnte.
Als den Mechernichern klar wurde, daß man nicht mehr mit einem Angriff zu rechnen brauchte, organisierte Bürgermeister Hüsgen mehrere Kraftwagen und bemannte sie mit Bergarbeitern. Die Männer hatten sich mit Knüppeln und Äxten bewaffnet. Am 25. Oktober fuhr Hüsgen mit den Bergleuten nach Gemünd und Schleiden und machte die dortigen Rathäuser wieder »separatistenfrei«. Von Mechernich ging die Initiative zur Säuberung des Kreises Schleiden aus. Und dieser Erfolg war dann das Signal für eine große Säuberungsaktion im ganzen Rheinland. Mechernicher Arbeiter kämpften in erster Reihe auch bei ähnlichen Aktionen in den Nachbarkreisen. Mitte November war der Separatistenspuk in der Eifel zu Ende.
Zahlreiche Versprengte hatten sich auf das rechte Rheinufer zurückgezogen. Sie sammelten sich im Siebengebirge. Rund 2000 Leute waren immer noch bereit, sich für eine Rheinische Republik zu schlagen. Die Bauern und Bürger des Siebengebirges, verstärkt durch Arbeiter aus Köln, formierten sich ebenfalls. Sie waren besser bewaffnet als die Leute aus der Eifel. Am Ägidienberg kam es zur Entscheidungsschlacht. Die Separatisten wurden völlig besiegt. Die einheimische Bevölkerung erschoß mehrere Dutzend Republikaner. Andere wurden mit Äxten und Knüppeln erschlagen. Der französische Versuch, die Bedingungen von Versailles mit Hilfe einer Marionettenregierung nachzubessern, war gescheitert.
In dieses Umfeld wurde ich hineingeboren, mit diesen Geschichten bin ich aufgewachsen. Wenn uns an langen Winterabenden Nachbarn besuchten, dann führten die Gespräche der Männer sehr bald in diese Zeit, darüber hinaus zum Weltkrieg und zu den Materialschlachten an der Westfront.
Neben den Nachbarn hatten wir häufig Gäste aus der Familie. Meine Mutter hatte neun Geschwister, mein Vater zwei. Wir besuchten uns oft. Die Schwester und der Bruder meines Vaters, die in Erp wohnten, kamen im Sommer an vielen Sonntagen mit dem Fahrrad in die Eifel. Das waren 26 Kilometer. Die Verwandten aus der Familie meiner Mutter kamen von Brühl, aus Köln und von Neuss, manchmal mit der Eisenbahn, manchmal mit Fahrrädern. Die Entfernung zwischen Neuss und Mechernich beträgt ungefähr 80 Kilometer.
Ende der zwanziger und in den dreißiger Jahren war in der Familie jedes Jahr mindestens eine Kindtaufe oder eine Kinderkommunion. Bei diesen Festen kam fast der gesamte Clan zusammen. Es wurde gut und viel gegessen und mäßig getrunken. Gastzimmer für die jeweils etwa dreißig Besucher gab es nicht. Niemand hatte auch genug Geld, in einem Hotel oder in einer Pension zu übernachten. Die jeweiligen Gastgeber richteten deshalb auf den Böden der Schlafzimmer |20|und auf den Speichern Matratzenlager ein, möglichst getrennt nach Männern, Frauen und Kindern. Für uns war das eine Gelegenheit, abends mit Vettern und Cousinen herumzutollen, bis das Machtwort eines Vaters oder Onkels uns zur Ruhe brachte.
Sowohl bei den Verwandtenbesuchen als auch bei den Familienfeiern kam die Unterhaltung immer wieder auf den Ruhrkampf, auf die Separatistenzeit und auf die Jahre der Inflation. Wir Kinder hörten stumm und interessiert zu, vor allem, wenn es zu Kontroversen über die Frage kam, was und wieviel das Rheinland Preußen zu verdanken hatte. War es richtig gewesen, von Mechernich aus die Separatisten mit Waffengewalt zu bekämpfen? Diese Frage stellten die jungen Männer, die nicht im Krieg gewesen waren. Die Kriegsteilnehmer, die durch ihre Zeit an der Front ein neues Gemeinschaftserlebnis erfahren hatten, das nicht durch landsmannschaftliche Bindungen begrenzt war, betrachteten den »Aufstand« der Separatisten als eine Fortsetzung des Krieges, den Frankreich im August 1914 begonnen hatte. Zu ihnen gehörten mein Vater, den die Briten im August 1918 bei Arras schwerverwundet gefangengenommen hatten, und mein Patenonkel Josef, der als Feldwebel, ausgezeichnet mit dem EK I, 1919 aus dem Krieg nach Hause gekommen war. Engagement in diese Richtung zeigten auch Onkel Toni, der nur kurze Zeit am Kriege teilgenommen hatte, sowie Onkel Johannes und Onkel Albert, die als Schwäger in die Familie aufgenommen worden waren. In den Diskussionen wurde aber immer wieder deutlich, daß die Zuordnung der Kriegsveteranen nicht Preußen galt, sondern dem Reich.
Große Erzähler waren Onkel Josef und – wenn er gut gelaunt war – auch Onkel Toni. Tante Maria, die Schwester meines Vaters, wußte sehr viele Geschichten über den rheinischen Separatismus. Onkel Albert verstand es von den Erwachsenen am besten, sich auf die Neugier von Kindern einzustellen.
In unserer Straße wohnte ein Ingenieur des Bleibergwerks Mechernich, dessen Vetter als Ingenieur an einer Kohlengrube im Saarland beschäftigt war. Im Sommer 1934 besuchte der Saarländer seine Verwandten in Mechernich. Mein Vater wurde eingeladen, den Bericht des Mannes, den dieser seinem Vetter und einigen interessierten Zuhörern geben wollte, anzuhören. Ich durfte meinen Vater begleiten. Der Ingenieur erzählte, daß die Franzosen die Saargruben und die saarländischen Hüttenwerke rücksichtslos ausbeuten würden, ohne an notwendige Reserven zu denken, zum Teil unter Mißachtung der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen. In Sorge um eine Niederlage in der kommenden Abstimmung hätten die Franzosen von der lothringischen Seite des Abbaugebietes her Schächte und Stollen unter der Grenze in das Saargebiet vorgetrieben, um auch nach einer Wiedervereinigung der Saar mit dem Reich die saarländische Kohle weiter abbauen zu können.
Schon anderthalb Jahre vor der Abstimmung hatten sich die politischen Kräfte im Saarland polarisiert. Die Parteien der Mitte und der Rechten hatten sich – |21|beginnend mit Juli 1933 – aufgelöst und mit der Saar-NSDAP zur »Deutschen Front« verbunden. Die »Deutsche Front« wollte den Anschluß an Deutschland. Die NSDAP aus dem Reich unterstützte das mit Geld und Propaganda.
Die Sozialdemokratische Partei der Saar und die Kommunisten bildeten eine Einheitsfront. Zu ihr stießen einige kleinere Gruppen bürgerlicher und katholischer Nazi-Gegner. Diese Verbindung nannte sich »Freiheitsfront«. Sie trat dafür ein, das Völkerbundsmandat beizubehalten.
Die katholische Amtskirche unterstützte die Bestrebungen, die Saar wieder mit Deutschland zu vereinigen. Am 12. November 1934 ermahnten die Bischöfe von Speyer und Trier, die für das Saargebiet zuständig waren, die katholischen Gläubigen in einem Sendschreiben, bei der kommenden Abstimmung ihre »Pflicht zum angestammten Volkstum« zu erfüllen. Der Erlaß wurde am darauffolgenden Sonntag, dem 17. November, von allen Kanzeln des Saarlandes verlesen.
Am 13. Januar 1935 stimmten 477 119 Wahlberechtigte für den Anschluß an Deutschland und 46 513 für die Beibehaltung des Status quo. Nur 2124 Wähler waren für die Abtretung der Saar an Frankreich.
Das Reich, dessen diktatorischer Charakter damals für die meisten Deutschen noch nicht erkennbar war, hatte also die Abstimmung an der Saar mit überwältigenden 90,5 Prozent der Wähler gewonnen.
Am Tag nach der Wahl veranstalteten fast alle Schulen eine Feierstunde. Lehrer Baur wies uns noch einmal eindrücklich auf die Bedeutung des Tages hin. Ein Teil des Reiches, der uns verbrecherisch geraubt worden war, konnte mit einer überzeugenden Manifestation der Liebe zum Vaterland zurückgeholt werden. Damit sei die Hoffnung gelegt, daß auch andere Gebiete, die uns unrechtmäßig weggenommen worden seien, durch den Willen des Volkes zu Deutschland zur zurückfinden könnten.
Nach der Feierstunde gab es schulfrei. Bernd Michels und Hans Peter Pellmann, meine Mitschüler, wohnten in der Nähe des Bahnhofs. Auf dem Weg zur Schule mußten sie durch die Arenbergstraße, in der ich wohnte. Sie holten mich jeden Morgen ab. Jetzt gingen wir, in einer Reihe nebeneinander, gemeinsam nach Hause. Wir hatten uns die Arme um die Schultern gelegt und sangen laut das Lied: »Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar«.
Es war trübes Wetter, und es nieselte. Kalt war es nicht. Meine Augen waren feucht. Ich war mir nicht klar, ob das vom Regen kam, oder ob mir Rührung Tränen in die Augen gebracht hatte.
Die Frage, ob ich in diesen Minuten nicht zu viel Schwäche gezeigt haben könnte, beschäftigte mich noch lange. Mehr als ein Jahr später, während der Olympischen Spiele in Berlin, sprach ich darüber mit Onkel Albert. Ich sagte ihm auch, daß ich von der Rückkehr der Saar ins Reich – nach dem Unrecht, das das »Versailler Diktat« uns zugefügt hätte – sehr berührt worden sei. Er schaute mich an und legte seine Hand auf meine Schulter. Dann sagte er: »Weißt |22|du, das was du damals empfunden hast, das war kein Ausdruck von Schwäche, sondern Patriotismus. Wer das nicht fühlt, der hat kein Herz. Und im übrigen: Den Ausdruck vom ›Versailler Diktat‹ hat nicht euer Hitler erfunden; unser Philipp Scheidemann war der erste, der vom ›Schandvertrag von Versailles‹ gesprochen hat«.
Auszug aus der Rede Philipp Scheidemanns am 12. Mai 1919 vor der Deutschen Nationalversammlung: