cover

 


Diktator 

für einhundert Tage

Roman

 

 



von

Michael Erle


Impressum

Cover: Karsten Sturm – Chichili agency

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865 -424-2

MOBI ISBN 978-3-95865-425-9

 

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kapitel 1

Eyser-Dreik beäugte die Umgebung. Beinahe an jeder Ecke und in jeder Seitengasse hingen verdächtige Grüppchen junger Männer herum, viel zu selten sah er die blauen Uniformen der Polizei. Er malte sich aus, wie er bei einem plötzlichen Schusswechsel im Fußraum des Taxis in Deckung gehen müsste und versuchte sich an die wichtigsten Regeln für Überfälle zu erinnern. Aufgeben, zeigen, dass man keine Waffe hat, alle Forderungen erfüllen. Er fühlte sich nicht gut.

 

Das war also der Auftrag, den ihn sein Vorgesetzter mit den Worten “fast wie ein Urlaub“ verkauft hatte? Alexander Eyser-Dreik und sein Kollege Fritz Heinerleutner waren von der gesamten Abteilung beneidet worden. Sechs Wochen Karibik auf Kosten der Firma, ein paar technische Kontrollen durchführen, ein paar Schulungen abhalten. Doch dann, kaum dass sie in Jamaika angekommen waren, stürzte das Land ins Chaos. Der Premier erschossen, Unruhen und Plünderungen in den Slumvierteln, der Flughafen von Kingston gesperrt. Die beiden Ingenieure hatten versucht, mit dem Taxi nach Montego Bay zu gelangen, dem zweitgrößten Flughafen des Landes, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch nach einer dreistündigen Odyssee, die Mal um Mal an Straßensperren endete, hatte Bob, ihr Fahrer, den Versuch für aussichtslos erklärt und war zum Hilton umgekehrt. “Too dangerous...“

 

Sie näherten sich New Kingston und dem Business District. Die hohen Gebäude der Firmen und Organisationen verdrängten die Wohnsiedlungen, und an jeder Pforte wachten private Sicherheitsdienste. Ohne offensichtlich darauf zu drängen, hielten sie die Straßen von Einheimischen frei. Alexander war darüber froh und empfand nicht einmal die übliche Scham, dass diese Leute wegen ihrer Armut oder Hautfarbe schlechter behandelt wurden.

“Sieht aus als hätten wir unseren kleinen Tagesausflug überlebt”, bemerkte Heinerleutner. “Kannst du erkennen, was auf dem Taxameter steht?”

In diesem Augenblick wurde der Wagen zur Seite gestoßen. Alexander prallte mit dem Kopf gegen den Türrahmen und schnappte nach Luft. Er hörte einen gewaltigen Knall, Bob fluchte, dann folgte ein Klimpern, als fielen kleine Hagelkörner auf das Dach. Er hob den Kopf und sah, dass die Windschutzscheibe plötzlich von einer Schicht weißer Asche bedeckt war. Jemand muss eine Mülltonne von einem Dach geworfen haben, ging es ihm durch den Kopf. Gut, dass sie offensichtlich nicht direkt auf die Fahrgastzelle gestürzt war.

Ein paar Männer begannen auf der Straße wild durcheinander zu schreien. Alexander erwartete, dass Bob aufspringen und in den Chor einstimmen würde, um den Schaden an seinem Taxi zu reklamieren und den Verantwortlichen für diesen Unfall zu finden. Stattdessen machte das Auto einen Satz nach vorn, wodurch Eyser-Dreik zurück auf seinen Sitz knallte. Die Heckscheibe barst und bedeckte seine Schultern und den Sitz neben ihm mit einem Regen aus kleinen Kristallstücken. Mit steifen Gliedern drehte er sich um, sah in der Bewegung, dass Heinerleutner unverletzt war, und blickte auf die Motorhaube eines Minibusses, welcher das Taxi von hinten gerammt hatte. Der Kofferraumdeckel war zusammengestaucht worden und nahm fast völlig die Sicht auf das Geschehen hinter dem Wagen.

Bob stieg nun tatsächlich aus, plärrte den Fahrer des Busses mit einer Reihe von Unflätigkeiten an und schlug wütend mit den Fäusten auf das Dach seines ruinierten Fahrzeugs. Die beiden Deutschen verließen das Taxi ebenfalls und orientierten sich. Sie standen am Bordstein einer breiten Straße kurz vor ihrer Einmündung eines Platzes, dessen Mitte von einer Verkehrsinsel mit einem Brunnen eingenommen wurde. Flammen züngelten aus den Trümmern eines Gebäudes, dessen Fassade eingestürzt war. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Autos standen überall, Rauch hing in der Luft, Aschepartikel flogen umher und setzten sich auf Motorhauben und Wagendächern nieder.

Zahlreiche Fahrzeuge waren wie von unsichtbarer Hand umgeworfen und entzündet worden. Menschen flüchteten in Panik von der Unglücksstelle, ein blutüberströmter Mann rannte auf der gegenüberliegenden Seite der Straße blindlings gegen die Seitenwand eines Kiosks, rappelte sich auf und taumelte in die Richtung davon, aus der er gekommen war.

“Wir müssen dem Mann helfen”, rief Alexander. Es war das einzige, was ihm in diesem Augenblick einfiel.

“Bist du blöde? Ich will hier weg!”, entgegnete Heinerleutner. Sie sahen sich einen Augenblick an. Rußteilchen hefteten sich an ihre nasse Stirn und Wangen.

“Erinnerst du dich noch an die Erste-Hilfe-Stunden?”

“Nicht so richtig. Wen meinst du eigentlich.”

“Na den Mann da. Wo ist der jetzt hin?”

“Vergiss den Kerl. Was ist hier los? Wo kommen die Soldaten her?”

Auf diese Frage seines Kollegen hin fielen Eyser-Dreik die zahlreichen blau uniformierten Männer auf, die begonnen hatten, den Unglücksort zu räumen. Er beobachtete einen untersetzten Soldaten, der mit einem Sturmgewehr in der einen Hand eine sichtlich benommene Frau an ihrem Oberarm in Richtung des Taxis schob. Sie stolperte, verlor einen ihrer hochhackigen Schuhe und humpelte weiter, nachdem der Sicherheitsbeamte sie vom Platz geschleift hatte.

“Vielleicht sollten wir wirklich von hier weg”, überlegte er laut.

“Kannst du erkennen, was auf dem Haus steht?”

“Welchem Haus?”

“Dem großen da”, wies Heinerleutner auf das Bürogebäude, dessen Front eingestürzt war und das im Zentrum des Unfalls gelegen hatte. Die Reste einer Neonanzeige hingen über dem Loch, dass einmal eine größere Lobby gewesen war. Die Buchstaben G, E, I und T waren noch zu erkennen. Alexander fing in diesem Augenblick einen Gesprächsfetzen aus dem Streit zwischen Bob und dem Lenker des Busses auf.

“Bombe?”, rief Alexander und wandte sich an die beiden Fahrer: “Was für eine Bombe? Was ist hier passiert?”

Bob wandte sich ab, und auch der Fahrer des Busses schien nicht in der Laune, Fragen zu beantworten. Er ignorierte den Deutschen und fing an, die Inhaber der Fahrzeuge, die hinter ihm standen, zur Umkehr zu bewegen.

“Hier geht’s nicht weiter. Geht zurück! Zurück”, brüllte er.

“Komm lass uns gehen!”, merkte Heinerleutner an.

Es gelang Bob, auf ihren Wunsch hin die verbogene Luke am Heck seines Wagens aufzuhebeln. Ihre beiden Hartschalen-Koffer waren zusammengestaucht worden, an den Scharnieren aufgesprungen und standen nun offen wie die Muscheln auf einer Pizza Frutti Vongole. Der Inhalt lag teilweise verstreut, schien aber keinen Schaden genommen zu haben. Es kostete sie einige Mühe, die einzelnen Teile des Gepäcks aus dem demolierten Kofferraum zu bergen. Die ersten Ambulanzen trafen ein. Sanitäter eilten an die Unglücksstelle, wo sich bereits einige Zivilisten und Soldaten um die Verletzten kümmerten.

Die beiden Deutschen banden ihre halb zerstörten Koffer notdürftig mit Gürteln und Krawatten zusammen, bezahlten Bob und setzten sich in Bewegung. Es begann zu regnen, ein tropischer Wolkenbruch. In Minuten ergossen sich Wassermassen, die in Deutschland für eine ganze verregnete Novemberwoche gereicht hätten. Alexander und Heinerleutner wurden bis auf die Haut durchnässt.

“Wenigstens wäscht es die Asche ab”, kommentierte Eyser Dreik, nachdem sie wortlos und mit gesenkten Köpfen fünf Minuten durch die Pfützen gewatet waren. Inmitten eines apokalyptischen Verkehrsstaus erreichten sie eine dreiviertel Stunde später das Hilton. Der Manager, der ihnen am Morgen ihre Reisepläne hatte ausreden wollen, war offensichtlich erfreut, sie wohlbehalten wieder zu sehen.

“Gott sei Dank, es ist Ihnen nichts passiert. Als wir von dem Anschlag gehört haben, waren wir sehr besorgt.“

“Wir konnten nicht aus der Stadt kommen”, bestätigte ihm Alexander.

“Sie müssen mir alles erzählen. Wo waren Sie? Was haben Sie gesehen?”

“Können wir uns erst frisch machen? Ich bin sehr durstig.”

Der Manager schaute betroffen. “Leider haben wir Ihre Zimmer bereits vergeben. Sie waren ja bereits ausgecheckt und es ist ein riesiger Andrang, seit Kingston eingeschlossen ist. Aber ich will sehen, was ich tun kann.” Er ging hinter den Rezeptionsschalter und sprach leise mit einer der Damen, die dort Dienst tat. Sie studierten gemeinsam einen Bildschirm, dann winkten sie die beiden Deutschen näher.

“Leider haben wir nur noch ein Zimmer frei”, entschuldigte sich der Manager. “Immerhin ein Doppelzimmer.” Er händigte ihnen eine Schlüsselkarte aus und begleitete sie persönlich in den achten Stock, wo ihre neue Unterkunft lag.

“Waren Sie in der Nähe des Anschlages? Haben Sie etwas davon mitbekommen?” fragte er.

Eyser-Dreik und Heinerleutner blickten sich gegenseitig ungläubig an und an sich herab. Meinte er ihren Zwischenfall? Oder gab es noch weitere Explosionen?

“Eine Bombe. Es heißt der Premierminister wurde verletzt.”

“Der Premier! Aber wo denn?” Eyser-Dreik gingen Bilder ihres Unfalls durch den Kopf.

“Eine Roadside Bomb, wie im Irak”, ereiferte sich der Manager.

“Das war an einem Platz zwei Straßen weiter!”, fiel Heinerleutner ihm ins Wort. “Eine Menge Soldaten waren sofort da und haben alles abgesperrt. Ich habe mir noch gedacht, dass eines der Wracks aussah wie eine große Limousine.”

“Dann ist es also wahr!”, entfuhr es dem Manager. “Wie schlimm sah es aus? Haben Sie erfahren, ob Pontimore noch lebt?”

“Wer? Wir haben nichts gehört.”

“Der Premierminister. George Pontimore.”

Heinerleutner kratzte sich am Kinn. “Die Limousine sah stark beschädigt aus. Ein einziges Blechknäuel. Ich kann mir nicht vorstellen...”

Ihr Gastgeber nahm diese Nachricht mit stummer Erschütterung zur Kenntnis und ließ sie stehen.

Es dauerte nicht lange, bis eine beleibte Hotelangestellte an der Tür ihres Zimmers klopfte und ihnen die Reinigung der in Mitleidenschaft gezogenen Kleidungsstücke anbot. Die beiden Deutschen nahmen das Angebot dankend an, denn durch den Schaden an ihren Koffern und den Regen waren nicht nur die Sachen, die sie am Leib getragen hatten, unansehnlich geworden.

 

In ihren Freizeitjeans und T-Shirts, denen das Wasser nicht viel anhaben konnte, saßen sie dann in ihrem Zimmer und verfolgten die Berichterstattung des jamaikanischen Fernsehens. Ein dunkel gekleideter Ansager verlas vor einem grauen Hintergrund ein Nachrichtenblatt, dass allem Anschein nach hastig ausgedruckt worden war.

“Wie mittlerweile bestätigt wurde, ist Premierminister George Pontimore vor eineinhalb Stunden Opfer eines Anschlags geworden”, verkündete der Ansager und schluckte. Die beiden Deutschen starrten auf den Bildschirm. “Minister Pontimores Konvoi wurde von einer Autobombe getroffen, die vor der Zentrale des General Fruit Konzerns platziert worden war. Bei dem Anschlag kamen weiterhin zwei Sicherheitsbeamte und der Fahrer des Premiers ums Leben. Bislang hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt.” Der Sprecher ließ das Blatt sinken und verharrte einige Augenblicke wortlos. Auf ein Zeichen hin besann er sich und fuhr fort. “Auch sind keine Reaktionen von offizieller Seite bekannt gegeben worden. Zur Sicherheitslage in Kingston sprachen wir heute morgen mit Deputy Commissioner Ferell.”

Es folgte ein Interview mit einem unfreundlichen Polizeibeamten, der eine kurze Erklärung zu den Krawallen abgab und allen Fragen des Reporters eine grimmige Abfuhr erteilte. Alexander schaltete den Ton aus, ließ den Fernseher aber laufen. Heinerleutner, der das Menü des Zimmerservice studiert hatte, reichte ihm das Merkblatt hinüber.

“Wollen wir runter gehen? Hier gibt’s nur aufgewärmte Fertiggerichte.”

“Das war heute eine Autobombe, und wir waren so nah dran”, erwiderte Alexander. Er nahm trotzdem die Schlüsselkarte vom Tisch “Wir kommen schon heil nach Hause”, versuchte ihn Heinerleutner zu beruhigen. “Es wird uns im Hilton nichts passieren.”

Gegen Abend ließ der Regen nach, und die beiden Deutschen konnten auf der Dachterrasse des Hotels ein Bier trinken. Die Inhaber hatten den Empfangssaal, der hier für besondere Anlässe reserviert war, als zusätzliches Restaurant geöffnet.

“Ein besonderer Anlass, in der Tat”, kommentierte Heinerleutner, als er von diesem Arrangement erfuhr. Viele der eingeschlossenen Ausländer, die im Hilton Zuflucht gefunden hatten, nutzen diese Gelegenheit, um zwanzig Stockwerke über den gefährlichen Straßen der Stadt ein wenig frische Luft zu genießen. Die Terrasse, nicht viel größer als ein Tennisplatz, war bald unangenehm voll.

“Warum willst du eigentlich nicht unten am Pool liegen wie sonst”, fragte Heinerleutner. “Hier wird man ja tot getreten.”

“Und unten erschossen. Was, wenn da ein Kerl mit einer Knarre auf der Straße entlang läuft?”

“Das Gelände hat doch Mauern. Außerdem passt die Security auf.”

“Ich will kein Risiko mehr eingehen. Wir warten hier einfach ab, bis wir evakuiert werden oder sich alles beruhigt hat. Bis dahin...” Er prostete der untergehenden Sonne zu.

“Was meinst du, wer uns hier rausholt? Die Amis, die Briten...?”

“Wieso denn die Briten?”

“Jamaika ist Teil des Commonwealth. Du weißt schon: Linksverkehr.”

Alexander brummte abfällig. “Die Amis. Und was wollen die Briten hier?”

“Immerhin ist die Queen das Staatsoberhaupt, vertreten durch einen Governor. Der darf sogar den Premier einsetzen.”

“Hast wohl Google gefressen?”, unkte er. Doch sein eigenes Wissen hatte er sich ebenfalls erst kurz vor der Reise über eine Suchmaschine angeeignet. Jamaika lag in der Karibik, gut hundert Kilometer südlich von Kuba. 2,6 Millionen Menschen wohnten hier auf einer Fläche von der Größe des Bundeslandes Schleswig-Holsteins. Sie war Teil des britischen Commonwealth, seit 1962 unabhängig. Das Klima mild bis tropisch, Regenzeiten im Mai und im September. Mehr als die Hälfte der Wirtschaft lebt vom Tourismus. Sonst gab es nur Bauxit, Bananen und Zucker. Allerdings auch Rum, Musik und Drogen. Kingston stach schon in Friedenszeiten durch eine unglaublich hohe Mordrate hervor, die Bedingungen außerhalb der Innenstadt galten als schlecht.

 

“Ich hatte genug Zeit dazu“, kommentierte Heinerleutner. “Die jamaikanischen Kollegen haben mich nicht so stark gefordert.”

“Angeber”, erwiderte Alexander gerade, als sich eine junge Frau zu ihnen gesellte. Sie trank Wasser und war bunt, aber nicht zu teuer gekleidet. Sie machte auf Eyser-Dreik den Eindruck, als sei sie leicht frustriert.

“I see you are discussing politics”, sagte sie an Stelle einer Einleitung. “Ich bin Sereena Manley. Mr. Timely hat mich eingeladen und gebeten, den Gästen bei Fragen zu diesem Thema zu helfen. Ich studiere an der University of the West Indies Wirtschaftswissenschaften.”

“Und was sollen sie uns erzählen?”, argwöhnte Heinerleutner.

“Herr Timely möchte den Gästen helfen, die Lage zu verstehen und Gerüchte zu vermeiden. Zum Beispiel in Bezug auf den Premierminister und die Nachfolge.”

“Er wird doch wohl einen Stellvertreter haben”, vermutete Alexander. “Oder ist der auch schon tot?”

“Natürlich gibt es einen Stellvertreter: Taylor Ewening ist sein Name. Es ist aber nicht klar, ob er das Amt übernimmt. Er steht unter Korruptionsverdacht, und es wird aktuell gegen ihn ermittelt. Das Parlament debattiert zur Stunde über den Nachfolger.”

“Sie meinen genau zu dem Augenblick, wo das Land den Stellvertreter braucht, kann es ihn nicht gebrauchen, weil er korrupt ist?”

“Denken Sie nicht falsch über Jamaika. Es wird mehr über die Probleme in der Politik geschrieben, als gerechtfertigt ist. Wir sind eine Demokratie, und wir werden damit fertig.” Die junge Jamaikanerin war sichtlich verärgert.

“Es tut mir leid, ich wollte nicht...”, entschuldigte sich Alexander.

“Den ganzen Abend darf ich mir diesen Quatsch nun schon anhören”, beschwerte sie sich. “Warum glauben immer alle, dass sie sich ein Urteil über uns erlauben dürfen?”

“Na ja, wir sind heute fast einer Bombe zum Opfer gefallen. Da macht man sich seine Gedanken.”

“Sie trinken Bier in einer Hotelbar weit über den Dächern der Häuser, in denen wir wohnen. Aber hört man uns etwa Jammern oder sich beschweren?”

Alexander verkniff sich die Antwort. Sie ging weiter und würdigte die beiden Deutschen keines Blickes mehr. Heinerleutner holte noch zwei Bier, und sie beobachteten, wie Kingston langsam in der Dunkelheit versank. Der Schatten der Berge wanderte über die Viertel, die Häuserschluchten waren zunehmend düstere Abgründe zwischen den rot glühenden Dächern.

Auf einmal entstand auf der anderen Seite der Hotelterrasse ein Auflauf. Einige der Gäste spähten vom Dach herunter in die umliegenden Straßen, während andere sich von der Brüstung entfernten. Alexander glaubte, aus dieser Richtung in der Stadt Schussgeräusche zu hören. Er ließ seinen Kollegen stehen und ging hinüber, um sich selber ein Bild zu machen. In der Dämmerung konnte er nur wenig erkennen außer einem gelegentlichem Aufflackern in den Gassen. “Sieht aus wie Mündungsfeuer”, meinte Heinerleutner, der ihm in einigen Schritten Abstand gefolgt war. “Vielleicht automatische Waffen.”

“Woher willst du so was wissen?”

“Geh ins Kino, dann siehst du so was.”

“So ein Quatsch”, erwiderte Eyser-Dreik. Er war verunsichert, zwischen den Kämpfen und dem Hotel lagen nur einige wenige hundert Meter. Er zog seinen Kollegen am Oberarm von der Kante der Terrasse fort. “Ich geh ins Zimmer. Das ist mir genug Kino für heute.”

 

Im Zimmer legten Sie die Matratzen auf den Boden und glaubten dadurch eventuellen Querschlägern entgehen zu können.

Kapitel 2

”...Tiefsttemperaturen zwischen 7 Grad im Norden und 11 Grad im Süden. Die weiteren Aussichten: kühl und unbeständig.”

Das Zeitsignal aus Deutschland weckte Alexander aus seiner Versunkenheit. Die Dächer vor dem Fenster erstrahlten im ersten Morgenlicht. Da und dort stieg Rauch auf.

Heinerleutner rieb sich die Augen. ”Hast du die Kiste die ganze Nacht angelassen? Wie soll man da schlafen!”, beschwerte er sich.

”Ich will hören, was für Nachrichten kommen. Ob sie den Flughafen wieder geöffnet haben.“

”Aber das ist die Wettervorhersage. Warum schaltest du nicht J-1 an? Oder wenigstens die BBC.”

Alexander drehte sich erneut der Stadt zu, die sieben Stockwerke unter ihm wirkten fast friedlich. Gut hundert Meter entfernt sah er einen Straßenhändler, einen Higgler, der seinen Wagen durch eines der gesperrten Viertel schob.

”Daheim haben sie wenigstens Regen. Hier ist es einfach zu heiß...”

”Wir können uns in die Lobby setzen. Da lassen sie die Klimaanlage noch laufen.”

”Wollen wir frühstücken?”

”Bin gespannt, ob es was gibt”, argwöhnte sein Kollege. ”Das Brot war gestern fast alle.” Er erhob sich und verschwand im Bad. Sein Rasierer summte. Er übertönte die Schüsse, die Krawalle in der Stadt. Alexander ließ sich in den bunt gemusterten Sessel fallen. Nach drei Minuten erschien sein Kollege mit glatt gezogenem Hemd und in eine frische Wolke Aftershave gehüllt.

”Ich habe Hunger”, verkündete er.

Sie zogen die Tür hinter sich ins Schloss, Alexander tastete besorgt nach der Schlüsselkarte in der Tasche. Hinter jeder Tür, die links und rechts den Gang zum Aufzug säumten, hörten sie einen Fernseher. Nachrichten, Spielfilme, Musik.

”Nicht den Lift”, meinte Alexander, als Heinerleutner den Aufzug rufen wollte. ”Wenn der Strom ausfällt...”

Der Frühstückssaal war voll, obwohl es erst sechs Uhr morgens war. Viele der Gäste hatten Ringe unter den Augen. Ein kleingewachsener Latino kippte Heinerleutner Kaffee über die Hose und entschuldigte sich wortreich. Das Angebot an Speisen hatte sich geändert. Es gab keine Milch oder Eier mehr, keinen Toast, dafür aber frisch gebackenes Brot. An Portionspackungen von Honig und Marmelade schien kein Mangel zu bestehen, auch die Butter hatte das Hilton anscheinend tiefgefroren gelagert. Die silbernen Obstschalen quollen über von Früchten.

”Wie sind die nur da ran gekommen?”, wunderte sich Heinerleutner. Er legte sich zwei Bananen und eine Papaya auf den Teller, wo sie neben vier Scheiben Brot, Aufstrichen und Ackee fast vom Rand fielen.

”Keine Ahnung“, merkte Alexander an. ”Schau mal, die haben keinen Aufkleber. Die sind nicht von General Fruit. Müssen vom Markt kommen, sind hier angebaut.”

”Kann man die essen? Ich weiß ja nicht, was die spritzen”, argwöhnte Heinerleutner.

”Hat bestimmt noch keinen umgebracht”, antwortete sein Kollege. ”Ich glaub´ die Gefahr erschossen zu werden ist zur Zeit größer.”

Sie setzten sich und aßen ohne ein Wort. Alexander saß mit dem Rücken zu den großen Panoramascheiben, die zur davor gelegenen entvölkerten Straße hinausging. Er verspürte den Drang, ständig über die Schulter schauen zu wollen. Heinerleutner beäugte die Außenwelt nervös und vertilgte seine umfangreiche Mahlzeit in großen Bissen. Alexander hatte nicht einmal seinen zweiten Toast gegessen, als sein Tischgenosse fertig war und sich einen Nachschlag holte, der mindestens so groß war wie die erste Portion.

 

Am Ausgang, wo zuerst die Schlange zum Buffet begann, hatte sich inzwischen ein Knäuel von Leuten gebildet, die sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Die beiden Deutschen stellten sich auf dem Weg hinaus dazu.

”Vom siebten Stock aus hat man eine gute Übersicht”, erklärte ein Mittfünfziger in braunem Anzug. ”Die ganze Nacht hab ich gelauscht, von wo die Schüsse kommen. Jede Stunde war das einen Straßenzug näher. Bis heute Abend sind sie hier.”

”Allein vom Hören kann man das nicht beurteilen”, widersprach ein junger Asiat mit Pferdeschwanz. ”Solange an der Kreuzung vor dem großen Kaufhaus noch die Soldaten stehen, kann uns nichts passieren. Die riegeln das ganze Viertel ab.”

”Oxford Road. Strategisch wichtig”, pflichtete ein weißhaariger US-Amerikaner bei, der einen strengen Bürstenschnitt trug und dessen Nacken von der Sonne verbrannt war. Seine Frau, die ein schlichtes Kleid mit hellblauem Muster trug, nickte.

”Die Kreuzung ist drei Straßen weiter”, warf der erste Sprecher ein. ”An der sind sie schon seit Sonnenaufgang vorbei.”

”Alfred hat mir erklärt, dass unser Sicherheitsdienst uns beschützt”, erklärte eine rothaarige Frau mit französischem Akzent. Sie trug eine Sonnenbrille mit großen, beige getönten Gläsern wie ein Diadem auf dem Kopf.

”Wer ist denn Alfred?”, fragte der Amerikaner.

Unser Concierge”, antwortete sie. ”Es sind zurzeit zwei Dutzend Wachmänner rund um die Uhr im Einsatz. Alfred steht außerdem im ständigen Kontakt mit dem Polizeichef. Die achten besonders auf uns.”

”Shhh!”, fauchte auf einmal ein Steward des Hilton, der mit einer Kaffeekanne in der Hand am Rande der Gruppe gestanden hatte. Die Gäste blickten irritiert zu ihm, er aber wies auf den Fernseher. Ein Nachrichtensprecher verlas gerade eine aktuelle Meldung:

”...Premierminister Longstaf in seiner Villa in Norman Gardens erschossen. Longstaf war erst wenige Stunden zuvor als Nachfolger George Pontimores vom Parlament eingesetzt worden. Die Leibwächter des Staatsdienstes fanden ihn in den frühen Morgenstunden. Über die Hintergründe der Tat gibt es aktuell keine Informationen. Es ist allerdings bekannt, dass Longstaf Unterstützung durch verschiedene Gruppen erfahren hatte, darunter die notorischen Wi’nesses. Governor Stark hat als Reaktion auf die Bluttat das Kabinett zu einer weiteren Krisensitzung einberufen. Die ehrenwerten Mitglieder tagen seit vier Uhr morgens.”

Es folgte ein Schnitt zu einem fast glatzköpfigen Mann mit fein gestutztem Schnauzbart, dessen aufgequollenes Gesicht Spuren von Anspannung zeigte. Eine Einblendung am unteren Bildrand identifizierte ihn als Sir Rodney Stark, Her Majesty's Governor-General of Jamaica.

”Die demokratisch gewählten Vertreter Jamaikas“, erklärte er, ”werden bis heute Mittag einen Nachfolger für das Amt des Premierministers wählen, der die Geschäfte ohne Unterbrechung weiterführt und mit der vollen Handlungsspanne seiner exekutiven Befugnisse die gegenwärtige Krise meistern wird. Der Staat ist eine sichere Basis des Zusammenlebens. Der Tod eines Vertreters oder sogar mehrer Vertreter kann seine Struktur nicht erschüttern. Wer immer auch glaubt, auf diese Art die rechtmäßige Ordnung stürzen zu können, der irrt sich. Wir werden alles tun, um die Demokratie zu bewahren. Ich bin völlig sicher...”

Alexander fluchte. Heinerleutner sah mit fragendem Blick zu ihm herüber.

”Nicht gut, oder?”, kommentierte er.

”Wir müssen mit der Botschaft telefonieren”, entschloss Alexander. Er strebte der Rezeption entgegen, seinen Kollegen im Gefolge wie einen Schleppenträger. Der dunkelhäutige Angestellte am Schalter blickte ihn mit unverhohlener Sorge an.

”Wir möchten gerne ein Telefonat führen.”

”Es tut mir sehr leid, aber die Leitung ist tot.”

”Seit wann? Wie lange noch?”

”Ich weiß es nicht. Tut mir leid.” Er zuckte mit den Schultern und lächelte. Die Reihe weißer Zähne im dunklen Gesicht ließ Alexander an eine Figur aus den billigen Horrorfilmen denken, die er sich mit seinen Freunden angesehen hatte, als er sechzehn war. Er hielt sich am Rand der Theke fest und versuchte, in seinen wild kreisenden Gedanken eine Entscheidung zu fassen. Heinerleutner stand neben ihm und blickte ebenso ratlos.

”Vielleicht versuchen Sie es einfach am Nachmittag noch einmal”, riet der Hotelier. Alexander nickte und ging wie ferngesteuert zum Aufzug.

”Ich mache mir echt Sorgen”, gestand er seinem Kollegen. ”Wenn die Telefone tot sind...”

Sie fuhren schweigend in ihr Stockwerk und setzten sich in ihr Zimmer. Der Fernseher lief noch immer und zeigte das deutsche Mittagsmagazin.

”Weißt du, es ist komisch, aber vor ein paar Tagen habe ich einen Mann getroffen, der schien das alles voraus zu ahnen“, grübelte Alexander.

”Was meinst du?“

”Letzte Woche, als du Durchfall hattest...“

”Au Mann“, stöhnte Heinerleutner.

”Ich bin doch an dem einen Abend alleine weg. In eine Bar, nicht weit von hier. Ich dachte erst er will mich anmachen.“

”Ein Jamaikaner? Kaum.“

”Nein, ein Ami. Ich stand mit meinem Bier an der Theke, als er mich angesprochen hat. 'Howdy', mit so einem breiten Südstaaten-Dialekt. 'Ich habe sie beobachtet. Sie scheinen kein Tourist zu sein, aber trotzdem sind Sie nachts alleine in Kingston unterwegs'.“

”Sah er denn aus wie vom anderen Ufer?“

”Schon. Gepflegt, dunkelhaarig, in einen beigen Anzug und in der Hand eine lederne Handtasche, etwas größer als eine Geldbörse, aber kleiner als eine Kameratasche. Aber dann habe ich den Ehering an der linken Hand gesehen. Also unterhielten wir uns ein bisschen. Er kannte Deutschland, hatte ein paar Jahre in Schweinfurt verbracht. Sein Name war Roger Libling. Er war sehr interessiert an unserem Auftrag.“

”Konkurrenz? Industriespionage.“

”Glaube ich nicht. Er sagte er wäre bei General Fruit. Allerdings hat er zugegeben, dass es ihm bei seinen Geschäften hilft, wenn er weiß wer in Kingston ist und was er macht. Also habe ich ihm ein bisschen was erzählt, vom Manokom-Projekt. Er hat mir von seiner Frau erzählt, aber gemeint er würde sie nie nach Kingston bringen. Ich frage ihn warum, wegen der Verbrechensrate vielleicht. Da ist er auf einmal ganz zugeknöpft geworden. 'Halten Sie ihre Familie aus Kingston fern!' hat er geraunt. 'Jamaika ist ein Land, in dem Pläne nicht lange haltbar sind.'“

”Mysteriös. Du triffst Leute...“, schalt ihn Heinerleutner. ”Und dann?“

”Nicht mehr viel. Er wurde abgeholt, sein Taxi war gerade gekommen. Mir war als wartete jemand im Fond des Wagens auf ihn, aber ich wollte nicht neugierig wirken. Eines war nur komisch: als er gegangen war, hat mich der Barman gefragt, ob ich ein Freund Liblings sei - 'You a frien’ of Libling?', und als ich antwortete 'I only just met him.' hat er mit dem Kopf gewackelt und gelacht. Aber nichts weiter gesagt.“

”Wahrscheinlich einfach nur ein stadtbekannter Irrer“, meinte Heinerleutner. ”Oder meinst du wirklich, dass irgendwer das alles vorausgesehen hat?“

”Irgendwer muss ja was gewusst haben“, meinte Alexander. Er ging zum Fenster und spähte hinaus. Vor dem Einkaufszentrum standen in der Tat einige blau uniformierte Soldaten mit schusssicheren Westen. Sie wirkten gelassen.

”Ich kann mir nicht vorstellen, dass die paar Gestalten Schutz genug sind. Außerdem lungern überall kleine Grüppchen von Männern rum. Sehen zwar nicht aus, als würden sie gleich randalieren. Aber sie machen auch sonst nichts.”

”Es ist mir lieber, wenn sie nichts machen. Sind sie bewaffnet?”

”Wenn ja, dann zeigen sie es nicht. Aber bis auf die, sind die Straßen wie ausgestorben.”

”Ich mach wieder J-1 an. Vielleicht wissen die mehr? Vielleicht sind die Aufstände vorbei?”

Heinerleutner nahm die Fernbedienung und verbannte den heimatlichen Sender vom Bildschirm. Auf den Straßen vor dem Hotel regte sich nichts, und die Nachrichten brachten keine Neuigkeiten. Sie verbrachten die nächsten Stunden lauernd, alle dreißig Minuten hob einer von ihnen den Hörer ab und sprach kurz mit der Rezeption, doch auch dort hatte sich nichts geändert. Die Leitungen waren außer Betrieb.

Kapitel 3

”Sie kommen zu uns! Wahrscheinlich wollen sie sich in der Lobby verschanzen.” Heinerleutner drängte sich neben seinen Zimmergenossen und spähte über dessen Schulter. ”Wie viele sind es? Ich sehe ein Dutzend.”

”Da sind zwei, die müssen sie stützen. Wahrscheinlich war das Feuergefecht vorher mehr als nur eine Finte.”

”Sind das die Soldaten, die vorher am Kaufhaus waren?”

”Kann man nicht erkennen. Das liegt immer noch im Rauch. Aber ich glaube, die Schützenpanzer sind noch da. Ich schätze, sie haben den Haufen hier abgelöst.”

”Wollen wir runter? Da erfahren wir sicher mehr.”

”Gehen wir.”

Sie trabten den Gang entlang und die Treppen hinunter. Als sie im Erdgeschoss ankamen, bedienten sich die Soldaten schon am Mittagsbuffet. Ein Offizier konferierte mit dem Leiter des Sicherheitsdienstes und dem Manager des Hotels. Ein Dutzend Gäste hatte sich um das Grüppchen versammelt, hielt aber respektvollen Abstand. Alexander fiel der Geruch von Rauch und Dreck auf, den die Neuankömmlinge verbreiteten.

”Versuch du mal zu hören, was die besprechen”, wies er seinen Begleiter an. Er sah sich nach den beiden verwundeten Soldaten um, die er vom Fenster aus gesehen hatte. Sie hatten sich auf die pastellfarbenen Lobbysessel gesetzt und ließen sich von ihren Kameraden das Essen bringen. Der eine hatte einen Druckverband um den rechten Unterschenkel, dem anderen lief eine dünne Blutspur vom Kopf den Kragen hinunter. Er nahm gerade den Helm ab, unter dem ein rötlich-brauner Verband zum Vorschein kam. Er wirkte erschöpft, und Alexander bemerkte mit Erstaunen, dass auch dunkelhäutige Menschen bleich werden können. Er ging hinüber zu dem Mann mit der Beinwunde und sprach ihn an.

”Alles in Ordnung mit dem Bein? Hat es sich ein Arzt schon angesehen?”

”Sind Sie Arzt?”, fragte der Soldat. Er sprach sehr starken Akzent, und der Deutsche verstand ihn kaum.

”Nein. Kann ich Ihnen noch etwas bringen? Ich möchte Ihnen gerne helfen.”

Der Soldat grinste unverschämt. ”Dann nehmen Sie meine Wasserflasche, gehen Sie zur Bar und lassen sie mit Gin füllen. Weißer Rum geht auch, oder Tequila”, raunte er. ”Verstehen wir uns?”

Alexander stutzte kurz, dann nahm er dem Verwundeten die leere Evian-Flasche ab, die unzweifelhaft vom Buffet des Hilton stammte. Er eilte in die Bar, vorbei an den müden Gesichtern derer, die sich seit dem vergangenen Abend Mut antranken Der Barmann runzelte die Stirn, als er die Bestellung hörte, akzeptierte Alexanders Zimmernummer aber ohne weiteres als Abrechnungsmodalität. Er nahm eine ungeöffnete Bacardi-Flasche aus dem Regal und gab sie dem Deutschen.

”Umfüllen müssen Sie selber. Wir schenken nur in Gläsern aus. Richtlinie des Hauses.”

”Sie sind nicht zufällig ein Landsmann von mir?”, ärgerte sich Alexander. Er entfernte die Schutzfolie, schraubte die Flasche auf und verschüttete beim Versuch, den Inhalt in die Plastikflasche zu transferieren, fast die Hälfte des Rums.

”Noch eine”, forderte er, als er sah, dass das Gefäß nicht einmal halb voll wurde. ”Und einen Trichter, bitte.”

Der Barmann brachte ihm beides, berechnete insgesamt 120 US-Dollar und sah beim nächsten Versuch unverhohlen zu.

”Sind Sie durstig?”, fragte er. Der Ingenieur warf ihm einen finsteren Blick zu, stellte die leere Rumflasche mit lautem Klirren auf die Theke und strebte wieder der Lobby zu.

”Ihr Wasser.”

”Danke, Mann.” Er nahm einen tiefen Schluck und verzog das Gesicht. ”Was kann ich für Sie tun?”

”Ich möchte wissen, was da draußen los ist. Werden die Gangs kommen?”

”Die Oxford Road ist jetzt von den Panzern bewacht. Da kommt keiner mehr durch. Nein, ich denke, die kommen nicht hierher.”

Er nahm einen weiteren Schluck. ”Aber sie gehen auch nicht weg.”

”Wer ist das eigentlich? Niemand scheint zu wissen: sind das Gangster, Aufständische, Rebellen...”

”Alles das, Mann. Gleichzeitig. Dazu sind es verschiedene Viertel, die sich gegenseitig bekämpfen. Die Easterners, die Wi’nesses. Meistens schießen sie aufeinander, aber manchmal auch auf uns.”

”Aber wieso haben sie dann den Premierminister umgebracht? Und seinen Nachfolger auch?”

”Keine Scherze? Den Nachfolger?”

”Ja, heut´ morgen haben sie es im Fernsehen gebracht.”

”Das sind ja interessante Tage. He, Jibbo. Hast du schon gehört? Sie haben Ewing Taylor umgelegt!”, rief er einem anderen Soldaten zu.

”Ich glaube, er hieß nicht Taylor“, verbesserte ihn Alexander. ”Langster war sein Name. Oder so ähnlich.”

”Hä? Aber Ewing war doch Stellvertreter? Was ist denn mit dem passiert?”

Alexander zuckte mit den Schultern. Der Offizier des Trupps war durch den Ausruf des Gesprächspartners auf die beiden aufmerksam geworden und kam nun herüber. Er wechselte einige rasche Worte mit seinem Untergeben, dann bat er Alexander, dem Verwundeten etwas Platz zu lassen, da er nicht gestört werden dürfe. Alexander entschuldigte sich für seine Aufdringlichkeit und drückte sich neben Heinerleutner in die Menschentraube, die sich um den Manager gebildet hatte.

”Und?”, fragte er.

”Keine Ahnung. Aber er will wohl was sagen.”

Tatsächlich hob der Hotelleiter beschwichtigend die Hände und wandte sich mit stentorischer Stimme an seine Gäste.

”Bitte einen Augenblick um Ruhe… Dankeschön. Ich möchte Ihnen für Ihre Geduld danken. Sergeant Miller hat mir erklärt, dass er von Schützenpanzern abgelöst wurde. Diese sichern das Viertel. Sie haben es abgeriegelt, so dass uns keine Gefahr droht. Ich möchte das unterstreichen. Die Verstärkung durch die Panzer garantiert unsere Sicherheit. Sergeant Millers Truppe ist hierhergekommen um sich auszuruhen und in der Nähe zu sein, falls doch noch etwas passiert. Wir haben sozusagen unsere eigene Armee.” Er lachte, und einige der Gäste stimmten höflich mit ein. Alexander konnte in der ersten Reihe den Amerikaner mit dem Bürstenschnitt sehen, der sichtlich missgelaunt die Nachricht aufnahm.

”Jetzt sind wir ein militärisches Ziel”, murmelte irgendwer halblaut. Der Manager verzog das Gesicht, ging aber nicht auf den Zwischenruf ein.

”Zusammen mit unserer Sicherheitsmannschaft werden die Offiziere der Jamaica Defence Army uns in den nächsten Tagen Schutz geben, bis die Lage sich normalisiert hat. Ich bedauere, dass ich Ihnen nicht sagen kann, wie lange das dauert. Ich habe aber gehört, dass Verstärkung auf dem Weg ist, um die Ordnung wieder herzustellen.”

Seine weiteren Äußerungen gingen in einem Gewirr von Fragen unter, die ihm von allen Seiten zugerufen wurden. Die beiden Deutschen zogen sich aus dem Gedränge zurück. Heinerleutner schlich zum Buffet, um sich Mittagessen zu holen, während Alexander durch die Tür des Hilton beobachtete, wie ein Ambulanzwagen in das Empfangsrondell der Hoteleinlage einfuhr und vor dem Eingang hielt. Zu seinem Erstaunen folgten dem Notarzt drei weiße Taxis. Er vergewisserte sich, dass er der erste war, der dies bemerkt hatte, und ging rasch zu seinem Kollegen, der zwei Teller auf seiner Linken balancierte, die er mit kleinen Bergen von Essen bestückte.

”Hast du alles dabei? Ausweis, Karte?”

”Logisch. Nur mein Necessaire liegt noch oben.”

”Vergiss es. Und vergiss die Teller. Komm mit.”

Sein Reisegefährte zögerte, bis Alexander ihm das Geschirr aus der Hand nahm, es an einen freien Tisch stellte und ihn am Ärmel zum Ausgang zog. Zwei hellblau gewandete Sanitäter kamen eben durch die gläserne Flügeltür. Draußen hupte eines der Taxis. Die Gäste in der Lobby wurden auf die neu angekommenen Autos aufmerksam. Alexander konnte sehen, wie einige nach ihren Taschen griffen. Er kam den schnellsten unter ihnen knapp zuvor und hielt auf das vorderste Fahrzeug zu. Der Lenker trug ein grünes, ärmelloses T-Shirt und hielt eine Flasche Red Stripe in der Hand. Seinem Lächeln fehlten vier Zähne.

”Willkommen in Jamaika, Mann”, begrüßte er seine potentiellen Kunden. ”Wohin?”

”Können Sie uns zur Deutschen Botschaft bringen?”

”Sicher, Mann. Dreihundert Dollar. US, versteht sich.”

Alexander schluckte trocken. ”Kreditkarte OK?”, brachte er hervor.

”Not today, Mon”, meinte der Fahrer. ”Heute nicht.”

Die beiden Deutschen leerten ihre Brieftaschen, während hinter ihnen ein Dutzend anderer Hotelgäste aus dem Eingang flutete. Sie kratzen den geforderten Betrag zusammen und stiegen ein.

”Willkommen in Garys Panzer. Unverwüstlich, unsichtbar und schnell”, begrüßte sie der geschäftstüchtige Transportunternehmer. Er fuhr mit quietschenden Reifen los und preschte die Auffahrt hinunter. In die Trafalgar Road bog er ohne zu bremsen ab. Alexander tastete nach dem Sicherheitsgurt und rutschte tiefer in seinen Sitz.

In den nächsten fünf Minuten passierten sie drei verschiedene Kontrollpunkte der Polizei, ohne aufgehalten zu werden. Bei einer Abkürzung durch eine Nebengasse legte Gary eine Vollbremsung hin. Er kam vor einem Autowrack zum Stehen, das in einer unübersichtlichen Kurve mitten auf der Straße stand.

”Heute Morgen war das noch nicht da. Drive-by Schießereien”, erklärte er.

So erreichten sie die Deutsche Botschaft wohlbehalten. Eine Armada von Autos war in den Straßen rings umher ohne Rücksicht auf Parkplätze oder Verkehrsregeln abgestellt. Wie der Rest des Botschaftsviertels, war auch die Waterloo Road, in der das Gebäude lag, gut bewacht. Patrouillen von je fünf Mann sicherten die Straßen. Das Tor der Botschaftsmauer stand offen, dass Drehkreuz an der Pforte war ausgehängt. Im Garten saßen und lagen gut zweihundert Urlauber, teilweise mit Zelt und Campingausrüstung. Ein junger Mann im Anzug nahm die beiden Neuankömmlinge in Empfang.

”Kann ich Ihnen helfen?”, fragte er sie auf Deutsch.

”Wir kommen aus dem Hotel Hilton und wollen möglichst schnell nach Frankfurt zurück. Ist der Flughafen schon wieder offen?”

”Nein. Er wird vermutlich auch nicht vor nächster Woche in Betrieb genommen.”

”Und die Telefone? Kann man mit Zuhause telefonieren?”

”Die Leitungen sind leider unterbrochen. Soweit man weiß, liegt das Problem an der Schaltstelle im Hafenviertel. Der Rest des Landes hat Verbindung.”

”Können wir hier bleiben? Das Hilton ist nicht sicher. Vom Fenster aus sieht man Schießereien.”

”Das Hilton liegt am Knutsford Boulevard. Eigentlich ist das Viertel verhältnismäßig sicher. Die meisten hier…”, er machte eine ausholende Bewegung zu den Campierenden, ”…kommen aus den direkt betroffenen Stadtteilen. Ich würde Ihnen gerne einen Platz anbieten, aber unsere Mittel sind begrenzt. Wie gesagt, im Hilton sind Sie gut aufgehoben.”

”Aber Sie können uns doch nicht einfach wegschicken”, empörte sich Heinerleutner. ”Wir werden doch erschossen!”

”Was sollen wir denn machen? Wir haben nicht mal genug Wasser für die Leute hier, geschweige denn Decken oder Essen. Wir müssen Prioritäten setzen”, verteidigte sich der Botschaftsangehörige mit ruhiger Stimme. ”Ich versichere Ihnen, wir schicken niemanden zurück in gefährdete Gebiete. Wir stehen in engem Kontakt mit den Behörden hier. Aber es ist am besten, wenn jeder für sich selber sorgt, der es kann. Und im Hilton sind Sie gut versorgt. Wir haben hier seit gestern nur Konserven und Tütensuppe ausgeschenkt.”

”Können wir wenigstens unseren Familien eine Nachricht zukommen lassen?”, fragte Alexander.

”Wir haben über Langwelle Kontakt mit Berlin. Wenn Sie uns die Anschrift Ihrer Angehörigen mitteilen, lassen wir sie unterrichten, dass es Ihnen gut geht.”

Sie stimmten zu und schrieben die Namen und Adressen auf. Der Botschaftsangehörige überprüfte die Lesbarkeit der Angaben, dann lud er sie ein, im Verpflegungszelt etwas Tee zu trinken, bevor sie wieder aufbrächen. Sie stimmten zu und setzten sich im Schatten eines Sonnensegels auf eine importierte Bierbank.

 

”Da fühlt man sich gleich wie daheim”, kommentierte Heinerleutner.

”Bis darauf, dass die Leute hier nicht so viel jammern.”

”Und kein Fußball im Fernsehen läuft. Schau mal, das sieht aus wie eine neue Bekanntmachung.“

”Was? Wo?”

”Da, im Fernsehen.” Heinerleutner wies auf einen 15-Zoll Apparat, der auf einer Kommode im hinteren Teil des Zelts stand. Er wurde über eine Kabeltrommel mit Strom versorgt und verfügte nur über eine kleine ausziehbare Antenne, die ein streifiges Bild mit gelegentlichem Schneetreiben produzierte. Auf dem Bildschirm gab ein bärtiger Jamaikaner mit einer dicken Hornbrille eine Erklärung ab. Im Hintergrund standen einige Männer in Anzügen, die für Alexander wie die Leibwächter aus Hollywood-Filmen aussahen. Zu seinem Erstaunen erkannte er unter ihnen Roger Libling. Er hielt die lederne Handtasche in der Hand, die er einige Abende zuvor in der Bar des Hilton schon mit sich geführt hatte.

”Mensch, den kenne ich“, entfuhr es ihm. “Habe ich neulich getroffen. Der kommt ja wirklich rum. Wo ist denn das?”

”Shttt!”, mahnte Heinerleutner. ”Ich versuche es gerade heraus zu finden.”

”Gerade heute, in der aktuelle Lage, haben wir keine Zeit für irgendwelche prozeduralen Verzögerungen”, erklärte der Bärtige. ”Ich werde mich allen Untersuchungen stellen, sobald die Lage unter Kontrolle ist. Bis dahin braucht das Land eine starke Hand und einheitliche Führung. Mit Zustimmung und auf Drängen des Kabinetts und großer Teile des Parlaments habe ich deshalb heute um acht Uhr Morgens den Ausnahmezustand über das Land verhängt.”

”Das muss der neue Premier sein”, flüsterte Heinerleutner. Eine Handvoll Leute hatte sich um den Fernseher versammelt und lauschte der Erklärung. ”Weiß irgendwer, wer das ist?”, fragte er in die Runde. Ein Bediensteter der Botschaft, der hinter der Theke Tee ausschenkte, beugte sich zu ihm.

”Der Mann heißt Ewing Taylor, Stellvertreter von Premier Pontimore. Heute Nacht als Nachfolger eingesetzt worden.”

”Der wievielte Premier ist das denn?”, wunderte sich Alexander.

”Der dritte.”

”Mein Gott!”

”Von dem weiß ich nichts. Aber der Teufel macht gerade hier Urlaub.”

 

Es gelang ihnen, ein Taxi zu finden, dass sie zurück zum Hilton brachte. Nachdem sie sich auf ihrem Zimmer frisch gemacht hatten, gingen sie in die Bar. Heinerleutner bestellte zwei Red Stripe, dann drehte er sich auf dem Hocker um und ließ seinen Blick über den Raum streifen.

”Hast du Lust auf Billard?”, fragte er.

”Ich weiß nicht. Bin nicht so gut darin.”

”Ich geb' dir drei Kugeln vor.”