1 Definition und Differentialdiagnose

1.1 Der »Schlaganfall«

Der Schlaganfall ist ein klinisch definiertes Syndrom, das durch ein plötzlich einsetzendes, fokal-neurologisches Defizit mutmaßlich vaskulärer Ursache gekennzeichnet ist. Synonym werden die Begriffe »Hirninsult« oder »Stroke« verwendet. Der veraltete Terminus »Apoplex« (= »niedergestreckt werden«) reduziert die Krankheit auf schwerste motorische Defizite und sollte heutzutage vermieden werden. Die Diagnose eines Schlaganfalls wird primär anhand des klinischen Syndroms gestellt, daraus können jedoch keine sicheren Anhaltspunkte im Hinblick auf Ätiologie und Pathogenese gewonnen werden. Vielmehr liegt dem Schlaganfall ein vielfältiges differentialdiagnostisches Spektrum zugrunde, das durch gezielte Zusatzdiagnostik aufgeschlüsselt werden muss (s. Tab. 1.1).

1.2 Klassifikation von Schlaganfallsyndromen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten den Schlaganfall zu klassifizieren. Im Wesentlichen erfolgt dies nach 1. dem Pathomechanismus des Insultes, 2. dem zeitlichen Verlauf, 3. der Schwere des Defizits, 4. der Ätiologie des Insultes, 5. dem betroffenen arteriellen Stromgebiet und 6. dem Infarktmuster in der Bildgebung. Diese wesentlichen Aspekte sollen im Folgenden kurz dargelegt werden.

1. Pathomechanismus des Insultes

Man unterscheidet nach dem zugrunde liegenden Pathomechanismus 1. ischämische Insulte von 2. hämorrhagischen Insulten (= Hirnblutungen). Dabei machen ischämische Insulte etwa 80–85 %, Hirnblutungen etwa 15 % aller Schlaganfälle aus. Es gibt keine verlässlichen Kriterien, diese beiden Insultformen klinisch zu differenzieren (Weir 1994). Dies ist nur durch eine zerebrale Bildgebung mittels CT oder MRT möglich. Vor dem Hintergrund gegensätzlicher Therapiestrategien ist diese Differenzierung höchst bedeutsam. Eine spezifische Schlaganfalltherapie ist erst nach erfolgter Bildgebung – und im

Tab. 1.1: Ätiologische Subgruppen des Schlaganfalls.

1

Ischämischer Insult

1.1

Arterielle Makroangiopathie

  • Atherosklerotische Gefäßkrankheiten
    • Aortenbogen
    • Extrakranielle hirnversorgende Arterien
    • Intrakranielle hirnversorgende Arterien
  • Gefäßdissektionen
    • Spontan (meistens)
    • Traumatisch
  • Vaskulitiden
    • Generalisierte Form (meistens)
    • Isoliert am ZNS
  • Vasospasmen nach SAB
  • Andere Vaskulopathien ungeklärter Dignität
    • Fibromuskuläre Dysplasie
    • Moyamoya-Syndrom

1.2

Arterielle Mikroangiopathie

  • Erworbene Lipohyalinose penetrierender Arterien und Arteriolen
  • Hereditäre Syndrome*
    • CADASIL: Cerebrale autosomal dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie
    • HERNS: Hereditäre Endotheliopathie mit Retinopathie, Nephropathie und Schlaganfall
    • Susac-Syndrom: Mikroangiopathie von Gehirn, Retina und Cochlea
    • M. Fabry
  • Toxämische Leukenzephalopathie (= Posteriore Enzephalopathie)
    • Peripartale Vaskulopathie
    • Andere

1.3

Kardiogene Embolien

  • Vorhofflimmern
  • Andere Rhythmusstörungen
  • Klappenerkrankungen, künstliche Herzklappen
  • Kontraktionsstörungen, thrombosiertes Herzwandaneurysma
  • Akuter Myokardinfarkt
  • Intrakavitäre Thromben
  • Rechts-Links-Shunt: Paradoxe Embolie

1.4

Andere Ischämieursachen

  • Sinusthrombose mit venösem Stauungsinfarkt
  • Hämatologische Krankheiten
    • Thrombophilien: Erworben – hereditär
    • Hyperviskositätssyndrome
    • Myeloproliferative Erkrankungen
  • Migräne
  • Mitochondriopathien (z.B. MELAS-Syndrom)
  • Gefäßkompression durch Tumor
  • Iatrogene periinterventionelle Insulte

2

Hämorrhagischer Insult

2.1

Intrazerebrales Hämatom

  • Spontan
    • Hypertensiv
    • Gefäßmalformation
    • Amyloidangiopathie
    • Gerinnungsstörung mit hämorrhagischer Diathese
    • Vaskulitis
    • Tumoreinblutung
    • Stauungsblutung infolge venöser Thrombose
    • Sympathikomimetika-Einnahme
  • Traumatisch

2.2

Subarachnoidalblutung

  • Spontan
    • Arterielles Aneurysma
    • Gefäßmalformation
    • Hämorrhagische Diathese
    • Perimesenzephal: Venöse Ruptur (?)
  • Traumatisch

2.3

Subdurales Hämatom

  • »Spontan«
    • Chronischer Alkoholismus
    • Rezidivierende Mikrotraumen
    • Hämorrhagische Diathese
  • Traumatisch

2.4

Epidurales Hämatom

  • Traumatisch

* Hier sind weitere Varianten, u.a. das sog. CARASIL als rezessive Form des CADASIL oder das Syndrom mit infantiler Hemiparese, retinaler arterieller Gefäßschlängelung und Leukenzephalopathie beschrieben worden.

Gegensatz zum Myokardinfarkt nicht bereits im Notarztwagen – möglich. Darüber hinaus sind sowohl ischämische als auch hämorrhagische Insulte in sich ätiologisch heterogen (s. Tab. 1.1).

2. Zeitlicher Verlauf der klinischen Defizite

Anhand des zeitlichen Verlaufs des klinischen Defizits werden die »Transitorisch-ischämische Attacke« (TIA) und der »vollendete Insult« (engl. completed stroke) unterschieden. Von einer TIA spricht man, wenn sich die neurologischen Defizite innerhalb von 24 Stunden vollständig zurückbilden. Bestehen die Symptome über 24 Stunden, so liegt ein vollendeter Insult vor. Daneben wurden weitere Begriffe wie RIND (reversibles ischämisches neurologisches Defizit) oder PRIND (prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit) eingeführt, die ein Defizit beschreiben, dass > 24 Stunden bis 7 Tage besteht und sich vollständig zurückbildet. Diese Begriffe führen zu keinem Informationsgewinn und sollten daher nicht mehr verwendet werden.

Der ursprüngliche Zweck des TIA-Konzeptes war es, Patienten mit flüchtigen Hirnischämien ohne morphologische Folgeschäden von solchen mit manifesten Hirninfarkten abzugrenzen. Mit zunehmender Verfeinerung der Schnittbilddiagnostik können jedoch in bis zu 50 % aller TIA-Patienten bildgebende Auffälligkeiten des Hirngewebes und in 20–30 % eindeutige Hirninfarkte nachgewiesen werden (Kidwell 1999). Sofern die Insultsymptome länger als 6 Stunden andauern, besteht eine etwa 90 %ige Wahrscheinlichkeit, dass dabei ein Hirninfarkt entstanden ist (Levy-DE). Aufgrund dieser hohen Infarktrate ist eine TIA nach heutiger Erkenntnis nicht mehr als morphologisch reversible, flüchtige Hirnischämie aufzufassen. Darüber hinaus werden in der modernen Bildgebung zunehmend klinisch stumme Hirninfarkte diagnostiziert, die nicht zu einer Insultsymptomatik geführt haben. Daher wird das ursprüngliche Ziel der morphologischen Differenzierung anhand der Klassifikation verfehlt. Die willkürliche 24-Stunden-Grenze der TIA-Definition erscheint antiquiert und wird zunehmend kritisiert (Albers). Es gibt internationale Bestrebungen, eine Terminologie zu etablieren, die neueste pathophysiologische Erkenntnisse und Ergebnisse der Bildgebung mit einbeziehen. Danach soll die TIA als »flüchtige zerebrale oder retinale Dysfunktion mit einer Symptomdauer von meist < 1 Stunde und fehlendem Infarktnachweis« definiert und vom manifesten Hirninfarkt abgegrenzt werden (Albers). Die TIA darf keinesfalls als »kleiner« Schlaganfall verharmlost werden. Gemäß einer aktuellen großen Studie erleiden etwa 20 % der TIA-Patienten innerhalb der nächsten 3 Monate einen erneuten Schlaganfall (10 %) oder eine andere schwere vaskuläre Krankheit (10 %) (Johnston 2000). Insofern ist der volkstümliche Begriff des »Warnschlages« zutreffender. Wegen der hohen Rezidivrate und der noch uneingeschränkten Präventionsmöglichkeit bleibender Schäden sind Ursachenforschung und gezielte Sekundärprävention nach einer TIA von besonderer Dringlichkeit. Im klinischen Alltag wird dem allerdings meist nicht entsprochen (Johnston-SC 2002).

3. Schwere des Defizits

Anhand der Schwere des Defizits werden behindernde Insulte (major strokes) und nicht-behindernde Insulte (minor strokes) unterschieden. Behindernde Insulte führen zu einer alltagsrelevanten Einschränkung der Unabhängigkeit des Betroffenen und werden anhand standardisierter Schlaganfallskalen definiert. Eine alltagsrelevante Behinderung wird z. B. durch einen Wert von ≥ 2 auf der modified Rankin Scale oder von ≤ 95 im Barthel-Index definiert (s.a. Kap. 7). Darüber hinaus bestehen keine systematischen, pathophysiologischen Unterschiede zwischen major und minor strokes. Diese Einteilung ist v. a. für Versorgungsaspekte und als Endpunkt für klinische Studien bedeutsam.

4. Ätiologie des Insultes

Ischämische Insulte Sowohl für die ischämischen als auch für die hämorrhagischen Insulte können zahlreiche Ursachen unterschieden werden. Die 3 wichtigsten Ursachengruppen sind 1. zerebrale Makroangiopathie (= Krankheiten der großen hirnversorgenden Arterien), 2. zerebrale Mikroangiopathie (= Krankheiten der kleinsten penetrierenden Arterien, s.a. Nabavi und Ringelstein 2006, Spezielle zerebrovaskuläre Krankheiten, Kap. 4) und 3. embolisierende Herzerkrankungen. Bei der zerebralen Makro- und Mikroangiopathie kann weiter zwischen atherosklerotischen und nicht-atherosklerotischen Gefäßkrankheiten unterschieden werden. Daneben müssen Krankheiten des Blutes, des Stoffwechsels und seltene erbliche Krankheiten als Insultursache berücksichtigt werden (s. Tab. 1.1).

Hämorrhagische Insulte Zunächst wird nach dem Kompartiment des Blutaustritts differenziert in 1. intrazerebrale, (ICB) und 2. subarachnoidale Blutungen (SAB). Die ICB macht 10–12 %, die SAB 1–2 % aller Schlaganfälle aus. Daneben sind die fast ausschließlich traumatisch bedingten 3. epiduralen und 4. subduralen Hämatome zu nennen.

5. Betroffenes Hirnstromgebiet

Man unterscheidet das vordere Karotisstromgebiet von dem hinteren, vertebrobasilären Stromgebiet. Zusätzlich kann weiter anhand der einzelnen Endarterien und ggf. ihre Äste differenziert werden (s.a. Kap. 5).

16Tabelle. 1.2: TOAST-Klassifikation zur Einteilung der Insulte nach Ursachengruppen.

TOAST-Gruppe

TOAST-Kriterien

1. Arteriosklerose der großen hirnversorgenden Arterien (zerebrale Makroangiopathie)

  • Symptomatik oder Infarkt auf ein Gefäßterritorium beschränkt.
  • Infarkt kortikal oder Infarktdurchmesser > 1,5 cm.
  • ≥ 50 %ige Stenose der extra- oder intrakraniellen hirnversorgenden Arterien.
  • Ausschluss anderer Ätiologien (z.B. kardiogene Emboliequelle, Mikroangiopathie).

2. Kardiogene Embolie

  • Klinik passend zu thrombembolischem Insult.
  • Infarkte in mehreren Gefäßterritorien oder Infarkt rein kortikal oder Infarktdurchmesser > 1,5 cm.
  • Signifikante kardiale Emboliequelle (s. Tab. 6).
  • Ausschluss anderer Ätiologien (z.B. Stenose hirnversorgender Arterien, Mikroangiopathie).

3. Zerebrale Mikroangiopathie

  • Symptomatik passend zu lakunärem Insult *.
  • Infarkt subkortikal und Infarktdurchmesser ≤ 1,5 cm.
  • Ausschluss anderer Ätiologien. (z.B. Makro angiopathie, kardiale Emboliequelle).

4. Andere Ätiologie

  • Auswahl:
    • Gefäßdissektion
    • Zerebrale Vaskulitis
    • Thrombophilie
    • Mitochondriopathie
    • Iatrogen (perioperativ, während Angiographie).

5. Unklare Ätiologie

  • Keine potentielle Ätiologie oder
  • > 1 potentielle Ätiologie (z.B. Karotisstenose & Vorhoffflimmern) oder
  • Unvollständige Diagnostik.

* Lakunäre Syndrome: rein motorische oder rein sensible Hemiparese, ataktische Hemiparese, Dysarthria Clumsy-Hand-Syndrom

6. Infarktmuster in der Bildgebung

Man kann im Wesentlichen 3 verschiedene Infarktmuster unterscheiden, die Rückschlüsse auf den zugrunde liegenden Pathomechanismus zulassen (s. Teil II, Kap. 2, Abb. 2.2): 1. Territorialinfarkte, die kortikal oder subkortikal lokalisiert und durch kardiogene oder arteriogene Embolien verursacht sind, 2. lakunäre Infarkte (< 1,5 cm) die grundsätzlich subkortikal gelegen und zumeist mikroangiopathischer Genese sind und 3. hämodynamische Infarkte in den kortikalen Grenzzonen oder dem inneren Endstromgebiet des Marklagers, die meist Folge eines extrakraniellen Gefäßverschlusses mit unzureichender Kollateralisierung oder eines passageren Herzstillstandes sind. Bildbeispiele sind Abb. 2.2 in Teil II, Kap. 2 zu entnehmen.

1.3 TOAST-Klassifikation

Hinsichtlich der ätiologischen Zuordnung hat sich international die TOAST-Klassifikation durchgesetzt, die eine Einteilung in 5 Gruppen vornimmt. Da die TOAST-Klassifikation Bestandteil der Qualitätssicherungsprojekte in vielen Bundesländern ist, sollte sie beherrscht und angewendet werden. Allerdings ist diese Klassifikation immer noch sehr grob und stellt allenfalls das Minimalziel einer Kategorisierung dar. Eine spezifischere Differenzierung ist wünschenswert. Tab. 2.2 gibt die TOAST-Klassen und -Kriterien wieder. In Deutschland überwiegen mit ca. 25–35 % kardiogene Embolien, gefolgt von Mikroangiopathien (20–25 %), Makroangiopathien (15–20 %) und anderen Ätiologien (5 %). Etwa 20–30 % der ischämischen Insulte bleiben ursächlich unklar: in der Mehrzahl (15–20 %) ist keine mögliche Ätiologie nachweisbar, wesentlich seltener liegen mehrere konkurrierende Ätiologien (5 %) oder eine unvollständige Diagnostik (5 %) vor.

1.4 Differentialdiagnosen des Schlaganfalls

Der Schlaganfall ist gegen verschiedene Differentialdiagnosen abzugrenzen, die durch sorgfältige Anamnese, klinische Untersuchung und apparative Zusatzdiagnostik identifiziert werden müssen. Die häufigsten Differentialdiagnosen werden im Folgenden dargestellt und sind in Tab. 2.3 zusammenfassend wiedergegeben.

1. Epileptischer Anfall mit postiktualem Defizit (Todd’sche Parese)

Durch epileptische Aktivität eines umschriebenen Hirnbezirkes kann es im Anschluss an die epileptische Hirnreizung zu einer postparoxysmalen, bis zu vielen Stunden andauernden, Funktionsstörung größerer Neuronenverbände kommen. Diese kann sich klinisch in einem fokal-neurologischen Defizit wie z. B. schlaffe Hemiparese oder Aphasie äußern. Diese reversible zerebrale Funktionsstörung wird auch nach dem Erstbeschreiber als sog. Todd’sche Parese bezeichnet. Die initial aufgetretene, konvulsive Reizsymptomatik muss dem Patienten nicht bewusst geworden oder erinnerlich sein. Manchmal sind aber myoklonische Phänomene oder ein sog. »March of convulsion« (= fokale Ausbreitung der abnormen Hirnerregung mit »wandernder« Symptomatik am Körper) gezielt eruierbar. Häufig leitet der stark fluktuierende Charakter der Defizite auf die korrekte Diagnose. Selten kann es auch während der epileptogenen Erregung zu einem plötzlichen Defizit kommen. Neben Hemihypästhesien und neuropsychologischen Defiziten (Aphasie, Apraxie) wurde auch eine iktuale Hemiparese beschrieben. Sofern eine Epilepsie noch nicht bekannt ist, kann die differentialdiagnostische Abgrenzung gegenüber einem flüchtigen Hirninsult schwierig bis unmöglich sein. Ein stark erhöhter Prolaktinwert im Serum stützt die Epilepsiediagnose. Mittels EEG kann in einem Teil der Fälle ein epileptogener Fokus nachgewiesen werden, in jedem Fall sollte ein Verlangsamungsherd, topographisch korrespondierend zu den Defizitsymptomen bestehen. Bildmorphologisch kann eine Epilepsie-auslösende Hirnläsion nachweisbar sein, ein Normalbefund schließt die Diagnose jedoch nicht aus.

2. Migräneattacke mit Aura

Die Aura-Symptomatik der Migräneattacke, die den Kopfschmerzen meistens vorauseilt, kann einem ischämischen Insult täuschend ähnlich sein. Häufigstes Aurasymptom sind Visusstörungen, jedoch wird das gesamte Spektrum neurologischer Defizite wie z. B. Aphasie, Hemihypästhesie, Hemiparese und Hirnstammsymptome (bei sog. Basilarismigräne) beobachtet. Die Diagnose ist i.d.R. nur per Ausschlussdiagnostik zu stellen, insbesondere wenn eine isolierte Aura ohne Kopfschmerzen besteht (sog. Migraine sans migraine). In dieser diagnostisch unbefriedigenden Situation ist häufig ein besonders großer apparativ-diagnostischer Aufwand erforderlich, will man nicht Gefahr laufen, eine bedrohliche und abwendbare, Krankheit zu übersehen.

3. Peripherer Schwindel durch vestibuläre Störung

Eine vestibuläre Störung kann klinisch manchmal nicht sicher von einem Hirnstamm- oder Kleinhirninsult abgegrenzt werden. Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel ist durch seine kurzzeitigen, durch Kopfbewegungen ausgelösten Drehschwindelattacken meist eindeutig identifizierbar. Auch ein vollständiger Vestibularisausfall (sog. Neuropathia vestibularis) ist anhand des heftigen Erbrechens, dem richtungskonstanten Drehschwindel und Spontannystagmus differentialdiagnostisch meist kein Problem. Ein inkompletter Vestibularisausfall, eine Menière’sche Attacke, eine unscharfe Anamnese und eine flüchtige oder atypische klinische Präsentation stellen eine große diagnostische Herausforderung dar. Anhaltspunkte für eine peripher-vestibuläre Störung sind Tab. 1.3 zu entnehmen.

4. Akute Hypoglykämien

Der zerebrale Funktionsstoffwechsel ist auf die kontinuierliche Zufuhr von Energie in Form von Glukose und Sauerstoff und auf eine metabolische Homöostase angewiesen. Daher kommt es im Falle einer Minderversorgung oder metabolischen Entgleisung mit kurzer Latenz zu neurologischen Funktionsstörungen. Die häufigste metabolische Ursache für akute neurologische Ausfälle ist die akute Hypoglykämie. In den meisten Fällen einer Hypoglykämie stehen jedoch diffuse Symptome in Form von Schwitzen, Benommenheitsgefühl, Schwindel, Verwirrtheit und Bewusstseinstrübung bis hin zum Koma, nicht selten begleitet von epileptischen Anfällen, im Vordergrund. In seltenen Fällen können jedoch auch fokal-neurologische Defizite wie z. B. eine sensomotorische Hemiparese entstehen und einen akuten Hirninsult vortäuschen (Vanpee). Auch eine dekompensierte Hyperglykämie mit Ketoazidose kann zu variablen Bewegungsstörungen führen und mitunter einen Hirninsult imitieren. Daher gehört die Bestimmung des Blutzuckers per Schnelltest zur absoluten Notfalldiagnostik des Insultes. In seltenen Fällen wurden auch Insult-artige Symptome bei Vorliegen einer akuten Hyponatriämie und als Folge einer akuten Hypoxie beschrieben (Berkovic).

5. Kompressionssyndrome peripherer Nerven und Plexus

Kompressionsbedingte Funktionsstörungen des peripheren Nervensystems können anhand der anamnestisch berichteten mechanischen Schädigung und dem Verteilungstyp sensibler und motorischer Defizite meistens bereits klinisch identifiziert werden. Dennoch gibt es Situationen, in denen eine Abgrenzung zu einem Insult schwierig bis unmöglich ist und diese erst durch Zusatzdiagnostik und anhand des klinischen Verlaufs geklärt werden kann. Als Beispiel ist hier die postoperative Armplexusparese mit schlaffer Lähmung und erloschenen Muskeleigenreflexen z. B. nach aortokoronarer Bypass-Operation zu nennen. Hier kann eine kompressive Plexusparese infolge intraoperativer Fehllagerung nicht immer sofort von einem intraoperativen Hirninsult abgegrenzt werden. Auch im Schlaf aufgetretene Armplexusparesen können manchmal zu diagnostischen Schwierigkeiten führen. Darüber hinaus können die morgendliche oder plötzlich bemerkte Fallhand oder der Fallfuß durch Radialis- bzw. Peronaeusparese einen lakunären oder einen kleinen kortikalen Infarkt mit sensomotorischer Monoparese vortäuschen. Im Gegensatz dazu ist eine periphere Fazialisparese klinisch in den weitaus meisten Fällen aufgrund der Parese der Stirnmuskulatur und des Augenschlusses von einer zentralen fazialen Parese abgrenzbar, nicht jedoch im Falle eines faszikulären oder kernnahen kleinen Pons-Infarktes.

6. Akute, nicht-vaskuläre ZNS-Läsion

Verschiedene entzündliche Gehirnerkrankungen können, wenn sie in umschriebenen Hirnarealen akut auftreten, zu einer typischen Insultsymptomatik führen, die von einem ischämischen Insult nicht sicher differenzierbar ist. Häufige Beispiele sind hochfloride Schübe einer Multiplen Sklerose oder ADEM (akute disseminierte Enzephalomyelitis), metastatisch-septische Hirnphlegmone oder Hirnabszess oder andere hochakut verlaufende Enzephalitiden. Auch solitäre Hirntumoren oder eine diffuse zerebrale Metastasierung manifestieren sich selten perakut und täuschen dann einen Schlaganfall vor (Morgenstern).

7. Psychogene Störungen

Grundsätzlich kann jedes neurologische Symptom auch auf psychogener Grundlage (dissoziativ, somatoform) entstehen und in der Notfallsituation zahlreiche neurologische Erkrankungen vortäuschen. Im Hinblick auf den akuten Insult stellt die dissoziative Hemiparese eine seltene und klinisch anspruchsvolle Differentialdiagnose dar (Dula). Meist kann man aber an dem Fehlen typischer Reflexauffälligkeiten, den inkonsistenten Detailbefunden, den gelegentlich grotesk anmutenden Symptomausprägungen mit teils streng median begrenzter Anästhesie und der Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der präsentierten Parese und den Fähigkeiten des Patienten während unbeobachteten Verhaltens sehr rasch die psychogenetische Verursachung der Störung erkennen. Eine früher vermutete Bevorzugung der linken Körperseite konnte in einer aktuellen Metaanalyse nicht bestätigt werden (Stone). Sicherer wird diese Diagnose, wenn sich zusätzlich konkrete Anhaltspunkte für eine floride Konfliktsituation nachweisen lassen. Die Differentialdiagnose kann dadurch kompliziert werden, dass Patienten ein Mischbild aus organisch verursachtem Insult und psychogener Ausgestaltung der Symptomatik aufweisen. Da die Prognose funktioneller Defizite unbehandelt nicht gut ist (Crimlisk), sollte eine fachgerechte psychosomatisch orientierte Weiterbehandlung angeschlossen werden.

22Tabelle. 1.3: Übersicht der wichtigsten Differentialdiagnosen des ischämischen Insultes.

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2 Intrazerebrale Blutungen

2.1 Epidemiologie

In der westlichen Welt sind 10–20 % aller Schlaganfälle Folge einer intrazerebralen Blutung (ICB) (Stegmeyer). Im Hinblick auf den ethnischen Hintergrund findet sich die höchste Inzidenz bei Asiaten, eine mittlere Inzidenz bei Afroamerikanern und eine relativ niedrige Inzidenz bei weißen Kaukasiern (Qureshi 1999; Ueda; Broderick 1992). Die Inzidenz der ICB beträgt heute in westlichen Wohlstandsländern etwa 20 pro 100.000/Jahr, ihre Prognose ist schlecht (Qureshi 2001). Die Letalität innerhalb eines Jahres beträgt etwa 50 %, wobei 25 % bereits innerhalb der ersten 72 Stunden versterben.

2.2 Risikofaktoren und Ursachen

Nach neuesten Metaanalysen sind die 4 wichtigsten Risikofaktoren für das Auftreten einer ICB 1. arterielle Hypertonie, 2. höheres Lebensalter, 3. männliches Geschlecht und 4. hoher Alkoholkonsum (Ariesen). In den letzten Jahren konnte auch die Zerebrale Amyloidangiopathie (CAA) als wichtiger, unabhängiger Risikofaktor für ICBs insbesondere im höheren Lebensalter (70 Jahre) identifiziert werden (Ritter). Gerinnungsstörungen, die entweder hereditär (z. B. Hämophilie), erworben (z. B. idiopathische Thrombozytopenien) oder therapeutisch bedingt sind (z. B. Therapie mit Antikoagulantien), gehen ebenfalls mit einem erhöhten ICB-Risiko einher. Intrakranielle Gefäßmissbildungen (Hämangiome, arterio-venöse Malformationen) können ebenso wie eingeblutete Tumoren oder eingeblutete ischämische Hirninfarkte zu einer ICB führen. Das Risiko einer ICB scheint darüber hinaus bei Rauchern, Diabetikern und möglicherweise auch bei Patienten mit sehr niedrigen Cholesterinwerten erhöht zu sein (Ariesen). Die Kombination mehrerer Risikofaktoren potenziert das Risiko einer ICB, die Wertigkeit von Einzelfaktoren ist dann schwierig zu beurteilen. Tab. 2.1 listet die Risikofaktoren der ICB inklusive ihrer Wertigkeit auf.

25Tabelle. 2.1: Risikofaktoren der Intrazerebralen Blutung.

Risikofaktor

Risikoerhöhung generell

Bemerkungen, Subgruppen

Antikoagulation

7–10-fach

  • 4-fach für INR > 4 vs. INR 2–3.
  • 2-fach pro weiterer INR-Einheit.

Zerebrale Amyloidangiopathie (CAA)

5–6-fach

  • 10-fach für lobäre Blutungen.
  • 4-fach für tiefe Blutungen.

Männliches Geschlecht

3–4-fach

  • 1,4-fach in Fall-Kontroll-Studien.
  • 4,6-fach in Kohorten-Studien.

Arterielle Hypertonie

3–4-fach

  • 2-fach für RRsys 130–139, RRdias 85–89 mm Hg.
  • 5-fach für RRsys 140–159, RRdias 90–99 mm Hg.
  • 10-fach für RRsys 160–179, RRdias 100–109 mm Hg.
  • 33-fach für RRsys ≥180, RRdias ≥110 mm Hg.

Alkoholkonsum

3–4-fach
(> 56 g/d)

  • Nicht erhöht, wenn < 5 g/d.
  • 2-fach für 10–56 g/d.
  • 4-fach für > 56 g/d.

Alter

2-fach pro Dekade

Rauchen

1,3-fach

Diabetes mellitus

1,3-fach

Nach dem Ausmaß der Risikoerhöhung geordnet.
RR= Blutdruck.

1. Arterielle Hypertonie

Die arterielle Hypertonie ist seit langem als erstrangiger Risikofaktor für ICB bekannt. Mehr als 70 % der Patienten mit ICB haben eine vorbekannte Hypertonie oder – als Sunogatmarker – elektrokardiographische Zeichen der Linksherzhypertrophie, d. h. eines Endorganschadens, der nur nach mehrjähriger Hypertonie entstehen kann. Die arterielle Hypertonie allein wird für ∼40 % aller primären ICB verantwortlich gemacht. Pathogenetisch können bei Hypertonikern in Stress-Situationen exzessive Blutdruckspitzen auftreten und zur Ruptur eines Hirngefäßes führen. Die Mehrheit der Blutungen tritt allerdings während trivialer, alltäglicher Verrichtungen auf, so dass Blutdruckkrisen nicht als regelhafte Auslöser zu betrachten sind. Als Folge des chronischen Hochdrucks liegen wahrscheinlich hypertensive arterielle Mikroaneurysmen vor. Nächtliche ICB, die beim Aufwachen bemerkt werden, sind im Gegensatz zum ischämischen Hirninfarkt selten. Durchschnittlich ist das Risiko für einen Patienten mit arterieller Hypertonie gegenüber einem Patienten ohne Hypertonie etwa um den Faktor 3–4 erhöht (Ariesen). Jedoch ist der Ausprägungsgrad der Hypertonie entscheidend für das individuelle Risiko: Mit jedem Anstieg des Blutdrucks um ∼20/10 mm Hg (systolisch/diastolisch) verdoppelt sich das Risiko (Suh). Aufgrund sehr sorgfältiger und detaillierter histopathologischer Analysen von Fisher (1971) an Massenblutungen des Hirnstamms und der Stammganglien konnte die sog. »Domino-Hypothese« für die Entstehung der hypertensiven Blutungen entwickelt werden: Aus den miliaren Mikroaneurysmen (sog. Bouchard-Charcot-Aneurysmen) der langen, dünnen perforierenden Hirnarterien kommt es zur hypertensiven Ruptur mit einer zunächst kleinen Kugelblutung. Durch diese Initialblutung werden benachbarte penetrierende Arterien und Arteriolen verdrängt und gedehnt. Diese rupturieren dadurch ebenfalls und bilden kleine Hämatome, die dann zunehmend konfluieren. Dadurch wachsen die Hämatome zunächst rasch weiter, bis der Gewebedruck so hoch ist, dass er dem Blutdruck in den kleinen Arterien und Arteriolen standhält und die akute Hämatomausbreitung gestoppt wird. Innerhalb der ersten 6–12 Stunden nach Ereignis muss daher mit einem signifikanten Hämatomwachstum gerechnet werden. Dann kommt es sukzessive zur Gewebenekrose der betroffenen Areale, wodurch der Gegendruck wieder sinkt.

2. Alter und männliches Geschlecht

Die Inzidenz intrazerebraler Blutungen steigt mit höherem Lebensalter stark an. Das Risiko steigt etwa um den Faktor 2 pro Dekade (Ariesen; Suh). Männer sind häufiger von Hirnblutungen betroffen als Frauen. Die Angaben des relativen Risikos schwanken aber stark von 1,9 bis 4.

3. Alkoholkonsum

Es besteht ein dosisabhängig erhöhtes Risiko für Hirnblutungen durch erhöhten Alkoholkonsum. Alkohol erhöht das Risiko für eine ICB durch akute und chronische Blutdrucksteigerungen, zusätzlich auch durch eine Inhibierung von Blutplättchen und toxische Effekte auf die Synthese der Gerinnungsfaktoren in der Leber. Eine Schwierigkeit bei der Bewertung vorliegender Studien liegt in der heterogenen Definition eines »erhöhten« Alkoholkonsums (zwischen 30 g und 100 g/d in den verschiedenen Publikationen). Das Risiko ist für die Gruppe der »moderaten« Trinker (≤ 55 g/d) ca. 2-fach, für die »starken« Trinker (> 55 g/d) 4-fach erhöht (Ariesen). Zur Erinnerung sei noch einmal darauf hingewiesen, dass 0,5 l Bier und 0,25 l Wein ca. 25 g Alkohol enthalten.

4. Zerebrale Amyloidangiopathie

Die Erstbeschreibung der CAA (= kongophile Angiophatie) erfolgte im Jahre 1938 durch Scholz. Die CAA ist gekennzeichnet durch Amyloidablagerungen in den kleinen und mittelgroßen Arterien der Leptomeningen, des Kortex und des Subkortex (vgl. Abb. 2.1, s. auch Abb. 5.2 auf S. 86) Die CAA ist eine Gefäßkrankheit des höheren Lebensalter (∼ ab 70 Jahren) und kann bei alten Menschen häufig als Zufallsbefund nachgewiesen werden. Es besteht keine Verknüpfung zu systemischen Amyloidosen. Die Diagnose kann mit Sicherheit nur histopathologisch belegt werden. Beweisend für das Vorliegen einer CAA im histopathologischen Präparat ist die Färbung der Gefäßwand mit Kongorot, die nach Doppelbrechung im polarisierten Licht grün erscheint. Die genaue Art des Amyloids lässt sich immunhistochemisch nachweisen, in der Regel handelt es sich um β-Amyloid, das auch beim Morbus Alzheimer zu finden ist (Vinters). Die meisten Fälle von CAA sind sporadisch. In Abgrenzung zu diesen sporadischen Fällen gibt es aber auch hereditäre Formen, die heterogen sind und nach dem Herkunftsland der Index-Familien bezeichnet werden. Sie beruhen auf Mutationen im Amyloid Precursor Protein (»dutch type«), im Gelsolin Gen (»finnish type«) oder im Cystatin C Gen (»icelandic type«). Weitere Mutationen in anderen Genen sind beschrieben (Revesz). Die hereditäre CAA verursacht rezidivierende lobäre Hirnblutungen, die bereits im jüngeren Erwachsenenalter auftreten. Die Lebenserwartung der Patienten ist reduziert, viele Patienten mit CAA entwickeln eine Demenz. Die epidemiologische Bedeutung der CAA lässt sich zur Zeit noch nicht quantifizieren, da die in vivo Diagnose dieser Krankheit noch unzuverlässig ist (Knudsen). Dringende klinische Verdachtsmomente für eine CAA bei Patienten mit ICB sind: 1. Lebensalter > 70 Jahre, 2. fehlende arterielle Hypertonie und 3. Demenz vom Alzheimer Typ. Eine fehlende Demenz schließt eine CAA allerdings keineswegs aus. Zu der Bildgebung sprechen 4. die lobäre Lokalisation der ICB und 5. multiple Mikro-

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Abb. 2.1: Kongorotpräparat einer CAA mit Mikroblutung. Histopathologisches Bild einer schweren zerebrale Amyloidangiopathie (CAA) mit perivaskulären Mikroblutungen (↑). Die Wandtextur der Arteriole ist aufgelöst, das ursprüngliche Gefäßlumen ist nur zu erahnen. Es findet sich kongophiles Material (dunkelgrau) innerhalb der Gefäßwand (→). Schnitt aus dem Okzipitallappen. Kongorotfärbung, Lichtmikroskopie, 100-fach.

blutungen (einzeitig oder sukzessive) in der T2*-Sequenz des MRT für eine CAA (Vinters). Kürzlich konnte unsere Arbeitsgruppe zeigen, dass selbst bei Vorliegen klassischer Risikofaktoren die sporadische CAA ein zusätzlicher, unabhängiger Risikofaktor für Hirnblutungen ist (Ritter). Zur Abschätzung der Höhe dieses Risikos fehlen Daten aus großen prospektiven Studien. Aktuell geht man davon aus, dass die CAA für etwa 20 % aller ICBs ursächlich bedeutsam ist.

5. Gerinnungsstörungen

Hereditäre Gerinnungsstörungen Patienten mit einer Hämophilie haben, gemäß älterer Studien, ein Risiko von ca. 2–5 % pro Jahr, eine Gehirnblutung zu erleiden. Kopftraumata – auch sehr geringen Schweregrades – sind für diese Patienten ein wichtiger Auslöser intrakranieller Blutungen und sind bei > 50 % der Fälle zu eruieren. In einer neueren Studie an 400 Patienten mit Hämophilie, die über 10 Jahre beobachtet wurden, betrug das Hirnblutungsrisiko nur 1 % pro Jahr (Antunes). Das Manifestationsalter lag < 50 Jahren. Bisweilen erleiden Hämophilie-Patienten bereits unter der Geburt eine erste ICB. Neben den klassischen Hämophilien A und B haben auch Mangelerkrankungen der Gerinnungsfaktoren I, VII, und XIII sowie ein Mangel an Von-Willebrand-Faktor ein erhöhtes ICB Risiko. Aufgrund der Seltenheit dieser Gerinnungsstörungen ist deren volksmedizinische Bedeutung gering (Del Zoppo).

Erworbene Gerinnungsstörungen Zu den wichtigsten erworbenen Ursachen für eine Gerinnungsstörung, die mit dem Auftreten von ICBs vergesellschaftet sind, gehören die Idiopathische Thrombozytopenische Purpura (ITP), die Thrombotisch Thrombozytopenische Purpura (TTP) und schwere Leukämien. Auch die Heparin-induzierte Thrombozytopenie Typ II (HIT II) kann mit Hirnblutungen einher gehen. Die Blutungsgefahr ist besonders groß bei Thrombozytenzahlen von < 20.000/μl oder – wenn zusätzliche Risikofaktoren (vor allem eine Hypertonie) bestehen – bereits ab < 50.000/μl. Patienten mit schweren Lebererkrankungen sind einerseits durch den Mangel an produzierten Gerinnungsfaktoren gefährdet und andererseits durch einen Thrombozytenmangel infolge der Milzvergrößerung. Prädilektionsstelle für eine Blutungskomplikation ist bei diesen Patienten der obere Gastrointestinaltrakt durch rupturierte Ösophagusvarizen.

Iatrogene Gerinnungsstörungen Die Gabe von Antikoagulantien, Fibrinolytika oder Thrombozytenaggregationshemmern ist mit einem relevant erhöhten Risiko für eine ICB behaftet. Die toxische Knochenmarksdepression durch Medikamente ist demgegenüber sehr selten.

Das spontane Risiko einer ICB in der Normalbevölkerung (ca. 0,1 %/Jahr) wird durch die Gabe von Acetylsalicylsäure etwa verdoppelt, durch die Gabe von Antikoagulantien (Marcumar, Warfarin) verzehnfacht und durch die Anwendung von Fibrinolytika verzwanzigfacht. Die Gabe von Heparin erhöht das Risiko einer ICB etwa um den Faktor 4. Etwa 10 % aller Patienten mit ICB stehen zum Erkrankungszeitpunkt unter Antikoagulantien oder haben kurz zuvor fibrinolytische Medikamente erhalten (Mendelow).

Das absolute Risiko einer ICB unter Marcumar ist abhängig vom INR-Wert: Bei dem üblichen Ziel-INR von 2–3 beträgt das Risiko einer ICB unter oraler Antikoagulation etwa 1–2 % pro Jahr (Gorter). Bei höheren INR-Zielwerten oder akzidentellen Überdosierungen steigt das Risiko stark an (Broderick 1999). Das Blutungsrisiko neuerer Substanzen (z. B. direkte Thrombininhibitoren wie Ximelagatran) kann noch nicht abschließend beurteilt werden, ist aber möglicherweise geringer. Aufgrund ihrer besseren Steuerbarkeit sind akzidentelle Überdosierungen und damit Phasen mit stark erhöhtem Blutungsrisiko bei Thrombininhibitoren seltener.

6. Gefäßmissbildungen

In großen Sektionsserien an Verstorbenen ohne Anhalt für eine ICB zeigten sich in 4 % der Gehirne angiomatöse Gefäßmissbildungen. Zu 60 % handelt es sich um venöse Angiome, die nur extrem selten bluten. Darüber hinaus fanden sich in 16 % Teleangiektasien, in 14 % arterio-venöse Gefäßmissbildungen und in 9 % kavernöse Angiome. Annähernd 20 % der ICBs beruhen auf diesen 3 zuletzt genannten Gefäßmissbildungen.

Arterio-venöse Angiome bestehen aus einem Gefäßknäuel arterieller und venöser Gefäße mit arterio-venösem Shunt und arterialisierten Venen, ohne dass ein druckminderndes Kapillarbett dazwischen geschaltet ist (= »high-pressure« oder »high-flow« Angioma). Sie sind Folge einer gestörten Differenzierung der Gefäße in der 3. Woche der Embryogenese. Abgesehen von dem Blutungsrisiko kann es durch den hohen Druck im venösen Bett zur kongestiven Enzephalopathie kommen. In 60 % aller Angiom-assoziierten ICBs beträgt das Erkrankungsalter < 40 Jahre. Arterio-venöse Malformationen können familiär als Teleangiektasia hemorrhagica hereditaria (Rendu-Osler-Weber-Krankheit) auftreten. Eine Sonderform stellen die duralen arterio-venösen Malformationen dar (auch als »durale Fisteln« bezeichnet). In der Regel werden sie von Ästen der A. carotis externa, der interna oder aus der A. vertebralis über die A. occipitalis externa gespeist. Die intradural gelegenen venösen Sinus oder Brückenvenen werden dadurch arterialisiert. Die Blutung erfolgt aus diesen venösen Strukturen.

Kavernöse Angiome (Kavernome) bestehen aus dünnwandigen, sinusoidalen, oft nur aus Endothel und Bindegewebe bestehenden, dicht aneinander liegenden Kanälen ohne dazwischen liegendem Hirngewebe. Die Diagnose wird meist kernspintomographisch gestellt. Häufig treten kleine Sickerblutungen und nur gelegentlich große Massenblutungen auf. Die Läsionen werden vorwiegend im 3.

und 4. Lebensjahrzehnt symptomatisch. In 10 bis 20 % der Fälle sind multiple Kavernome nachweisbar, familiäres Auftreten kommt vor.

Venöse Anomalien (= DVA, engl. developmental venous anomaly) sind häufig mit anderen Gefäßmissbildungen des Gehirns assoziiert. Das Blutungsrisiko dieser Malformation ist sehr gering, vermutlich liegen den blutenden Läsionen Übergangsformen zu echten arteriovenösen Missbildungen zugrunde. Gelegentlich kann auch die Angiographie keine eindeutige Differenzierung erzwingen.

Teleangiektasien liegen überwiegend infratentoriell, ihr Blutungsrisiko ist insgesamt gering, entsprechend selten sind die Fallberichte. Wichtig ist auch hier der Ausschluss zusätzlicher Gefäßmissbildungen, insbesondere kavernöser Angiome.

2.3 Hämorrhagischer Hirninfarkt

Sämtliche ischämische Hirninfarkte enthalten winzige Erythrozytenaustritte aus den ischämisch geschädigten Arteriolen und Kapillaren, die nur mikroskopisch erkennbar sind und der CT-Diagnostik entgehen. Per definitionem werden ischämische Hirninfarkte aber erst dann als »hämorrhagisch« bezeichnet, wenn sie zahlreiche petechiale, fleckförmige, zum Teil konfluierende Blutungen enthalten, die makroskopisch – und damit auch im CT – erkennbar sind. Sie liegen fast ausschließlich in der grauen Substanz und dort v. a. an den Windungstälern der Hirnrinde. Diese petechialen Blutungen werden auch als »hämorrhagische Imbibierung« (= blutige Durchtränkung) bezeichnet. Die führende Hypothese zur Pathogenese besagt, dass diese sekundären Einblutungen vorzugsweise durch spontane oder thrombolyseinduzierte Rekanalisation eines embolisch verschlossenen proximalen Hirngefäßes entstehen. Dadurch werden die zuvor verschlossenen Gefäßäste wieder perfundiert, so dass das arterielle Blut in das infarzierte Areal eindringt. Septische Embolien (z. B. infolge einer Endokarditis) führen gehäuft zu hämorrhagisch transformierten Infarkten, wahrscheinlich durch die massive entzündliche Blut-Hirn-Schrankenstörung. Im Gegensatz zu echten sekundären Massenblutungen nach Hirninfarkt bleiben die hämorrhagischen Transformationen meist klinisch stumm und führen nicht zu einer klinischen Verschlechterung.

2.4 Klinik

Es gibt keine sicheren klinischen Unterscheidungsmerkmale zwischen einer ICB und einem ischämischen Hirninfarkt (Qureshi 2001). Die eigentliche Leitsymptomatik besteht wie beim ischämischen Insult im plötzlich aufgetretenen, fokal neurologischen Defizit, das primär von der Lokalisation des Hämatoms abhängt. Trotzdem gelten einige Begleitsymptome als typisch für eine ICB.

1. Kopfschmerzen und Erbrechen

Kopfschmerzen und Erbrechen werden initial bei bis zu 40 % der ICBs beobachtet, am häufigsten bei Blutungen in die hintere Schädelgrube und bei oberflächennahen Lappenblutungen mit geringer Distanz zu den Meningen. Fehlender Kopfschmerz schließt eine ICB allerdings keineswegs aus (Qureshi 2001).

2. Vigilanzstörungen

Eine Vigilanzstörung liegt bei jedem 2. Patienten bereits in der Perakutphase vor: Etwa 25 % sind somnolent bis soporös und damit noch kontaktierbar, weitere 25 % sind komatös. Von den initial wachen Patienten entwickeln weitere 25 % in den nächsten 24 Stunden eine relevante Bewusstseinsstörung durch Hämatomwachstum, Hirnödembildung oder Liquoraufstau. Sofortiges oder frühes Koma spricht entweder für eine pontine Blutung im Hirnstamm oder für eine sehr große supratentorielle Blutung (Qureshi 2001). Der Grad der initialen Vigilanzstörung ist ein prognostisch wichtiges Zeichen. In der STICH-Studie (s. u.) hatten Patienten mit einem Aufnahme-Score der Glasgow-Coma-Scale (GCS) von < 8 eine ausnahmslos schlechte Langzeitprognose (Mendelow).

Epileptische Anfälle kommen in etwa 5–17 % der intrazerebralen Blutungen im Akutstadium vor. Das ist etwa doppelt so häufig wie bei ischämischen Insulten. Fast immer liegt die Blutung dann supratentoriell und kortexnah (Berger-AR). Die weitaus meisten Anfälle ereignen sich innerhalb der ersten 1–2 Tage als einmaliges Ereignis. Fokale Anfälle sind dabei häufiger als generalisierte. Differentialdiagnostisch müssen epileptische Anfälle von anderen zentral-motorischen Entäußerungen nach ICB abgegrenzt werden: Strecksynergismen infolge Dezerebrationsstarre nach Hirnstammblutungen, dystone Bewegungsstörungen nach Stammganglienblutung und Aktionsmyoklonien nach zerebraler Hypoxie.

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Abb. 2.2: CT-Darstellung einer Stammganglienblutung loco typico (Institut für klinische Radiologie, Universitätsklinikum Münster).

2.5 Apparative Diagnostik

1. CT versus MRT

Die Diagnose einer ICB als Ursache der Beschwerden des Patienten gelingt mit der nativen Computertomographie innerhalb der ersten Stunden nach Symptombeginn mit 100 %iger Sicherheit (s. Abb. 2.2). Aufgrund der raschen Verfügbarkeit, der Kürze der Untersuchung und der relativ einfachen Handhabung auch unkooperativer Patienten ist das CT die Notfalluntersuchung der Wahl bei Verdacht auf ei-

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Abb. 2.3: