Einleitung: Die Arzt-Patient-Beziehung aus soziologischer Sicht

Jutta Begenau, Cornelius Schubert und Werner Vogd

Die Arzt-Patient-Beziehung1 ist von zentraler Bedeutung für den Behandlungserfolg und wird von ärztlicher Seite als ein hohes Gut in der Begegnung von Arzt und Patient hervorgehoben. Medizinsoziologischer Konsens besteht darin, dass die Arzt-Patient-Beziehung eine spezifische soziale Entität ist, die immer unter bestimmten kulturellen, ökonomischen, politischen und juristischen Rahmenbedingungen existiert. Ihre Besonderheit besteht beispielsweise darin, dass sich Arzt und Patient, anders als in einer Freundschaftsbeziehung, fast nie gegenseitig frei wählen können. Sie treffen in institutionell-organisatorisch geregelten Strukturen aufeinander, wobei der Arzt in der Regel noch weniger Wahlmöglichkeiten hat als der Patient. Eine weitere Besonderheit dieser Beziehung besteht darin, dass sie prinzipiell asymmetrisch ist und durch Perspektivendivergenz gekennzeichnet ist. Diese Besonderheiten weisen zugleich darauf hin, dass mit der Arzt-Patient-Beziehung immer auch Schwierigkeiten und Probleme verbunden sind.

So sind die Erwartungen von Ärzten und Patienten darüber, was beispielsweise eine »gute« Arzt-Patienten-Beziehung ausmacht, nicht zwingend deckungsgleich. Untersuchungen zeigen, dass 80 % der Krankenhauspatienten vollständig aufgeklärt werden wollen. Ärzte hingegen unterschätzen das Informationsbedürfnis ihrer Patienten systematisch oder haben einfach nicht genügend Zeit für ein ausführliches Aufklärungsgespräch. Dies kann dazu führen, dass sich Patienten zu wenig beachtet, ungenügend aufgeklärt oder mit Fachbegriffen zugeschüttet fühlen. Wie ein Bumerang entsteht dann ärztliche Unzufriedenheit mit Patienten, wenn diese sich auf Grund unzureichender Aufklärung nicht an die ärztlichen Ratschläge und Therapiepläne halten. Terminal erkrankte Patienten wiederum, die oftmals keine vollständige Aufklärung wünschen, lassen sich nicht selten auf ein Spiel der wechselseitigen Täuschungen und diffuser Informationen ein. In diesem Fall dürfen Patienten von ihrem Arzt erwarten, nicht aufgeklärt zu werden.

Überlange Gespräche erwarten hingegen weder Ärzte noch Patienten. Aber Letztere wünschen sich, dass Ärzte ihnen auch bei knappem Zeitbudget je nach medizinischer Fragestellung ausreichende Aufmerksamkeit schenken. Viele Ärzte leiden ihrerseits unter der beschleunigten »Drei-Minuten-Medizin« und der hohe Verwaltungsaufwand verknappt ihre Zeit zusätzlich. Beides führt dazu, dass Ärzte immer weniger Zeit haben, ihren Patienten das für den Behandlungsprozess relevante Wissen unter Nennung therapeutischer und diagnostischer Alternativen in verständlicher Form zu erläutern. Auch dies kann zu einer beiderseitigen Unzufriedenheit führen.

In ähnlicher Weise sind die Erwartungen von Patienten und Ärzten in Bezug auf die Entscheidungsfindung erstaunlich deckungsgleich. Viele Patienten geben gerne die Entscheidung über Art und Verlauf von Therapien ab, was Ärzten zunächst nur recht ist. Diese gemeinsam gewollte Asymmetrie kann aber zu ungewollten Effekten führen. Denn Verantwortungsabgabe kann trotz ausführlicher ärztlicher Instruktion dazu führen, dass Patienten später den ärztlichen Anweisungen nicht Folge leisten. Eine Einbeziehung in die therapeutische Entscheidung ist vor allem bei Patienten mit komplizierten Therapieplänen unabdingbar, zumal dann, wenn langfristige Verhaltensänderungen notwendig werden – beispielsweise bei Diabetes oder Suchtverhalten.

Die beschriebenen Realitäten zeigen, wie unterschiedlich und teilweise widersprüchlich die Erwartungen an die Beziehung von Ärzten und Patienten sein können und wie trotz gemeinsamer Erwartungen auch ungewollte Effekte auftreten können. Ein einfaches Rezept für eine »gute Beziehung« ist daher kaum möglich. Es gibt vielschichtige Spannungen, die einerseits aus der fundamentalen Asymmetrie zwischen Arzt und Patient, zwischen Experte und Laie, Helfer und Hilfsbedürftigem sowie aus der Perspektivendivergenz zwischen den beiden resultieren. Die Perspektivendivergenz besteht schon in der simplen Tatsache, dass das, was für den Arzt Alltag ist, für Patienten meist eine deutliche Unterbrechung ihrer alltäglichen Routine bedeutet. Spannungen entstehen anderseits durch die Einbettung der Arzt-Patient-Beziehung in gesellschaftliche Kontexte. Nicht nur die kulturellen Vorstellungen darüber, was gute Ärzte zu tun haben und wie sich Patienten verhalten sollten, auch die Abrechungsmodalitäten und Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und ambulanten Praxen fügen neue Spannungsfelder hinzu.

Der Komplexität der Beziehung zwischen Ärzten und Patienten soll in diesem Buch Rechnung getragen werden. Ziel ist es, die grundlegenden Spannungen sowohl im Alltag als auch in kritischen Situationen in ihrem Zusammenhang von biografischen Einflüssen, organisationalen Faktoren und gesellschaftlichen Kontexten sichtbar zu machen. Dazu wird an unterschiedlichen Beispielen ärztlicher Praxis der tägliche Umgang von Ärzten und Patienten miteinander rekonstruiert. Routinemäßige ärztliche Strategien werden dabei genauso berücksichtigt, wie die Perspektiven von Patienten. Der soziologische Blick »hinter die Kulissen« offenbart dann die Vielschichtigkeit jedes einzelnen Falls und die Ursachen, warum manche Beziehungen einfacher sind als andere und unter welchen Umständen sowohl Arzt als auch Patient von einer »guten« Beziehung sprechen. Dazu werden sowohl die Ebene der Interaktion, auf der Arzt und Patient als Personen aufeinandertreffen, als auch die Ebene der Organisation, auf der sie sich als Angestellte eines Krankenhauses oder Beitragszahler einer Krankenkasse begegnen und nicht zuletzt auch die Ebene der rechtlichen und kulturellen Institutionen, auf der die gesellschaftlichen Vorstellungen über beiderseitige Rechte und Pflichte in Übereinstimmung gebracht werden, mit in den Blick genommen.

Aufgrund der Vielschichtigkeit der Thematik werden in den folgenden Abschnitten einige zentrale Facetten der Arzt-Patient-Beziehung aus soziologischer Perspektive angerissen. Das Ziel ist hierbei nicht, ein geschlossenes Modell der Arzt-Patient-Beziehung vorzulegen, sondern wichtige Punkte der bisherigen Diskussion zu markieren, weitere Diskussionsfelder zu erschließen und in Auseinandersetzung mit der ärztlichen Praxis zu einem verbesserten Verständnis der Beziehung zwischen Arzt und Patient zu gelangen. Die Überlegungen beginnen mit einem Exkurs zur Geschichte der Arzt-Patient-Beziehung und ihrer gesellschaftlichen Einbettung. Dabei steht die stationäre Behandlung als zentrale Institution des Gesundheitswesens im Vordergrund. Anschließend werden zentrale Linien der medizinsoziologischen Diskussion nachgezeichnet. Die spezifische soziale Realität der Begegnung von Arzt und Patient wird mit Hilfe der Begriffe der »sozialen Beziehung« und des »sozialen Handelns« näher diskutiert und in Anlehnung an bestehende soziologische Konzepte zur Arzt-Patient-Beziehung thematisiert. Eine knappe Diskussion zur Anthropologie der Arzt-Patient-Begegnung ermöglicht im Anschluss einen Blick über den soziologischen Tellerrand hinaus. Die Ausführungen in diesem Teil des Buches enden mit Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln und einem Ausblick auf die kapitelübergreifenden Fragestellungen und Problembereiche der Beiträge.

1 Die Arzt-Patient-Beziehung im historischen Kontext

In der sogenannten »vormodernen« Zeit sah die Beziehung zwischen Arzt und Patient gar nicht vor, sich als Arzt auf den Einzelfall einzulassen. Die Vorstellung der Caritas als christlich religiösen Mitgefühls beispielsweise, war so abstrakt gehalten, dass der Patient als Mensch im universalen Sinne zu pflegen und versorgen sei – neben den physischen Dingen auch durch die Heilsbotschaft Gottes. Mittels dieser Abstraktionslage konnten seine sonstigen Gefühle, Bedürfnisse und Ansprüche systematisch ausgeblendet werden (vgl. Klitzing-Naujoks und Klitzing 1992). Eigenschaften, die heute allgemein als wichtige Kriterien einer guten Arzt-Patient-Beziehung gelten, etwa ein enges persönliches Vertrauensverhältnis oder der Respekt des Arztes vor den Gefühlen und Bedürfnissen des einzelnen Patienten, entfalten sich erst mit der in der Moderne entstehenden Individualisierung der Patienten und der Professionalisierung der Ärzte. Der Wechsel von Vormoderne zu Moderne kann in diesem Zusammenhang grob mit der Entstehung des staatlichen Gesundheitswesens zu Beginn den 19. Jahrhunderts verbunden werden (Schweickardt 2006). Der darin organisierte Aufstieg der Ärzte und die gezielte Verdrängung anderer Heilberufe waren Aspekte der Herausbildung der ärztlichen Profession, durch die »die Erkenntnisse der Medizin über Krankheit und ihre Behandlung als unbedingt maßgeblich und letztgültig angesehen werden« (Freidson 1979, S. 7). Als Profession erhebt die Ärzteschaft den alleinigen Kontrollanspruch über den gesellschaftlich relevanten Bereich der Heilung von Krankheiten und weist damit die Einflussnahme anderer gesellschaftlicher Akteure, etwa der Politik oder der Krankenkassen zurück. Die Beziehung zum Patienten wird in dieser Interessenlage zu einem weiteren Aspekt der ärztlichen Profession.

Die Entwicklung der Arzt-Patient-Beziehung in den letzten zweihundert Jahren ist folglich ein spannungsgeladener Prozess, in dem sich die Zuständigkeiten der Ärzte, des Staates, der Krankenkassen und die Vorstellungen über die Bedürfnisse von Patienten wechselseitig beeinflussen. Der individualisierte Patient ist beispielsweise eng mit dem Entstehen einer bürgerlichen Gesellschaft verbunden (vgl. Elias 1997), in der der einzelne Mensch – siehe nur das sich entwickelnde Paradigma der Psychoanalyse und Psychotherapie – nun Verständnis für und die Möglichkeiten zur Entfaltung seiner individuellen Bedürfnisse einfordern kann. Im Gegensatz zu dieser individualisierten Vorstellung, folgten vormoderne traditionale Medizinsysteme einem magischen Weltbild, indem durch die unmittelbare Manipulation von Symbolen, wie etwa die Beschwichtigung von bösen Geistern oder die Gabe heilender Essenzen, die Krankheit aus dem Körper vertrieben werden sollte, ohne dass der Patient als Individuum in Erscheinung treten musste. Auch wenn der alten Medizin heutzutage gerne Ganzheitlichkeit unterstellt wird, so zeigt sich beim genaueren Hinsehen, dass Bewusstsein und Bedürfnisse der Klienten in Diagnose und Therapie kaum eine Rolle spielten. So kann beispielsweise auch heute noch in der Homöopathie unmittelbar von den Befindlichkeitsäußerungen (den Symptomen) auf das Krankheitsbild (die Krankheit) und dem daraus folgenden Antidot (die Therapie) geschlossen werden (Similia similibus curentur), ohne dass dabei die individuelle Situation des Patienten eine Rolle spielt.

Erst mit der modernen Medizin kommt in Diagnose und Therapie der Arzt als subjektiver Interpret von Symptomen, Ursachen und Wirkungen mit ins Spiel: Der moderne Arzt kann nicht mehr unmittelbar vom Krankheitszeichen zur Diagnose und Therapie gelangen, sondern hat zu interpretieren, zu studieren und sich im experimentellen Verhältnis von Diagnose und Therapie ein Modell aus Pathogenese und der hieraus abzuleitenden Behandlung zu erzeugen. Das gleiche Symptom – dies lehrt dann die hohe Kunst der Differenzialdiagnose – kann nun Verschiedenes bedeuten. Die Befindlichkeitsäußerungen der Patienten erscheinen nun sowohl als unabdingbarer Verweis auf Krankheit, aber ebenso als Quelle von Unsicherheit, da die Interpretation der Symptome nicht mehr einfach auf der Hand zu liegen scheint, sondern eine eingehende Untersuchung des Körpers verlangt.

In dem Maße, in dem sich das Verständnis des Arztes transformiert, wandelt sich, wie schon angedeutet, auch das Verhältnis zu Patienten. Der universitär ausgebildete Arzt der Vormoderne war vermehrt in der privatärztlichen Konsultation wohlhabender Patienten, etwa an königlichen Höfen, tätig. Längere Gespräche, die sogenannten »Krankenexamen«, waren die Hauptinstrumente der hausärztlichen Diagnose. Die schrittweise rechtliche und organisatorische Institutionalisierung von Kliniken zur Versorgung breiterer Schichten der Bevölkerung im 19. Jahrhundert stand im Konflikt mit der bisherigen Praxis der privatärztlichen Konsultation und auch die neuen Untersuchungsmethoden waren Gegenstand heftiger innermedizinischen Kritik. So empörten sich namhafte Ärzte über die ihrer Meinung nach diagnostische Nutzlosigkeit stethoskopischer Untersuchungen sowie über die Zerstörung der Arzt-Patient-Beziehung und den Verlust der hohen Kunst der Gesprächsführung durch technisch vermittelte Diagnoseverfahren (Lachmund 1997).

Es ist insbesondere das Verdienst von Michel Foucault (1977, 1988), auf die Veränderungen in der Arzt-Patient-Beziehung durch die Institutionalisierung der Krankenhausmedizin und die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft hinzuweisen. Im Krankenhaus standen Ärzte nicht mehr unter der Beobachtung von Angehörigen, wie beim hausärztlichen Besuch, sondern unter der Kontrolle ihrer Kollegen. Mit dem Stethoskop und der Leichenöffnung wurden direkte »objektive« Zugänge zum Körper des Patienten geschaffen, sodass die Ärzte nicht mehr auf die Symptomschilderung der Patienten angewiesen waren. Hier keimt die grundlegende Asymmetrie der Arzt-Patient-Beziehung im Sinne der Unterscheidung von Experte und Laie (vgl. Stollberg 2001, S. 55 ff.; Saake 2003). Schließlich werden die Patienten mit der Einrichtung von Krankenhäusern, die Foucault in dieser Hinsicht mit Schulen und Gefängnissen vergleicht, diszipliniert und dem ärztlichem Blick verfügbar gemacht. Die disziplinierende Wirkung des Krankenhauses im Gegensatz zur privatärztlichen Praxis ist heute noch als struktureller Unterschied zwischen stationärer und ambulanter Behandlung in der Arzt-Patient-Beziehung sichtbar. Die Verbreitung der Krankenhausbehandlung und die zunehmende Festanstellung von Ärzten in Krankenhäusern gegen Ende des 19. Jahrhunderts machte letztendlich die moderne Medizin mit ihren therapeutischen und diagnostischen Fortschritten möglich.2 In der Beziehung von Arzt und Patient festigte sich so die – durchaus erfolgreiche – Asymmetrie zwischen dem wissenden Arzt und dem unwissendem Patienten. Speziell der Krankenhauspatient als Gegenüber des Krankenhausarztes war zwar individualisiert jedoch gleichzeitig durch Anonymität und Disziplin objektiviert und mehr oder weniger auf seine biologischen Körperfunktionen reduziert.

Dieser Wandel war aber kein medizininterner Umwälzungsprozess, der als losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet werden kann (vgl. Schubert und Vogd 2009) und auch Foucault beschäftigt sich nicht umsonst mit Gefängnissen und Krankenhäusern, um die Herausbildung der modernen Gesellschaft zu untersuchen. Andere gesellschaftliche Bezugssysteme, wie etwa Politik und Wirtschaft, sind mit der Entwicklung der modernen Medizin eng verbunden. Ein Blick auf die Geschichte Preußens zeigt beispielsweise, dass die Einführung des modernen Gesundheitssystems und seiner Krankenhäuser in engem Zusammenhang zu sehen sind mit dem königlichen Wunsch nach überlegenen und starken Staatsbürgern und Soldaten. Medizin als Sozialmedizin war hier vor allem Staatswissenschaft, die dann folgerichtig aus der Lehre der inneren Politik und Ökonomie (die im 18. und 19. Jahrhundert Polizeywissenschaft genannt wurde) entstand. Ihre wesentliche Leistung war es, die allgemeine Hygiene durchzusetzen und im Zuge dessen mit den Krankenhäusern eine medizinische Versorgung zu institutionalisieren, in der zunächst noch nicht Diagnose und Therapie, sehr wohl aber die Isolation, also die Aussonderung der Kranken und deren Pflege, gewährleistet werden konnten.

Treibend für die Entwicklung des Gesundheitssystems war unter anderem auch – um es in modernen Begriffen auszudrücken – der Erhalt und Schutz der menschlichen Produktivkraft. In dieser utilitaristischen Figur hat das einzelne Individuum hinter dem Volkskörper zurückzutreten. Dieses Motiv wurde in Deutschland erst nach seiner schrecklichen rassenhygienischen Entgleisung des Nationalsozialismus (Schleiermacher und Schagen 2008, S. 15) fraglich. Mit Blick auf die mit dem Blutabnehmen verbundene Körperverletzung, dem Durchbrechen von Schamgrenzen in der ärztlichen Untersuchung, den Schmerzen eines operativen Eingriffs, den belastenden Nebenwirkungen vieler Therapeutika, dem Eindringen in die Körperöffnungen mit Endoskopen und dem Freiheitsentzug einer stationären Behandlung, die dann ggf. sogar gegen den Willen des Patienten geschieht (man denke etwa an die psychiatrische Zwangseinweisung), wird deutlich, dass die Begegnung von Arzt und Patient immer auch mit Gewalt verbunden sein kann. Bis hinein in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war der Patient in der Regel nicht einmal zu fragen, ob er mit einer Therapie oder einem medizinischen Versuch einverstanden sei. In der Nachkriegszeit wandelte sich dieses Verständnis und die Einwilligung des Patienten zu der Therapie, der sogenannten Informed Consent, wurde zum Maßstab einer gelungenen Arzt-Patient-Beziehung (vgl. Vollmann und Winau 1996).

Folgt man Klemperer (2003), so wird erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts der Diskurs zu den psychischen und sozialen Faktoren wieder neu geführt. Jetzt erst werden die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewonnenen Erkenntnisse vom Zusammenhang zwischen Seele und Soma systematisch untersucht. Und in diesem Zusammenhang erlangen auch patientenorientierte Modelle der Arzt-Patient-Beziehung einen Bedeutungszuwachs. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den jüngeren Diskussionen um die Ausbildung angehender Ärzte wider. Der sogenannte Murrhardter Kreis (der Arbeitskreis zur Medizinerausbildung der Robert-Bosch-Stiftung) entwarf in den 1980er Jahren ein Arztbild der Zukunft, »in welchem die Arzt-Patient-Beziehung als Grundpfeiler der Medizin gesehen wird« (Habeck 1993, S. 41) und »in welcher die traditionelle Asymmetrie der Arzt-Patient-Beziehung durch Partnerschaft gebrochen werden soll« (Murrhardter Kreis 1995, S. 96). Die hier versammelten Ärzte fordern, um den vielfältigen Beziehungsanforderungen gerecht zu werden, die Vermittlung kommunikativer Kompetenzen im Medizinstudium. Sie fordern aus historischer Einsicht, dass das Studium zu aufgeschlossenen und konfliktfähigen Ärzten führt, die ihre Grenzen kennen und wissen, dass sie ihren immer selektiven Blick erweitern können (und müssen); etwa durch die Übernahme der Perspektive des Patienten.

Im Widerspruch zu diesen Zielen scheint die Tatsache zu stehen, dass auch in dem heutigen Medizinstudium die Patientenperspektive kaum von Bedeutung ist und die Asymmetrie, hier der objektivierende Arzt, dort der passiv erduldende Patient, eine erlernte Praxis ist, welche sich in die Studierenden sukzessive einschreibt, bis sie schließlich zu ihrem ärztlichen Habitus gehört. Diese Entwicklung setzt schon zu Beginn des Medizinstudiums ein (vgl. Becker et al. 1961). Sie beginnt im Seziersaal. Hier lernen die Studierenden mit Scham, Ekel, Distanz und Aggression umzugehen. Erstmals hier entwickeln sie eine Haltung, auf die sich später aufbauen lässt, um eigene (und dann die der anderen) Schmerzen und Leiden auszublenden und sich so frei zu machen für den Kampf gegen die Krankheit. Wie Untersuchungen zeigen, reichen sechs Seziersitzungen bis sich die anfänglich starken negativen Affekte in positive gewandelt haben (Braun 2005) bzw. das Sezieren als langweilig empfunden wird.

Die Studienorganisation tut ein Übriges: Wird bis zum Physikum der lebende Mensch (bis auf den Unterricht in der Medizinischen Soziologie und Psychologie) weitgehend ausgeblendet, erzeugen die Lehrveranstaltungen mit ihren Vor- und Nachtestaten und Klausuren einen Druck, der nur zu überstehen ist, wenn es gelingt, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Im zweiten Studienabschnitt, zu dem der weiße Kittel und die Famulatur gehören, treten die Härten der Hierarchie in der organisierten Medizin zu Tage. Parallel dazu wird der Kittel als »Demarkationslinie« gegenüber den Patienten – oft erleichtert – wahrgenommen. Im Praktischen Jahr bewirken Zeitdruck und alleinige Verantwortung ihr Übriges. Auch sie erschweren es den angehenden Ärzten, sich über die medizinischen Fakten hinaus mit den Patienten zu beschäftigen. Gewohnt, den eigenen Gefühlen wenig Raum zu geben, immer bedacht, die gestellten Anforderungen zu erfüllen, ohne sie in Frage zu stellen, wissend, dass man funktionieren kann auch über die Grenzen des Belastbaren hinaus, wird es so immer selbstverständlicher, die Patienten frei vom Blick auf ihre Person zu betreuen. Nun ist der medizinische Blick zum ärztlichen Habitus geworden und dieser wird sich jeder Arzt-Patient Begegnung vorlagern.

Es zeigt sich also, dass die Anonymität der Patienten in den Krankenhäusern, gekoppelt mit neuen Konzepten zur universitären Ausbildung und Forschung, die Basis für den Erfolg des sogenannten »biomedizinischen« Paradigmas ist. In diesem Sinne ist von großem Vorteil, die Patienten gerade nicht als Subjekte wahrzunehmen, gleichsam verlieren diese damit auch die Mitsprache an der medizinischen Behandlung. Dies ist nicht zuletzt auch immer wieder von ärztlicher Seite kritisiert worden. Wie wir oben gezeigt haben, durchleben angehende Mediziner in der Regel genau dieses Wechselspiel im Verlauf der Ausbildung und der ersten Berufsjahre. Zuerst lernen sie zu abstrahieren und die biomedizinische Krankheit im Körper des Patienten zu diagnostizieren und zu therapieren. Später, oft erst in der Praxis, lernen sie, den Patienten wieder als Subjekt mit all seinen Wünschen und Ängsten ernst zu nehmen. Wir wollen im Folgenden die spezifischen Strukturen und Dynamiken der Arzt-Patient-Beziehung etwas genauer analysieren.

2 Die Soziologie der Arzt-Patient-Beziehung

Für die Soziologie stellt sich die Arzt-Patient-Beziehung als eine spezifisch gerahmte, ganz eigene soziale Entität dar. Die begriffliche Fassung in medizinsoziologischen Lehrbüchern ist dagegen nicht einheitlich (vgl. Wilker et al. 1994; Buser et al. 2001; Strauß et al. 2004; Siegrist 2005; Borgetto und Kälble 2007). Thematisiert werden in den genannten Lehrbüchern Fragen der sozialen Rahmung der Arzt-Patient-Beziehung, der elaborierten Sprache, der Asymmetrie oder auch der ärztlichen Macht, die Arztrolle und deren Professionalisierung. Vor allem also Strukturmerkmale, Wirkkräfte und Bestimmungsfaktoren stehen in ihrem Zentrum. Wie eine Expertenbefragung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie ergab, sind dies auch die wesentlichen Lehrziele in der gegenwärtigen humanmedizinischen Ausbildung. Andere Lernzielen, wie etwa die Befähigung zur kritischen Reflexion der in einer »Face-to-face«-Situation ablaufenden Denk- und Verhaltensmechanismen oder auch jene bezüglich der Barrieren ärztlichen Handelns, werden nicht durchgängig verfolgt (siehe Begenau et al. 2008).

Neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der fundamentalen Asymmetrie zwischen Arzt und Patient oder der Differenzen von ambulanter und stationärer Behandlung, bietet ein soziologischer Begriff der Beziehung weitere Erkenntnismöglichkeiten. Im Folgenden wird dazu der Begriff der sozialen Beziehung in der Tradition von Max Weber und Alfred Schütz für eine Betrachtung der Arzt-Patient-Beziehung skizziert und im Anschluss auf die Bedeutung des sozialen Handelns für das Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung hingewiesen.

Weber definiert: eine »soziale ›Beziehung‹ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen« (Weber 1980, S. 13). Schütz und Luckmann beziehen sich darauf und erläutern: »Soziale Beziehungen entstehen im gesellschaftlichen Handeln. Ihr Fortbestand beruht auf der wechselseitigen Erwartung der regelmäßigen […] Wiederkehr wechselseitiger Handlungen – und zwar nicht irgendwelcher, sondern bestimmter: auch hinsichtlich ihrer Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit beziehungsweise einer Abfolge von Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit bestimmter. Die Form der gesellschaftlichen Handlungen, auf welche solche Erwartungen hinblicken, bildet daher den Kern sozialer Beziehungen« (Schütz und Luckmann 2003, S. 583).

Hierin stecken zwei wichtige Punkte für die Betrachtung der Arzt-Patient-Beziehung. So schränkt Weber ein, dass ein »Mindestmaß von Beziehung des beiderseitigen Handelns aufeinander« (Weber 1980, S. 13) ein Begriffsmerkmal sein soll und bemerkt dazu: »Es ist in keiner Art gesagt: daß die an dem aufeinander eingestellten Handeln Beteiligten im Einzelfall den gleichen Sinngehalt in die soziale Beziehung legen oder sich sinnhaft entsprechend der Einstellung des Gegenpartners innerlich zu ihm einstellen, daß also in diesem Sinn ›Gegenseitigkeit‹ besteht. ›Freundschaft‹, ›Liebe‹, ›Pietät‹, ›Vertragstreue‹, ›nationales Gemeinschaftsgefühl‹ von der einen Seite kann auf durchaus andersartige Einstellungen der anderen Seite stoßen. Dann verbinden eben die Beteiligten mit ihrem Handeln einen verschiedenen Sinn: die soziale Beziehung ist insoweit von beiden Seiten objektiv ›einseitig‹« (ebd., S. 13 f.). Sich innerlich aufeinander einzustellen, ist demnach kein Merkmal sozialer Beziehungen, kann aber sehr wohl ein erheblicher Teil einer »guten« Arzt-Patient-Beziehung sein. In einer solch normativen Vorstellung von Beziehung würde das Maß der von Weber angeführten Gegenseitigkeit Auskunft über die Güte der Arzt-Patient-Beziehung geben, wenngleich auch im Falle einer objektiven Einseitigkeit immer noch eine soziale Beziehung zwischen Arzt und Patient vorliegen würde.

Schütz und Luckmann weisen auf die Formen gesellschaftlichen Handelns in sozialen Beziehungen hin. Es kann entweder mittelbar oder unmittelbar und zwischen Individuen oder Typen gehandelt werden (Schütz und Luckmann 2003, S. 548ff.). Im Zusammenhang dieses Buches sind besonders die auf Unmittelbarkeit gegründeten sozialen Beziehungen von Bedeutung. Die unmittelbare Arzt-Patient-Beziehung meint dann die soziale Beziehung von Arzt und Patient in der direkten Konsultation. In dieser Situation können sich Arzt und Patient sowohl als Typen, also als Träger sozial geformter Rollen, gegenübertreten, aber auch als einzigartige Individuen, also als Träger persönlicher Erfahrungen und spezifischer Befindlichkeiten. Auch diese Klassifikation kann normativ gewendet werden. In einer »guten« Arzt-Patient-Beziehung würde dann auf eine überzogene Typisierung der Interaktionspartner verzichtet werden und die Einzigartigkeit des jeweiligen Gegenübers im Vordergrund der Begegnung stehen.

Die Definitionen einer sozialen Beziehung bei Weber bzw. bei Schütz und Luckmann deuten, über die Betrachtung von Strukturmerkmalen hinaus, auf die Entfaltung einer Beziehung zwischen zwei Akteuren in einer spezifischen Situation und auf ein hohes Maß an wechselseitiger Orientierung hin. Die Strukturmerkmale beschreiben die jeweiligen Wissensbestände, die typisierten Handlungsmuster, den Bezug zum medizinischen Befund sowie die Einbettung in übergreifende soziale Gefüge und damit wichtige Aspekt der Arzt-Patient-Beziehung (vgl. Bloom 1963, S. 40ff.). Aber es treffen auch zwei Personen aufeinander, die ihre jeweils eigenen Motive, Ängste und Interessen haben (für eine frühe Auseinandersetzung mit der daraus resultierenden Komplexität siehe Henderson 1935). Die soziale Beziehung, die zwischen Arzt X und Patient Y in der Situation der Konsultationen entsteht und eventuell über längere Zeit besteht, kann anhand der eben skizzierten Klassifikationen danach unterschieden werden, inwiefern Gegenseitigkeit nach Weber und Einzigartigkeit nach Schütz und Luckmann vorliegen. Ob und inwieweit solche Ansprüche in der medizinischen Realität moderner Gesundheitsversorgungssysteme eingeholt werden können, ist die empirisch zu beantwortende Frage, der in den einzelnen Kapiteln dieses Buchs nachgegangen wird.

Uta Gerhardt (1991), die anstatt von Beziehung vom Verhältnis von Ärzten und Patienten spricht und damit dem Prinzip des Wechsels Aufmerksamkeit schenkt, hat eingehend auf die handlungspraktischen Aspekte und die Perspektivendivergenz in der Begegnung von Arzt und Patient hingewiesen. Vielleicht als Einzige erweitert sie die gegenwärtige, auf Strukturmerkmale fokussierende, Diskussion. Sie behandelt das deutende Verstehen im sozialen Handeln als ein Problem dieses Verhältnisses und liefert eine differenzierte Rezeption der Ausführungen zur Arzt- und Patientenrolle von Talcott Parson (siehe die folgenden Abschnitte 2.1 und 2.2). Gerhardt bleibt damit den Traditionen der 1970er Jahre am ehesten treu (vgl. Siegrist und Hendel-Kramer 1979). Ein Blick in die Geschichte der Medizinsoziologie in Deutschland zeigt nämlich, dass damals die Mehrzahl der Autoren solchen Inhalten gefolgt ist. In den 1970er Jahren beschäftigte man sich mit der Dekonstruktion der gewohnheitsmäßigen Vorstellung von einer Harmonie zwischen Ärzten und Patienten sowie mit Fragen der strukturellen Inhumanität in der Arzt-Patient-Beziehung und zollte damit zugleich auch handlungstheoretischen Implikationen der Arzt-Patient-Interaktion fachliche Anerkennung.

Die neueren Entwicklungen, etwa mit Shared Decision Making, bedeuten in diesem Sinne einen eher pragmatischen Neuaufbruch (vgl. Scheibler 2004). Shared Decision Making ist als interdisziplinäres Forschungsprogramm ausgelegt. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf thematische Schnittstellen wie Kommunikation, Aufklärung und Information. Die im Hintergrund wirkenden Kräfte, wie habitualisierte Einstellungen und entsprechend selektierte Wahrnehmungen, die Perspektivendifferenz oder auch die prinzipielle Asymmetrie zwischen Arzt und Patient – also all das, was die Begegnung als solche prekär macht – werden wenig beachtet. Deshalb muss jeder Versuch, mit ein paar guten Ratschlägen, ein wenig Psychologie und ein paar Gesprächsübungen, etwas verbessern zu wollen, zu kurz greifen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich einige Fragen noch einmal stellen: Ist der demokratische Anspruch eines herrschaftsfreien Diskurses suspendiert und was kann wechselseitiges Verstehen in einem medizinischen Kontext überhaupt bedeuten? Können Arzt und Patient wirklich einander verstehen oder ist Verstehen nur eine Fiktion, die zu unterstellen sinnvoll ist und ohne die die Krankenbehandlung nicht voranschreiten könnte? Und wenn wir einander eigentlich gar nicht verstehen können, weil wir nie wirklich genau wissen, was in dem anderen vorgeht, wie kommt es dann, dass wir trotzdem täglich auch mit fremden Menschen interagieren können und wir oft einen hohen Grad an Verlässlichkeit in unseren Austauschbeziehungen mit ihnen vorfinden? Verbergen sich nicht möglicherweise hinter der oberflächlichen Sicherheit, welche die ritualisierten Formen der Krankenbehandlung suggerieren, Unsicherheiten, Fremdheit, Leere und vielleicht sogar Angst? Diese zugespitzten Fragen zur Arzt-Patient-Beziehung lassen sich nur beantworten, wenn die Basis sozialer Beziehungen, das soziale Handeln, näher in den Blick genommen wird.

2.1 Soziales Handeln zwischen Arzt und Patient

Soziologen sprechen von sozialem Handeln, wenn eine Person ihr Verhalten mit einer Intention verknüpft und sich gleichzeitig am Handeln oder den Erwartungen anderer orientiert: Ein Arzt beispielsweise, der ein Rezept ausschreibt, verhält sich nicht einfach im Sinne eines Reiz-Reaktionsschemas. Vielmehr orientiert er seine Tätigkeit an den vielfältigen Erwartungen der Gesellschaft, der Krankenkassen, der Krankenhausbetreiber und gleichwohl aber auch an den Bedürfnissen des Patienten und den Notwendigkeiten der angestrebten Therapie. Gleichermaßen orientieren sich auch Patienten in ihrem Handeln an gesellschaftlich verbreiteten Arztbildern und richten ihre Aktivitäten nach den Bedürfnissen der Ärzte: Sie kommen in der Regel pünktlich zu den Terminen und schimpfen nicht über lange Wartezeiten.

Nach Max Weber wird eine Verhaltensäußerung erst dann zu sozialem Handeln, wenn sie mit einer Intention verbunden und auf andere Menschen bezogen ist: »Soziales Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens) kann orientiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer […] Die »anderen« können Einzelne und Bekannte oder unbestimmt Viele und ganz Unbekannte sein« (Weber 1980, S. 11). Als Basis der Intention versteht Weber den jeweils »subjektiv gemeinten Sinn« (ebd., S. 1) jeder einzelnen Person, der dann auf die Verhaltensäußerungen Dritter bezogen wird. Das Besondere am Begriff des subjektiv gemeinten Sinns ist, dass keine »objektive« oder »wahre« Sinnzuschreibung vorliegen muss.

Fassen wir ärztliches Handeln wie auch das Handeln der Patienten als soziales Handeln auf, so müssen wir den jeweiligen subjektiv gemeinten Sinn der Akteure rekonstruieren, um die wechselseitigen, aufeinander bezogenen Handlungsabfolgen verstehen zu können, ohne dass dabei ein gemeinsamer, nachvollziehbarer Sinn entstehen muss. Wenn sich beispielsweise ein Arzt im Krankenhaus an den engen Zeitvorgaben seines Arbeitsplans orientiert und dadurch einem Patienten weniger Aufmerksamkeit schenkt, als dieser für sich beansprucht, so haben wir es in beiden Fällen, dem des davoneilenden Arztes und dem über einen Beschwerdebrief nachdenkenden Patienten, mit sozialem Handeln zu tun. Wir sehen auch, dass es in jeder Begegnung für die Beteiligten verschiedene Referenzrahmen auf unterschiedlichen Ebenen gibt – von organisationalen Abrechungsmodalitäten über lokale Statuszuweisungen bis hin zu persönlicher Zu- oder Abneigung.

Um diese Komplexität besser einfangen zu können, hilft ein Gedankenspiel: In jeder Interaktion stehen wir vor dem grundsätzlichen Problem, dass wir nicht genau wissen können, woran unser Gegenüber seine Handlungen orientiert. Für eine soziologische Betrachtung dieser Situation steht nun die jeweilige Handlungsorientierung der Akteure im Vordergrund. Wieso handelt Person X in Situation Y gegenüber Person Z in der beobachteten Weise? Sowohl für die Soziologie wie auch für die in der Situation befindlichen Akteure besteht diese grundsätzliche Frage. Wir können nicht in die Köpfe der anderen hineinschauen und woher sollen wir also wissen, wieso Person X nun so gehandelt hat, wie sie gehandelt hat?

Die allgemeinen Rollenerwartungen an Ärzte und Patienten helfen, diese Unsicherheit zu reduzieren. Ein Arzt kann erst einmal davon ausgehen, dass ihn ein Patient mit einem legitimen Wunsch nach Heilung aufsucht und nicht etwa nur krankgeschrieben werden will, um seiner Arbeit fern bleiben zu können. Und ein Patient erwartet, dass der Arzt ihn kompetent und zielorientiert behandelt, ohne dabei zu sehr an sein Honorar oder eventuelle Absprachen mit Pharmafirmen zu denken. Bilden sich solch wechselseitig typisierte Handlungsorientierungen auf gesellschaftlicher Ebene heraus, so spricht die Soziologie von Institutionalisierungsprozessen, an deren Ende oftmals sanktionsbewährte Normen (etwa die gesetzlich festgelegten Rechte und Pflichten von Ärzten und Patienten) oder gesellschaftsweite Werte (wie der eines Anspruchs auf Gesundheit) stehen. Aber nur weil es Normen und Werte gibt, heißt das noch lange nicht, dass man sich in jeder Situation daran hält oder dass die jeweiligen Interaktionspartner derart gemeinsame Erwartungen teilen müssen (siehe die folgenden Abschnitte 2.2 und 2.3).

Beispielsweise mag ein Patient sich ruhig die Unterweisungen eines Arztes anhören und dabei ab und zu nicken, um dann später die ihm verschriebenen Tabletten doch die Toilette herunterzuspülen, ohne dass der Arzt dies je merken wird. Denn solange die fehlende Compliance des Patienten nicht publik wird, wird der Arzt vermutlich stillschweigend davon ausgehen, es mit einem folgsamen Patienten zu tun zu haben. Währenddessen wird der Patient vielleicht in paranoider Manie vermuten, dass ihn der Arzt vergiften wolle. Er wird dann Folgsamkeit vortäuschen, insgeheim aber Widerstand leisten. Von außen betrachtet ständen wir angesichts dieser Situation vor dem Paradoxon, dass hier einerseits ein stabiles Interaktionssystem entsteht, das hinsichtlich seiner wechselseitigen Erwartungsstrukturen auf Dauer gestellt werden kann, andererseits aber die jeweiligen Perspektiven radikal auseinanderdriften. Insbesondere Psychiater, die ihre Patienten zur Einnahme psychoaktiver Substanzen überzeugen möchten, sind mit dieser Problematik oft konfrontiert. Genau wie die Asymmetrie, ist diese Perspektivendivergenz ein zentrales Kennzeichen der Arzt-Patient-Beziehung und um zu verstehen, warum bestimmte Personen wie in den jeweiligen Situationen handeln, muss man versuchen, an die unterschiedlichen Motive und Entscheidungsgrundlagen der Akteure heranzukommen.

Besonders Alfred Schütz hat sich im Zusammenhang mit der Frage, was die alltägliche Lebenspraxis konstituiert, mit – dem sozialen Handeln vorgelagerten – Bewusstseinsprozessen beschäftigt. Für Schütz (1981) konstituiert sich Handeln durch Interessen, Präferenzen, Wahrnehmungen, Wissen und Deutungen, wobei diese wiederum gesellschaftlich, durch die historische Zeit, die konkrete soziale Lebenssituation oder auch die bisherigen biografischen Erfahrungen der jeweils handelnden Person, geprägt sind.

Bezüglich der Arzt-Patient-Beziehung ist es mit Schütz möglich, den Blick stärker auf die Interessen, Präferenzen, das Wissen oder auch die biografischen Erfahrungen, die Patienten und Ärzte an der Begegnung haben resp. die sie in sie einbringen, zu richten. Analysiert man diese, wird sichtbar, dass Ärzte und Patienten hier deutlich differierend handeln. So hängt die Begegnung aus Patientenperspektive beispielsweise davon ab, wie sie sich ihre Symptomatik erklären, wie sie diese lebensweltlich bewerten und ob bzw. inwieweit sie in der ärztlichen Konsultation eine Chance sehen, ihr Leben wieder besser bewältigen zu können. Immer also ist die Begegnung aus ihrer Sicht von Beginn an das Ergebnis von Vorüberlegungen, von Interessen und lebensweltlichen Präferenzen. Für den Arzt dagegen ist die Begegnung institutionalisiert und eine Arbeitssituation. Der Arzt sitzt in einem Sprechzimmer oder arbeitet in einem Krankenhaus und trifft in diesem organisatorischen Rahmen auf Patienten. Sein Handeln ist an diesem organisatorisch-institutionellen Rahmen und an einem Behandlungsauftrag (Erstellung einer sicheren Diagnose oder evidenzbasierter Therapie) orientiert. Ärzte handeln entsprechend von Behandlungsstandards, ihrem Expertenwissen und ihren ärztlichen Erfahrungen. Und anders sind auch die Auswirkungen des ärztlichen Handelns. Während Ärzte eine möglichst fraglose Relevanz durch Standards herstellen, geraten Patienten bei der Eröffnung der Diagnose (z. B. Krebs) oder auch einem Therapievorschlag (Chemotherapie) oft in einen Strudel von Ängsten und Unsicherheiten. Aus Alfred Schütz’ phänomenologischer Sicht also sind widersprüchliche Interessen und Bezugshorizonte inhärenter Bestandteil der Begegnung zwischen Ärzten und Patienten und eine sich gegenseitig verstehende Beziehung von Arzt und Patient eher ein Mythos.

Der phänomenlogische Ansatz erlaubt aber auch, verschiedene Handlungsqualitäten zu unterscheiden. Was Schütz als Grundform sozialen Handelns bezeichnet, nämlich wechselseitig aufeinander hin zu handeln, kann nicht Grundform für die Arzt-Patient-Beziehung sein, zumindest, was die medizinischen Ziele betrifft. Eher ist hier die Grundform des Handelns einseitig auf den Patienten gerichtet. Und eine weitere Differenzierung wird erkennbar. In der Arzt-Patient-Beziehung wird im Sinne von Schütz eher seltener sozial gehandelt. Denn soziales Handeln liegt für ihn nur dann vor, wenn Ärzte auf den Bewusstseinsablauf ihrer Patienten hin handeln, wenn sie – vereinfacht gesagt – die Bewusstseinserlebnisse (Ängste, lebensweltlichen Horizonte) ihrer Patienten mit in ihren Handlungsentwurf integrieren. Ein Arzt aber, »welcher an dem narkotisierten Patienten eine Operation ausführt, handelt zwar auf dessen Leib zu, aber auch er handelt im Sinne Webers nicht sozial« (Schütz 1993, S. 205) auf den Patienten hin. Folgt man Schütz weiter, wird klar, warum Ärzte (zur Unzufriedenheit vieler Patienten) meist nur handeln. Denn wer in diesem Sinne sozial handelt – sich seinen Patienten auch in ihrem Denken und Fühlen zuwendet – gerät in eine problematische Situation. Problematisch ist sie, weil sich erstens die erhaltenen psychosozialen Informationen nicht in Deckung mit den eigenen, schon gar nicht mit den anatomischen oder biochemischen Vorstellungen bringen lassen. Zweitens werden in dieser Situation eigene Gefühlen, Phantasien etc. ausgelöst. Und drittens verliert ein so geführtes Gespräch seine Vorhersehbarkeit.

Wir haben bis hierher die grundsätzlichen Probleme in der Begegnung von Arzt und Patient, verstanden als soziales Handeln nach Weber und Schütz, aufgezeigt und sind besonders auf die Gleichzeitigkeit von wechselseitiger Orientierung und Perspektivendivergenz eingegangen. Ärzte und Patienten orientieren sich dann nicht allein und vielleicht auch nur selten an ihrem jeweiligen Gegenüber, sondern viel öfter an ihrer Arbeitsumgebung oder Lebenswelt. Auf dieser Stufe der Betrachtung erscheint eine beiderseitig als gelungen eingeschätzte Interaktion als höchst unwahrscheinlich und die Situation per se als unsicher. Wie kommt es also, dass wir trotzdem und anscheinend so problemlos mit anderen interagieren können und uns diese Probleme im Alltag so selten auffallen? Zur Beantwortung dieser Frage werden wir im Folgenden die zwei einflussreichsten medizinsoziologischen Konzeptionen zur Interaktion und Beziehung von Arzt und Patient vorstellen, um die Frage nach dem sozialen Handeln von Arzt und Patient stärker anhand der Besonderheiten der organisierten medizinischen Behandlung als einer gesellschaftlichen Institution zu stellen.

2.2 Talcott Parsons: Struktur und Funktion der Arzt-Patient-Beziehung

Parsons (1958) weist darauf hin, dass die medizinische Behandlung als Handlungssystem nur unter der Voraussetzung generalisierter Rollenerwartungen funktionieren kann. Der Patient muss vertrauen, dass der Arzt vorrangig an der Heilung seiner Krankheit interessiert ist und nicht primär an anderem, etwa am Geld des Patienten oder an medizinischen Experimenten. Ebenso muss er darauf vertrauen, dass sein Körper als Organsystem betrachtet wird und nicht etwa als sexuell begehrenswerter Leib. Zudem müssen die Rollenbeschreibungen eindeutig sein. Der Arzt wird als der Experte und damit als der aktive Part der Beziehung anzunehmen sein, während der Patient den eher passiven Publikumspart in dieser Beziehung zugewiesen bekommt. Nicht zuletzt wird der Arzt von der gesellschaftlich generalisierten Erwartung ausgehen, dass der Patient wieder gesund werden soll und will, denn nur dies rechtfertigt für ihn eine mit der medizinischen Behandlung verbundene, vielleicht notwendige, Gewaltanwendung. Zusammenfassend ist vom Arzt also zu erwarten, dass er für seine Patienten treuhänderisch den Wert der Gesundheit auch gegen die Politik und Ökonomie durchsetzt und seine Patienten dabei ungeachtet ihrer Person in emotionaler Neutralität behandelt.

Komplementär hierzu wird vom Patienten erwartet, dass er wieder gesund werden will und dazu bereit ist, alle hiermit verbundenen Zumutungen duldsam und ohne allzu großen Widerstand zu ertragen. De facto kann sich freilich unterhalb der Rollenbeschreibung immer auch anderes ereignen. Beispielsweise verweist Parsons mit Blick auf das Gebot der emotionalen Neutralität auf eine Szene, in der ein männlicher Arzt bei einer Patientin den nackten Rücken mit vorsichtigen und zarten Handbewegungen in einer Weise abtastet, welche zweideutig ist und sowohl an den medizinischen als auch den Kontext einer möglichen Intimbeziehung anschlussfähig ist. Unter der generalisierten Rollenerwartung der emotionalen Neutralität entsteht hier gleichsam ein Raum, in dem eine solche Berührung wie auch eine Nachfrage zum Privatleben unverdächtig gewagt werden kann. Falls die Frau nicht eindeutige Zeichen zeigt, die darauf hindeuten, dass sie die Mehrdeutigkeit wohlwollend im erotischen Sinne wahrnimmt, wird der Arzt dann das übliche medizinische Procedere weiterführen. Anderenfalls entsteht eine problematische Situation, in der die Patientin und der Arzt außerhalb der generalisierten Rollenerwartung agieren. Um die Zweideutigkeit der Situation aufzulösen, müssen beide wieder in ihre gesellschaftlich anerkannten Rollen schlüpfen.

Die treuhänderische Verwaltung der Gesundheit bildet den primären Rahmen, unter dem dann sehr wohl auch die eine oder andere Untersuchung aus ökonomischen und nicht aus medizinischen Gründen durchgeführt wird bzw. der Forschungsneugier und nicht der therapeutischen Perspektive geschuldet ist. Dass die Ärzteschaft in Meinungsumfragen zu der Berufsgruppe gehört, der man am meisten Vertrauen schenkt, hat im Sinne von Parsons weniger mit ihrem faktischen Verhalten zu tun, sondern eher mit einer notwendigen Rollenerwartung, die gegeben sein muss, damit eine Krankenbehandlung funktionieren kann. Kontrafaktisch muss der Patient dem Arzt vertrauen, selbst wenn es wirklich gute Gründe gibt, an manchen Versprechen der Medizin zu zweifeln.

Mit Parsons wird die Makrostruktur des Systems der Krankenbehandlung beschrieben. Auf dieser Ebene begegnen sich Arzt und Patient als zwei Menschen mit gesellschaftlich vorgeprägten Erwartungen und es bleibt notwendig unreflektiert, dass beide auch ein Bewusstsein haben, beide deutend handeln (wie bei Weber und Schütz) und sich in der Begegnung eine situationsabhängige Interaktionsordnung etabliert.

2.3 Erving Goffman: Die Dramaturgie der Arzt-Patient-Interaktion