prolog
Sie beugt sich über den reglosen Körper und verharrt eine Weile in dieser Position. Ihr Blick streicht die feinen Linien des Gesichts entlang bis hin zu den halb geöffneten Augen, die gebrochen in die Unendlichkeit starren.
»Jetzt bist du ganz allein.« Es klingt mitfühlend, traurig. »Es ist schlimm, allein zu sein. Ich weiß das. Aber ich bin ja da. Ich werde dich behüten.«
Sie setzt sich neben dem leblosen Körper in den Sand. Die Wärme des Tages ist noch in den feinen Körnern gespeichert. Die eiskalte Hand des toten Mädchens steht in krassem Kontrast dazu, als sie danach greift. Vorsichtig zieht sie das Mädchen zu sich herüber. Es gelingt nur mit Mühe.
Schließlich hat sie es geschafft, ihr Rücken ist gegen sie gelehnt. Sie legt eine Hand auf den Kopf, der etwas zur Seite hängt, streichelt sanft über die Haare, wieder und wieder. Die Stelle, an der die Haare blutverklebt sind, meidet sie.
Sandkörner rieseln herab, harte Pflanzenstücke lösen sich aus den Haaren, kratzen über die liebkosende Hand.
Leise stimmt sie eine gesummte Melodie an, ein Kinderlied. Ihr Oberkörper wiegt sich im Takt hin und her und zieht das tote Mädchen mit sich.
Sie vergisst die Zeit, ihre Augen werden gläsern, während ihr Geist auf eine Reise geht, zurück in ihre Erinnerungen. Zu einem Kind, das sich nichts sehnlicher wünscht als Geborgenheit und Zuneigung. Liebe.
Irgendwann rutscht der Oberkörper des Mädchens zur Seite. Der Griff, mit dem sie ihn hält, hat sich zu sehr gelockert.
Sie zuckt zusammen, kann den Körper gerade noch halten, bevor er in den warmen Sand kippt.
»Du möchtest schlafen, nicht wahr? Das kann ich verstehen. Du sehnst dich nach Ruhe. Warte, ich werde dir ein weiches Lager richten. Du sollst es gut haben.«
Langsam lässt sie den Körper zur Seite gleiten, stemmt sich hoch, schaut sich um. Der Halbmond ist in ein Meer aus Sternen gebettet. Sein Schein durchdringt die Nacht so weit, dass die Umgebung zumindest schemenhaft zu erkennen ist.
Alles, was nötig ist, findet sie im Sand. Sie trägt einige Palmblätter zusammen und legt sie zu einem Haufen übereinander. Anschließend kniet sie sich hin und beginnt, den Sand beiseitezuschieben. So schafft sie nach und nach eine längliche Mulde, groß genug, um einen schmalen Mädchenkörper aufzunehmen. Den Boden bedeckt sie mit Palmblättern, bis sie eine grüne Matratze bilden.
Es kostet sie große Mühe, das Mädchen darauf zu betten, doch schließlich hat sie es geschafft, betrachtet eine Weile keuchend den lang ausgestreckten Körper. Sie bückt sich und macht sich daran, die langen Haare so zu ordnen, dass sie wie ein breiter Schleier unter dem Kopf des Mädchens liegen. Schließlich bedeckt sie den Körper bis zur Brust mit den restlichen Palmblättern und faltet die kalten Hände darüber.
Sie macht ein paar Schritte zurück und blickt zufrieden auf ihr Werk. Sie möchte weinen angesichts der Schönheit des Mädchens und der Ruhe, die die Szene zu ihren Füßen ausstrahlt.
»Nun liegst du gut«, sagt sie leise. »Nun kannst du schlafen.«
Dann beginnt sie leise, ihren Lieblingssong Run von Leona Lewis zu singen und obwohl ihre Stimme bricht, singt sie bis zur letzten Strophe, verspricht dem Mädchen, immer für es da zu sein.
eins
Drei Tage zuvor …
Die Maschine war um neun Uhr am Abend in München gestartet. Fast drei Stunden waren sie nun schon in der Luft, doch die hektische Aufgeregtheit unter ihnen hatte sich noch immer nicht gelegt. Im Gegenteil. Mit jedem Kilometer, den sie sich weiter von Deutschland entfernten, schien ihnen bewusster zu werden, wie aufregend die nächsten acht Tage werden würden.
Fünfzig waren sie nur noch, alle zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahre alt. Die Besten aus über 35.000 Bewerbern für Germany’s MegaStar. Sie freuten sich offenkundig auf die Tage, die vor ihnen lagen. Die Insel, die Auftritte, die Spannung. Ihre Gespräche waren beherrscht von der Ungewissheit darüber, was sie erwarten würde.
Der ganze hintere Teil des Flugzeugs war für sie reserviert worden, entsprechend ging es dort zu. Laut, fröhlich, manchmal hysterisch. Kaum jemand saß auf seinem Sitz. Einige standen in den Gängen herum, andere knieten auf den Polstern und unterhielten sich mit denen, die hinter ihnen saßen. Überall wurde gequatscht, spekuliert und gekichert. Hier und da wurden Songs angestimmt und mit schallendem Gelächter wieder abgebrochen.
Mittendrin schlich dieser Kerl von der Produktionsgesellschaft durch die Gänge. Daniel. Vicky schätzte ihn auf etwa dreißig. Er stellte Fragen und forderte die Teilnehmer auf, dieses oder jenes zu tun oder zu sagen, während der Kameramann in seinem Schlepptau filmte. Der Produzent der Show und die vier Jurymitglieder saßen vorn in der ersten Klasse.
Vicky lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen. Sie gab sich ganz dem Gefühl hin, es schon so weit geschafft zu haben. Dabei war es nur wenige Wochen her, dass ihre Freundin Marie ihr in der Schule begeistert erzählt hatte, das Team von G.M.S. käme für das erste Vorcasting nach Köln. Und dass sie unbedingt mitmachen müssten.
Schon lange vorher war die aufwändige Werbung für diese neue Show auf einem Privatsender auf- und abgelaufen. Auch Vicky hatte sie bereits so oft gesehen, dass sie den Text mitsprechen konnte.
Diese Show sei anders als alles, was man bisher von Castingshows kannte, hieß es in den Trailern. Die Teilnehmer mussten volljährig sein. Um sie realitätsnah auf die Härte und den brutalen Kampf im internationalen Showgeschäft vorzubereiten, sollten sie nicht nur gegeneinander antreten, sondern müssten auch zusätzliche Herausforderungen bestehen, die ihnen ab der sogenannten Phase drei gestellt wurden. Es sollte hart werden, doch als Lohn winke dem Gewinner die unglaubliche Summe von einer Million Euro und der Start einer Weltkarriere. Im Gegensatz zu den bereits bekannten Castingshows waren schon im Vorfeld Verträge mit Agenturen, Radiostationen und Fernsehsendern weltweit geschlossen worden. Dadurch war sichergestellt, dass der Gewinnersong in fast allen Ländern Europas, in den USA, Kanada und Australien gespielt und promotet wurde.
Vicky hatte zugesagt, weil sie es für eine von Maries verrückten Ideen hielt. Aus denen wurde meist sowieso nichts, weil sie sie schon nach ein paar Tagen wieder vergaß. Als Marie dann eine Woche später erzählte, ihr Vater würde sie die 30 Kilometer von Bonn zu dem Vorcasting bringen, war es für Vicky zu spät, einen Rückzieher zu machen. Also war sie mitgefahren zur Phase eins von Germany’s MegaStar.
Diese Vorcastings waren von Mitarbeitern der Produktionsfirma durchgeführt worden. Die eigentliche Jury sollte erst in Phase zwei in Erscheinung treten, in München.
Vicky sang gern und bei jeder Gelegenheit und wenn sie ihrer Familie und ihren Freundinnen glauben konnte, hatte sie auch eine gute Stimme. Bei einem Wettbewerb mit derart vielen Konkurrenten rechnete sie sich allerdings keinerlei Chancen aus.
Umso größer war ihre Überraschung, als ihre Interpretation des Songs Dear Mr. President von Pink so gut ankam, dass sie noch am gleichen Tag einen zweiten Auftritt hatte und danach tatsächlich den Einzug in die nächste Runde schaffte: Phase zwei. München.
Marie hingegen schied schon in der ersten Runde aus. Vicky hatte ihr spontan vorgeschlagen, auch aufzuhören, weil sie das doch zusammen machen wollten. Als Marie sie daraufhin fragte, ob sie den Verstand verloren habe, war sie jedoch sehr erleichtert, wie sie sich im Nachhinein eingestehen musste. Obwohl sie ohne jede Erwartung mitgekommen war, hatte die Aussicht, bald vor Leuten wie Mia Mai singen zu dürfen, ihr einen wohligen Schauer über den Rücken gejagt. Die Frontfrau einer der angesagtesten deutschen Hip-Hop-Formationen war Mitglied der Jury. Vicky kannte sie nur aus dem Fernsehen, aber sie bewunderte sie sehr und träumte schon lange davon, einmal eines ihrer Konzerte zu besuchen. Nun würde sie Mia Mai sogar persönlich kennenlernen.
So war sie einige Wochen später allein mit dem Zug nach München gefahren, wo sie ihren ersten Auftritt vor der eigentlichen Jury hatte.
Schon bei der Ankunft im Hotel hatte sie gespürt, dass sich im Vergleich zum Vorcasting einiges verändert hatte. War sie von den Leuten in Köln noch mit höflicher Zurückhaltung behandelt worden, wurde der Ton im großen Veranstaltungssaal des Münchner Hotels schon deutlich schärfer.
Karsten Dürer war Unterhaltungschef des Fernsehsenders und der Kopf der G.M.S.-Jury. Er war 51 Jahre alt und schlank, die blonden Haare waren zu einer modischen Kurzhaarfrisur geschnitten.
Bevor die anderen drei Jurymitglieder dazukamen, hielt er eine Ansprache, in der er den rund hundertfünfzig verbliebenen Kandidaten klarmachte, dass das Showbusiness ein verdammt hartes Geschäft sei. Darum habe man mit G.M.S. ein Format auf die Beine gestellt, das die Teilnehmer im Gegensatz zu den anderen Shows auf das wirkliche Leben in der Öffentlichkeit vorbereiten werde. Mit allen Gemeinheiten, Intrigen und Widerwärtigkeiten. Wer dem nicht gewachsen sei, habe in der Endrunde von G.M.S. nichts zu suchen. Aber da zu diesem Zeitpunkt ja sowieso noch hundert Leute zu viel anwesend seien, würde er die Einzelheiten nur denjenigen erzählen, die auch davon betroffen waren. Den fünfzig besten Kandidaten in Phase drei.
Auf einer kleinen Insel der Malediven.
Bei diesen Worten war Vicky zum ersten Mal ein Schauer über den Rücken gelaufen. Der nächste folgte nur Minuten später, als Mia Mai den Raum betrat. Die schwarzhaarige Mittzwanzigerin war kleiner und zierlicher, als Vicky sie vom Fernsehen in Erinnerung hatte, aber wie auch bei ihren Auftritten sprühte sie geradezu vor Energie. Vicky konnte spüren, wie schwer es ihr fiel, ruhig neben Dürer stehen zu bleiben, während er sie und die anderen beiden vorstellte.
Neben Mia gehörte Chris Stark zur Jury, ein abgehalfterter Schlagersänger, dessen letzte Chartplatzierung lange vor Vickys Geburt gewesen sein musste. Er war groß und bis auf einen leichten Bauchansatz schlank. Sein faltiges Gesicht war eingerahmt von dichten, schwarz gefärbten Haaren, die aussahen wie eine billige Perücke.
Das zweite weibliche Jurymitglied war etwas pummelig und ungefähr Anfang vierzig. Sie hieß Doris Lienkamp und war Choreografin. Vicky hatte nie zuvor eine Choreografin kennengelernt, hätte aber eher eine schlanke, durchtrainierte Frau erwartet. Im Gegensatz zu Mia Mai strahlte Lienkamp eine behäbige Ruhe aus, die in Vickys Vorstellung ebenfalls nur schwer mit ihrem Beruf in Einklang zu bringen war.
Schon früh am nächsten Morgen hatte die dreitägige Phase zwei begonnen. An deren Ende standen Tränen, verzweifeltes Betteln, wütende Ausraster. Und die letzten fünfzig Teilnehmer von Germany’s MegaStar. Vicky war eine davon.
Nun würden sie in knapp sieben Stunden in Male landen, der Hauptstadt der Malediven. Wenn das, was Dürer angekündigt hatte, nicht übertrieben war, standen ihnen allen acht harte Tage bevor. Und am Ende dieser acht Tage würden nur noch zehn von ihnen übrig sein.
Vicky dachte an den Vertrag, den sie unterschrieben hatte. Der Rechtsanwalt, dem ihr Vater das Schriftstück zur Prüfung gegeben hatte, war entsetzt gewesen. »Ich kann Ihnen nur davon abraten, diesen Vertrag zu unterschreiben«, hatte er gesagt. »Sie verzichten mit Ihrer Unterschrift auf jegliche Möglichkeit, etwas gegen die Produktionsfirma oder die Fernsehgesellschaft zu unternehmen, wenn etwas schiefläuft.«
»Was heißt das?«, hatte Vickys Vater wissen wollen.
»Nun, lassen wir mal den finanziellen Aspekt ganz außen vor, der besagt, dass die Produktionsgesellschaft drei Jahre lang satte vierzig Prozent von allen Einnahmen kassieren wird, die jeder einzelne Teilnehmer der Phase drei ab Vertragsunterzeichnung durch die Ausübung einer künstlerischen Tätigkeit verdienen wird.
Da gibt es zum Beispiel eine Verschwiegenheitsklausel, die derart drastisch formuliert ist, dass Sie praktisch keinem Menschen gegenüber auch nur ein einziges Wort darüber verlieren dürfen, was auf dieser Insel passiert. Selbst wenn der Sender etwas veröffentlicht, dürfen Sie sich lediglich auf Nachfrage dazu äußern und zwar ausschließlich im positiven Sinne. Auch sonst haben Sie keinerlei Rechte, egal, was die sich dort einfallen lassen. Sogar wenn Sie verletzt werden, verzichten Sie auf jegliche Ansprüche gegenüber dem Vertragspartner. Ich habe eine ganze Liste mit Punkten, von denen jeder einzelne ein K.-o.-Kriterium wäre. In meiner gesamten Praxis als Anwalt habe ich noch nie einen solch einseitigen Knebelvertrag gesehen.«
Vicky hatte den Vertrag trotzdem unterschrieben. Gegen den Rat des Anwalts und trotz des Versuchs ihrer Eltern, sie umzustimmen. Sie hatte Star-Luft geschnuppert.
»Hey Mädchen.«
Vicky schreckte hoch und riss die Augen auf. Fast wäre sie dabei gegen den Kopf gestoßen, der sich ein Stück weit über sie gebeugt hatte. Gleich neben Daniels Gesicht glotzte das runde Objektiv der Kamera sie an.
»Was ist denn mit dir los? Traurig?«
»Was … wie?«, stotterte Vicky verwirrt. Sie fühlte sich angesichts der Kamera vollkommen überfordert.
»Mach mal aus«, raunte Daniel dem Kameramann zu, ohne seinen mitleidigen Blick von Vicky abzuwenden. Die Kamera wurde ein Stück zurückgezogen, verschwand aber nicht völlig.
»Ob du traurig bist, wollte ich wissen. Schau dich doch mal um. Alle hier sind gut gelaunt, singen, freuen sich. Die Stimmung ist super und du sitzt hier rum und machst ein total bedröppeltes Gesicht. Gibt es einen Grund dafür?«
»Nein, ich mache doch kein bedröppeltes Gesicht. Ich wollte mich nur ein wenig ausruhen. Wie kommen Sie denn darauf, dass ich traurig bin?«
Daniel legte die Stirn in Falten, was den mitleidsvollen Ausdruck auf seinem Gesicht noch verstärkte. »Ich denke, wir sollten uns duzen. Das macht vieles einfacher …« Er starrte auf ihr Namensschild, ein magnetisches Plastikkärtchen, das Vicky wie alle anderen in Brusthöhe an ihrem Shirt trug. »Ehm … Vicky.«
»Ja, gut.«
»Okay. Sieh mal, Vicky, dir wird hier eine ganz große Chance geboten. Im Gegenzug möchten die Zuschauer euch kennenlernen. Sie möchten wissen, wer ihr seid und was euch bewegt. Für die Finalshows kann es euch doch nur zugutekommen, wenn die Leute sich bis dahin schon ein bisschen mit euch angefreundet haben. Möchtest du uns nicht vielleicht doch erzählen, warum du so traurig wirkst?«
Vicky verstand nicht, was dieser Daniel eigentlich von ihr wollte. »Aber ich bin nicht traurig. Ich habe es unter die letzten fünfzig geschafft. Warum sollte ich traurig sein?«
Daniel hob eine Hand, woraufhin das Kameraobjektiv sich wieder direkt auf Vicky richtete. »Erzähl doch mal, Vicky, wie haben deine Eltern reagiert, als du in Phase zwei weitergekommen bist und ihnen erzählt hast, dass du mit uns auf die Malediven fliegst? Und dass es dort nun verdammt hart für dich werden wird?«
Vicky war noch immer verwirrt. »Sie … haben sich gefreut, dass ich es so weit geschafft habe.«
»Sie haben sich gefreut? Sicher? Ist es ihnen denn ganz egal, was dich dort erwartet?«
»Nein, sie … Also, sie haben sich schon Gedanken gemacht.«
»Ah ja, das verstehe ich. Und wie fühlst du dich dabei, wenn du dir überlegst, dass es deinen Eltern im Moment gar nicht gut geht? Findest du das toll?«
»Nein, aber das stimmt doch auch nicht. Ich habe gar nicht gesagt, dass es ihnen nicht gut geht.«
Daniel stieß seufzend den Atem aus, warf seinem Kameramann einen vielsagenden Blick zu und schüttelte den Kopf. »Aber du könntest es sagen. Das macht sich doch gut. Überleg mal. Du sitzt als Teilnehmerin der Phase drei im Flugzeug auf die Malediven. Davon träumen Zigtausende junger Leute. Jeder an deiner Stelle würde jetzt Party machen, so wie die anderen hier. Und was tust du? Du denkst an deine Eltern und bist bedrückt, weil du nicht bei ihnen sein kannst und sie sich Gedanken um dich machen. Das ist menschlich, Vicky. Die Leute werden dich dafür lieben, glaub mir.«
Vickys Blick pendelte zwischen Daniels Gesicht und dem Kameraobjektiv hin und her. »Das … Nein. Das sage ich nicht, weil es so nicht stimmt. Ich kann doch nicht …«
»Ach, vergiss es«, zischte Daniel und richtete sich derart ruckartig auf, dass er mit der Schulter gegen die Kamera stieß. »Du solltest deine Einstellung zu dieser ganzen Sache hier überdenken, Mädchen. Vielleicht überlegst du dir mal, dass du auch ein bisschen was zurückgeben musst für die Wahnsinnschance, die wir dir bieten.«
Sekunden später war er hinter Vickys Sitz verschwunden, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.
zwei
Irgendwann spät in der Nacht war Vicky erschöpft eingeschlafen und erst von einer Durchsage des Kapitäns wieder aufgewacht. Er erklärte, dass sie sich im Landeanflug befanden und sie nicht vergessen sollten, ihre Uhren um drei Stunden vorzustellen. Es sei nun also 9 Uhr 35 am Morgen.
Als die Maschine sich in eine letzte Kurve legte, konnte Vicky die winzige Insel, auf der sich der Flughafen befand, von ihrem Platz aus überblicken. Sie bestand fast ausschließlich aus dem Rollfeld, das sich in der Mitte über die gesamte Länge des Eilands erstreckte, und Vicky dachte kurz darüber nach, was passieren würde, wenn der Pilot zu spät aufsetzte. Auch den restlichen Teilnehmern schien die Landung nicht ganz geheuer zu sein, denn angespannte Stille senkte sich über den Innenraum des Flugzeugs. Doch da trafen die Räder schon mit einem harten Ruck auf den Asphalt.
Bei ihrem Abflug in München waren es herbstliche zehn Grad gewesen. Als sich nun endlich die Türen des Flugzeugs öffneten und Vicky kurz danach die Gangway betrat, musste sie erst einmal stehen bleiben, denn die heiße, feuchte Außenluft verschlug ihr den Atem.
»Ganz schön stickig hier, was?« Das Mädchen mit der blonden Kurzhaarfrisur, das sich lächelnd an Vicky vorbeischob, hieß Maike und war wie sie achtzehn Jahre alt. Sie hatten in München zusammen in einem Zimmer gewohnt und sich ein wenig angefreundet.
»Hey, kannst du mal weitergehen?«
Vicky hatte vergessen, wie der Schwarzhaarige hieß, der schräg hinter ihr stand und sie genervt ansah. In München waren zwar die Namen aller Teilnehmer immer mal wieder gefallen, aber Vicky war in diesen drei Tagen viel zu sehr mit sich selbst und dem Lernen ihrer Texte beschäftigt gewesen, um sie sich zu merken. Sie versuchte, sein Namensschild zu lesen, was ihr aber erst gelang, als sie sich ein Stück weit zu ihm zurückbeugte. Oliver.
»Was denn nun?«, machte er ungeduldig.
»Ist ja schon gut.« Vicky ärgerte sich über seinen scharfen Ton. »Ich wollte nur mal sehen, wer sich da so nett mit mir unterhält.« Damit stieg sie die restlichen Stufen der Gangway hinunter und folgte den anderen über das Rollfeld auf das kleine Flughafengebäude zu.
Die Abfertigung ging zügig vonstatten. Anstehen, Reisepass vorzeigen. Ein prüfender Blick des Beamten hinter dem Schalter, ein Stempel, weitergehen.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde standen alle Teilnehmer mitsamt ihrem Gepäck vor dem langen Bootsanlegesteg und warteten auf die beiden Schnellboote, die sie auf ihre Insel bringen sollten. Von den Jurymitgliedern war ebenso wenig zu sehen wie von den Mitarbeitern der Produktionsfirma. Lediglich ein junger Mann mit Dreitagebart lief herum, blieb hier und da stehen und machte Notizen auf einem Klemmbrett.
Vicky hatte sich zu Maike gesellt, die neben Ivana, einer 22-jährigen Verkäuferin aus Schwerin, auf ihrem Koffer saß. Ivanas Eltern stammten aus Tschechien, sie selbst war aber in Deutschland geboren. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht und raspelkurze schwarze Haare. Ihre hellen wasserblauen Augen bildeten dazu einen außergewöhnlichen Kontrast, was besonders unter den männlichen Teilnehmern für verstohlene, manchmal auch unverhohlen begehrliche Blicke sorgte.
Ivana hatte einige von ihnen jedoch schon während Phase zwei vor den Kopf gestoßen, als sie in größerer Runde verkündete, sie nehme nicht an G.M.S. teil, um Freundschaften zu schließen. Sondern, um zu gewinnen. Und sie werde alles tun, was nötig sei, um ihr Ziel zu erreichen. Als Vicky sie zum ersten Mal singen hörte, wurde ihr klar, dass Ivana tatsächlich eine der Topfavoritinnen war.
Die feuchte Hitze machte allen zu schaffen. Vicky hatte das Gefühl, keine trockene Stelle mehr am Körper zu haben. Auch Maike wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und stöhnte: »Puh, ist das heiß. Wenn wir auf der Insel angekommen sind, werde ich zuallererst mal ins Wasser springen.«
»Das kannst du vergessen.«
Vicky sah an Maike vorbei zu Ivana hinüber, der die Temperaturen nichts auszumachen schienen. Diese stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus. »Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass die uns die Zeit lassen, gemütlich im Meer zu planschen?«
»Glaubst du, es geht heute schon los?«, fragte Maike. »Wenn wir da ankommen, sind wir immerhin schon dreizehn oder vierzehn Stunden unterwegs.«
Ivana zuckte mit den Schultern. »Na und? Wir sind ja auch nicht auf Erholungsurlaub. Wenn man das Ding hier gewinnen möchte, sollte man sich das Rumjammern am besten gleich abgewöhnen.«
Vicky und Maike wechselten einen schnellen Blick, wurden aber im nächsten Moment von Motorengeräuschen abgelenkt, die vom Meer her zu ihnen herüberdrangen. Die Schnellboote kamen.
Vicky, Maike und Ivana stiegen in das erste Boot, wo sie von der einheimischen Besatzung freundlich empfangen wurden. Die drei Männer nahmen die Koffer der Teilnehmer an und halfen ihnen an Bord.
Am Bug gab es einen kleinen offenen Bereich mit Holzbänken, die jedoch bereits besetzt waren. Der größere Teil des Bootes bestand aus einer rundum geschlossenen Kabine mit Platz für etwa dreißig Personen. Die Bänke sahen nicht sehr bequem aus, die geschlossenen Fenster sorgten für eine fast unerträgliche Hitze. Nachdem sie ihr Gepäck in dem dafür abgetrennten Bereich abgestellt hatten, suchte Vicky nach einer Möglichkeit, ein Fenster zu öffnen. Sie hatte das Gefühl, die stickige Luft verklebe ihre Lungen und mache es mit jedem Atemzug schwerer, sie mit genügend Sauerstoff zu versorgen.
Nur zwei der Fenster auf jeder Seite ließen sich ein Stück weit kippen, alle anderen waren fest verankert.
»Hier können wir doch unmöglich während der ganzen Fahrt sitzen«, stöhnte Maike. »Das ist ja wie in einer Sauna.«
Vicky nickte. »Ich finde es auch Wahnsinn, aber draußen ist schon alles besetzt.«
»Schon vergessen, dass die uns extra vor der Sonne hier gewarnt haben? Was meinst du, was die mit deiner schönen weißen Haut macht, wenn du zwei Stunden da oben sitzt?« Kopfschüttelnd ging Ivana an den beiden vorbei und setzte sich auf einen Platz neben einem der gekippten Fenster.
»Ivana hat recht«, sagte Vicky, während die Kabine sich mehr und mehr füllte. Die Luft wurde immer stickiger und die Plätze neben den gekippten Fenstern waren als Erste besetzt. »Lieber schwitzen als sich die Haut zu verbrennen. Wir können ja zwischendurch mal nach draußen gehen.«
Die Fahrt zu der im nördlichen Ari-Atoll gelegenen Insel dauerte etwas mehr als zwei Stunden. Nach ungefähr dreißig Minuten quetschten sich Vicky und Maike zum ersten Mal zwischen den Sitzreihen hindurch nach draußen, genossen für einige Minuten den kühlenden Fahrtwind und wären am liebsten dort geblieben. Doch Ivanas Warnung ging Vicky nicht aus dem Kopf, obwohl feine Wassertröpfchen, die beim Durchkämmen der leichten Wellen auf sie herabrieselten, für zusätzliche Erfrischung sorgten.
Bei ihrem zweiten Besuch draußen entdeckte Vicky in einiger Entfernung seltsame dunkle Punkte, die dicht über die Wasseroberfläche sausten, um dann nach einigen Sekunden wieder einzutauchen. Sie machte einen jungen Mann der Besatzung darauf aufmerksam, der ihr lächelnd in gebrochenem Englisch erklärte, dass es sich um Fliegende Fische handele.
Es war ein faszinierendes Schauspiel und als die anderen bemerkten, was Vicky entdeckt hatte, drängten auch sie sich an die Reling und sahen den Fischen lachend und mit Fingern auf sie zeigend dabei zu, wie sie aus dem Wasser schossen und Strecken von dreißig, vierzig Metern im Flug über der Oberfläche zurücklegten.
Als nach einer endlos scheinenden Zeit der dröhnende Motor endlich leiser wurde und einer der Einheimischen andeutete, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, gab es kein Halten mehr. Alle drängten nach draußen, wo sie schwitzend und eng aneinandergequetscht zu der kleinen Insel starrten, die vor ihnen aus dem endlosen Wasser lugte wie aus einem Kuchenförmchen gestülpt.
»Boah, ist das schön«, stieß ein Mädchen neben Vicky aus und schlug sich vor Verzückung eine Hand vor den Mund. Sie hieß Jana, war klein und pummelig.
Dann waren von allen Seiten erstaunte Ausrufe und Kommentare zu hören. Krass, endgeil, megaklasse.
Vicky konnte den Blick gar nicht von der näher kommenden Insel abwenden, die so klein war, dass es kaum mehr als zehn oder fünfzehn Minuten dauern konnte, sie zu umrunden.
Auf dem letzten Stück vor dem Strand schimmerte das Wasser in strahlend hellem Türkis. Die dichte Wand aus Palmen, die sich hinter dem weißen Sand erhob, wurde nur an zwei Stellen durch runde Strohdächer unterbrochen, die dazwischen hindurchlugten. Der Anblick erinnerte Vicky an die Kulisse eines Films über Robinson Crusoe, den sie Jahre zuvor einmal gesehen hatte.
»Oh Mann, ich kann gar nicht glauben, dass ich wirklich hier bin«, seufzte Maike neben ihr und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. »Ich war noch nie so weit weg. Meine Eltern haben immer nur in Deutschland Urlaub gemacht. Und dann gleich so was …«
Als sie schon fast das Ufer erreicht hatten, schwenkte das Boot nach rechts und fuhr ein Stück weit parallel zu dem bogenförmig verlaufenden Strand. Nach wenigen Augenblicken tauchte auf der Seite ein Steg auf, der etwa hundert Meter weit ins Wasser ragte. An seinem Ende dümpelte ein weißes Flugzeug auf den seichten Wellen. Es war nicht sehr groß, Vicky schätzte, dass darin Platz für vielleicht sechs oder acht Leute war.
»Nun lasst uns mal raten, wer wohl mit dem Flugzeug auf die Insel gebracht worden ist?«, stieß eine vertraute Stimme dicht an Vickys Ohr aus. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Ivana mittlerweile neben ihr stand.
»Hey, schaut euch das an«, grölte fast im gleichen Moment ein Junge von der anderen Seite. »Wetten, dass die Jury mit dem Ding da hierhergeflogen ist?«
»Voll unfair«, kam es von anderer Stelle. »Wir schwitzen uns in diesen dämlichen Booten einen ab und die werden gemütlich geflogen.«
Wenige Minuten später legte das Boot etwa in der Mitte des Steges an, kurz danach schob sich das zweite daneben.
Als die fünfzig Kandidaten schließlich nach insgesamt dreizehnstündiger Anreise am Ende des Stegs ihre Koffer im Sand abstellten und darauf warteten, dass man ihnen ihre Unterkünfte zeigte, sah man den meisten von ihnen trotz Hitze und Erschöpfung an, wie glücklich sie waren, an diesem Abenteuer teilnehmen zu können.
Eine kleine Gruppe rannte durch den Sand zum Wasser. Dort angekommen, zogen sie die Schuhe aus und krempelten die Hosen hoch, um dann jauchzend und lachend durch die seichte Dünung zu laufen und sich gegenseitig nass zu spritzen.
Wenige Minuten später erschien Karsten Dürer.
drei
Dürer trug gelbe Shorts und ein offenes hellblaues Hemd, dazu dunkelblaue Halbschuhe aus Stoff. Der Anblick erinnerte Vicky an einen Kanarienvogel.
In Dürers Schlepptau waren Daniel und sein Kameramann, der jeden Schritt des Jurychefs aufzeichnete.
Einige Meter vor den Teilnehmern blieb Dürer stehen, steckte die Hände in die Hosentaschen und betrachtete stumm die kleine Gruppe, die sich am Wasser vergnügte. Als die ihn endlich bemerkten, verließen sie sofort das Wasser und kamen zurück. Es dauerte noch ein, zwei Minuten, bis alle wieder zusammenstanden und auch die letzten Gespräche verstummt waren. Sämtliche Blicke waren gespannt auf Karsten Dürer gerichtet, über dessen Gesicht Schweißtropfen liefen.
»Willkommen auf unserer Insel, bei Phase drei von Germany’s MegaStar«, begann er mit lauter Stimme. »Ihr seid die letzten fünfzig aus Zigtausenden von Kandidaten. Wir haben euch in Phase eins und Phase zwei gecoacht, unterstützt und euch die Reise zu dieser paradiesischen Insel finanziert. Hier endet nun unsere Fürsorge. Ab jetzt beginnt für euch die finale Phase dieses Wettstreits. Das heißt, jetzt wird es ernst. Hier werdet ihr zum ersten Mal in eurem wohlbehüteten Dasein mit dem Showbiz konfrontiert werden, wie es wirklich ist. Es gibt keine Mama, zu der ihr heulend laufen könnt, und keinen Papa, der euch gegen die böse Welt in Schutz nimmt. Nicht umsonst haben wir diesen abgelegenen Ort ausgewählt. Ihr seid ganz auf euch selbst gestellt. Hier zählen nur eure Leistung und euer unbedingter Wille zum Erfolg.«
Es herrschte Stille, während Dürers Blick langsam von einem zum anderen wanderte. Vicky spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.
»Es wird nicht immer fair zugehen, das kann ich euch schon jetzt versprechen. Aber das Showbusiness ist nicht fair und derjenige von euch, der G.M.S. gewinnt, wird nicht nur eine Menge Kohle und einen Wahnsinns-Vertrag bekommen, sondern auch in das Haifischbecken der Musikindustrie geworfen werden. Dann wird der Gewinner oder die Gewinnerin froh sein, hier schon mal einen Vorgeschmack bekommen zu haben. Und natürlich legen auch wir großen Wert darauf, dass unser Megastar nicht heulend von der Bühne rennt, wenn er zum ersten Mal von einem Journalisten beleidigt wird.«
Es folgte eine weitere Pause, ein erneutes Mustern der Gruppe.
»Wir haben die ganze Insel gemietet. Abgesehen von ausgesuchtem Personal gibt es hier nichts und niemanden außer uns und die Show. Ab diesem Moment werdet ihr, egal, wo ihr geht oder steht, von einer Kamera beobachtet.«
Dürer wandte sich von ihnen ab und seine Hand beschrieb einen weiten Bogen über die Palmenfront. »Unser Team ist seit einer Woche auf der Insel und hat überall Kameras installiert. Ganz so, wie es ein Megastar tagtäglich erlebt. Auch die Kameras der Paparazzi sind überall.«
Er wandte sich ihnen wieder zu. »Es gibt kaum eine Stelle, an der ihr völlig unbeobachtet seid. Passt also auf, was ihr tut. Auch dämliches Verhalten kann euch aus dem Rennen werfen.«
Sofort entstand allgemeines Gemurmel und Dürer wartete, bis es wieder ruhiger wurde, bevor er weitersprach.
»Ja, ihr habt schon richtig gehört. Ihr fliegt nicht nur raus, wenn ihr scheiße singt. Ich gebe euch jetzt mal einen ersten Überblick über die wichtigsten Regeln. Hört gut zu und merkt euch, was ich euch sage. Vieles von dem, was ihr aus anderen Castingshows kennt, gibt es bei G.M.S. nicht. Nachsichtigkeiten, Hilfen, Entschuldigungen … Nicht bei uns. Wer beim Singen einen Texthänger hat, fliegt ohne Diskussionen raus, egal, wie gut er gesungen hat.«