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Sauerlandkrimi & mehr

© 1999 by Kathrin Heinrichs

Umschlaggestaltung: Anne Habbel

Kathrin Heinrichs

Ausflug
ins Grüne

Sauerlandkrimi & mehr

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F.m.g.S.

Ähnlichkeiten zu realen Orten sind gewollt.
Personen und Handlung des Romans dagegen
sind frei erfunden. Bezüge zu realen Menschen
wird man daher vergeblich suchen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

1

Nicht, daß Sie denken, ich wäre ein schlechter Lehrer! Dieser erste Schultag stand einfach unter keinem guten Stern. Vier Stunden Schlaf, eine Flasche selbstgebrannter Weizenkorn und ein Blick in die Abgründe des menschlichen Lebens sind nun mal keine geeignete Grundlage für einen optimalen Schulstart. Das muß man doch einsehen! Kein Mensch könnte nach all diesen Strapazen so locker auftreten wie Dr. Specht.

Aber was rechtfertige ich mich überhaupt? Hätte ich gewußt, unter welchen Umständen ich diese Stelle hier im Sauerland bekomme – vielleicht wäre ich dann gar nicht angetreten. Ich stehe nämlich nicht so auf Mordgeschichten. Jedenfalls dann nicht, wenn sie sich in meinem eigenen Leben abspielen.

Nun, vielleicht sollte ich die Geschichte lieber von Anfang an erzählen. Eigentlich begann ja alles mit dieser Stellenanzeige. Es war nämlich so, daß ich regelmäßig zum Wochenende ein paar Wochenzeitungen durchblätterte, nur um mich zu vergewissern, daß nicht durch einen unglücklichen Zufall eine Stelle für einen Geisteswissenschaftler wie mich hineingeraten war. Ich lag also auf dem Bett und stöberte, während meine allerliebste Angie mißmutig am Schreibtisch saß und in einem Computerhandbuch las.

„Kannst du dir vorstellen, daß ich als pädagogisch engagierter Lehrer am privaten Elisabeth-Gymnasium im Sauerland arbeite?“ hatte ich meine Kaffeetasse gutgelaunt gefragt, „eine Schule, die ihren Schülern die christlichen Grundwerte zu vermitteln sucht?“

„Hä?“ Angie hatte sich angesprochen gefühlt und genervt hochgeguckt.

„Ganz einfach – man sucht mich!“ hatte ich gewinnend erklärt, „die Schwestern am Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasium brauchen einen Deutsch- und Geschichtslehrer für Sekundarstufe I und II – und zwar sofort!“

Angies unverständliches Gebrummel hatte ich ignoriert und am nächsten Tag eine Bewerbung an das Elisabeth-Gymnasium geschrieben. Nicht, daß ich mir Hoffnungen auf eine Zusage machte! Deutsch und Geschichte war schließlich eine der schlechtesten Fächerkombinationen überhaupt, höchstens noch durch Politik und Textilgestaltung zu überbieten. Mir war klar, daß sich Hunderte auf die Anzeige hin bewerben würden. Unter diesen Hunderten würde ich nicht gerade als der Geeignetste herausragen: Ich hatte keinerlei Berufserfahrung – mein Referendariat lag schon sechs Jahre zurück, und seitdem hatte ich auch nicht die geringste Aussicht auf eine Stelle gehabt. Im Grunde hatte ich mir meine Lehrerlaufbahn längst aus dem Kopf geschlagen und jobbte statt dessen als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen.

Der Anruf ein paar Tage später war daher eine echte Überraschung! Es war acht Uhr morgens, eine Zeit, zu der ich normalerweise gerade erst in den Tiefschlaf gesunken war, als ich von schrillem Telefongebimmel geweckt wurde. Noch leicht orientierungslos robbte ich zur Quelle dieses schrecklichen Lärms und brummte etwas in den Hörer.

„Da habe ich aber Glück, daß Sie gerade zur Tür hereingekommen sind“, flötete mir eine hohe Frauenstimme ins Ohr. Ich überlegte, ob ich auflegen sollte, aber meine Neugier hielt mich zurück.

„Hier ist Schwester Wulfhilde vom Elisabeth-Gymnasium.“

Mein Gedächtnis benötigte drei Zusatzsekunden, um diese Information zu verarbeiten. Als ich nicht sofort reagierte, ging es weiter:

„Sie haben sich an unserer Schule als Pädagoge beworben, und wir würden uns freuen, Sie zu einem Bewerbungsgespräch bei uns begrüßen zu dürfen.“ Sofort war ich hellwach. Doch bevor ich losstottern konnte, fuhr Schwester Wulfhilde fort: „Wir sind an einer zügigen Besetzung der Stelle interessiert. Hätten Sie morgen Zeit?“

Ehe ich ein weiteres Mal meine Gehirnzellen eingeschaltet hatte, waren wir schon verabredet – für den nächsten Tag um siebzehn Uhr. Erst als ich den Hörer aufgelegt hatte, kam ich wieder zum Denken. Worauf hatte ich mich da eingelassen?

Ein katholisches Gymnasium schien mitten im Schuljahr ganz dringend einen Lehrer zu suchen und in dieser Verlegenheit sogar mich nehmen zu wollen. Wenn ich die Stelle bekäme, würde ich in die Pampas ziehen müssen, während meine Freunde und vor allem Angie in Köln bleiben würden. Angie! Die war natürlich gerade jetzt nicht da. Sie machte eine Reportage in den neuen Bundesländern, ohne Handy natürlich, um „richtig frei zu sein“. Kurzum, sie war telefonisch schlecht zu erreichen. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf. Hatte ich überhaupt Lust, Lehrer zu sein? Und wenn ja, wie überlebte man ein Vorstellungsgespräch bei dieser Schwester Wulfhilde?

Dieselbe Frage stellte ich mir, als ich am nächsten Tag mit quietschenden Reifen den Parkplatz des Elisabeth-Gymnasiums erreichte. Eine halbe Stunde Verspätung! Das würde man mir nie verzeihen, selbst wenn ich dreifach habilitierter Professor mit dem Charme von Thomas Gottschalk und den Gehaltsvorstellungen eines Krankenpflegers im ersten Ausbildungsjahr wäre! Ich hetzte zur nächstbesten Glastür und rüttelte daran. Verschlossen. Verzweifelt lief ich um das Gebäude herum und entdeckte endlich eine mächtige Holzpforte. Ich rannte die Stufen hoch, die zum Portal führten. Aber als ich die Tür schwungvoll öffnen wollte, schien sie verschlossen. Ich lehnte mich mit meinem ganzen Körpergewicht dagegen – schließlich kannte ich die Kraftproben mit würdevollen Pforten. Ich hatte als Kulturreporter genug Kirchen- und Theatertüren geöffnet. Wenn jeder zehnjährige Pimpf durch diese Tür gelangen konnte, würde mir das auch gelingen. Das Drehen des Schlüssels hörte ich leider zu spät. Mit der vollen Wucht meines Körpers donnerte ich ins Innere des Gebäudes und landete beinahe bäuchlings vor den Füßen einer entsetzt guckenden Ordensschwester. Die erschrockenen Augen blickten gnädiger, als ich wieder nach oben kam.

„Noch alles dran?“ fragte eine hohe Stimme. Ich schluckte – diese Stimme gehörte eindeutig Schwester Wulfhilde.

„Alles in Ordnung!“ stotterte ich, obwohl mein Knöchel anschwoll wie ein schwäbischer Hefezopf.

„Welch stürmischer junger Mann!“ bemerkte Schwester Wulfhilde und musterte mich unauffällig. „Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“ Ich starrte sie verwirrt an. Sie schien überhaupt nicht zu ahnen, warum ich da war.

„Ich bin wegen des Gesprächs hier“, brachte ich heraus, „eigentlich sollte es ja schon um fünf sein, aber wissen Sie, der Stau und –“ Schwester Wulfhilde reagierte nicht.

„Ich bin Vincent Jakobs“, sagte ich schließlich verzweifelt, „ich habe ein Vorstellungsgespräch bei Ihnen.“

„Sie sind das also!“ Schwester Wulfhilde lächelte hintergründig. „Na, dann wollen wir mal das Schicksal seinen Gang nehmen lassen!“

Ich war zu durcheinander, um dieser Bemerkung irgendeinen Wert beizumessen. Was mich jedoch verunsicherte, war Schwester Wulfhildes undurchschaubare Art. Wollte sie mich mit einer gewieften Verunsicherungsstrategie testen, die noch in keinem Bewerbungsratgeber zu finden war? Oder hatte sie den Termin ganz einfach vergessen und die Situation geschickt überspielt? Wenn sie das Gespräch vergessen hatte, war es vielleicht schon gar nicht mehr wichtig. Vermutlich, weil man einen anderen Bewerber eingestellt hatte, der sich nicht ganz so dämlich angestellt hatte wie beim Vorsprechen für ein Dick- und-Doof-Revival.

Mir blieb keine Zeit mehr zum Grübeln. Schwester Wulfhilde nahm mich ins Schlepptau und zeigte mir die Schule. Bedauerlicherweise lag das Gebäude wegen Elektroarbeiten im Halbdunkel, so daß mein einziges Interesse dem Bemühen galt, nicht schon wieder auf allen Vieren zu landen. Wenngleich mein Knöchel zusätzlich schmerzte, was mir den anmutigen Gang des Glöckners von Nôtre-dame verlieh, ließ ich dennoch immer mal wieder ein bewunderndes „Ah“ und „Oh“ erklingen. Nach einem halbstündigen Hindernislauf durch die Schule erwartete ich, nun endlich in ein Büro geführt zu werden. Schließlich hatte man noch kein ordentliches Bewerbungsgespräch mit mir geführt. Nichts da! Schwester Wulfhilde geleitete mich gut gelaunt zum Lehrerparkplatz. Das war’s dann wohl. Ein Gespräch mit mir schien man nicht mehr für nötig zu halten. Was soll’s, dachte ich. War ein netter Ausflug. Ein Ausflug ins Grüne sozusagen. Machte ja nichts. Schwester Wulfhildes Frage kam wie beiläufig: „Und, Herr Jakobs, darf ich darauf hoffen, daß Sie bei uns anfangen?“ Beinahe wäre ich ihr erneut vor die Füße gefallen.

„Aber Sie haben doch nicht – Ich meine, wir haben doch nicht –“

„Wir haben uns doch sehr gut unterhalten, nicht wahr?“ Schwester Wulfhildes Stimme schlug gerade von einer herkömmlichen Klarinette zu einer Piccoloflöte um. „Ich bin sicher, daß Sie mit unserem Kollegium sowie mit unseren schulischen Grundsätzen harmonieren. Außerdem waren Ihre Bewerbungsunterlagen ja durchaus ansprechend.“ Ich traute meinen Ohren kaum. Wie konnte diese Frau sich so schnell für mich entscheiden?

„Also, ich – äh –“ Mir wurde bewußt, daß Schwester Wulfhilde mich für einen Gelegenheitsstotterer halten mußte. Aber daß ich so spontan eine Zusage abgeben sollte, das war einfach zuviel.

„Wissen Sie, mir liegt daran, die Stelle möglichst schnell zu besetzen. Es ist schlimm genug, daß es durch unglückliche Umstände bei uns mitten im Schuljahr zu einem solchen Stundenausfall kommen mußte. Das bringt nur Unruhe in den reibungslosen Ablauf des Schulalltags. Sie verstehen?“

Ich verstand überhaupt nichts.

„Unglückliche Umstände? Wie meinen Sie denn das?“

„Ein tragischer Unfall, der einen geschätzten Kollegen das Leben kostete.“ Schwester Wulfhilde blickte so untröstlich, daß ich nicht wagte, weitere Fragen zu stellen. Ganz abrupt blickte sie mir dann fröhlich in die Augen.

„Vielleicht brauchen Sie noch etwas Bedenkzeit?“ Schwester Wulfhilde hatte meine Gedanken tatsächlich erraten. „Dann rufen Sie mich bitte morgen gegen Mittag an und geben mir Bescheid, ja?“ Wenngleich mir auch diese Frist gnadenlos kurz erschien, wollte ich nicht noch einmal widersprechen. Ich verabschiedete mich brav und fuhr ab. Schwester Wulfhilde lächelte mir noch nach, als ich bereits mit dem Auto den Parkplatz verließ.

2

Meine zweite Ankunft im Sauerland wurde musikalisch von Bob Marley untermalt, der gerade im Radio I shot the sheriff sang. Leider verstand ich den Song nicht als Botschaft. Ich war viel zu sehr mit mir selbst und meiner neuen Heimat beschäftigt. So betrachtete ich argwöhnisch meine neue Umgebung, die bei leichtem Nieselregen den Charme eines Edgar-Wallace-Schauplatzes hatte. Trotz dunstiger Sichtverhältnisse war am Horizont in alle Richtungen dunkler, dichter Wald erkennbar. Berge und Wälder waren die Markenzeichen des Sauerlandes, hatte ich mir sagen lassen. Ein wahres Wanderparadies! Genau das Richtige für mich, dachte ich ironisch. Als ‚eingefleischter Wandervogel‘ würde ich die Gegend hier zu schätzen wissen.

Auch diese tote Bahnstrecke, an der ich schon seit Ewigkeiten entlangfuhr, machte mich nicht fröhlicher. Die Gleise waren rostig und mit Pflanzen überwuchert. Seit Jahren war hier kein Zug mehr langgefahren. Paßte ja alles wunderbar in mein Bild von Provinz.

Wahrscheinlich geriet ich gleich noch in einen Schützenzug hinein. Robert hatte mir erzählt, daß man keinen Nebenweg durchs Sauerland fahren konnte, ohne mindestens einmal hinter einem Schützenzug festzusitzen und zu warten, bis die fröhliche Gesellschaft den Weg zur Schützenhalle gefunden hatte. Das fehlte mir jetzt noch. Mein Magen knurrte, und ich lechzte nach einer Tasse Kaffee.

Schwungvoll steuerte ich auf einen Bahnübergang zu. Dahinter erkannte ich die Kreuzung wieder, an der ich hatte abbiegen müssen, als ich zu meinem Vorstellungsgespräch unterwegs gewesen war. „Immer nach oben, immer nach oben“, hatte Schwester Wulfhilde mir damals per Telefon eingetrichtert. Immer nach oben! Wie bei Nonnen nicht anders zu erwarten.

Auf einmal sah ich vor mir eine Schranke zucken. Hatte ich da irgendein Signal übersehen? Irgendwie muß in dem Moment mein Gehirn blockiert haben. Anstatt das Auto anzuhalten, dachte ich darüber nach, daß es hier offensichtlich doch noch eine befahrene Bahnstrecke gab. Ich gab Gas. Daß die Dinger so schnell herunterkommen, hatte ich im Traum nicht gedacht. Ich mußte abrupt bremsen, wollte zurück. Zu spät. Ich stand zwischen den Schranken. Es dauerte einen Moment, bis mir meine Situation bewußt wurde. Dann überkam mich Panik. Mein Auto. Der Zug. Und vor allem: Ich! Dann nur noch ein Gedanke. Raus! Die Tür klemmte. Diese verdammte Tür. Dieses verdammte Auto. Über den Beifahrersitz. Alles war vollgepackt. Ich kam nicht von der Stelle. Rechts sah ich den Zug kommen. Ich schmiß mich mit aller Gewalt gegen die Tür. Sie gab quietschend nach, und ich fiel auf die Straße.

Auf die Beine, dachte ich panisch. Jetzt schnell auf die Beine! Ich torkelte zur Schranke und hechtete hinüber. Danach war es dunkel.

„Ich hätte nicht auf diese dusselige Anzeige antworten sollen“, hörte ich mich faseln, als ich wach wurde. „Wo bin ich hier? Im Himmel?“

„Nein, im Sauerland!“ sagte jemand, der strohblond war und mich angriente. Ich schaute mich um. Ich lag auf einer Parkbank vor einem gewaltigen Kriegsmahnmal nahe einer vielbefahrenen Straße. Ganz in der Nähe plätscherte ein Fluß, der von riesigen Trauerweiden gesäumt war. Dann sah ich den Bahnübergang. Ich stöhnte und erwog, ob ich lieber in die bequeme Bewußtlosigkeit zurückkehren wollte. Ich entschied mich dagegen. Die Besichtigung meiner Autoreste würde ich nicht ewig umgehen können.

„Wo ist mein Auto? Gibt es Verletzte?“

Der Strohblonde griente noch mehr. „Außer Ihnen niemanden. Der Zug fährt an dieser Stelle immer ganz langsam und hat rechtzeitig angehalten. Wir haben Ihr Auto weggesetzt.“

Ich richtete mich auf. Tatsächlich! Dahinten auf dem Parkstreifen stand mein roter Wagen unversehrt.

„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“

Irgendeine Zelle meines Gehirns signalisierte schwach, daß diese Frage doppeldeutig gemeint sein könnte.

„Glaub schon!“

Ich stellte mich auf meine Beine und sortierte den Rest meines Körpers. Soweit ich das beurteilen konnte, war alles noch an seinem Platz und nichts gebrochen. Irgendwie schienen meine Aufenthalte in dieser Stadt nicht ganz unproblematisch ablaufen zu wollen. Letztes Mal hatte ich mir den Knöchel verstaucht, diesmal den ganzen Körper. Hoffentlich kam ich hier lebend wieder weg!

Ich blickte meinen strohblonden Lebensretter an. Er hieß Max und war Taxifahrer. Anstatt Dankessalven entgegenzunehmen, erkundigte er sich besorgt, ob ich wirklich nicht zum Durchchecken ins Krankenhaus wollte. Ich verneinte tapfer.

„Na dann!“ Max fuhr dann ab mit seinem Taxi, und ich war allein.

Der Park war nicht sehr einladend, weil er viel zu nah an der Straße lag. Trotzdem: Was ich jetzt brauchte, war Entspannung. Ich nahm also in Kauf, daß ich mich schon am ersten Tag in die Riege der Stadtstreicher einreihte, legte mich auf die Parkbank und schloß die Augen. In Gedanken wiederholte ich meinen Sprung über die Bahnschranke. Ich hätte Schimanski alle Ehre gemacht. Mußte wirklich toll ausgesehen haben. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Als ich die Augen öffnete, blitzte die Sonne durch die Baumkronen. Eine ganz zarte Wärme überzog mein Gesicht. Es wird Frühling, dachte ich. Zeit für einen Neuanfang. In jedem anständigen Roman würde der Held sich jetzt aufsetzen und die Eroberung dieser Stadt mit einer positiven Einstellung beginnen. Als ich mich schwungvoll aufsetzte, brach mir beinahe das Rückgrat durch. Der Sprung über die Schranke hatte wohl weniger mit Schimanski zu tun gehabt als mit Derrik kurz vor der Pensionierung. Ich stöhnte und biß die Zähne zusammen. Mit Mühe hatte ich den Entschluß gefaßt, diesen ländlichen Raum durch meine Anwesenheit zu bereichern, und jetzt war ich auch bereit, die Sache durchzuziehen. Zumindest bis zur dritten schweren Depression!

Als ich mit dem Auto mitten ins Stadtzentrum kurvte, fand ich mich plötzlich in einem Gewirr schmaler Gäßchen wieder. Überall waren Einbahnstraßen, und die Enge der Gassen ließ nur ein einziges Auto zu. Immer wieder mußte man ausweichen, indem man sich halb in das Mauerwerk eines Hauses quetschte. Der Supergau war erreicht, als sich der Müllwagen daran machte, in den Gassen die Tonnen zu leeren. Ich flüchtete auf einen Seitenstreifen, der mir wie ein Geschenk erschien, parkte dort und lief zu Fuß weiter. Windschiefe, restaurierte Fachwerkhäuschen standen wie aneinandergekuschelt da. Die Bäume brachten das erste Grün hervor, und hier und da standen sogar schon ein paar bepflanzte Blumenkästen vor den Fenstern. Anheimelnd! Idyllisch! Mir fielen tausend Ausdrücke ein, um diese hübsche Stadt zu beschreiben. So viel adrette Schönheit konnte doch nicht erlaubt sein. Dahinter mußte sich doch etwas Unheilvolles verbergen. Aber nichts da! Dies hier war eine Vorzeigestadt. Es mußte traumhaft sein, hier zu wohnen. Es mußte einfach phantastisch sein, die Kinder hier großzuziehen. Man ging einmal im Monat essen, die lieben Kleinen nahmen die Angebote der städtischen Musikschule in Anspruch und man selbst besuchte wöchentlich den Kirchenchor. Das Leben ging ruhig und beschaulich vonstatten. Ab und zu stellten sich die Schwiegereltern ein, die natürlich nur eine Straße weiter wohnten und mit denen man sich ganz glänzend verstand. Ich hatte nur ein Problem. Ich hatte keine Familie, ich sang nicht gerne und wollte mein Leben nicht ruhig und beschaulich beschließen. Kurz: Dies hier war eine schöne Stadt, aber eben nicht meine Stadt. Ich stöhnte gehaltvoll, schloß die Augen und hoffte, daß ich vorm Severinstor in Köln stehen würde, wenn ich sie wieder öffnen würde.

„N’schönen Platz fürs Mittagsschläfchen, woll?“

Ich riß die Augen auf. Statt des Severinstors stand ein älterer Mann mit einem Spazierstock vor mir. Unter seinen unglaublich dicken Augenbrauen hervor beäugte er mich amüsiert.

„Nein, nein, ich genieße nur die schöne Altstadt hier“, sagte ich unsicher und versuchte möglichst überzeugend zu klingen.

„Sie sind wohl nicht von hier, was?“ Lag da Mißtrauen in seinem Blick? „Wo sind Sie denn wech?“

„Wech? Also, weg bin ich, also aus Köln bin ich weg.“

„Von Köln?“ Der alte Mann stützte sich mit beiden Händen auf seinen Spazierstock. „Ja, da war meine Schwester ja auch mal.“ Langsam gewöhnte ich mich an den schweren Tonfall, den mein Gegenüber pflegte. „Ja, Hauswirtschaft hat sie da gelernt. Reiche Leute waren das, wo sie da war. War so ein großes Haus, nicht weit vom Bahnhof wech. Kennen Sie ja vielleicht das Haus!“

„Also, jetzt so auf Anhieb wüßte ich nicht –“

„Ja, ist ja auch schon lange her, woll! Ich weiß jetzt nicht ganz genau. Der Jupp, das war unser Bruder, der war siebenvierzig aus dem Krieg wiedergekommen. Ich mein, danach wär dann Gertrud dahin gegangen. Neben ’ner Kirche war das Haus. Ich muß sie da mal fragen, wo sie da gewesen ist. Vielleicht kennen Sie das ja. Also, schönen Tag noch!“ Ohne mich weiter zu beachten, humpelte der Mann leicht vornübergebeugt davon.

„Oder ob das doch achtenvierzig war. Aber der Jupp –“ Die weiteren Überlegungen zu Jupps und Gertruds Werdegang waren nicht mehr für mich bestimmt.

Ich schaute dem Mann eine Weile nach und ertappte mich dabei, wie ich nachdachte, in welcher Kölner Straße das Haus wohl gelegen haben könnte. Dann schreckte ich auf und fand mich im Sauerland wieder.

Mein Magen knurrte gehaltvoll, und ich machte mich auf die Suche nach etwas Eßbarem. In einer Querstraße hinter der Hauptkirche fand ich ein Café. Der Weg ins Innere führte an einer Theke mit etwa drei Millionen Kalorien vorbei, die auf verschiedenste Torten verteilt waren. Das Café selbst überraschte mich, weil es enorm groß war. Im hinteren Teil plätscherte ein Springbrunnen im Dämmerlicht eines Wintergartens vor sich hin. Eine megablonde Bedienung lief flink zwischen den Tischen hin und her. Ich suchte mir einen Platz im vorderen Teil, von dem aus ich einen Blick in die Fußgängerzone hatte. Ich hatte bislang nur die Gäste und noch gar nicht die Karte studiert, als eine Frau mit schwarzen Locken an meinen Tisch trat, um meine Bestellung aufzunehmen.

Ich nahm einen Kaffee und zwei Stücke Eissplittertorte, auf die ich einen absoluten Heißhunger hatte, obwohl es nicht einmal Mittag war. Als die Bedienung mit ihren schwarzen Locken abschwirrte, mußte ich unweigerlich an Schach denken. Hier vorn im Café regierte die schwarze Königin, im hinteren Teil die weiße. Im Handumdrehen war die Bedienung wieder da und deponierte alles auf dem Tisch. Ich nutzte die Gelegenheit.

„Können Sie mir auch noch sagen, wo man hier gut übernachten kann?“

Die junge Frau hatte noch ein Kännchen Kaffee auf dem Tablett. „Ich komm gleich nochmal wieder!“ rief sie und schwirrte weiter. Ein paar Minuten später war sie wieder da. „Ich hatte eh jetzt Schichtwechsel. Jetzt hab ich einen Moment Zeit, um Ihnen zu helfen.“

Sie setzte sich ganz unkompliziert zu mir an den Tisch. „Sie wollen hier übernachten“, wiederholte sie, nicht als Frage, sondern um zu überlegen. „Hm – an richtigen Hotels gibt’s hier in der Innenstadt eigentlich nur zwei. Aber das eine ist zu teuer, und außerdem kann man da nicht essen. Das andere wird gerade renoviert. Dann wäre da noch die Pängsion Gottscheidt, aber davon hört man auch nicht allzuviel Gutes.“

Meine Beraterin sprach Pension wie Pängsion aus. Von dem französischen Erbe des Rheinlandes, das der Aussprache eine gewisse Leichtigkeit gibt, war hier nichts zu entdecken. „Wenn Sie etwas Einfaches suchen, ist eigentlich die Pängsion Dreisam am besten, hier ganz in der Nähe. Ein älteres Ehepaar betreibt sie. Etwas außerhalb wären dann noch zwei Hotels.“

Ich bin sicher, ich hätte noch einen detaillierten Bericht über das Frühstücksei in jedem Hotel in zwanzig Kilometer Entfernung bekommen, wenn ich an dieser Stelle nicht unterbrochen hätte.

„Diese Pension hier in der Nähe bietet sich förmlich an“, warf ich schnell ein.

„Ja, sie ist direkt hinter der Kirche.“ Kirche hörte sich an, als sei ein A darin zu finden, wie Kiache. Von einem R dagegen keine Spur. Ob die hier alle so sprachen?

Die Kellnerin erzählte weiter. „Die Leute sind sehr nett. Und sie freuen sich immer, wenn Gäste kommen. Sehr viel zu tun haben die beiden nämlich nicht mehr.“ Ich wurde das Gefühl nicht los, daß es sich bei den Pensionsbesitzern entweder um enge Verwandte der Bedienung handelte oder sie prozentual am Umsatz beteiligt war.

„Wie lebt es sich denn hier so in Ihrer Stadt?“ fragte ich wie beiläufig. Mein Gegenüber schien kurz darüber nachdenken zu müssen. Dann kam sie richtig ins Schwatzen. Ich hörte vergnügt zu und konnte mich in Ruhe meiner Torte widmen.

„Nun, die Innenstadt ist sehr schön, und für so ein kleines Städtchen ist eigentlich ganz schön viel los. Theatergruppen, Musikveranstaltungen, Kino, mehrere Schwimmbäder – alles da. Nee nee, da kann man nicht meckern. Außerdem ist man von hier aus in einer dreiviertel Stunde in Dortmund.“

„Aha.“ Ich verkniff mir eine Bemerkung. Dortmund kannte ich von einer Ruhrgebietsreportage, bei der ich Angie mal begleitet hatte. Dortmund war dabei in der Hitliste unserer persönlichen Horrorstädte auf Platz zwei gelandet, knapp hinter Castrop-Rauxel.

„Alles in allem kann man es hier schon aushalten. Andererseits geht es mir schon manchmal auf die Nerven, daß hier alles so eng ist.“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „Ich meine, man trifft dieselben Leute überall wieder. Und dann auch noch immer an denselben Stellen, montags im kommunalen Kino, dienstags auf dem Markt, mittwochs –“

Ich unterbrach mein Essen. „Aber die Stadt hat doch über 50.000 Einwohner!“

„Das kann schon sein, wenn man alle Gemeinden mitzählt“, murmelte meine Gesprächspartnerin, „trotzdem: Wenn man einmal in das Stadtleben eintaucht, stellt man fest, daß im Grunde jeder mit jedem irgendwie zusammenhängt – übrigens nicht ganz ungefährlich.“ Die Kellnerin schmunzelte. „Man sollte sich immer gut überlegen, zu wem man was sagt.“ Sie wischte mit der Hand einen imaginären Krümel vom Tisch.

„Aber Sie wird das nicht interessieren, wenn Sie nur auf der Durchreise sind.“

„Ich bin nicht nur auf der Durchreise. Ich fange hier demnächst an zu arbeiten.“

„Ach“, die lockige Kellnerin fand das interessant.

„Ja, ich habe eine Stelle bekommen. Am Elisabeth-Gymnasium.“

„Ach“, die lockige Kellnerin fand das auch interessant. „Sie sind Lehrer? Was unterrichten Sie denn?“

„Deutsch und Geschichte“, antwortete ich. „Irgendjemand an der Schule ist wohl bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Deshalb ist eine Stelle frei geworden.“

„Aha.“ Die Stimme der Kellnerin hörte sich plötzlich verändert an. Ich stutzte. „Kennen Sie den Fall zufällig?“

„Nur flüchtig.“ Die Kellnerin stand auf. „Ich muß jetzt auch gehen.“

In diesem Moment ging die Tür auf, und ein kleines Mädchen mit einem Tornister auf dem Rücken spazierte herein. „Ich muß mich um die Kleine kümmern“, sagte die Kellnerin. Sie nahm das Mädchen liebevoll in den Arm, hob ihm den Ranzen vom Rücken und verschwand mit ihm aus meinem Gesichtsfeld. Ich widmete mich wieder meiner Torte.

„Wenn Sie wissen wollen, was in dieser Stadt los ist, müssen Sie das hier lesen!“ Ein hellblondgelockter Mann um die vierzig wandte sich vom Nachbartisch aus an mich. Er hatte eine Zeitung vor sich liegen und hielt wie bei einem Migräneanfall eine Hand vor die Stirn.

„Was ist denn das?“ fragte ich neugierig.

„Der Heimatkurier“, bekam ich zur Antwort. „Heute mit Folge drei der Serie „Unsere lieben Vierbeiner“. Nachdem ich gestern erfahren habe, daß Katze Muschi von Frau Gerlinde Rastmeier aus der Vierkantstraße den Fernsehknopf mit der rechten Vorderpfote bedienen kann, erreicht mich heute die brandheiße Information, daß Mischlingshund Bobby aus der Turmstraße seinem Herrchen mit Vorliebe die Pantoffeln in den Kamin schmeißt.“

„Da darf man wirklich auf Folge vier gespannt sein“, stimmte ich zu.

„Ja, ich mutmaße, daß morgen ein Pferd vorgestellt wird, daß sich schon achtmal den Pferdeflüsterer reingezogen hat.“

Der Lockenkopf legte die Zeitung beiseite. „So ist das eben. In einer Stadt wie unserer ist vieles eine Nachricht wert. Gar nicht so einfach, Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterlöcher zu stopfen. Nichtsdestotrotz. Wenn Sie mich fragen: Laura hat recht – Dreisam ist die beste Pension hier in der Stadt.“ Ich brauchte einen Augenblick, um wieder zu den konkreten Fragen des Tages zurückzukehren. „Vor allem sind sie sehr preisgünstig –“

Während er noch auf mich einredete, dachte ich daran, wie Angie mich vor den sturen Sauerländern gewarnt hatte. Entweder bekam ich es nur mit Zugezogenen zu tun, oder das Klischee stimmte einfach nicht. Ich kam mir jedenfalls vor, als suchten die Leute regelrecht jemanden, dem sie die Hucke vollquatschen konnten.

Ich ließ mir von dem Lockenkopf den Weg zur Pension Dreisam erklären und stand auf. Vorne im Verkaufsraum sprach Laura gerade mit der superblonden Bedienung. Ich bezahlte und bedankte mich für ihre Hilfe.

Sie winkte ab. „Viel Glück wünsche ich Ihnen!“ sagte sie, ohne mich anzusehen, und ihre Worte klangen mir lange in den Ohren.

3

Idylle. Nach und nach entstand dieses Bild eines sauerländischen Städtchens in meinem Kopf. War es nicht eine anrührende Vorstellung, daß man sich hierzulande noch so nahe war? Daß man auf dem Markt ein Schwätzchen halten konnte und in der Kneipe immer ein paar Bekannte traf? Hier gab es noch Heimat! Und ich würde demnächst dabei sein, denn ich wurde hier als Lehrer gebraucht. Mit diesem Gedanken wollte ich mich nun auf den Weg zu meiner künftigen Arbeitsstätte machen.

Mein Aktionismus wurde gebremst, als ich an meinem Auto ein Knöllchen über dreißig Mark fand. Ich hatte einen Anwohnerparkplatz benutzt. Das Knöllchen sollte nicht das letzte gewesen sein. Nachdem ich mich aus den Altstadtgäßchen hinausgeschlängelt hatte, fand ich den Weg zur Schule ziemlich schnell. „Immer nach oben“ traf eigentlich von jedem Ausgangspunkt aus zu.

Ich ließ meinen Wagen über das letzte Stück Kopfsteinpflaster rumpeln und fuhr dann links durch das geöffnete Schultor hindurch. Ich hielt auf dem Lehrerparkplatz, wo außer mir nichts und niemand zu sehen war. Kein Mensch, kein Auto, kein Lebenszeichen. Ich blieb einen Augenblick im Auto sitzen und starrte auf das Schulgebäude, das sich ebenfalls nicht gerade als Hort fröhlichen Lebens und Lernens präsentierte. Zugegeben, die Osterferien hatten gerade begonnen. Aber war das ein Grund, daß alle Angehörigen diesen Ort fluchtartig verlassen hatten? Warum war die Öko-AG nicht gerade damit beschäftigt, einen neuen Schulteich anzulegen? Und warum nutzten nicht ein paar nette Kollegen die Ruhepause der Ferien, um ihre Lernziele und Methoden zu diskutieren? Nichts, kein Mensch! Ein tiefer Seufzer entfuhr meiner empfindsamen Junglehrerbrust. Nun, ich würde mich der kalten Realität dieser gottverlassenen Schule stellen. Gottverlassen. Ich schmunzelte, während ich unter Kraftanstrengungen die Autotür öffnete und meine Glieder aus dem Auto schälte. Menschenleer war wohl der passendere Ausdruck für ein Gymnasium, das von einem katholischen Orden geführt wurde. Mein Blick schweifte über den Gebäudekomplex. Als ich wegen des Vorstellungsgesprächs hier gewesen war, hatte ja alles in der Dämmerung eines ungemütlichen Februarabends gelegen. Ein verschwommenes, riesiges Etwas, an dem ich nicht einmal die Eingangstür auf Anhieb gefunden hatte. Erst heute nahm ich die Aufteilung des Ganzen richtig wahr. Hier stand ich wohl vor dem Hauptgebäude, einem alten, dunklen Gemäuer, das durch große, weißgestrichene Fenster einigermaßen aufgehellt wurde. Na ja, den Club der toten Dichter hätte man hier nicht drehen können, aber so eine gewisse altersbedingte Würde war schon vorhanden. Turnhalle, Fachtrakt – ja, so langsam kam die Erinnerung wieder. Ich ließ meinen Blick weiter schweifen. Der Schulkomplex war von einem gewaltigen Park umgeben, und ich versuchte mich an dem Gedanken hochzuziehen, daß es ungemein sinntragend aussehen würde, wenn ich über pädagogische Probleme grübelnd durch das hauseigene Grün wandeln würde.

„He, Sie da!“ Ich drehte mich um, herausgerissen aus meinen romantischen Träumereien. Die Quelle menschlicher Lautbildung war ein typischer „He Sie da“-Rufer, das sah ich auf den ersten Blick. Ob ich es mit dem Hausmeister zu tun hatte? Ich ging langsam auf ihn zu.

„Haben Sie das Schild da nicht gesehen?“ fuhr der vermeintliche Hausmeister mich an.

„Ein Schild?“ Hatte ich ein Hinweisschild übersehen, das wegen einer Ordensmeditation Eindringlinge für unerwünscht erklärte? Ich wollte mich gerade zu dieser Erklärung für die absolute Regungslosigkeit an der Schule beglückwünschen, als der „He Sie da“-Rufer mich weiter anraunzte.

„Dies ist ein Lehrerparkplatz! Dort drüben hinter dem Schultor steht ein Hinweisschild, das ausdrücklich darauf aufmerksam macht, daß nur Lehrkörper ihre Autos hier abstellen dürfen.“ Ich blickte über den riesigen Parkplatz, auf dem einzig und allein mein Auto ein winziges Plätzchen beanspruchte.

„Wissen Sie, ich wollte eigentlich –“

„Man sollte annehmen, daß das Schild dort drüben gut lesbar ist. Im übrigen möchte ich darauf hinweisen …“

Ich ließ HeSieda weiterreden und widmete mich seinem Äußeren. Er war klein und stämmig, hatte lichtes schwarzes Haar und trug einen gestutzten schwarzen Vollbart, der lediglich seinen Mund umgab. Ich überlegte gerade, wie ein solcher Bart hieß. Angie hätte es bestimmt gewußt. Das Entscheidende bei diesen Bärten war, daß die Verbindung zwischen Bart und Haupthaar fehlte. Das Wort lag mir wirklich auf der Zunge. HeSieda, dem ich schon seit geraumer Zeit in seinen Ausführungen nicht mehr gefolgt war, machte eine Pause. Ob er mir eine Frage gestellt hatte?

„Ich bin ganz Ihrer Meinung“, versuchte ich es, „Ruhe und Ordnung sind das Wichtigste an einer Schule wie der Ihren. Ich werde Ihren Rat beherzigen und mich in der Zukunft immer an Ihren gutgemeinten Vorschlägen orientieren.“ HeSieda schaute mich fassungslos an. „Und übrigens“, merkte ich noch an, „Ihr Bart, der ist echt chic!“ HeSieda stand mit offenem Mund da, als sei er im Teer verwurzelt. Ich nutzte die Gelegenheit und verschwand um die nächste Ecke. Die Glastür, an der ich rüttelte, blieb gnadenlos verschlossen. Ich lief um das Hauptgebäude herum. Wo war denn jetzt die Holzpforte geblieben? HeSieda hatte mich gründlich verwirrt. Endlich, da war sie. Ich lief im Laufschritt die Treppenstufen nach oben und versuchte die Tür zu öffnen, vorsichtig natürlich. Tatsächlich gab die Pforte nach einigem Bemühen nach, und ich stand in einem halbdunklen Vorraum. Von dort führte eine Tür in eine Art Vestibül. Langsam kam mir die Erinnerung an diesen Gebäudeteil wieder. Die lebensgroße Madonnenstatue, die von einem Mosaikbogen an der Wand eingefaßt war, erkannte ich auf Anhieb wieder.

„Haben Sie sich verlaufen?“ Eine hochgewachsene Schwester blickte mich durch ihre dicke Brille neugierig an. Sah ich eigentlich wie ein aufdringlicher Zeitschriftenaboverkäufer aus, oder warum traute niemand in diesem ehrwürdigen Schulgebäude mir zu, daß ich ein ernsthaftes Anliegen hatte?

„Ich hoffe nicht“, antwortete ich in einem gewollt lockeren Tonfall. Die in dezent graue Tracht gekleidete Schwester beäugte mich weiter mißtrauisch, was ihr leicht fiel, da sie mich um einige Zentimeter überragte.

„Um genau zu sein, soll ich von nun an hier arbeiten.“

Ein wohlwollendes Lächeln huschte über das Gesicht meines Gegenüber. „Na, dann werden Sie sich wohl noch öfter hierhin verlaufen.“ Schwester Unbekannt lachte herzlich, und ich stimmte höflich ein. Meine Empfangsdame war nicht nur extrem groß, sondern auch sehr dünn. Sie hatte schwarzes Haar, das sich unter ihrer Haube herauskräuselte. Wieviel Zentimeter Haar wohl bei einer Schwester des Elisabeth-Gymnasiums sichtbar sein durften?

„Ich bin Schwester Dorothea“, stellte sie sich nun vor und reichte mir sogar die Hand.

„Vincent Jakobs.“ Beinahe wäre ich unter ihrem Händedruck in die Knie gegangen.

„Ich bin für die Buchhaltung des Hauses zuständig. Mit mir werden Sie zu tun haben, wenn es um Ihre Gehaltsabrechnung geht. Darf ich fragen, was Sie unterrichten?“

„Deutsch und Geschichte.“

„Na, daß es nicht Sport ist, hatte ich mir schon gedacht.“ Mir blieb das Lächeln zwischen den Zähnen stecken. Dorothea versteckte ihr eigenes Lachen unter einem Hüsteln und schaute dann auf die Uhr.

„Um Himmels willen, die heilige Sext beginnt gleich. Wenn Sie mich entschuldigen wollen!“

„Die Sext?“ Ich mußte feststellen, daß es Wörter gab, die ich noch nie gehört hatte.

„Unser Mittagsgebet in der Kapelle“, erklärte Schwester Dorothea. „Kann ich noch etwas für Sie tun?“

„Für mich sind Unterlagen hinterlegt worden“, erklärte ich. „Haben Sie eine Ahnung, wo ich die finden kann?“

„Wahrscheinlich gar nicht“, meinte Dorothea grinsend. „Nein, im Ernst. Vermutlich im Lehrerzimmer. Allerdings muß ich jetzt die Pforte verschließen, und dann können Sie anschließend nicht mehr heraus. Würde es Ihnen etwas ausmachen, später noch einmal wiederzukommen?“ Ich schüttelte den Kopf. Es machte mir wirklich nichts aus, nicht auf Anhieb mit der anstehenden Arbeit konfrontiert zu werden.

„Ach übrigens, Deutsch und Geschichte.“ Schwester Dorothea folgte mir zur Pforte. „Dann sind Sie bestimmt der Nachfolger von Bruno Langensiep, oder?“

„Der Name sagt mir nichts. Ich hörte nur, daß ein Kollege bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist.“

„Verkehrsunfall?“ Dorothea schmunzelte. „Eine interessante Umschreibung.“

„Wie meinen Sie das? Was ist denn nun wirklich passiert?“ Ich wurde langsam ungeduldig, was diese Angelegenheit betraf.

„Eine schreckliche Geschichte. Langensiep ist bei einem Spaziergang gestürzt. Um genau zu sein, er ist in einen Steinbruch gefallen und dabei zu Tode gekommen.“

Ich schluckte. „Einfach so?“

Schwester Dorothea zog die Augenbrauen hoch. „Auf jeden Fall lautete so das Ergebnis der Ermittlungen, die nach dem Tod in Gang gesetzt worden sind. Aber –“ Dorothea senkte die Stimme, als sie weitersprach, „man weiß ja nie.“ Ich fragte mich gerade, wie ich die Idee fand, daß mein Vorgänger vielleicht kaltblütig um seine Restlebensjahre gebracht worden war.

„Das war natürlich nicht ernst gemeint“, lachte Schwester Dorothea indes. „Es war kein Mord, sondern eben ein tragischer Unfall. In einem Städtchen wie unserem passiert doch kein Mord.“ Ich lächelte Schwester Dorothea gequält an und trat hinaus ins Freie.

„Wenn Sie meinen!“

„Na ja, Ihnen wünsche ich jedenfalls mehr Glück!“ Dorothea ließ die Pforte ins Schloß fallen. Als der Schlüssel im Schloß klimperte, hörte es sich einen Moment lang wie ein leises Kichern an.

Das mulmige Gefühl, das sich bei mir eingestellt hatte, ging nicht nur auf die zwei Stück Eissplittertorte zurück, die ich zuvor gegessen hatte. Ob mein Vorgänger vielleicht ein paar Fünfen zuviel verteilt hatte? Hatten Eltern oder Schüler in Eigenregie für einen zügigen Lehrerwechsel gesorgt? Natürlich spann ich herum, aber ganz im Ernst begann dieser seltsame Vorfall mich zu interessieren – und zu beunruhigen.

Schnellen Schrittes ging ich zu meinem Auto und nahm dankbar zur Kenntnis, daß HeSieda inzwischen anderweitig im Einsatz war. Als ich hinter dem Steuer saß, ließ ich die Tür einen Augenblick auf und atmete tief durch.

„He Sie da, Sie sind ja immer noch da! Habe ich Sie nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieser Parkplatz ausschließlich Lehrpersonen dieses Gymnasiums zur Verfügung steht?“ HeSieda stand mit knallrotem Kopf neben meinem Auto. Wo hatte er sich bloß versteckt? Unter meinem Wagen? War er aus einem Gulli gekrochen?

„Haben Sie irgend etwas zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?“

„Allerdings! Aber ich habe ernsthafte Befürchtungen, daß Ihr Blutdruck das nicht verkraftet!“ Zum Glück verstand ich mich auf Schnellstarts.

4

Nachdem Alexa endlich einen Parkplatz gefunden hatte, warf sie noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie sah ungefähr so aus wie der Pudel, den sie gerade behandelt hatte, und hätte am liebsten vor Verzweiflung gebellt. Sie versuchte noch ein paar Haarsträhnen zu ordnen, aber es war vergebens. Fluchend stieß sie die Autotür auf und machte sich auf den Weg zum Q. Natürlich war sie wieder zu spät dran. Aber was konnte sie dafür, wenn ein magenempfindlicher Pudel nach der offiziellen Sprechstunde noch einen Durchfallschub bekam, der die Besitzerin zu wahren Hysterieanfällen veranlaßt hatte? Manchmal fragte Alexa sich, ob in vielen Fällen nicht eher die Tierbesitzer eine Therapie brauchten als ihre vier- und zweibeinigen Lieblinge.

Als sie die Eingangstür öffnete, dachte sie immer noch über die passenden Entschuldigungsworte nach. Hendrik saß direkt am Eingang. Er grinste sie an.

„Laß mich raten!“ kam er ihr zuvor. „Eine Kuh hat den Melkschlauch verschluckt? Oder eine Stute hat überraschend Zwillinge geboren und ihr fiel kein zweiter Name ein.“

„Haha!“ brummte Alexa, ließ alle Entschuldigungsfloskeln fallen und plumpste auf einen Stuhl. „Wie du siehst, habe ich drei Stunden vorm Schminkspiegel gestanden, um mich schön für dich zu machen.“

„Wenn das das Resultat für drei Stunden Mühe ist, solltest du dir zu Weihnachten einen neuen Kosmetikkoffer wünschen.“ Alexa verpaßte ihrem Gegenüber einen Tritt vors Schienenbein und versuchte gleichzeitig, Lutz’ Aufmerksamkeit zu erhaschen.

„Ein Baguette Toulouse – nein, lieber zwei – und eine Cola!“, rief sie ihm zu. Hendrik, der nur ein Glas Wein vor sich stehen hatte, konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen.

„Na, ißt du heute wieder für deinen Hund mit?“ Sie verdrehte die Augen und unterbrach die stilvolle Konversation, um zu sehen, ob Bekannte da waren. Es war noch ziemlich leer um diese Uhrzeit. An der Theke standen zwei Männer und eine Frau, die sie vom TaT, der lokalen Theatertruppe, her kannte. An den Nachbartischen saßen keine bekannten Gesichter. Nur am hintersten Tisch in der Ecke entdeckte Alexa Peter Wüstenberg, den Zweiten Vorsitzenden des Reitervereins. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er ihr verschmitzt zu. Alexa hätte sich am liebsten innerlich übergeben und guckte schnell weg.

„Na, hast du einen alternativen Gesprächspartner gefunden?“ unterbrach Hendrik ihren Rundblick.

„Leider nicht“, seufzte sie, „da muß ich wohl weiterhin mit dir vorlieb nehmen.“

„Ich bin gerührt, wo ich mich doch schon die ganze Woche auf den neuesten Klatsch aus der heimischen Tierwelt gefreut habe. Erzähl, was macht das liebe Vieh?“ Wenngleich Hendrik sich nicht gerade für Kuhmägen interessierte, war er ein geduldiger Zuhörer, und Alexa nutzte die Gelegenheit, um den angestauten Frust der gesamten letzten Woche abzuladen. Als sie bei ihrem Streit mit Frau Dr. Junker angelangt war, hatte sich die Kneipe schon gut gefüllt.

„Es ist ein Unding“, wetterte Alexa, „nur wegen ihrer Sturheit muß ich jeden zweiten Tag Bereitschaftsdienst machen. Hasenkötter selbst ist total begeistert von der Idee, die Bereitschaftsdienste der Tierarztpraxen zusammenzulegen. Schließlich ist er ja auch froh, wenn er etwas mehr Zeit für seine Kinder hat. Dr. Reisloh hat nach einigem Zögern auch zugestimmt, nur diese blöde Junker hat Angst, daß ihre Kunden beim Bereitschaftsdienst merken, daß die Konkurrenz besser ist. Es ist zum Heulen. Wenn wir uns zusammentäten, wären wir sechs Ärzte mit voller Stelle und brauchten nur alle sechs Tage Dienst zu machen. Aber so? Das ist doch kein Leben.“ In ihrer Erregung hatte Alexa gar nicht gemerkt, daß ihr Glas leer war. Sie schluckte Luft, als sie trinken wollte, und wandte sich um zur Theke, doch Lutz sprach gerade mit jemandem, den sie nicht kannte. Sie wartete einen Moment, aber Lutz schaute nicht hoch.

„Warum machen dieser Reisloh und dein Hasenkötter die Sache dann nicht alleine?“ fragte Hendrik, „Das wäre immerhin schon mal etwas an Erleichterung.“ Alexa antwortete nicht, sondern wartete weiterhin, daß Lutz sie wahrnahm. Endlich lachte er und guckte hoch – blitzschnell winkte sie ihm zu. Sein Gesprächspartner an der Theke schaute ebenfalls herüber. Er hatte dunkelblonde Haare, sehr kurz geschnitten. Sein Gesicht war offen und hatte etwas Jungenhaftes an sich. Er trug eine beige Jeans und einen anthrazitfarbenen Pullover, unter dem ein weinrotes T-Shirt hervorlugte. Da er Alexa unverwandt anschaute, fragte sie sich, ob sie ihn nicht vielleicht doch kannte. Einen Moment später ging an der Theke die Klingel, und Alexas Baguettes wurden durch die Durchreiche geschoben. Lutz brachte sie zusammen mit ihrer Cola an den Tisch. Auch er grinste angesichts ihrer Portion.

„Na, dann hau mal rein!“ sagte er und verschwand wieder hinter der Theke.

„Was hattest du nochmal gefragt?“ wandte Alexa sich wieder an Hendrik.