Charles Dickens



Die Silvesterglocken

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-945667-70-5


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Das vierte Viertel



Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte, eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte, ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte, alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley, eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

"Was ist es für eine Nacht, Anna?" fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. "Ich sitze da, wenn es schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenn es gut ist."

"Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee," entgegnete seine Frau. "Dunkel. Und sehr kalt."

"Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten," sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. 's ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck."

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

"Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby," bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

"Nein," versetzte Tugby, "nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!"

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

"O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!" schrie Frau Tugby entsetzt. "Was er nur treibt!"

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

"Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben," versetzte Frau Tugby, "wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!"

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

"So stürmt es also und graupelt es und droht es mit Schnee; ist es dunkel und sehr kalt, meine Liebe!" sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

"Bei Gott, ein raues Wetter," erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

"Ja, ja!" sagte Herr Tugby. "Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!"

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

"Nun, was soll es?" fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. "O! ich bitt' um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären."

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

"Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby," sagte der Gentleman. "Der Mann kann nicht leben."

"Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?" rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

"Der Dachstübler, Herr Tugby," entgegnete der Gentleman, "wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen."

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

"Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby," sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, "ist im Begriff abzufahren."

"Dann", sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, "muß er abfahren, bevor er abgefahren ist."

"Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt," sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. "Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kann es nicht mehr lange treiben."

"Es ist der einzige Gegenstand," sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, "über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben, sie und ich und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier, stirbt auf unserm Grund und Boden, stirbt in unserm Haus!"

"Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?" rief seine Frau.

"Im Armenhaus," entgegnete er. "Wozu hat man denn Armenhäuser?"

"Dazu nicht," erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. "Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby, ich will es nicht haben. Ich leide es einmal nicht, lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand und er hat viele, viele Jahre da gestanden, war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling, ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat, ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!"

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: "Gott segne sie! Gott segne sie!"

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei, sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel, ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

"Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?"

"Ach," versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, "das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen, das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten, ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate."

"O! ist er auf Abwege geraten?" sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

"Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt, vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde, so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mir es leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft, lauter Vergnügungen, die, nach dem Ausspruch des Gentleman, so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit, kurz alles!"

"Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby," erwiderte der Gentleman, "denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging."

"Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb er es Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: 'Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.' So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an."

"Ah!" entgegnete der Gentleman. "Und was weiter?" "Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder, sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten."

"Und sie? Laßt es Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby."

"Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. 'Was er mir einmal gewesen ist', sagte sie, 'ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen, in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.' Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen."

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

"Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?"

"Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat," versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. "Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen."

"Aber ich weiß es," murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: "Wie Kampfhähne!"

Er wurde jetzt durch einen Schrei, einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

"Mein Freund," sagte er zurückblickend, "Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart."