cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2616

 

Countdown für Sol

 

Die Sonne soll sterben – Reginald Bull in verzweifeltem Kampf

 

Arndt Ellmer

 

img2.jpg

 

In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Für die Menschen auf der Erde hat sich schlagartig das Leben verändert: Das Solsystem wurde von unbekannten Kräften in ein abgeschottetes Miniaturuniversum verbannt.

Seltsame Außerirdische, die sogenannten Auguren, beeinflussen die Kinder und Jugendlichen, um die Menschheit »neu zu formatieren«. Gleichzeitig wird offensichtlich die Sonne manipuliert.

Davon weiß Perry Rhodan selbst nichts. Der unsterbliche Terraner bekam die anfänglichen Probleme im Solsystem zwar noch mit, aber dann verschwand er spurlos. Die Menschen auf der Erde wissen nicht, wo er sich aufhält, und sie haben auch keine Hinweise darauf.

Sie haben zudem ihre eigenen Probleme. Die fremdartigen Spenta oder »Sonnenhäusler« manipulieren die Sonne – sie betrachten den Stern als Ort des Frevels und wollen ihn auslöschen. Und so beginnt der COUNTDOWN FÜR SOL ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Terranische Resident erlebt die letzten Stunden der Sonne hautnah mit.

Shanda Sarmotte – Die Mutantin ist die einzige, die mit den Spenta Kontakt aufnehmen kann.

Korbinian Boko – Ein Junge muss Verantwortung übernehmen und zum Mann werden.

Stradprais – Ein Sayporaner versucht zu helfen, wo er kann.

Prolog

 

Benidette Chauro starrte auf das Lichtermeer von Merkur-Alpha hinab. Noch veränderte sich nichts, aber nach einer Weile wurden die Lichter auf dem Holoschirm kleiner, und das Meer schrumpfte zu einem See. Dahinter kamen die Trümmer der ursprünglichen Wandleranlagen in Sicht, überzogen vom diffusen Schein der polaren Zwielichtzone – ein künstlicher Kraterwall jenseits der Forschungsanlage.

Die CUCULA PAMPO war unterwegs. Nichts vibrierte, es gab keinen Ruck beim Abheben, kein Schwanken. Die Andruckneutralisatoren und Gravoprojektoren konservierten der Besatzung jenen Zustand, als stünden sie auf Terras Oberfläche. Es war die Standardkonfiguration an Bord von LFT-Raumschiffen.

»Tschüss, Merkur!«, murmelte Benidette leise.

Es ging heimwärts, weg von der Sonne, die zu einer tödlichen Bedrohung für die Menschheit wurde.

Die Orterin ließ viele Freunde zurück, aber sie nahm schöne Erinnerungen mit. Und die Hoffnung, dass sie die Männer und Frauen aus Merkur-Alpha bald wiedersehen würde. In Bunkern auf Venus oder Terra oder weiter draußen auf dem Mars, wo es noch schneller kalt werden würde, wenn die Sonne erlosch.

Die Rede des Residenten – Reginald Bull – klang ihr noch im Ohr, ein Appell an eine Menschheit in höchster Gefahr. Fünfeinhalb Stunden war das inzwischen her. Fremde hatten das Solsystem entführt und sich in der Sonne eingenistet. Sie nannten sich Spenta oder Sonnenhäusler. Sie wollten den wärmenden Stern zum Erlöschen bringen, und gleichzeitig entführten sie Kinder und Jugendliche. Kinder waren die Zukunft eines Volkes, ohne Kinder würde es keine Menschheit geben.

Unsere Kinder; das Licht unserer Sonne. Wir holen uns alles zurück!, wiederholte Benidette Chauro in Gedanken Bullys abschließende Worte.

Einmal mehr stand das Solsystem im Zentrum eines Übergriffs fremder Intelligenzen. Was hatte die Menschheit in ihrer Urheimat nicht alles erleiden müssen? Wie oft hatten sie gewünscht, all das würde einmal enden, aber doch nicht so!

Benidette ging die Ortungsanzeigen durch. »Keine Auffälligkeiten«, sagte sie in Richtung des erhöht angebrachten Kommandantensessels. »Nur LFT-Echos!«

Peer Baufenedias döste wie üblich in seinem Sessel, die Augen halb geschlossen. Der Kommandant reagierte nicht auf ihre Meldung. Vor ihm in der Holokugel redete und gestikulierte Padrer Horvat Domenech in seinem jüngsten Vortrag.

Benidette hörte mit halbem Ohr hin, während sie weiter unverwandt auf die Anzeigen des Ortungsschirms blickte. Der Wissenschaftler – einer der besten Kosmologen und Kosmogenetiker der Westside – sprach von Körperwesen, Entitäten, höheren Existenzebenen wie zum Beispiel Materiequellen, die alle in das System der Kosmonukleotide eingebettet waren. Die Funktionsmechanismen der Schöpfung würden sich einem menschlichen Gehirn nie erschließen. Aber es gab Indizien, an denen man sich orientieren konnte.

Und: Die Menschheit tat einen weiteren Schritt und breitete sich im Universum aus. Sie musste dafür Opfer bringen. Immer mehr Blicke richteten sich auf das Solsystem. Das »6-D-Juwel«, wie die Sonne auch genannt wurde, weil sie das Grab einer Superintelligenz bildete und deren Korpus sechsdimensional aufgeladen war, weckte Begehrlichkeiten.

»Siehst du dir diesen Unfug jetzt auch schon an?«, fragte Caesar Chan.

Der Pilot steuerte das 200-Meter-Schiff auf einem sanften Kurs aus der Orbitalschleife in Richtung Venus. Die Startbeschleunigung von 180 Kilometern pro Sekundenquadrat brachte das Schiff innerhalb von vier Minuten auf eine Geschwindigkeit von 15 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beziehungsweise 45.000 Kilometer pro Sekunde und legte dabei 5,6 Millionen Kilometer zurück. Anschließend flog es mit konstanter Geschwindigkeit weiter, bis in 37 Minuten die Bremsbeschleunigung einsetzen würde.

Jeder Flug stellte eine Gefahr für Leib und Leben dar. Die Bedingungen des Raum-Zeit-Kontinuums in dem fremden, nicht einmal 150 Lichtjahre durchmessenden Miniaturuniversum wechselten immer wieder und machten Flüge zum Risiko. Solange keine enormen Beschleunigungen wirkten, blieb es jedoch im erträglichen Rahmen.

Die CUCULA PAMPO, benannt nach einem Favalo-Musiker des 35. Jahrhunderts, gehörte zu den Versorgungsschiffen des ersten solaren Planeten. Die 40 Millionen Bewohner von Asalluc City und die Besatzungen der Forschungszentren mussten mit Nahrungsmitteln, Gebrauchsgütern und technischem Gerät versorgt werden. Die momentane Schiffsladung bestand aus hochwertigen Erzen, die aus den Bergwerken des Merkurs zur Venus transportiert wurden.

Baufenedias gab auch jetzt keine Antwort. Chan registrierte es mit einem feinen Lächeln in dem intelligent geschnittenen Gesicht, das so gar nicht zu dem stumpfsinnigen Rhythmus der Ticcu-Musik passte, mit der er sich permanent zudröhnte. Atonales und schrilles Zeug. Geräusche eben. Auf Merkur war Ticcu zurzeit in Mode. Lärm für Dummköpfe. Der Spaß daran würde ihnen bald vergehen, wenn die Energiemeiler einfroren und keine Elektrizität mehr da war.

Eigentlich hatte Benidette Chauro damit gerechnet, dass die CUCULA PAMPO zu den ersten Schiffen gehörte, die zur Evakuierung eingesetzt würden. Aber die Solare Residenz hatte bisher keinen entsprechenden Befehl gegeben. Einen Teil der merkurischen Bevölkerung wenigstens hätten sie in Sicherheit bringen können, für eine komplette Evakuierung reichte die Zeit ohnehin schon nicht mehr. Die Spenta würden Sol »ausknipsen«.

Die Orterin fixierte ununterbrochen das Holo. Die Sonne war noch da. Die Kinder nicht. Während sich die ersten Spezialeinheiten der LFT auf die Suche machten, verkrochen sich die Zivilisten vielleicht bereits in den Tiefbunkern von Erde, Venus und Mars.

»Die können mir mit ihrer Neu-Formatierung gestohlen bleiben«, fuhr Chan fort. »Das ist eine astreine Gehirnwäsche, was die vorhaben. Mit Evolution hat das nichts zu tun.«

»Domenechs Thesen von der Evolution sind schon ein wenig älter«, sagte Benidette. »Allerdings lassen sich ein paar Parallelen zu dem erkennen, was die Fremden verkündet ha...«

Sie verstummte. Ein Flackern auf der Optikdarstellung ließ sie zusammenzucken. Verdammt, tun sie es jetzt? Einfach die Sonne abschalten wie eine Lampe?

Die Ortung zeigte eine Eruption mittlerer Stärke und einen Flare, der einem Teppich mit Fransen an zwei Seiten ähnelte. Er breitete sich rasend schnell über der Sonnenoberfläche aus.

Hastig verglich Chauro die Messwerte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Alles im grünen Bereich, Leute! Lauter Standardwerte!«

Aber wie lange ...?

Merkur sank unter dem Schiff in die endlose Schwärze des Weltalls, die sonnenzugewandte Seite von goldenem Lichtglitzer umhüllt. Die gekrümmte Sichel schrumpfte immer schneller, während sich ein leuchtender Faden entlang der Oberflächenkrümmung zog. Sekunden später erlosch auch er.

Auf dem Optikschirm sah es aus, als sei der innerste Planet des Sonnensystems spurlos verschwunden. Nur das Ortungsabbild blieb ausgesprochen statisch. Und von Merkur-Alpha eilten die üblichen Emissionen ins All. Alles schien wie immer.

»He!«, machte Chan und lachte. »Wir sind wohl alle ein bisschen nervös.«

Sie streckte ihm kurz die Zunge raus. »Konzentrier dich!«

Er schaute demonstrativ in die andere Richtung, klopfte mit den Handschuhspitzen den stupiden Rhythmus auf seine Konsole.

Ja, das sind wir, stellte sie fest. Von einer seltenen inneren Unruhe befallen.

Die Arbeit lenkte ein wenig ab. Benidette Chauro durchsuchte die Umgebung der Sonne, aber sie sah keine feindlichen Schiffe, keine Hinweise auf irgendetwas. Und doch waren die Fremden da. Irgendwo in der Sonne. Dort, wo sich die AMATERASU und die anderen Forschungsstationen befanden. Bully war in der AMATERASU, der Resident an vorderster Front.

Die Augen der Orterin begannen vom angestrengten Starren zu brennen. Sie blinzelte, ließ sich vom SERUN ein paar Augentropfen verpassen, die sofort wirkten.

Sie mussten evakuieren. Wenn die Sonne erlosch, gehörte der innerste Planet zur primären Gefahrenzone.

Die plötzlich einsetzende Weltraumkälte würde auf der permanent von der Sonne erhitzten Planetenhälfte zu extremen Temperaturabfällen führen. Auswirkungen auf die Stabilität der Planetenkruste waren unausweichlich.

Asalluc City, im Krater Myron und rings um dessen Wall gelegen, gehörte zu den meistgefährdeten Orten an der Zwielichtzone zwischen der ewigen Hitze und der ewigen Kälte. Tatsächlich schien auf den Westrand der Stadt immer die Sonne, während der Kraterboden und der gegenüberliegende Kraterwall im Dunkeln lagen.

Myron – Wehmut schlich sich in ihre Gedanken. Der Ausflug nach Asalluc City und zu den Höhlen im Ringgebirge des Kraters hatte sich unerwartet zu einem Trip voller Romantik und Gefühle entwickelt.

Dinald Tavrok hatte sie begleitet, mit dem sie die lemurischen Skulpturen besucht hatte. Sie waren einander nähergekommen. Der Hyperimpedanz-Forscher aus dem Volcan-Center war ein genialer Kopf, in Sachen Frauen und deren Wünschen aber ein wenig – nun ja, unerfahren.

Chauro war in ihrem Leben schon mit den merkwürdigsten Situationen fertiggeworden, auch mit dieser. Sie wünschte dem Wissenschaftler, dass er bald eines der Schiffe besteigen würde, die zur Venus oder nach Terra flogen.

Besser zur Venus, dachte sie. Dort stoßen wir dann in einem der Bunker aufeinander.

 

*

 

»Keine feindlichen Schiffe«, meldete Chauro routinemäßig. Merkur lag inzwischen zwei Lichtminuten hinter ihnen. »Ein Dutzend OMNI-Einheiten kreuzen unsere Flugbahn im Abstand von dreißig Lichtsekunden.«

Sie schickte einen kurzen Gruß hinüber. Die Antwort vom Flaggschiff kam ebenfalls knapp. Ein kurzes Danke für die Wünsche, das war es schon.

Weit innerhalb der Merkurbahn, in einem Abstand von zehn bis zwanzig Millionen Kilometern vor Sol, flogen Hunderte LFT-Schiffe, die nach den drei in die Sonne eingetauchten Nagelraumern der Spenta suchten. Bei den meisten der terranischen Einheiten handelte es sich um Ultraschlachtschiffe für multiplen Einsatz aus der Ersten Mobilen Kampfflotte, also um LFT-BOXEN der QUASAR-Klasse mit jeweils 3000 Metern Kantenlänge; damit zählten sie zu den schwersten regulären Kampfeinheiten, die das Solsystem aufzubieten hatte.

»War das alles?«, wollte Chan wissen.

»Ja – nein!« Erneut schlugen die Orter aus. Die Sonne stieß eine gewaltige Protuberanz von sich, die mit einer Geschwindigkeit von 1000 Kilometern pro Sekunde oder 360.000 Kilometern pro Stunde aus der Oberfläche ins All schoss.

Chauro richtete blitzschnell alle Sensoren auf die Eruption und betrachtete sie in der Kombidarstellungsfunktion des Hologramms. Die Positroniken bildeten neben dem heißen Plasma auch die starken Magnetfelder ab, die das Plasma bündelten.

»He, he!«, machte Chan.

Benidette stieß die Luft zwischen den Zähnen hindurch. »Das Ding reicht aus, um hundert Planeten wie Terra zu verschlingen.«

»Bald hört das auf.«

Sie wandte dem Piloten ruckartig den Kopf zu. »Wie bitte?«

»Wenn die Sonne erlischt, hört das auf.«

Er sah stur auf seine Steuerkonsole, die Stiefel trommelten den Rhythmus auf den Bodenbelag. Tack, tack – tack, tack – tacketacketack.

»Konzentrier dich!«, wiederholte sie. »Wir sind noch nicht fertig.«

Diesmal meldete sich der Alarm mit einem schrillen Geräusch. Feindliche Einheiten!

Die winzigen Ortungsreflexe im Holokubus brauchten einen Augenblick, bis sie sich auf Benidettes Netzhaut manifestierten.

»Ich bitte um Meldung!«, rief Baufenedias.

»El... elf Reflexe«, haspelte sie hervor. »Richtungsvektor Null.«

Der Nullpunkt aller drei Achsen des solaren Koordinatensystems war Sol, genauer gesagt: das Zentrum der Sonne.

»Distanz eine Million Kilometer. Abstand zur Bahnebene Merkurs 30.000 Kilometer.«

Einen Atemzug später lagen die übrigen Werte vor. Die Einheiten bremsten mit 80 Kilometern pro Sekundenquadrat ab. »Geschwindigkeit ein Drittel Licht!«

Der Atem der Orterin beschleunigte sich. So überraschend hatte sie nicht mit einer Begegnung gerechnet. Zum ersten Mal sah sie diese Dinger leibhaftig vor sich.

Die Raumschiffe der Fremden glichen Nägeln, die irgendein Transformator ins Riesenhafte vergrößert hatte. Ihr Grundriss war quadratisch bei einer Kantenlänge von 200 Metern. Die Länge lag bei über zweieinhalb Kilometern, die kuppelförmigen Köpfe am Heck eingerechnet. Am vorderen Ende mündeten die Nägel in Geflechte, die sich beim Anflug auf die Sonne immer weiter verzweigten und entfalteten.

»Seht euch das an«, sagte Benidette Chauro. »Das Zeug greift nach der Sonne, als könnte es sich anklammern.«

Vielleicht tat es das sogar. Es bewegte sich wie abstraktes Wurzelwerk oder Tentakel, und es emittierte alle möglichen Energien. Benidettes Finger huschten über das Sensorpanel ihres Terminals. Die Positroniksysteme gaben ihr Bestes, doch es gelang ihnen nicht, auch nur eine dieser Energieformen zu bestimmen. »Mist!«

»Hm!« Chan hing wie ein sprungbereites Raubtier über der Steuerung. Zu ihrer Verblüffung war es an seinem Platz vollkommen still. Kein Rauschen aus den Akustikfeldern, kein Stakkato des Ticcu-Beats. Die Stiefel des Piloten standen wie festgewachsen.

»Bereithalten«, klang es vom Kommandantensessel.

Die Kuppelwölbungen einiger Nagelschiffe veränderten sich. Je näher die Nägel der Sonne kamen, desto heller strahlten sie.

Benidette Chauro starrte abwechselnd auf das Orterabbild und den Optikschirm. Mattgrau schimmerten diese Schiffe. Die quadratischen Stifte überzog ein unregelmäßig wirkendes Muster wie von gold glühenden Strängen – als ob es sich um Adern eines Lebewesens handele.

Die Nackenhärchen der Orterin richteten sich auf. Mit offenem Mund las sie die Werte der Temperaturanzeige ab. Im Innern der aderähnlichen Stränge herrschten Temperaturen von mehreren Zehntausend Grad.

»Kursänderung!«, rief Peer Baufenedias in diesem Augenblick. »Den Abstand so schnell wie möglich vergrößern.«

Für ein Hyperraummanöver war die CUCULA PAMPO mit 15 Prozent Lichtgeschwindigkeit zu langsam. Unter den derzeit in dem fremden Miniaturkosmos herrschenden Bedingungen war eine Beschleunigung auf 50 Prozent Licht nicht zu empfehlen.

Keine guten Voraussetzungen für Cäsar Chan. Ein Koch musste sich ähnlich fühlen, der ohne Wasser eine Suppe kochen sollte.

Die LFT-Verbände im Sonnenorbit reagierten längst. Sie fächerten auseinander und bildeten einen Abfangschirm. Gleichzeitig traf ein Funkspruch in der CUCULA PAMPO ein.

»LONDONDERRY an Transporter! Verschwindet, so schnell ihr könnt. Ihr befindet euch in der Schusslinie.«

»Verstanden!« Mehr sagte Baufenedias nicht. Der säuerliche Ausdruck in seinem Gesicht sprach Bände. Der Kommandant ärgerte sich über den Funkspruch.

Chan hieb in dieselbe Kerbe. »Muss der Depp ihnen das auch noch auf die Nase binden?«

Die Fremden hatten bisher vielleicht nicht darauf geachtet, weil ihre Aufgabe wichtiger war. Aber nun wussten sie, dass sie über ein Druckmittel verfügten, um die OMNI-Ultraschlachtschiffe am Schießen zu hindern.

Der Kommandant der LONDONDERRY merkte es noch immer nicht. »Leute, das muss schneller gehen.«

»Halt die Klappe!« Chan schüttelte unwillig den Kopf.

Baufenedias blieb stumm.

»Distanz inzwischen drei Millionen Kilometer!«, zischte Benidette. »Hol raus aus der Kiste, was geht!«

Die Kursabweichung betrug inzwischen sechs Grad nach unten und vier Grad zur Seite. Das 200-Meter-Schiff verließ die Flugbahn zur Venus und nahm Kurs in den interplanetaren Raum unterhalb der Bahnebene der inneren Planeten.

Die Belastungsanzeigen der Sublichtsysteme kletterten bis zum Anschlag. Gleichzeitig wuchs die Gefahr, dass die CUCULA PAMPO durch das labile Raum-Zeit-Gefüge des künstlichen Miniuniversums zerstört wurde. Gegen Phänomene wie die Gravospaltung oder das Nirvana-Phänomen hatte das Schiff keine Chance.

Benidette Chauro holte tief Luft. Ein Glück, dass der Versorger mit Erzcontainern vollgestopft war und nicht mit Flüchtlingen. Ohne die Verantwortung für hunderttausend Zivilisten fiel es Baufenedias leichter, Entscheidungen zu treffen.

»Alles im grünen Bereich!«, meldete sie.

Sol leuchtete wie gewohnt, auch die Hyperorter zeigten keinerlei Veränderung. Die Fremden in den Schiffen – wenn die Nägel überhaupt Besatzungen hatten – konnten bestimmt viel, aber sie konnten nicht hexen. Jede Stunde, die sie länger brauchten, half den Terranern.

»Verdammte LONDONDERRY!«, sagte Chan in diesem Augenblick.

Ein heftiger Ruck drückte die Orterin in den Sessel. Die Andruckneutralisatoren kompensierten die wirkenden Kräfte nur unvollständig. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Armbewegung des Kommandanten wahr, als würde er mit dem Ellbogen und dem Unterarm über sein Kontrollpult wischen. Im Bruchteil einer Sekunde reagierten die Notfallsysteme.

Automatisch aktivierten sich die Helme der SERUNS und die Individualschirme.

Chan zog den Kopf zwischen die Schultern. Er vektorierte den Antrieb neu. Das Schiff stemmte sich gegen die Kraft, die plötzlich auf es einwirkte.

Benidette spürte trotz des klimatisierten Anzugs Schweißperlen auf der Stirn. Die Nagelschiffe griffen mit starken Traktorfeldern an. Der Kugelraumer schüttelte sich, aber es gelang ihm nicht, sich loszureißen. Die CUCULA PAMPO beschleunigte ungewollt und raste hinter dem Pulk her.

Chan kämpfte reglos in seinem Sessel – ohne Sensoreingaben, aber mit hastig gesprochenen Befehlen. Die Positronik optimierte seine Anweisungen und korrigierte den Kurs. Die Kugel beschleunigte zusätzlich und holte schnell auf.

Die Fremden merkten irgendwann, dass er die Traktorfelder dazu benutzte, um möglichst schnell auf fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit zu kommen. Es war die einzige Chance zu fliehen, und sie war so kurzlebig wie die Lichtblitze, die von den Gespinsten ausgingen.

Die Traktorfelder umklammerten die CUCULA PAMPO fester und bremsten sie. Die Antriebssysteme näherten sich dem kritischen Bereich.

Cäsar Chan seufzte und schaltete sie ab.

Das ist es gewesen, dachte Benidette Chauro. Ihre Gedanken schweiften zu Dinald Tavrock und den rätselhaften lemurischen Skulpturen in der Felsengrotte des Myron-Ringgebirges.

 

*

 

»Wir haben Schießbefehl!«, bellte die Stimme aus den Akustikfeldern. »Seht zu, dass ihr verschwindet!«

»Der Typ hat 'nen Raumkoller«, sagte Chan trocken. »Als Dauerhysteriker wäre er wohl kaum Kommandant geworden. Sagt ihm mal jemand, was Sache ist? Peer?«

Baufenedias schüttelte den Kopf. »Es ist sowieso zu spät! Irgendeiner in der LONDONDERRY wird es ihm schon beibringen, und wenn es die Positronik ist.«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass die Fremden unsere Sprache verstehen«, sagte Benidette.

Die Ausschläge der Orter wurden intensiver, die Nägel erzeugten offenbar neue Energiefelder. Das Schirmsystem der CUCULA PAMPO heizte sich auf.

»Sauna im Weltall, nichts ist schöner!«

Benidette Chauro warf Chan einen bösen Blick zu. Es war nicht der Zeitpunkt für Scherze. »Schaffen wir es?«

Der Pilot schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Sie ziehen uns mit und lassen uns in der Sonne verglühen.«

»Vielleicht ...«

Cäsar Chan lachte, bevor sie ihren Gedanken überhaupt ausgesprochen hatte. »Vergiss es. Die LONDONDERRY hat Schießbefehl, sonst nichts.«

Wieder ging ein Ruck durch die CUCULA PAMPO. Chan machte »Hoppla!«

Die Sublichtsysteme im Innern der 200-Meter-Kugel brüllten auf. Das Dröhnen der Triebwerke ließ das Schiff erbeben.

Benidette wollte es erst nicht glauben. Die Nägel hatten das Schiff freigegeben. Und jetzt rasten sie auf die Sonnenoberfläche zu.

Cäsar Chan sagte nichts. Er hatte alle Hände voll zu tun, die taumelnde Kugel zu stabilisieren und gleichzeitig aus der Schussbahn der OMNI-BOXEN zu bringen. Die Andruckstabilisatoren meldeten extreme Überlastung. Das leise Wimmern der Sirene erinnerte an das Winseln eines Hundes.

Die LONDONDERRY und ihre Begleitschiffe eröffneten das Feuer, aber es war zu spät. Die Nägel verkrafteten die Schüsse mühelos und verschwanden in der Sonne.

Das Team in der Kommandozentrale der CUCULA PAMPO sah sich betreten an.

Haben wir ihnen die entscheidenden Sekunden verschafft, damit sie ungehindert an ihr Ziel gelangen konnten?, überlegte Benidette Chauro.

Es war wohl so.

1.

Aveda, Stardust-System

Juli 1415 NGZ

 

»Wo hast du plötzlich diesen Gleiter her?«, fragte Coperniu.

Korbinian zuckte ob der unerwarteten Frage leicht zusammen. »Äh, ich weiß nicht. – Quatsch, ich habe ihn von zu Hause mitgenommen.« Ein wenig ratlos drehte er das Spielzeug in den Händen.

»Er ist mir bisher gar nicht aufgefallen. Entschuldige die Frage, Kleiner. Hätte ja sein können, dass du ihn im Gras gefunden hast.«

»Er gehört mir!«, beharrte Korbinian.

»Es sieht ganz danach aus.« Coperniu lächelte nachsichtig. Er deutete auf das Chrono-Holo, das hoch über den Dächern der Siedlung aus Einfamilienhäuser stand. »Es ist gleich Mittag. Wir sollten zum Essen zurück sein.«

»O ja! Mittagessen!« Korbinian strahlte. Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte den Weg zurück.

»Nicht so schnell, Kleiner!«

»Cop, halt das mal!« Korbinian drückte ihm den Spielzeuggleiter in die Hand. Dann rannte er los, so schnell ihn die Beine trugen. An der Haustür wartete sein Vater auf ihn.

»Was tust du da?«, fragte der Sechsjährige.

»Ich suche den Knopf für den Deflektorschirm. Er ist nicht da.«

»Der Gleiter hat keine Knöpfe.«

»Inzwischen sehe ich das auch. Hätte mich auch gewundert, wenn Whistler-Systems ein so billiges Spielzeug mit echter Hightech ausstatten würde.«

 

*

 

»Ich habe Erasma beim Kochen geholfen!«, klang es hinter der Tür hervor.

Korbinian Boko fuhr herum, aber der Winkel war leer.

»Ich bin hier!«

Lia saß auf ihrem Platz am Tisch.

»Du sollst uns nicht immer an der Nase herumführen, kleines Funkenkind!«, sagte Erasma Boko mit leichtem Tadel in der Stimme.

Lia lachte hell.