Lektorat: Anatol Vitouch
Cover: Kyungmi Park
Gestaltung: Cojothe
Gedruckt in Europa
Gesetzt in der Premiéra

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ISBN 978-3-99001-114-0
eBook-ISBN 978-3-99001-119-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Die Entdeckung

Die Flucht

Die Verhaftung

Die Untersuchungshaft

Die Geburt

Der Prozess

Das Jetzt

Einleitung

Es gibt nichts zu beschönigen, und ich will weder um Verständnis noch um Entschuldigung bitten. Ich habe zwei Männer, die ich früher einmal liebte, getötet. Ich habe für meine Taten die härteste Strafe erhalten, die ein europäisches Land über einen Menschen, der ein Tötungsdelikt begangen hat, verhängen kann. Vielleicht werde ich bis an mein Lebensende in einem Gefängnis eingesperrt sein.

Ich lebe im vollen Bewusstsein, diese Verbrechen begangen zu haben, und das ist eine ebenso schwere Strafe. Ich habe nicht nur zwei Menschen das Leben genommen, sondern auch zwei Müttern ihre Söhne. Seit ich selbst, in der Haft, Mutter geworden bin, kann ich mir vorstellen, was es bedeutet ein Kind zu verlieren. Noch dazu auf eine so entsetzliche Weise. Wenn ich meine Verbrechen ungeschehen machen könnte, indem ich mein eigenes Leben dafür gebe, würde ich es tun.

Ich habe mich dazu entschlossen, meine Geschichte zu erzählen. Vor allem deshalb, weil so viele Menschen sie schon erzählt haben, Journalisten, Staatsanwälte und Gutachter, und weil ich weiß, dass auch andere sie noch erzählen werden, in Form von Fernseh-Dokumentationen und Büchern.

Wenn es all diesen Menschen gestattet ist, meine Geschichte zu erzählen, warum sollte es dann nicht auch mir gestattet sein – aus meiner Sicht? Zu erklären, wie ich alles erlebt habe? Meine Taten. Das Davor. Das Danach. Vielleicht kann ich damit zu irgendetwas beitragen, eine Lücke schließen, und sei es nur eine, die das Wissen über den seelischen Zustand einer Mörderin betrifft.

Ich erzähle meine Geschichte nicht als „Eislady“, als die mich die Menschen zu kennen glauben. Ich erzähle sie als Estibaliz Carranza, die in den Zeitungen zwar mit einem kühlen Lächeln zu sehen war, aber in Wirklichkeit nur eine Frau ist, die sich nie richtig zu sagen traute, was sie sich wünschte. Eine Frau, die nie starke Nerven hatte, die trotzdem unverzeihliche Verbrechen beging, der jetzt nichts wichtiger ist im Leben als ihr kleiner Sohn, den sie viel zu selten sehen darf, die darauf hofft, dass Gott ihr vergibt und die eisern weiter davon träumt, dass sie vielleicht doch noch irgendwann eine Zukunft in Freiheit haben wird.

Ich hätte es niemals geschafft, dieses Buch zu schreiben. Ich habe die Gabe oder auch die Schwäche, dorthin, wohin ich nicht schauen will, nicht zu schauen. Die Psychologen, mit denen ich über meine Taten spreche, lenken meinen Blick dorthin, aber sie tun es behutsam, Schritt um Schritt, und sie akzeptieren es, wenn ich zwischendurch auch wieder einmal einen Schritt zurück gehe.

Diese Möglichkeit bietet ein Buch nicht. Ein Buch verlangt, dass der Erzähler die Geschichte, von Anfang bis zum Ende offen legt, ohne Auslassungen und weiße Flecken. An einem Buch zu arbeiten, bedeutet die intensive und ungeschützte Konfrontation mit der Wahrheit. Es wäre niemals zustande gekommen, wenn ich nicht Martina Prewein als Helferin und Vertraute an meiner Seite gehabt hätte.

Martina ist Journalistin. Sie hat schon nach dem Auffliegen meiner Verbrechen, während meiner Untersuchungshaft, während meines Prozesses und auch danach immer wieder über meinen Fall berichtet. Sie kennt ihn so detailliert wie kaum jemand. Sie hat in Spanien meine Mutter, meinen Vater und meinen Bruder kennengelernt und lange mit ihnen geredet. Mehrmals hat sie meine Mutter auch in Wien getroffen. Auch mit Roland, meinem Mann, hat sie viele Gespräche geführt.

Martina war es, die mich zu dem Vorhaben, meine Geschichte aus meiner Sicht aufzuschreiben, animierte. Überlass es nicht stillschweigend den anderen, sie zu erzählen, sagte sie zu mir, als wir einander, nachdem sie mich schon ein paar Mal im Gefängnis besucht hatte, wieder einmal im Besucherraum der Justizanstalt Schwarzau gegenübersaßen. Vertritt deine Position. Zeig den Menschen, dass du nicht die Bestie bist, für die sie dich halten. Ich kann das nicht, sagte ich. Ich helfe dir dabei, sagte sie.

Die Arbeit an diesem Buch wurde trotzdem ein schmerzvoller Prozess. Manchmal war er zu schmerzvoll. Manchmal schaffte ich es einfach nicht, auf den bösen Teil in mir zu blicken, und dann hat es Martina mit großem Einfühlungsvermögen für mich getan. Manchmal war ich erschöpft. Manchmal war ich verzweifelt. Trotzdem bin ich froh darüber, dass meine Geschichte und damit meine Abrechnung mit mir selbst, jetzt jedem, der sie lesen will, zugänglich ist. Egal, ob irgendjemand es mir zugestehen wird, damit etwas bewirken zu können. Etwas, von dem ich nicht einmal selbst genau weiß, was es sein könnte.

Nur eines weiß ich jetzt mit Sicherheit. Es stimmt, dass es etwas Heilendes hat, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. Ich habe mich bei der Arbeit an diesem Buch selbst etwas besser kennengelernt. Ich weiß jetzt mehr über mich als davor, und ich habe das Gefühl, meinem Ich nähergekommen zu sein.

Estibaliz Carranza,
Justizanstalt Schwarzau,
Oktober 2014

DIE ENTDECKUNG

Ich glaubte, Männern dienen zu müssen.
Egal wie sie sich mir gegenüber verhielten.

1

Es ist der 25. Mai 2011. Ich habe einen Termin bei meinem Gynäkologen. Pünktlich um zehn Uhr morgens treffe ich in seiner Ordination auf der Meidlinger Hauptstraße ein. Ich melde mich bei der Sprechstundenhilfe an und nehme im Wartezimmer Platz. Ich bin völlig ruhig, nicht aufgeregt, nicht angespannt. Es soll ja bloß eine Routinekontrolle sein. Harnabgabe, Abstrich, Ultraschall.

Ich blättere Klatschzeitschriften durch, ein Artikel über das englische Königshaus interessiert mich besonders. Noch bevor ich den Bericht über Prinzessin Kate bis zum Ende durchlesen kann, werde ich aufgerufen. Ich mache in einer Kabine meinen Unterkörper frei, setze mich auf den Behandlungsstuhl. Die Untersuchung beginnt. Nichts ist anders als schon dutzende Male davor. Und jetzt, wie aus dem Nichts, dieser Satz: Frau Carranza, Sie sind schwanger.

Ja, schon, irgendwie hatte ich in den Tagen davor gespürt, dass etwas anders sein, dass mein Wunsch, Mutter zu werden, endlich in Erfüllung gehen könnte. Aber wirklich geglaubt hatte ich daran nicht. Oder doch?

Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Ich kann kaum noch klar denken. Ich sitze da, in dem Zimmer mit den weißen Wänden, und fühle mich wie in Watte. Der Frauenarzt redet und redet, ich schaffe es kaum, seinen Worten zu folgen. Frau Carranza, Sie sind schwanger. Ich fühle mich wie in einem Rausch. Ist es wahr? Werde ich wirklich ein Baby bekommen?

Seit ich ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ich von nichts anderem geträumt, mir tausende Male ausgemalt, wie es wäre, Mutter zu sein. Meine Puppen, meine vielen Puppen, ich versorgte sie, als wären sie meine Kinder. Ich habe sie gewickelt, umgezogen, ihnen Fläschchen an den Mund gehalten, sie in Wiegen gelegt und geschaukelt. Ein Teil meines Zimmers, damals, in Mexiko, in dem Staat, in dem ich geboren wurde, gehörte nur ihnen. Bis diese bösartigen Männer in Uniformen in unser Haus eindrangen, mit Waffen in den Händen, und mir meine Babys wegnahmen, auf ihnen herumtrampelten, bis ihre Köpfe kaputtgingen.

Die Erinnerungen an diesen Tag sind mit einem Mal so stark. Tränen schießen in meine Augen. Ich spüre die schützenden Hände meiner Mutter, sie sagt, dass ich mich nicht fürchten muss und dass alles gut wird. Die Typen sind nach ihrer Zerstörungsaktion auch ziemlich schnell abgezogen. Erzählen Sie Ihrem Mann genau, was heute passiert ist, sagten sie meiner Mutter zum Abschied.

Nach diesem Überfall wurde vieles besser. Endlich sah mein Vater ein, dass wir nicht länger in unserer Heimat bleiben konnten, dass er sich dort als regimekritischer Journalist Feinde, zu mächtige und zu gefährliche Feinde gemacht hatte.

Ich war fünf, als wir nach Spanien auswanderten. Dort hatten wir nicht mehr um unser Leben zu fürchten. Dafür gab es neue Probleme. Meine Eltern mussten bei null anfangen. Finanziell ging es ihnen schlecht. Wir lebten nun nicht mehr in einem Haus mit vielen Zimmern und einem riesigen Garten, sondern in einer winzigen Wohnung in Barcelona.

Mein Vater arbeitete Tag und Nacht als freier Redakteur, von zuhause aus, doch kaum noch an den großen politischen Storys. Die Chefs von Frauenzeitschriften und Esoterikmagazinen waren jetzt seine Auftraggeber. Er musste jeden Auftrag annehmen, den er kriegen konnte. Die Stimmung war deshalb meistens nicht gut daheim. Er verlangte absolute Ruhe, wenn er schrieb, an Geschichten, die ihn eigentlich nicht interessierten und für ihn eine Plage waren. Ich gewöhnte mich rasch daran, still zu sein und in Fantasiewelten zu flüchten.

Mit sieben bekam ich einen Bruder. Es machte mir Spaß, ihn zu füttern, mit ihm zu spielen, ihn im Kinderwagen spazieren zu fahren. Von da an wollte ich mich nicht mehr mit meinen Puppen beschäftigen, sie waren ja in Wahrheit seelenlos. Er war ein kleiner Mensch, der echte Bedürfnisse hatte. Es tat mir gut, ihn umsorgen zu dürfen, ihn in meinen Armen zu halten, ihn zu liebkosen, für ihn Brei oder Kompott zuzubereiten.

Ich war ungefähr zehn, als ich meine Eltern fragte: Wann, glaubt ihr, bin ich alt genug, um zu heiraten und Babys zu bekommen? Noch lange nicht, sagten sie. Esti, du bist intelligent, du bist eine Vorzugsschülerin, du wirst einmal Karriere machen und erst danach darfst du über eine Familiengründung nachdenken. Ich habe mich ihren Wünschen gefügt, nach der Matura in Rekordzeit ein Wirtschaftsstudium durchgezogen, die Erfüllung meiner Wünsche auf später verschoben. Nur, das Später wurde immer nur noch später.

Jetzt bin ich im Später angekommen. Mit 32. Frau Carranza, Sie sind schwanger. Ich verstehe mich nicht. Warum schreie ich nicht vor Freude? Warum weine ich nicht vor Glück? Warum kann ich den Moment nicht genießen? Wieso ist er nicht so, wie ich ihn in Gedanken durchgespielt habe, so oft schon? Alles ist viel zu schnell passiert. Die Untersuchung. Die Urinabgabe. Der Test. Gleich zwei blaue Streifen, dann eine Blutabnahme und die Anweisung, am Montag wiederzukommen.

Benebelt gehe ich durch den Warteraum zum Ausgang der Praxis. Ich stoße mit einer Frau zusammen, mit noch einer. Ich höre lautes Kindergeschrei. Ein Mann hält mir die Türe auf, er versucht, mit mir zu flirten. Ich will nur noch weg von hier. Alles ist so hektisch.

Endlich bin ich draußen aus der Ordination. Ich fühle mich schwindelig, muss mich kurz auf eine Bank setzen. Fünfzig Meter entfernt hat eine Bekannte, eine Polin, ein Gasthaus, ich möchte jetzt schnell dorthin.

Hallo, sage ich zu ihr, als ich in dem Lokal ankomme. Ich bin nicht fähig, mehr von mir zu geben. Still setze ich mich an die Theke. Ich sollte eine Bestellung aufgeben. Bitte ein Redbull. Nein, doch einen Gespritzten. Nein, einen Espresso. Auch nicht. Ein Soda-Zitron, bitte mit frischer Zitrone. Frau Carranza, Sie sind schwanger.

Ein junger Mann mit blondem Haar betritt das Wirtshaus, er geht zu der Polin und küsst sie auf beide Wangen. Dein Sohn? Ja. In dieser Sekunde weiß ich, dass ich einen Buben erwarte. Endlich beginne ich zu begreifen. Mein Kleines ist schon in mir. Ab jetzt werde ich dich mit meinem Leben beschützen, mein Chiquitin.

2

Ich zahle und mache mich auf den Weg zu meinem Eissalon. Die Stimmen der Leute, die Geräusche der Autos klingen verwaschen. Die Luft ist anders, reiner, frischer. Ich setze mich in die U-Bahn, ich fühle mich beobachtet von den Menschen, ich bilde mir ein, dass sie mich anstarren, auf meinen Bauch schauen. Ich sehe Mütter mit Kindern. Das tut mir gut. Ich bin glücklich.

Im Eissalon ziehe ich mich sofort in die Küche zurück. Ich weiß, ich muss vorsichtig sein. Ich will nichts riskieren. Ich darf jetzt nicht mehr schwer heben. Bei jedem Schritt, den ich mache, habe ich Angst auszurutschen. Der Fliesenboden ist manchmal glitschig, ich werde ihn in Hinkunft noch öfter als bisher aufwaschen. Nein, mein Kleines, fürchte dich nicht, deine Mami passt gut auf dich auf.

Früher als erwartet ist er da. Roland, der Vater meines ungeborenen Sohnes. Ich höre seine tiefe, männliche Stimme, vorne im Geschäft. Wo ist meine Frau? Wir umarmen und küssen einander. Gott, wie sage ich es ihm bloß? Wir hatten vor, ein Baby zu kriegen, aber erst in einem Jahr, und bis dahin wollten wir aufpassen. Wir haben aufgepasst und trotzdem ist es passiert.

Roland füllt einen Becher mit Eis, After-Eight und Schokolade, obendrauf schaufelt er Schlagobers. Mit vollem Mund stellt er endlich die Frage. Was war beim Frauenarzt? Mi amor, gehen wir essen und ich erzähle es dir. Im Gasthaus ums Eck hat ein Kellner Dienst, der ein Kunde von mir ist. Was darf ich euch bringen? Ein Soda-Zitron und eine Scholle mit Gemüse. Roland will ein Steak mit Kartoffeln und ein Bier. Die Getränke sind da. Prost. Und? Erzähl.

Roland schaut mich mit großen Augen und hochgezogenen Brauen an. Ich bin schwanger. Ich spreche den Satz schnell aus, in einem flachen, hektischen Ton. Wie wird er auf diese Nachricht regieren? Ich bin unsicher. Er lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Ich habe es gewusst, sagt er. Sein Gesicht strahlt. Er freut sich. Ich setze mich neben ihn auf die Bank. Ich frage ihn. Willst du mich heiraten? Er schaut mich ernst an, ein paar Sekunden lang, dann gehen seine Mundwinkel hoch. Ja, ja, ja. Ja! Wir küssen uns. Ich drücke mich an seine Brust, an seinen Körper, der nach Zigaretten riecht und für mich jetzt schon mein Zuhause bedeutet. Roland ist der beste Mann auf dieser Welt. Ich erwarte ein Kind von ihm. Ein neues Leben hat begonnen.

Die kommenden Tage arbeite ich von früh bis spät im Eissalon, wie immer. Ich mache bloß öfter Pausen, ich esse viel Obst, Salat und Gemüse, ich trinke keine Energy-Drinks mehr und weniger Espressos, die Spritzweine am Abend sind sowieso gestrichen. Meine Angestellten sehen mich deswegen erstaunt an. Sie verstehen auch meine Stimmungsschwankungen nicht. Ich raste plötzlich wegen jeder Kleinigkeit aus. Wird das in den kommenden acht Monaten so bleiben?

Am Donnerstag, den 28. Mai, habe ich noch eine Untersuchung beim Gynäkologen. Neue Befunde liegen vor. Jetzt ist ausgeschlossen, dass es sich um eine Eileiterschwangerschaft handelt. Ich rufe meinen Bruder in Barcelona an. Du wirst Onkel. Er ist sprachlos. Bist du dir sicher? Ja. Esti, ich freue mich so für dich. Es ist ein Junge, sage ich, ich weiß es. Dann rede ich mit meinen Eltern. Meine Mutter ist zuerst am Apparat. Ich heirate. Esti, du bist schwanger. Ja, in der fünften Woche.

Es ist die bisher beste Zeit meines Lebens. Ich habe alles, eine wunderbare Familie in Spanien, einen treuen Mann an mei ner Seite, und ich trage ein Kind von ihm unter dem Herzen. Und auch das Geschäft läuft gut, die Kunden und die Mitarbeiter sind zufrieden. Es passt einfach.

Bis zum 6. Juni 2011. Es ist ein Montag, es regnet, deshalb gibt es kaum Arbeit im Eissalon. Die Sitzecken bleiben leer, und mein Personal sieht sich auf dem kleinen Fernseher hinter der Theke eine Kochsendung an. Ich halte es nicht für notwendig, in meinem Geschäft zu bleiben, meine Serviererinnen werden sich um die wenigen Kunden, die heute noch kommen werden, alleine kümmern können. Ich bin froh über die unverhoffte Freizeit. Ich liebe diese Stunden, die ich ganz für mich haben kann. Sie sind ohnehin so selten.

Ich verlasse mein Lokal durch den Hinterausgang und begegne einem Handwerker. Er trägt einen blauen Overall und Werkzeugkisten in beiden Händen. Ich kenne ihn nicht. Er wirkt steif, irgendwie geschockt, sein Mund ist offen. Ich grüße ihn. Er antwortet nicht. Komisch, denke ich, vergesse ihn aber gleich wieder. Ich will meinen freien Nachmittag genießen.

Ich gehe schnell heim, meine Wohnung ist nur 300 Meter von meinem Eissalon entfernt. Ich sperre die Türe auf. Wunderbar, diese Ruhe dort. Ich lege mich aufs Sofa, lese ein paar Seiten in dem Liebesroman, den ich vor ein paar Tagen gekauft habe, nicke ein. Ich wache wieder auf, schaue auf meine Armbanduhr. Es ist schon 16 Uhr. Jetzt rasch unter die Dusche. Ich schminke mich ein wenig, ziehe ein hübsches Kleid an und beginne zu kochen. Putengeschnetzeltes mit Champignons in Rahmsauce und Reis dazu. Ich freue mich auf Roland, ich will ihn mit einem gemütlichen Abend zu zweit überraschen.

Um 18 Uhr kommt er nachhause. Vor deinem Nachbargeschäft, beim Friseur Erkan, ist der Wahnsinn los, sagt er. Die Polizei hat alles abgeriegelt. Vielleicht wurde eingebrochen.

Es ist der Moment, in dem ich spüre, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Nein, ich will davon nichts wissen. Ich gehe nicht auf die Straße, um mich zu erkundigen, was geschehen ist. Ich rufe niemanden an. Ich verdränge meine schlimmen Gedanken, meine Panik. Darin bin ich gut.

Der Abend ist genau so, wie ich ihn geplant hatte. Roland und ich essen, wir reden dabei über die Hochzeit und unser Kind. Über unsere Zukunft, die wundervoll sein wird. Noch vor der Geburt des Babys wollen wir in ein Reihenhaus am Stadtrand ziehen. Unser Sohn soll im Grünen aufwachsen, nichts darf ihm jemals fehlen. Später haben Roland und ich Sex, innigen, zärtlichen Sex. Erst seit vergangenem Dezember sind wir ein Paar. Er ist so anders als die Männer, die ich vor ihm hatte. So anders als Holger und Manfred.

Roland gibt mir die Geborgenheit, nach der ich lange gesucht habe. Er hat mir beigebracht, was Liebe wirklich bedeutet. Warum sind wir nicht schon früher zusammengekommen? So viele grauenhafte Dinge wären dann nicht geschehen. Ich schlafe an ihn geschmiegt und mit einer Hand auf meinem Bauch, auf unserem Kleinen, ein. Unser Glück ist perfekt. Es muss perfekt bleiben.

Der Wecker läutet früh am Morgen. Roland arbeitet in einer Lebensmittelfirma. Ich stehe mit ihm auf. Er soll kräftig frühstücken. Beim Abschied küssen wir uns minutenlang. Bis heute Abend, mi amor.

Ich mache mich für die Arbeit zurecht, ziehe ein gelbes Rundhals-T-Shirt, einen kurzen Sommerrock und Stöckelschuhe an. Um neun Uhr gehe ich zum Eissalon. An der Kreuzung steht ein grauer Kombi, seine Scheiben sind verdunkelt, zwei Männer sitzen darin. Der Wagen sieht nach Polizeiauto aus. Mir wird kalt. Ich bin knapp davor, umzukippen.

Ich schleppe mich in mein Lokal, sehe im Hauseingang daneben zwei Uniformierte stehen, links und rechts vor der Kellertüre. Bitte, Gott, es kann nicht sein, lass es nicht zu. Nicht jetzt. Ich bekomme doch ein Baby!

3

Du musst dich zusammennehmen, sage ich mir, du darfst dir nichts anmerken lassen. Der Friseur Erkan sitzt an einem Tisch im Eissalon und trinkt eine Tasse Kaffee. Er hat sein Geschäft erst vor Kurzem eröffnet. Wie geht es dir, Esti? Ganz gut, und dir? Bei mir ist der totale Stress ausgebrochen. Ich habe einen Wasserrohrbruch, und nun werden im ganzen Keller die Rohre aufgestemmt.

Ich höre seine Worte und zugleich auch nicht. Wie ein Roboter beginne ich, die Eisbestände zu prüfen. Ich erstelle die Listen für mein Personal, welche Sorten sie zubereiten sollten und bereite die Lieferungen für unsere Großkunden vor.

Noch ein Nachbar, Niko, ich mag ihn sehr, kommt ins Geschäft, er zieht mich zur Seite und flüstert mir ins Ohr. Weißt du, was los ist? Nein. Sie haben unten einen toten Mann gefunden, und alle glauben, es ist Manfred.

Ich will raus aus diesem Alptraum. So oft ist der Augenblick, in dem alles auffliegt, schon vor mir abgelaufen. Jetzt ist er wirklich da, jetzt ist alles aus. Oder doch nicht? Vielleicht wache ich noch auf. Jetzt geht nicht. Gott, lass mich erst mein Kind großziehen, und dann kannst du mich ins Gefängnis stecken.

Meine Serviererin Anna schüttelt mich an der Schulter. Esti, was ist mit dir los? Ich muss dir etwas sagen, ich darf es dir nicht sagen, aber ich kann nicht anders. Es ist etwas Fürchterliches passiert, und die Leute behaupten, du warst es. Was ist los? Was soll ich getan haben? Im Keller liegt ein zerstückelter Mann. Es soll Manfred sein, es heißt, du hast ihn getötet.

Es fällt mir schwer, auch nur noch einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Ich weiß nur: Es dauert nicht mehr lange, und sie werden auch Holger finden.

Mein Überlebensinstinkt treibt mich aus dem Geschäft. Das Haus ist bereits von Polizisten belagert. Mehrere Funkstreifenwagen stehen davor. Die Beamten laufen hektisch auf und ab. Ich höre laute Stimmen aus dem Polizeifunk. Ein Mann in Zivil fordert über sein Handy noch mehr Einsatzkräfte an.

Ich muss fliehen. Aber wohin? Und was ist mit Roland? Ich kann nicht mehr ohne ihn sein, doch ich darf nicht mein Drama zu seinem machen.

Esti, atme durch, versuche, vernünftig zu handeln. Es gelingt mir, mich ein wenig zu sammeln und wieder klare Gedanken zu fassen. Esti, du wirst auf deiner Flucht Geld brauchen, viel Geld.

Ich gehe zu meiner Bank, gleich ums Eck. Ich stelle mich am Ende einer langen Menschenschlange an. Wertvolle Zeit verstreicht. Bitte, lieber Gott, schneller. Endlich bin ich an der Reihe. Ich ersuche einen Angestellten, mich in den Raum mit meinem Schließfach zu bringen. Ich habe das Gefühl, dass der Kundenbetreuer meine Anspannung bemerkt. Mein Familienschmuck liegt in dem Safe, ich hole ihn heraus, packe ihn in meine Handtasche. Nein, bitte nicht. Ich merke, dass ich mein Geld und mein Sparbuch im Eissalon vergessen habe. Ich bin so eine Idiotin. Was soll ich nur tun?

4

Ich rufe meine Putzfrau an, Daniela. Sie ist so alt wie ich, eine gebürtige Serbin. Ich schätze sie sehr, weil sie klug, ehrlich und eine hervorragende Mutter ist. Seit sechs Jahren arbeitet sie für mich als Reinigungskraft und Küchenhilfe, noch nie hat sie mich enttäuscht. Jetzt ist sie bei mir daheim, räumt auf und bügelt. Alles unnötig geworden. Ich werde nie wieder in meiner Wohnung sein. Mein wunderschönes Leben, das gerade erst begonnen hat, ist vorbei. Ich weiß, die Hölle kommt auf mich zu. Ich will die Menschen, die ich liebe, davor bewahren, mit mir unterzugehen, mein Baby, Roland, meine Eltern, meinen Bruder. Denn sie tragen keine Schuld an meinen Verbrechen.

Ich habe Daniela am Handy. Sie versteht kaum Deutsch, aber es gelingt mir, ihr zu erklären, dass ich sie auf der Philadelphia-Brücke treffen will. Sie fragt mich, wo ich dort genau wäre. Ich stehe ungefähr in der Mitte der Brücke. Junkies und Bettler sitzen am Gehweg neben mir, überall sind Menschen, die hektisch ihrer Wege gehen. Hoffentlich findet mich Daniela in dem Trubel.

Ja, da, ich sehe sie kommen. Ich laufe ihr entgegen. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Daniela, ich brauche dringend meine schwarze Geldtasche und mein Sparbuch aus dem Safe im Geschäft. Ich drücke ihr die Schlüssel dazu in die Hände. Sie geht sofort los. Ich warte, warte, warte. Ich werde nervöser und nervöser. Alles dauert so lange.

Ja, klar: Sicherlich wird Daniela bereits verhört und kommt mit Beamten in Zivil zurück. Ich rufe sie nochmal an, obwohl ich weiß, dass ich mich damit gefährde. Sie hebt ab. Ich stehe schon auf der Brücke, behauptet sie. Ich sehe sie nicht. Doch, sie ist wirklich hier. Sie überreicht mir das Geld und mein Sparbuch. Danke. Ich gebe ihr fünfzig Euro für ihre Arbeit, umarme und küsse sie. Wir weinen beide. Sie stellt mir keine Fragen. Wir haben einander immer ohne Worte verstanden.

Daniela hatte immer ein schlechtes Verhältnis zu Holger und Manfred. Nie sprachen die beiden ihren Namen aus. Sie sagten nur: Dragica, putzen, Dragica. Sie schrien Daniela oft an und machten ihre Arbeit schlecht. Sie zeigten ihr Stellen, die angeblich schmutzig, aber in Wahrheit sauber waren. Daniela war auch manchmal dabei, wenn mich Holger und später Manfred aus nichtigen Anlässen anbrüllten.

Ich fragte mich oft, warum wir zwei uns diese Schikanen gefallen ließen. Der Grund dafür war, dass Daniela und ich die absurde Überzeugung verinnerlicht hatten, Männern dienen zu müssen. Egal wie sie sich uns gegenüber verhielten. Danielas Leben war ja auch tragisch, nie durfte sie müde oder krank sein, und nach ihrem schweren Job musste sie ihren Gatten und die Schwiegereltern bedienen, die sie wie eine Sklavin behandelten. Irre. Aber dieser Irrsinn verband uns. Eine lange Zeit hindurch.

Der Drang, mich zu unterwerfen, entwickelte sich schon sehr früh in mir. Obwohl es dafür keinen wirklichen Grund gab. Denn meine Kindheit war zwar schwierig, aber nicht schlecht. Ich hatte immer genug zu essen, einen sauberen Schlafplatz und eine Familie, die mich liebte und dafür sorgte, dass ich eine gute Ausbildung bekam. Trotz der vielen Probleme, die wir hatten. Zuerst in Mexiko und später in Spanien.

In unserer neuen Heimat galten wir als Zuwanderer und damit als minderwertig. Obwohl mein Vater Psychologie studiert und meine Mutter eine Dolmetscherausbildung hatte. Besonders die ersten Jahre in Barcelona sind für uns hart ge wesen. Vielleicht entwickelte sich mein Vater deshalb immer mehr zu einem Menschen, der kaum Widerspruch duldete. Er gab die Regeln daheim vor. Brav sein, fleißig sein. Bloß nicht auffallen. Gesetze, die für meinen Bruder und mich mitunter nicht einhaltbar gewesen sind. Aber, und das kapierte ich rasch, es war notwendig, dass es sie gab und wir sie befolgten. Denn sonst wären wir daheim im Chaos versunken.

Lange wohnten wir in einem Fünfzig-Quadratmeter-Appartement. Zu sechst. Mein Vater, meine Mutter, ihre Schwester, meine Oma und wir beiden Kinder. Mein Vater war der Hauptverdiener, doch um uns über Wasser zu halten, musste auch meine Mutter arbeiten. Sie tippte für Studenten Manuskripte ab und war mit dieser Zusatzanforderung natürlich ziemlich überfordert. Weil sie ja auch noch so viele andere Aufgaben zu bewältigen hatte. Meinen Bruder und mich zu versorgen, ihre Mutter, die körperlich laufend schwächer wurde, und meine angeblich schizophrene Tante.

Mein Bruder und ich glaubten nie an ihre Krankheit. Lange hatte sie ein ganz normales Leben geführt, damals in Mexiko. Sie war einmal eine angesehene Sportlehrerin gewesen, bildhübsch, lustig und hochintelligent. Bis ihr Vater starb. Sie verkraftete seinen Tod nicht, ging danach nicht mehr außer Haus, wusch sich nicht mehr, hörte auf zu sprechen und wurde zum Pflegefall.

Je älter ich wurde, desto mehr begriff ich, dass meine Eltern unter einem enormen Druck standen, dass an jedem Morgen ein neuer Kampf für sie begann und sie daher kaum Zeit für lange Gespräche mit mir haben konnten. Ich gewöhnte mich daran, über meine Probleme kaum, oder eigentlich gar nicht, zu sprechen. Das war ein Fehler.

5

Ich hätte mit meiner Familie reden müssen, viel mehr reden. Ich hätte ihnen sagen sollen, dass ich wegen der fürchterlichen Dinge, die in Mexiko geschehen waren, an Alpträumen litt. Die Geschichte mit den Puppen war ja nicht das einzige Drama, das ich dort erlebt hatte.

Drei Mal versuchten Banditen, mich auf offener Straße zu entführen. Weiße Mädchen galten in meiner alten Heimat als wertvoll, sie ließen sich für hohe Summen an illegale Adoptionsagenturen verkaufen. Aber mein Vater schaffte es immer, die Kriminellen zu vertreiben, bevor sie mich in ein Auto zerren und verschleppen konnten. Und dann geschah auch noch diese Sache in dem Bus. Meine Mutter und ich saßen darin, nebeneinander, auf einer Bank. Plötzlich gab es einen unvorhergesehenen Stopp. Vermummte mit Waffen stürmten den Passagierraum, und sie drohten damit, die Fahrgäste zu erschießen, wenn sie ihnen nicht ihr Geld aushändigen würden.

Ich habe mich bei allen diesen Überfällen geduckt und geweint. Still geweint. Ein Verhaltensmuster, das in mir blieb. Immer wenn jemand auf mich losging, wurde ich unfähig, Widerstand zu leisten. Spürten die anderen Menschen meine Hilflosigkeit? Stand schon von klein an „mach mich fertig“ auf meiner Stirn geschrieben? Warum wäre ich wohl sonst zu einem einfachen Opfer für Vergewaltiger geworden?

Das erste Mal geschah es, als ich 16 war. Ich lernte einen jungen Mann in einer Disco kennen, er schien mir vertrauenswürdig, und als er mich auf einen Drink in seine Wohnung bat, ahnte ich nichts Böses. Bei ihm daheim fiel er über mich her.

Ich hatte daraus nichts gelernt. Ein paar Monate später passierte mir das Gleiche nochmal, wieder mit einer Bekanntschaft