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ISTANBUL
WILL YOU ACCEPT ME?
Es gab eine Zeit, da wollte sie absolut nichts haben. Vielleicht ist diese Zeit auch noch gar nicht vorbei. Seit sie in Istanbul lebt, muss alles, was sie je gedacht hat, noch einmal anders gedacht werden, und damit hat sie noch nicht einmal angefangen (weil ja alles im>mer noch stattfindet). Und es liegt vielleicht sogar an dieser vielgerühmten Istanbuler Verschmelzung von Orient und Okzident – oder an einer anderen Verschmelzung.
Hat sie nicht immer geglaubt, sie brauche jemanden zum Reden, zum Austausch? Durch Celal gerät sie in genau jenen Zustand, zu dem das Reden wohl hinführen soll: sich verstanden und geborgen zu fühlen.
You want sleep? Are you sad? You want to go home?, vergewissert er sich nach langen Ausführungen ihrerseits. Er antwortet eher auf das Gefühl, aus dem heraus sie mit ihm spricht, ein Gefühl, das ihr oft erst bewusst wird durch sein Nachfragen.
Dass sie nicht reden können, ist befreiend.
Einmal, sie sitzen am Küchentisch der Künstlerresidenz, bekommt sie diesen Wutanfall. Celal begreift offenbar nicht – hat er es vergessen? Nie verstanden, nie gewusst? –, dass sie mit einem wichtigen Künstlerstipendium in Istanbul ist, eine Auszeichnung, eine Ehre. Er hat sie gefragt, wie viel sie für ihre Wohnung zahlt. »Nothing«, schreit sie. »Nothing! I am invited!«
Er zuckt erst zurück vor so viel Wut. Dann schlägt er sich an die Stirn, als sei endlich der Groschen gefallen, und sagt mit einer Stimme, mit der man Kleinkinder lobt: »Yes, I know, you are big artist. I am very sure you are.« Er sagt es liebevoll. Immer liebevoller. Er steht auf und nimmt sie in den Arm.
Sie fängt an zu weinen. Sie lacht. Er hält sie fest umarmt. Er streicht über ihr Haar. Er kennt sich aus mit Schmerz und Furcht.
In der Stadt ist sie nie ohne ihn, selbst wenn sie allein loszieht. Sie taucht in die Straßen ein wie in einen gemeinsamen Körper. Manchmal sehr konkret. In der Gegend um das Döner Paradise herum kann sie nirgends mehr essen gehen. Du bist doch Celals Freundin, nein nein, du bist eingeladen. Auch um den Taksim-Platz, wo Celal geschäftlich zu tun hat, gibt es Zonen, in denen sie nicht bezahlen darf. »Friends. No pay, of course not.« Ein System, das auf Gegenseitigkeit beruht? Ja, durchaus, aber wie merken die sich das? Merken sie es sich? Manchmal stürmt jemand in Celals Imbiss und bereitet sich hinter der Theke ein Sandwich zu. Celal lacht. »Good customer. I don’t need to work.« Celal sitzt oft an einem der drei Bistrotische und trinkt Tee. Springt aber sofort auf, wenn ein echter Kunde vorbeikommt. Das sind die, die er bislang nicht kennt. Sie werden früher oder später zu Freunden. Auf Facebook hat er bald die 5000-Freunde-Grenze erreicht. Die Touristen, sind sie anständig, zahlen natürlich. Sie stopfen ihm die Lirascheine in die Schürzentasche. Daran erkennt sie, dass er kein Verhältnis zu Geld hat, Geld ist etwas, das notgedrungen ebenfalls im Döner Paradise vorkommt, etwa wie das Frittierfett oder das Spülmittel. Zwar stöhnt er manchmal über die langen Arbeitszeiten, aber es wirkt, als übernehme er aus Höflichkeit das übliche Gejammer, um nicht als zu glücklich aufzufallen. Das Döner Paradise ist sein Zuhause, seine eigene Stammkneipe. Vor drei Jahren hat er das kleine Lokal für etwa einhunderttausend Euro gekauft, inzwischen, durch die Sanierung der Altstadthäuser ringsum und die zentrale Lage, bietet man ihm das Doppelte. Celal sitzt auf einer Goldmine, aber der Gewinn ist gleich null. Sie kann nicht abschätzen, wie ernst die Lage wirklich ist und ob sie vielleicht helfen kann. Sie entwickelt Geschäftspläne, die aber ihren eigenen Vorlieben entsprechen: Warum machst du aus deiner Dönerbude keinen vegetarischen Imbiss mit anatolischen Gemüseeintöpfen, das ist bestimmt eine Marktlücke, die gesundheitsbewussten westlichen Touristen wären begeistert.
Aber sie spricht wohl wirklich nur von sich selbst. Sie ist froh, dass Celal darauf nicht anspringt, denn dann müsste sie womöglich die Sache mit ihm gemeinsam durchziehen.
Er will sie heiraten.
Es ist der erste Heiratsantrag in ihrem Leben.
Zwischen Asien und Europa, irgendwo dort, auf dem türkisblauen Wasser, hat ein schöner junger Mann mit dem größten Herzen der Welt zu ihr gesagt: Heirate mich.
Letzte Woche.
Seither zieht sie sich von Celal ein bisschen zurück, gerade so, dass es als Vernachlässigung nicht eindeutig wird. Lass mich nachdenken. Und wenn sie nun darüber nachdenkt, dann geht das nicht, ohne über ihr gesamtes Leben nachzudenken. Genau das, wovon sie sich so angenehm befreit fühlt, seit sie in Istanbul lebt.
Die nächsten zwei Tage verbringt sie mit den anderen Künstlern in der Galerie. Sie streiten, wer welchen Raum bekommt, welche Wand, welche Ecke. Matthias baut eine Videoinstallation auf, Perihan zimmert aus Sperrholz eine Kabine, Point of no return, Berta kippt fünfhundert Päckchen Zucker über den Boden des hinteren Raums – hinten, das ist die Bedingung, und ein rotes Absperrband soll dafür sorgen, dass der Zucker nicht den Raum verlässt.
Gipsdübel fehlen, die Leiter wackelt, Matthias muss festhalten, während sie oben steht, die Bohrmaschine bedient und über Christoph Wanka nachdenkt. Es ist eher ein Farbschleier, der das Bisherige anders einfärbt. Diese leichte Besessenheit erklärt sie sich damit, dass sie zu keinem Urteil über ihn findet.
Sie hat den Spaziergang zunächst als Desaster abgeheftet. In ihrer Erinnerung formt er sich Stück für Stück um zu einer hochinteressanten Erfahrung. Sie haben einander zwar wenig mitgeteilt, aber die Auslassungen hatten einen Druck bewirkt wie der Abstoßungseffekt zweier Magneten. Zumindest in ihrer Erinnerung, in der auch immer wieder ihre Arme aneinanderwischen.
Am Tag der Ausstellungseröffnung glänzt das Kopfsteinpflaster vom stetigen Regen. Als es dunkel wird, sprühen Lichtringe um die Laternen. Die Altstadthäuser vornehm und manche düster, sie stehen kurz vor der Sanierung. Blätternder Putz, rostrote Wunden, grün verfärbte Eisenbrüstungen. Ein verfallener Stadtpalast, aus dem es nach Schutt riecht, nach Geistern.
In der dunklen Zürafa Sokag leuchtet ein milchig weißes Lichtfeld, in das Gestalten ein- und ausströmen. Sie erkennt Matthias und Berta zwischen türkischen Künstlern. Sie versucht, sich in die Unterhaltung einzubringen, da biegt plötzlich Celal in die Gasse ein, geht langsam und zögernd auf Holle zu, offenbar darauf hoffend, dass sie ihn anschaut. Sie tut so, als bemerke sie ihn nicht. Celal verschwindet in einem Hauseingang. Er wartet dort ab. Sie erhält eine SMS: I can see you, baby. You are pretty tonight!
Sie antwortet nicht.
I love you kommt als Nächstes.
Sie blickt auf. Sie tut, als bemerke sie Celal erst jetzt, als die Gruppe sich ihm zuwendet. »My favourite Turk«, brüllt Matthias und tauscht türkische Begrüßungsfloskeln mit ihm. »What a handsome guy, look at you«, jubelt Berta.
Ihr gefällt das nicht, diese Begeisterung. Als wollten sie dem Verdacht zuvorkommen, sie würden sich nur deshalb mit Celal abgeben, weil sie mit ihm zusammen ist.
Sie begrüßt ihn mit Wangenküsschen, riecht die Grilldünste des Dönerfleischs in Haar und Kleidung. Seine Hand kriecht in ihre. Raue Innenflächen wie Reibeisen. Sie will ihre Hand wieder herausziehen, aber er hält sie fest, während er versucht, eine bereits begonnene Erzählung zu Ende zu bringen. Über das Döner Paradise, seinen Onkel und eine Straßenkatze, so viel wird deutlich, aber da Celal Personalpronomen nicht unterscheidet, bleibt unklar, ob er seinen Onkel oder die Katze über Nacht ins Döner Paradise eingesperrt hat. Die anderen hören ihm mit zärtlichen Blicken zu. Die Geduld der anderen kennt keine Grenzen. Sie soll netter zu ihm sein, hat man sie schon ermahnt, ihm nicht ins Wort fallen und auch nicht sein Englisch verbessern. Sie befreit ihre Hand und betritt die Galerie.
Die Leute schieben sich durch die Räume und suchen einander. Wenn jemand bei ihr stehen bleibt, ist ihr nie klar, was es zu reden gibt. Eine deutsche Dame erzählt, ihre Tochter mache ein Praktikum in Istanbul. Ein türkischer Student erzählt, auch er fotografiere, und reicht ihr seine Visitenkarte. Eine deutsche Journalistin fragt, wie Istanbul ihre Arbeit beeinflusst habe. Sie gibt etwas Vages, Unbrauchbares zur Antwort.
Sie wird von den drängenden Leuten in den mittleren Raum gespült, direkt vor Perihans Kabine Point of no return. Sätze in Englisch, Türkisch und Deutsch füllen den Raum. Sätze, an niemanden gerichtet. Darum geht es. Man spricht in ein Mikro, irgendetwas, und das wird aufgezeichnet und als loop in den Raum gespeist.
Sie hat für interaktive Kunst nicht viel übrig. Aber als sie Christoph Wanka am Eingang entdeckt, flüchtet sie panisch in die Kabine. Sie spürt den Schock durch ihren Körper rasseln. Sitzt reglos in der Kabine und versteckt sich also vor Wanka.
Jemand klopft – ist er das? –, sie rührt sich nicht. Der Point of no return, das ist nicht die Kabine, sondern alles, was außerhalb stattfindet. Die Kabine ist das Zeitanhalten. Das Innen. Das Refugium. Noch einmal klopft es an der Tür. Sie knetet ihre Finger. Sie zupft an ihrem engen Rock, zieht ihn über die Knie, legt ihre Hände auf die Oberschenkel, betrachtet, was sie ist, voller Verwunderung plötzlich. Einen Körper haben in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Den wirst du nicht los, aber kannst dich immer anders denken – sie spricht inzwischen ins Mikro. »Hallo?«, ruft jemand und klopft an die Tür. Du kannst dir auch vorstellen, eine Wand zu sein oder eine Lampe. Jemand öffnet die Tür und schließt sie sofort wieder, »Entschuldigung, dachte, es sei leer.« Sie steht auf und tritt ins grelle Licht der Galerie.
Wanka steht im vorderen Raum unweit ihrer Bilder. Er ist ganz in Schwarz gekleidet. Er schnappt sich von einem Tablett einen Wein, das Glas an den Lippen, dreht er sich um und entdeckt sie. Beide heben sie die Augenbrauen. Sie geht auf ihn zu, mit der Sicherheit, die einsetzt, wenn es keinen Ausweg mehr gibt. Soweit sie die Lage überschaut, ist Wanka allein gekommen.
»War mir gar nicht klar, dass Sie noch in Istanbul sind!«, schreit sie durch den Lärm und klingt ein bisschen herablassend.
»Selbstverständlich bin ich noch hier«, schreit er zurück und klingt wiederum, als müsse sie das doch wissen und sei ein bisschen blöd.
Sie verschränkt die Arme über der Brust und spürt dasselbe Stocken wie beim Spaziergang – ein Stocken, das, wie sie meinen will, sich aus einer Suchbewegung ergibt, nicht aus einem Desinteresse.
Er sagt etwas, das im Lärm untergeht.
»Wie bitte? Ja, natürlich zeige ich Ihnen meine Bilder.« Sie legt gastgeberinnenhaft ihre Hand auf seinen Arm und führt ihn zu ihrer Bilderserie Habe die Welt geendert / I have chenged the world.
Gemeinsam betrachten sie das erste Bild, ein Häusermeer. »Sehen Sie die Kabel an den Häusern«, sagt sie, »wie Adern, immer dieser Eindruck von Blutgefäßen und als sähe man in die Dinge hinein, ihr Inneres ist auch im Außen.«
Er nickt, nimmt einen Schluck Wein, verkleckert ein bisschen davon, als jemand zu dicht an ihnen vorbeigeht. Sie schaut rücksichtsvoll zur Seite.
»Eminönü«, sagt sie. »Der Fähranleger. Auffliegende Tauben. Nur die Tauben.« Sie zeigt wie eine Wetterfee auf das Bild.
»Und die Menschen?«
»Auf meinen Bildern gibt es keine Menschen.«
Sie betrachten gemeinsam den Taksim-Platz, den griechischen Stadtteil Fener und den Ägyptischen Basar. Menschenleer.
»Schicken Sie die Leute weg?«
»Nein, ich warte einfach«, sagt sie und ist enttäuscht. Hat sie sich in den letzten Tagen so viel über Wanka zusammengereimt, dass er mit der inneren Version nicht mithalten kann? Als er schweigt, sagt sie: »Manchmal warte ich auch umsonst. Ich stehe drei Stunden an einer Stelle, harre aus, und gehe wieder. Doch es frustriert mich nicht. Die nicht gemachten Bilder sind Teil der existierenden Bilder.«
Er reagiert nicht; er könnte sowohl sprachlos vor Faszination sein als auch vor Langeweile. Sie fügt sicherheitshalber eine handfeste Information hinzu: »Ich will die Serie in Mumbai fortsetzen.«
»Das wird schwierig.«
»Sie kennen Mumbai?«
Er nickt. Sie wartet, dass er erzählt, aber er beugt sich zum Bild. Sie kann sich jemanden wie Wanka nicht in Mumbai vorstellen. Was wäre, wenn sie ihn nach Orten fragt, deren Klang sie liebt, Byculla. Chinchpokli. Bhuleshwar. Kalbadevi. Marine Lines. Apollo Bunder. Matunga. Elphinstone Road. Jemand rempelt sie an, sie stolpert nach vorne, kann sich wieder fangen. Ein Türke mit roter Brille und grünem Haar nimmt sie in den Arm und drückt sie an sich: »Sorry, sorry.« Sie schiebt ihn ungeduldig weg.
Wankas Blick ruht auf dem Fähranleger Eminönü.
»Meine Bilder zeigen Orte, an denen eben noch jemand war«, versucht sie es von neuem. »Wir sehen manchmal mehr von den Menschen durch ihre Abwesenheit.«
Sie schaut ihn so lange an, bis er zurückschaut, aber sein Blick verrät nichts.
»Und, wollen Sie noch mehr über meine Bilder wissen?«
»Na ja, wenn Künstler über ihre Kunst sprechen, sollte man lieber weghören.« Er grinst selbstbewusst.
Holle kennt diese Kritik. Ein Singvogel muss nichts von Ornithologie verstehen, um singen zu können; eine Kritik, die sich für Hierarchien interessiert. Sie bleibt ruhig. Sie ist die Expertin, nicht er. Sie sagt: »Vielleicht kann das niemand, über Kunst reden. Weil Kunst nicht im Reden aufgeht.«
Wanka hält an seinem Grinsen fest. Vielleicht überfordert sie ihn? Erneut verschieben sich die Leute; Holle wird zurückgedrängt und spürt schließlich die Wand im Rücken.
Eine Wand sein. Eine Lampe. Stattdessen ist sie eine Silhouette aus Rock und Hemd in der Fensterscheibe, und hinter der Spiegelung entdeckt sie plötzlich draußen auf der Straße Celal. Er hebt die Hand. Er kann sie in der beleuchteten Galerie besser erkennen als sie umgekehrt ihn; er kann nicht einmal sicher sein, dass sie ihn sieht. Different world, you know. I told you. Canım. Listen, tatlım. Listen to me. This is my life how it is. I did tell you already. Many times. Sie spricht mit Celal ein Englisch, das sich seinem angepasst hat. Kurze Sätze. Manchmal ist auch die Grammatik nicht richtig; sie merkt es kaum noch. Es ist seine, und seine ist türkisch. Vielleicht lernt sie auf diese Weise Türkisch oder wird ihr das Türkischlernen, sollte sie es eines Tages angehen, erstaunlich leichtfallen.
Celal streicht sich das lange glatte Haar zurück und winkt schüchtern. Sie tut, als bemerke sie ihn nicht. You can go, you can leave me. Any time.
Und er wird nicht gehen. Er wird nie gehen. Sie muss gehen. Wenn, dann sie.
Das hat sie schon dreimal getan. Und nun spricht er vom Heiraten.
»Alles klebt«, seufzt sie.
»Der Zucker«, sagt Wanka und blickt sie an. »Ich würde gerne kaufen. Sie verkaufen doch, oder?«
»Ja«, sagt sie und ist nicht überrascht. Das gehört dazu. Nicht darüber nachzudenken, ob man einen Käufer, einen Sammler vor sich hat. Nie. Stattdessen über alles andere. Als würde sie ihm mehr Ehre erweisen durch die Phantasie einer besonderen Verbindung anstelle einer Geschäftsbeziehung. Jetzt versteht sie, warum ihre Gedanken in den letzten Tagen verrücktgespielt haben. Sie wollte den einen Gedanken nicht denken müssen. Einen Gedanken, der immer ein Schuldgefühl auslöst.
Später sitzen sie auf der Dachterrasse der Künstlerresidenz, eingemummelt in Wolldecken, auf einer klammen Couch. Unter ihnen glitzert die Stadt, und über dem schwarzen Bosporus blinken vereinzelt die Lichter der Fähren. Celal ist noch immer bei ihnen, sie trinken Wodka, es geht auf drei Uhr zu. Celal muss in vier Stunden das Döner Paradise öffnen (und den Onkel befreien). Sie spürt eine grausame Regung, sie hat ihn nicht nach Hause geschickt; er wartet also. Er wartet, so wie sie in den Istanbuler Straßen steht und wartet, dass alle verschwinden, dass niemand mehr zu sehen ist. Nur die Gebäude, die Fassaden, der Stein. Celal wartet, dass nur noch Holle zu sehen ist, und diese Hingabe macht sie hilflos und wütend.
Sie reden Deutsch, und ab und an, nicht sie, übersetzt jemand für ihn, etwa wenn sie besonders laut lachen.
»Du hättest zehntausend verlangen sollen pro Bild. Wenn er fünftausend umstandslos schluckt, dann schluckt er auch zehntausend.«
»Was macht er noch mal?«
Sie zuckt gleichgültig die Schultern. »Vorstandsmitglied eines Bauunternehmens, glaube ich.«
»Witte Bau AG«, liest Matthias von der Visitenkarte ab und gibt den Namen in die Suchmaschine ein. »Die bauen ein Einkaufszentrum drüben in Esenyurt. Bauen außerdem in Schwellenländern. Und er ist Kunstsammler, steht hier. Warum wussten wir das nicht?«
Sie wäre lieber ohne Geld. Sie weiß nicht, woher dieser Gedanke kommt und ob sie sich Sorgen machen muss. Vielleicht. Es hat immer noch irgendwie geklappt. Sie will weder kein Geld haben noch viel, sie will unbehelligt bleiben. Sie will einfach leben und Kunst machen. Die letzten Monate war sie hier. Wurde wie ein Pflegekind mit anderen Künstler-Pflegekindern in ein Heim für Künstler gesteckt. Einmal die Woche saust ein Putzfrauenteam durch das Gebäude, vier beleibte Frauen mit Kopftüchern in geblümten Kitteln machen sich wie bei einer Durchsuchung in den Wohnungen zu schaffen, summend und singend, in keiner länger als zehn Minuten, sie rauschen hindurch, sie sprechen kein Wort Englisch, vielleicht bewegen sie sich nur von Wohnung zu Wohnung, von Putzauftrag zu Putzauftrag, und mehr als die eigene wischende Hand sehen sie von Istanbul nicht.
Celals Mutter ist ähnlich. Eine Frau mit großen schweren Brüsten, die bis zum Bauchnabel hängen, runden Armen, das Kopftuch unter dem Kinn gebunden. Sanfte Augen. Voller Liebe. Bei ihrer ersten Begegnung, im Keller des Döner Paradise, hatte die Mutter das Töpfeschrubben unterbrochen und die Arme weit geöffnet, und Holle war hineingefallen und an der Frau hängen geblieben. Es ist wie mit Celal. Es verwirrt sie. Sie weiß nicht, wie sie ohne das leben soll, und sie weiß auch nicht, wie sie damit leben kann.
Es ist die letzte Woche des Stipendiums. Sie muss nach Deutschland zurück und sich eine Wohnung suchen. Vielleicht auch nur ein Zimmer erst einmal. Vielleicht auch eine Couch erst einmal. Oder kann sie vielleicht doch bei Celal in Istanbul bleiben? Celal, obwohl schon dreißig, wohnt nicht allein. Er wohnt bei seiner Schwester und seinem Schwager, und da ist es eng.
Von dem Geld, das sie von Christoph Wanka bekommt, wird sie ihre Schulden bezahlen. Für viel mehr reicht es nicht. Zum ersten Mal an diesem Abend wendet sie sich Celal zu.
»There are photographers who get half a million for a picture.«
»Lira or Euro?«
Als die anderen lachen, lacht Celal mit.
Nachdem sie zu Ende gelacht haben, gibt sie Celal ein Zeichen, dass sie schlafen gehen wird.
»You should go home, canım.«
Es hatte gedauert, bis Holle das Wort canım, das in allen seinen SMS auftauchte und für sie so seltsam nach Hund aussah, mit dem weich gesäuselten Dschanam verknüpfte. Dschanam, Schatz. »What does canım mean?« Er verstand nicht, sie zeigte ihm das Wort. »Dschanam«, sagte er, »it is dschanam.«
Das alles war sieben Monate her. Nun war sie wieder hier. Lag in der Dunkelheit einer fremden Wohnung, und neben ihr Celal.
»Will you go back to Mumbai?«
»I just come from there.«
»But you go back?«
»I don’t know.«
»How long will you stay in Istanbul?«
»I don’t know.«
»Is there beach in Mumbai?«
»Yes. But you cannot swim or sunbathe there.«
»Why?«
»It is dirty. Very dirty, full of waste. The sands and the water are very bad.«
»Can I visit you?«
»Yes.«
»Will you accept me?«
Sie wusste nicht, was er mit accept meinte – Sex?
»Yes, I will accept you.«
»Is it warm?«
»Yes, it is warm.«