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Martina Gercke, Katja Schneidt

Alles nur (k)ein Mann





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Inhaltsverzeichnis

 

 

Alles nur (k)ein Mann

 

Roman

 

von Martina Gercke und Katja Schneidt

 

 

 

 

© 2013 by Martina Gercke Hamburg, Katja Schneidt Büdingen

Gercke.Schneidt@gmail.com

Umschlaggestaltung: Martina Gercke, Werkschnitt.de

Umschlagabbildung: Teilweise Shutterstock

Abgedruckter Songtext mit freundlicher Genehmigung:

You are my light von JD Wood – World of emotions Part 2

 

 

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendwelcher Form (Fotokopie, Mikrofilm oder anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung von Martina Gercke und Katja Schneidt reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt, oder verbreitet werden. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschrift und Zeitung, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

 

 

1. Der Umzug 4

2. Alles nur (k)ein Mann? 24

3. Tims Einzug und andere Katastrophen 41

4. Alltag mit Tim 53

5. Jetzt wird es kompliziert! 87

6. Ich weiß etwas, das du nicht weißt? 114

7. Stunde der Wahrheit 122

8. Mann bleibt eben Mann 151

9. Allein sein ist doof! 177

10. Joes Bierhaus 190

11. Friseurbesuch mit Folgen 212

12. Die Heimkehr 224

 

 

 

1. Der Umzug

Marie:

Blinzelnd mache ich die Augen auf und räkele mich gemütlich in meinem Bett. Mein Schädel hämmert und meine Zunge fühlt sich rau an. Ich schmatze leise. Bäh! Mein Mund schmeckt so wie ich mich fühle ... schrecklich. Vielleicht hätte ich gestern doch nicht soviel trinken sollen. Aber so ein Abschied ist eben ein emotional tief ergreifendes Ereignis, da bin ich nicht mehr ich selbst. Stöhnend steige ich aus dem Bett, schlüpfe in meine Hüttenschuhe und schlurfe in Richtung Badezimmer.

„Guten Morgen, Schlafmütze“, kommt mir Greta entgegen. „Meine Güte, du siehst ja verheerend aus!“ Greta ist meine Mitbewohnerin und gleichzeitig auch beste Freundin. Sie ist der süßeste Mensch, den ich kenne und ist immer an meiner Seite, wenn ich sie brauche. Genau in diesem Moment jedoch hasse ich sie für ihre gute Laune.

„Vielen Dank für die Blumen“, murre ich. „War ja auch eine lange Nacht. Wieso bist du überhaupt schon wach?“ Im Gegensatz zu mir sieht Greta aus wie das blühende Leben. Die langen blonden Haare sind am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Sie trägt einen Jeansrock, dazu schwarze Leggins und ein neonfarbenes T-Shirt. Eine Kombination, in der Normalsterbliche wie ich aussehen würden, als wären sie bei der Altkleidersammlung einkaufen gewesen. An Greta sieht es absolut klasse aus.

„Ich konnte nicht länger schlafen. Ich musste ständig daran denken, dass Lisa heute auszieht.“ Greta zupft an ihren Leggins. Das ist einer der Gründe, warum ich nicht gerne Leggins oder Strumpfhosen trage: Die Dinger rutschen ständig nach unten, und das macht mich wahnsinnig.

„Hast du Lisa schon gesehen?“ Lisa ist die dritte im Bunde unserer kleinen Frauen-WG. Leider ist heute ihr letzter Tag hier bei uns. Lisa hat eine Stelle als Lektorin bei einem großen Verlag in München angenommen.

„Die macht bereits Frühstück in der Küche“, nickt Greta.

„Okay, dann beeil ich mich mal lieber.“ Ich husche ins Badezimmer.

Der Blick in den Spiegel bestätigt, was ich bereits befürchtet habe. Ich sehe einfach grauenvoll aus – zumindest soweit ich es ohne Brille erkennen kann. Meine Haare stehen nach allen Seiten ab und mein Gesicht sieht aus wie ein zerknautschtes Kissen. Puh! Wäre ich heute bei Heidi Klum, würde ich mir kein Foto geben. Da hilft nur eines – ab unter die Dusche! Das wirkt die reinsten Wunder nach einer durchgemachten Nacht!

Wie ein warmer Sommerregen prasselt das Wasser auf meine Haut. Genießerisch schließe ich die Augen und summe leise vor mich hin.

Zehn Minuten später stehe ich mit tropfnassen Haaren und einem Handtuch um die Hüfte geschlungen, vor dem Spiegel. Mein Gesicht sieht wieder aus, als könnte ich damit unter die Leute gehen, nur meine Kopfschmerzen sind noch da.

Die Tür geht auf. Lisa steht in der Tür.

„Hey“, drehe ich mich um. „Wie wäre es mit Anklopfen?!“

„Ach, jetzt stell dich nicht so an. Nach drei Jahren gemeinsamen Wohnens solltest du dich langsam daran gewöhnt haben“, schmunzelt sie und streckt die Hand aus. „Greta meinte, du könntest heute Morgen eventuell eine kleine Starthilfe gebrauchen.“

Ich mustere die Tablette in ihrer Hand. „Aspirin?“

„Nein, deine morgendliche Dosis an Psychopharmaka – ja, natürlich Aspirin!“

Ich nehme die Tablette. „Danke, du bist meine Rettung. Ich habe das Gefühl, mein Schädel platzt gleich.“

„Das kommt davon, wenn man eine Flasche Rotwein alleine trinkt “, zuckt Lisa mit den Achseln.

„War es wirklich so viel?“

Lisa nickt und grinst.

„Daran bist du schuld.“

„Ich? Warum?“ Lisa sieht mich mit großen Augen an.

„Ja, du“, nicke ich. „Würdest du nicht wegziehen, müsste ich nicht so viel trinken.“

Mit einem Mal ist das Lächeln aus Lisas Gesicht verschwunden.

„Ich werde dich schrecklich vermissen“, sage ich. Ein Kloß steckt mir im Hals.

„Ich dich auch“, brummt Lisa.

„Lass dich umarmen!“ Ich breite meine Arme aus. Genau in diesem Moment löst sich der Knoten meines Handtuches und das gute Stück geht zu Boden.

„Lieber nicht!“, quietscht Lisa. „Los, zieh dich an ... sonst werde ich noch blind bei deinem Anblick.“ Sie flüchtet aus dem Badezimmer.

Ich schnappe mir das Handtuch und wickele es mir um die Brust. Nicht, dass ich etwas zu verbergen hätte, aber ich möchte meiner Umwelt den Anblick auf meinen Körper und all seiner damit verbundenen Unzulänglichkeiten lieber ersparen. Meine Mutter beschreibt mich gegenüber Fremden immer als groß gewachsen und mit einer sportlichen Figur. Die sportliche Figur steht für breites Kreuz und kleiner Busen. Und das mit der Größe liegt wie immer im Auge des Betrachters. Da es meine Mutter selbst nur auf eine Größe von 1,58 m gebracht hat, wirke ich im Vergleich zu ihr mit meinen 1,68 m natürlich riesig. Ich finde, das einzig Schöne an meinem Körper sind meine Füße – schmal und mit gleichmäßig geformten Zehen. Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte Füße wie ein Hobbit, aber dafür mehr Busen. Ich meine, welcher Mann sieht zuerst auf die Füße einer Frau ...

Seufzend nehme ich die Wimperntusche und beginne mit den morgendlichen Restaurierungsarbeiten. Mit meinen braunen Haaren und der hellen Haut sehe ich ohne Make-up aus wie ein an Blutarmut leidender Vampir.

Heute ist allerdings Notfallprogramm angesagt. Meine Güte, diese Augenringe! Hastig greife ich zur Abdeckcreme und trage eine gefühlt zentimeterdicke Schicht auf, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden bin.

Fünf Minuten später bin ich endlich fertig. Dank Make-up leuchten meine grünen Augen, und meine Augenringe sind gänzlich verschwunden. Auf Rouge habe ich verzichtet, da ich leider zu den Menschen gehöre, die immer eine leicht rötliche Gesichtsfarbe haben. Ich werde rot, wenn ich nur daran denke.

„Marieeeee“, ruft es aus der Küche.

„Ich komme“, antworte ich und gehe zu den anderen in die Küche.

Meine beiden Mitbewohnerinnen haben es sich bereits an unserem Esstisch gemütlich gemacht. Es duftet herrlich nach frischem Kaffee. Ich lasse mich auf den freien Stuhl neben Lisa fallen.

„Kaffee?“, fragt Greta.

„Unbedingt“, nicke ich. „Du kannst ihn mir auch gleich intravenös legen, dann wirkt er schneller.“ Ich halte ihr meinen Arm entgegen.

„Du bist die Ärztin, nicht ich“, antwortet sie knapp.

„Ja, aber du bist die Leseratte von uns beiden. Du weißt doch sonst immer alles!“ Greta kann manchmal ein schrecklicher Klugscheißer sein.

„Stimmt. Ich kann schließlich nichts dafür, dass ich berufsbedingt viel lese und somit auch viel weiß.“ Greta greift nach ihrem Messer.

„Hast du nicht das Buch bei dir im Laden, «Die Frau als Hausärztin»?“

Greta legt den Kopf leicht schräg. „Ja, aber ich bin nur bis zu dem Kapitel Kinderkrankheiten gekommen, und aus dem Alter bist du definitiv raus.“ Sie grinst.

„Wie ich sehe, geht es dir schon wieder besser?“ Lisa deutet mit der Hand auf meinen Kopf.

„Ja, ein bisschen“, bestätige ich. Ich komme mir vor wie ein Alkoholiker im Endstadium, dabei trinke ich für gewöhnlich nicht viel. Aber der Umstand, dass gestern unser letzter gemeinsamer Abend war, hat dazu geführt, dass ich mich meiner Trauer und dem Alkohol ein wenig zu sehr hingegeben habe. Alkohol macht mich immer so schrecklich sentimental.

„Was ist mit der Anzeige?“, fragt mich Lisa.

„Welche Anzeige?“ Anscheinend feiert mein Hirn noch immer eine Party, jedenfalls habe ich keine Ahnung, wovon Lisa gerade spricht. Es herrscht absolutes Vakuum in meinem Kopf.

„Die Anzeige für unseren nächsten gemeinsamen Pornodreh auf Mallorca“, antwortet Lisa.

„Waaas?“ Ich schaue verwirrt in die Runde.

Greta prustet los. Kaffee läuft ihr über das Kinn. Lisa kichert. „Marie, kann es sein, dass du noch einen gewissen Restalkohol im Blut hast?“ Sie schmunzelt. „Ich rede von der Wohnungsanzeige für Mitbewohner gesucht.“

„Ach so. Ja, die ist fast fertig.“

„Dann zeig doch mal“, bittet Greta.

„Moment.“ Ich beiße in das Croissant. „Isch mussch nur schnell in mein Zchimmer, den Laptop holen.“ Ich stehe auf.

„Und vergiss das Kauen nicht“, ruft mir Lisa hinterher.

„Ja. Ja.“ Bevor ich gehe, nehme ich noch einen Bissen vom Croissant. Quasi als Stärkung!

Ein paar Minuten später bin ich wieder zurück. Ich stelle den Laptop vor mich auf den Tisch. Auf dem Display leuchtet der Text auf. Ich nehme einen Schluck Kaffee, dann lese ich laut vor.

Die ruhige 3-Zimmer-Wohnung befindet sich im schönen Stadtteil Hamburg-Eppendorf. Es handelt sich um eine klassische Altbauwohnung mit den typischen Elementen wie Stuck und Pitchpineboden. Die Wohnung verfügt über eine große Wohnküche. Außerdem gehört eine Abstellkammer zur Wohnung, in der Haushaltsgeräte und Essensvorräte gelagert werden können. Das zu vermietende Zimmer ist gut geschnitten und hat 15 Quadratmeter Wohnfläche. Südlage! Zur Wohnung gehört ein Kellerraum. Ein Dachboden, auf dem die Wäsche aufgehängt werden kann, ist ebenfalls vorhanden. Die Miete beträgt monatlich 290 €. Nichtraucherhaushalt.

„Klingt echt gut“, unterbricht mich Lisa. „Aber hier hast du ein Komma vergessen.“ Sie deutet auf die besagte Stelle. Jetzt habe ich keinen Kommafehler mehr, aber dafür einen riesigen Fingerabdruck auf meinem Display.

„Hey, pass auf, wohin du mit deinen Fettfingern tippst“, schimpfe ich. „Der Laptop ist nagelneu!“

„Ach, stell dich nicht so an“, kontert Lisa. Greta schlürft lautstark ihren Kaffee.

„Wenn man dich so hört, könnte man meinen, du ertrinkst in deiner Kaffeetasse.“ Ich nehme ebenfalls einen Schluck aus meinem Becher. Im Gegensatz zu Lisa ohne Geräuschuntermalung.

„Quatsch nicht, lies lieber weiter vor“, entgegnet Greta und schraubt dabei den Deckel vom Nutella ab.

„Wie Sie wünschen, gnädige Frau.“ Ich räuspere mich.

Deine zukünftigen Mitbewohnerinnen sind 28 und 29 Jahre alt und beide berufstätig.

Falls du Interesse hast, offen und aufgeschlossen bist und uns kennenlernen möchtest, dann stell dich in einer Mail bitte kurz (Name, Alter, Interessen, was machst du) vor. Am besten gleich mit einer Telefonnummer, unter der man dich erreichen kann.

Wir freuen uns auf dich.

„Schuper!“, nuschelt Greta. An ihrem rechten Mundwinkel klebt etwas Nutella.

„Du hast da was.“ Ich deute auf die Stelle.

Greta leckt mit der Zunge über die Lippen. „Du solltest noch erwähnen, ab wann die Wohnung frei wird.“

„Stimmt“, pflichte ich ihr bei. Ich tippe das fehlende Datum ein.

Einzugstermin ab sofort!

„Meinst du, wir sollten noch dazu schreiben, dass wir eine weibliche Mitbewohnerin suchen?“, frage ich.

„Ach Quatsch. Das kann man sich doch denken, bei zwei Frauen“, schüttelt Lisa den Kopf.

„Mhm!“ Greta leckt ihr Messer ab.

Ich verziehe das Gesicht. Gretas und meine Vorstellung, was Ordnung und Sauberkeit angeht, klaffen deutlich auseinander. In Gretas Zimmer sieht es immer aus, als wäre gerade ein Tornado hindurchgefegt. Bücher, Klamotten und Schuhe liegen wahllos verstreut auf dem Boden. Gelegentlich mischen sich auch diverse Schokoladenpapiere oder halbleere Chipstüten darunter. Trotzdem ist Greta der liebenswerteste Mensch, den ich kenne.

„Gut, wenn keiner mehr etwas zu verbessern hat, setze ich die Anzeige jetzt online.“ Mein Zeigefinger schwebt über der Entertaste.

„Wenn du noch lange wartest, überlege ich es mir vielleicht noch mal“, sagt Lisa nachdenklich.

„Au ja!“ Ich ziehe meinen Finger zurück. „Ein Wort von dir genügt, und ich lösche den Text.“

Lisa schüttelt den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Ich habe denen vom Verlag meine Seele verkauft, damit ich den Job kriege. Das ist meine Chance, um hier rauszukommen und einen Neuanfang ohne irgendwelche Altlasten zu starten.“

„Meinst du zufällig David, wenn du von Altlasten sprichst?“

David ist Lisas Ex-Freund. Die Beiden haben erst vor einem Monat miteinander Schluss gemacht. Die ganze Beziehung war von Anfang an ein einziges Drama. David ist ein echter Idiot, der sich für den Nabel der Welt hält. Außerdem ist er ein Spießer und eifersüchtig ohne Ende. Letztendlich war es Lisa, die mit David Schluss gemacht hat, nachdem sie ihn auf einem Internet-Dating Portal bei der Kontaktaufnahme mit einer Frau erwischt hat. Angeblich zu Forschungszwecken! Ha! Dazu muss man wissen, dass David als Programmierer für ein mittelständisches Unternehmen arbeitet, das absolut nichts mit Datingplattformen zu tun hat. Ich meine, wenn man schon lügt, dann sollte man es wenigstens so tun, dass einem niemand auf die Schliche kommt.

Ich für meinen Teil lüge nur, wenn es unbedingt sein muss. So eine Notlüge hat mir schon so manches Mal unangenehme Nachfragen erspart. Außerdem habe ich in einem Artikel gelesen, dass ein Mensch im Durchschnitt zweihundert Mal am Tag lügt! Das würde bedeutet, dass jeder lügt, aber keiner belogen werden will.

Lisa nickt. „Genau den meine ich. Ich habe das Gefühl, dass ich ersticke, wenn ich hierbleibe.“

„Na dann. Einen Versuch war es wert!“ Ich drücke die Entertaste. „Jetzt ist es offiziell!“

Lisa nickt traurig.

„Ach, ich bin mir sicher, dass es dir in München gefällt." Ich gebe ihr einen sanften Stups. „Außerdem ist München ja nicht aus der Welt. Stimmt´s Greta?“

„Logo.“ Greta angelt nach dem Brotkorb. „Sobald ich im Job etwas Luft habe, komme ich dich besuchen.“

„Wir!“, verbessere ich sie. „Kommen wir dich besuchen!

„Okay ... wir! Ist doch klar.“ Greta schmiert sich eine zentimeterdicke Schicht Nutella auf ihr Brötchen.

„Na, da hat aber jemand Hunger“, lache ich.

„Was dem einen der Alkohol, ist dem anderen das Nutellabrötchen.“ Greta grinst mich frech an.

„Ja, ja, schon gut“, winke ich ab. „Aber bitte jammere mir nicht die Ohren voll, dass du zugenommen hast.“

Greta ist dauerhaft auf Diät. Nicht, dass sie dick wäre. Ich würde Greta eher als etwas pummelig bezeichnen. Das würde ich ihr allerdings nie sagen, denn zu viel Ehrlichkeit kann auch belastend für eine Beziehung sein. Außerdem ist Greta der lebende Beweis dafür, dass Männer auf Frauen mit Kurven stehen. Wenn Greta einen Raum betritt, drehen sich alle Männer nach ihr um. Mit ihren langen blonden Haaren, den leuchtend blauen Augen und Körbchengröße 80 C sieht sie aus wie Marylin Monroe in ihren besten Tagen.

„Das sagt gerade die Richtige! Hast du mir nicht erst gestern beim Abendessen die Ohren vollgejammert, dass du zwei Kilo zugenommen hast?“, stichelt Greta.

„Ja, stimmt“, gebe ich zu. „Aber das Elend hat bald ein Ende. Ich habe beschlossen, dass ich mit Joggen anfangen werde. Ausdauersport ist das beste Mittel, um abzunehmen. Außerdem lerne ich beim Joggen vielleicht einen attraktiven Mann kennen.“

„Wie kommst du denn auf die Idee?“ Lisa runzelt die Stirn. „Wenn ich um die Alster gehe, sehe ich immer nur dickbäuchige, kurzatmige Menschen, die ein Gesicht machen, als würden sie verfolgt werden.“

„Dann bist du eben nicht zur richtigen Zeit unterwegs“, trumpfe ich auf. „Ich habe erst letzte Woche gelesen, dass die Laufstrecke um die Alster zwischen 19.00 und 21.00 Uhr auch die Flirtmeile genannt wird.“

„Aha!“ Jetzt habe ich Gretas volle Aufmerksamkeit.

„Ja genau! Und deshalb werde ich ab morgen das Nützliche mit dem Praktischen verbinden und joggen gehen.“

„Du nimmst uns auf den Arm, oder?“

„Wie kommt ihr denn da drauf?!“ Ich mache einen Schmollmund.

„Du hasst Sport“, sagt Greta. „Hast du das schon vergessen?“

„Nein, ganz und gar nicht. Aber ich habe gestern durch Zufall Aleena getroffen“, erkläre ich.

„Du meinst Mopsmaus-Aleena?“ Greta runzelt die Stirn. Aleena war eine gemeinsame Weggefährtin während unserer Abiturzeit.

„Genau die! Ich habe sie fast nicht wiedererkannt! Aleena hat zwanzig Kilo abgenommen und ist jetzt Fitnesstrainerin. Warte mal ... ich zeige sie dir. Wir sind jetzt Freundinnen.“

„Freundinnen?“

„Ja ... auf Facebook.“

„Das zählt nicht.“ Greta ist die einzige in meinem Bekanntenkreis, die sich sozialen Plattformen und im Speziellen Facebook komplett verweigert. Ihrer Ansicht nach birgt das Internet mit seiner Anonymität eine große Gefahr. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Greta und technische Geräte ein eher schwieriges Verhältnis haben. Wenn Greta einem technischen Gerät zu nahe kommt, kann man als Besitzer davon ausgehen, dass selbiges innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden seinen Geist aufgibt. Computer, Laptops und Handys sind leider auch davon betroffen. Deshalb hat Greta als Handy auch so eine uralte Gurke, mit der man tatsächlich nur telefonieren kann, was eine spontane Kontaktaufnahme mit ihr manchmal schwierig macht.

Ich rufe meine Facebook-Seite auf. „Hier!“

Greta und Lisa beugen sich über meinen Laptop.

„Wahnsinn“, sagt Greta schließlich. „Die sieht ja aus wie Jane Fonda in ihren besten Jahren!“

„Siehst du! Und genau das will ich auch.“

„Du willst aussehen wie Jane Fonda?“ Gretas Mundwinkel zucken verdächtig.

„Nein, aber so schlank wie sie will ich sein.“ Ich tauche meinen Löffel in das Nutella.

„Na, dann ist Nutella genau das Richtige“, sagt Lisa mit ihrem Super-Nanny-Blick. Wenn sie mich so ansieht, fühle ich mich sofort wie ein kleines Kind, das man beim Naschen ertappt hat.

„Heute sündige ich noch. Mein Sportprogramm beginnt erst morgen.“

„Das würde ich zu gerne sehen, wie du um die Alster joggst.“ Lisa wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Ich werde es euch schon noch beweisen!“ Ich lecke den Löffel ab.

„Na ja, vielleicht könntest du ja noch eine Begleitung gebrauchen.“ Greta sieht mich fragend an.

„Falls du an dich gedacht haben solltest ...“ Ich ziehe eine Grimasse. „Nein danke, du schnappst mir nur die ganzen Kerle vor der Nase weg.“

„Also wirklich!“ Greta verschränkt die Arme vor der Brust. „Du und ich sind uns noch nie ins Gehege gekommen, was die Männer anbelangt. Das sollte also kein Problem darstellen.“

Das stimmt. Greta und ich haben einen völlig anderen Geschmack, wenn es um Männer geht. Greta mag eher den italienischen Typ, während ich mehr auf die Surfertypen stehe.

„Ach du je!“ Lisa springt erschreckt auf. „Es ist ja schon kurz nach neun. Wenn ich den Zug noch kriegen will, muss ich mich beeilen.“

Mit einem Schlag ist alle Fröhlichkeit am Frühstückstisch verflogen.

Nun wird es also wirklich ernst. Ich schlucke. Aus unserem Dreiergespann wird nun zumindest vorübergehend ein Duo. Greta und ich schauen uns mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verzweiflung in die Augen. Ich fühle mich wie eine Dreijährige, die von ihrer Mutter zum ersten Mal alleine im Kindergarten zurückgelassen wird und Angst hat, dass die geliebte Mama nie wieder auftaucht. Lisa und ich sind schon so lange miteinander befreundet, dass ich mir ein Leben ohne sie fast nicht mehr vorstellen kann.

An Gretas Blick kann ich erkennen, dass es ihr ganz ähnlich geht.

„Oh nein, nicht auszudenken, wenn du den Zug in dein neues Leben verpassen würdest. Dann müsstest du ja die leckere Schokoeiscreme mitessen, die ich als kleines Trostpflaster für mich und Marie besorgt habe“, ruft sie gespielt theatralisch. Das ist typisch für Greta – immer einen flapsigen Spruch auf den Lippen!

„Schokoeiscreme!“, seufzt Lisa bedauernd und geht aus der Küche.

„Was ist los?“, rufe ich hinterher.

„Kontrollgang, ob ich auch wirklich nichts vergessen habe“, kommt es aus ihrem Zimmer. Greta und ich folgen ihr.

„Ist doch kein Problem, falls du nicht alles hast“, versuche ich sie zu beruhigen. „Greta und ich stehen sowieso spätestens in vier Wochen vor deiner Tür und bringen dir die Sachen dann einfach mit.“

„Okay, das ist ein Angebot.“ Lisa bricht ihren Rundgang ab. Den Großteil ihrer Sachen hatte sie sowieso schon vor ein paar Tagen von einem Umzugsunternehmen in ihre neue Wohnung nach München bringen lassen. Lisa muss nun nur noch eine gigantisch große Reisetasche, die mit ihren unzähligen Klamotten und einer Kosmetikbatterie gefüllt war, in ihr neues Zuhause befördern. Wie drei Ertrinkende fallen wir uns alle in die Arme und versprechen uns zum x-ten Mal, dass wir für immer beste Freundinnen bleiben werden und auch Lisas Auszug daran nichts ändert.

Mir kullern die Tränen. Ach, ich bin immer so schrecklich emotional. Normalerweise habe ich meine Hormone ganz gut im Griff – außer ich nähere mich dem Zyklusende. Da kann es schon mal passieren, dass ich überreagiere. Eine Sache, die ich im Laufe meines Lebens gelernt habe, ist, niemals einen Mann in meinen Zyklus einzuweihen. Tust du das, wird dir jede schlechte Laune oder Gereiztheit, sei sie nun berechtigt oder nicht, als eine Auswirkung deiner Hormone ausgelegt, und du wirst zum willenlosen Wesen erklärt.

Es klingelt. Schniefend schlurfe ich zur Haustür. Ein Studienkollege von Lisa steht vor der Tür. Lisa hat uns extra gebeten, sie nicht zum Bahnhof zu begleiten. Sie meinte, es würde ihr das Herz brechen.

Plötzlich geht alles ganz schnell. Noch ein paar Worte, eine letzte Umarmung und schon fällt die Tür hinter Lisa ins Schloss. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag spüre ich diesen verdammten Kloß im Hals. Ich schlucke – aber das Mistding sitzt fest. Selbst Greta will partout kein kesser Spruch einfallen, der die Situation retten könnte. Ich bin mir sicher, ein paar Tränchen in ihren Augen schimmern zu sehen.

„Latte Macchiato oder Prosecco?“, schlucke ich. Immer wenn es einer von uns nicht besonders gut geht, wir etwas zu feiern haben oder es eine Neuigkeit gibt (egal welche), trinken wir entweder Latte Macchiato oder Prosecco. Für welches Getränk wir uns entscheiden, hängt in erster Linie von der Tageszeit ab – außer bei Liebeskummer. Da gibt es immer Prosecco.

„Prosecco“, antwortet Greta wie aus der Pistole geschossen.

„Einverstanden“, seufze ich. Eigentlich kämpfe ich ja noch immer mit den Folgeerscheinungen von gestern Abend. Ich massiere meine Schläfen mit den Fingerspitzen, um das Pochen in meinem Kopf zu verscheuchen.

Kurze Zeit später sitzen Greta und ich an dem Tisch, an dem wir vor ein paar Minuten noch zu dritt gefrühstückt haben. Mit einem »Plopp« entkorkt Greta die Proseccoflasche. Ein Geräusch, dass bei mir sofort ein wohliges Gefühl aufkommen lässt. In Ermangelung von Sektgläsern halte ich ihr zwei einfache Wassergläser hin, die Greta mit dem bernsteinfarbenen Blubberwasser füllt.

„Auf dass wir bald eine nette neue Mitbewohnerin finden“, sagt Greta. Wir lassen die Gläser klingen.

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wer Lisa hier ersetzen sollte“, sage ich bekümmert. „Eine Freundin kann man schließlich nicht so einfach ersetzen.“

„Ich auch nicht, aber das ist nicht die Frage.“ Greta spielt nachdenklich mit einer Haarlocke.

„Was meinst du, ob sich schon jemand auf unsere Anzeige gemeldet hat?“, überlege ich laut.

„Ach Quatsch. Ist doch noch keine Stunde her, dass wir sie veröffentlicht haben.“

„Ich will trotzdem mal gucken“ murmele ich und nehme einen kräftigen Schluck aus meinem Wasserglas. Tatsächlich scheint sich der Ratschlag, man soll bei einem Kater Alkohol trinken, um sich besser zu fühlen, zu bewahrheiten. Jedenfalls geht es entschieden aufwärts mit mir. Meine Kopfschmerzen sind verschwunden und auch sonst fühle ich mich deutlich besser. Ich fahre den Laptop hoch.

„Drei“, rufe ich triumphierend. Ich klicke auf die erste Mail. Mhm!

„Drei was?“, fragt Greta. „Hat sich eine gute Fee in deinem Laptop versteckt, die dir per Mail mitgeteilt hat, dass du drei Wünsche frei hast? Falls dem so ist, vergiss mich bloß nicht. Einen Wunsch könntest du mir abgeben.“ Greta macht eine bedeutungsvolle Pause und legt sich nachdenklich den Zeigefinger an die Stirn. „Hach, ich weiß schon was ich mir wünsche: einen Gutschein zum Fettabsaugen oder halt warte ... noch besser: Ich wünsche mir einfach drei Kleidergrößen weniger ...“

Ich lese schon mal die erste Mail, während Greta noch über ihre Wünsche nachdenkt. Plötzlich stupst sie mich an. „Hey, hörst du mir überhaupt zu?“

„Ja natürlich“ antworte ich schnell. Das ist eine glatte Lüge. Zur Strafe spüre ich eine verräterische Röte in meinem Gesicht. Mittlerweile habe ich alle drei Mails gelesen.

„Und? Was für uns dabei?“, fragt Greta und schielt über meine Schulter auf den Bildschirm.

„Die erste ist von Beruf Kartenlegerin.“

„Oha! Das ist ein Beruf? Ich dachte, die gibt es nur auf Jahrmärkten oder im Fernsehen bei RTL.“

„Ja, sieht ganz so aus“, nicke ich. „Sie schreibt, dass sie von Zuhause aus arbeitet.“

„Das bedeutet im Klartext, dass ihre Kunden bei uns ein und aus gehen.“ Greta schüttelt den Kopf. „Nur über meine Leiche! Ich habe keine Lust immer Angst haben zu müssen jemanden Fremden zu begegnen, wenn ich mein Zimmer verlasse.“

„Dazu kommt, dass die Kunden wahrscheinlich lauter Spinner sind, denen sie die Karten legt und ihnen die Zukunft aus der Kristallkugel vorhersagt. Solche Leute sind mir immer unheimlich.“ Ich lege den Kopf zur Seite. „ Also ein klares »Nein« auch von mir.“

Wir stoßen zur Bekräftigung an.

„Na, dann lass uns mal die zweite Kandidatin unter die Lupe nehmen“, schlage ich vor. Ich höre mich schon an, wie Susi, die Moderatorin der Sendung »Herzblatt«. „Ich bin vierundzwanzig Jahre alt und suche kurzfristig ein Zimmer, da mich meine Eltern auf die Straße gesetzt haben ...“, lese ich vor.

„Das klingt gar nicht gut.“ Greta kratzt sich am Näschen. „Klingt nach einer Menge Ärger.“

„Es kommt noch besser“, sage ich. „Hier schreibt sie, dass ihre Eltern kein Verständnis dafür hatten, dass sie erst einmal ihr Leben genießen möchte, anstatt zu arbeiten.“

„Oh weia“, stöhnt Greta.

„Außerdem schreibt sie: Aber bitte macht euch keine Sorgen wegen der Miete, ich bin mir sicher, dass meine Eltern zahlen, und wenn nicht, verklage ich sie.“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Super! Ich finde, die nehmen wir. Das hört sich doch ganz nach einer unkomplizierten, einfachen und vor allem zahlungskräftigen Mieterin an“, schmunzele ich.

„Und die dritte?“

„Ich sage nur, Nudistin.“

„Nicht wahr, oder?“ Great sieht mich ungläubig an.

„Doch! Sie fragt, ob wir etwas dagegen hätten, wenn sie sich ein Nacktzimmer einrichten würde.“

„Wahnsinn! Menschen gibt es, das ahnt man ja gar nicht!“ Greta schüttelt kichernd den Kopf.

„Wenn das so weiter geht, haben wir bis Weihnachten keine Nachmieterin gefunden.

„Abwarten und Tee trinken.“ Ich greife nach meinem Glas.

„Oder Sekt.“ Greta hebt ihr Glas.

„Oder Sekt!“ Wir stoßen erneut an.


Als ich am nächsten Tag meine Mailbox checke, falle ich fast vom Stuhl. Zweiundvierzig Bewerbungen! Das sind weit mehr, als ich in meinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt habe. Wahnsinn!

„Greta“, rufe ich. „Komm mal her!“

„Was ist?“ Gretas Kopf taucht im Türrahmen auf.

„Sieh dir das mal an!“ Ich deute auf den Bildschirm.

Greta stellt sich hinter mich. „Das ist ja geradezu unglaublich! Zweiundvierzig Bewerbungen. Ich schätze mal, wir brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen, ob wir eine Nachmieterin finden werden!“

„Schön, oder?“ Ich halte meine Hand hoch. Greta klatscht ab.

„Am besten, wir fangen gleich mal an, die Liste abzutelefonieren“, bringe ich meinen Gedanken zu Ende.

„Kannst du das nicht alleine machen?“ Greta sieht mich mit großen Augen an. Wenn Greta mich so ansieht, dann hat sie entweder etwas ausgefressen oder sie will etwas von mir.

„Ich soll alleine mit zweiundvierzig Leuten telefonieren? Auf keinen Fall! Da habe ich ja Fussel am Mund, wenn ich fertig bin.“ Ich schüttele den Kopf. „Du schnappst dir gefälligst jetzt dein Telefon und hilfst mir. Das ist mehr als fair.“

Greta zieht einen Schmollmund. „Aber, ich hatte mich schon so auf einen gemütlichen Stadtbummel gefreut.“

„Sag mal, hast du einen Knall? Du kannst doch jetzt nicht bummeln gehen. Hallo?!“ Ich zeige Greta einen Vogel. „In einer Woche soll die neue Mieterin einziehen! Uns läuft die Zeit davon, wenn wir uns nicht ranhalten. Außerdem habe ich mir extra ein paar Tage Urlaub dafür genommen, da kannst du im Gegenzug wohl mal auf dein Shoppen verzichten!“

„Ja, ja schon gut, dann gehe ich eben morgen“, murrt Greta. „Ich mache mir nur einen Kaffee und dann kann es losgehen, du alte Sklaventreiberin.“

„Also, wenn du die Kaffeemaschine schon anwirfst, kannst du auch gleich für mich Kaffee machen.“

Fünf Minuten später habe ich eine Kaffeetasse in der Hand. Es ist wirklich erstaunlich, was oder wen man so alles unter einer Wohnungsbewerbung findet! Auf unsere Anzeige hin haben sich tatsächlich auch männliche Bewerber gemeldet. Vielleicht hätten wir die Tatsache, dass wir eine Mitbewohnerin suchen, doch deutlicher herausstellen sollen. Aber dafür ist es jetzt zu spät!

Da ich ja ein aufgeschlossener Mensch bin, gebe ich den Jungs eine Chance und lese mir die Bewerbungen interessehalber durch.

Drei der männlichen Bewerber wollen unsere WG „mal so richtig aufmischen“. Was immer das zu bedeuten hat?!

Zwei Männer fragen, ob wir auch an einem „Dreier“ interessiert wären. Frechheit!

Eine weitere Anfrage kommt von einem siebzigjährigen Mann, der sich wohl mehr eine Art betreutes Wohnen vorgestellt hat, zwei attraktive Altenpflegerinnen inklusive. Nichts gegen alte Menschen, aber dann kann ich gleich mit meinen Großeltern zusammenziehen.

Kopfschüttelnd klicke ich auf löschen.

Auf meinem Blatt steht die magere Ausbeute von elf Namen.

Hm. Nachdenklich spiele ich mit dem Kugelschreiber in meiner Hand. Ich kann nur hoffen, dass Greta mehr Erfolg hat als ich. Ich gehe zu Greta ins Zimmer.

„Und, hast du schon jemanden Interessantes gefunden?“

Greta sitzt im Schneidersitz auf dem Teppichboden, in der Hand einen Stift und vor sich das Telefon und ein Schreibblock – einen fast leeren Schreibblock, wenn man mal von den paar Namen darauf absieht. Kein gutes Zeichen!

Greta schüttelt den Kopf und bestätigt damit meine Vermutung. „Nicht mehr als eine Handvoll Bewerberinnen. Das ist alles. Der Rest waren Psychopathen oder Frauen mit völlig verschrobenen Vorstellungen.“

„Bei mir sieht es auch nicht viel besser aus. Weißt du, was ich nicht verstehe?“

Greta schüttelt den Kopf.

„Na, wenn ich mich für eine Wohnung bewerbe, dann habe ich mir die Anzeige doch vorher durchgelesen und weiß wie hoch die Miete ist oder wie viel Zimmer die Wohnung hat. Aber genau das werde ich die ganze Zeit am Telefon gefragt.“ Ich verdrehe die Augen.

„Ja, ich komme mir auch langsam vor, wie ein Papagei. Gott sei Dank müssen wir nicht jede Woche eine neue Nachmieterin suchen.“ Greta malt ein verschlungenes Herz auf den Block.

„Apropos Nachmieterin – bei mir haben sich auch ein paar Typen beworben.“

„Bei mir auch.“ Ein Lächeln huscht über Gretas Gesicht. „Der eine hat sogar ein Bild von sich mitgeschickt.“

„Und?“

„Könnte glatt das Double von Mr. Bean sein.“

„Lieber nicht. Ich geh dann mal wieder.“

„In Ordnung. Ich habe noch vier Nummern auf der Liste. Also drück uns die Daumen.“

Ich nicke. Seufzend schließe ich die Tür wieder, während Greta weiter telefoniert.

Ich bin ein bisschen enttäuscht. Irgendwie hatte ich mir mehr erhofft. Aber noch ist ja nicht aller Tage Abend. Es reicht ja, wenn eine vielversprechende Kandidatin dabei ist. Seufzend greife ich nach dem Hörer und fange an, die potentiellen Mitbewohnerinnen anzurufen, um einen Besichtigungstermin für übermorgen zu vereinbaren.


„Und wieder eine Bewerberin, die nicht in Frage kommt“, stöhnt Greta, als sie die Tür hinter sich schließt. Ich rolle genervt die Augen. Heute ist bereits der zweite Tag mit Besichtigungsterminen und es geht in unserer Wohnung zu wie in einem Taubenschlag. Eine Frau gibt der anderen die Klinke in die Hand. Leider ohne den gewünschten Erfolg. Bisher war keine Frau dabei, die Greta und mir als Nachmieterin gefallen hat.

„Ich weiß auch nicht. Gleich kommt auf jeden Fall eine, die sich am Telefon ganz vielversprechend angehört hat.“ Ich pflücke mir einen Fusel vom T-Shirt. Schließlich will man ja einen ordentlichen Eindruck machen.

„Das habe ich von den letzten sieben Bewerberinnen auch gedacht.“ Greta lässt sich stöhnend auf die kleine Kommode neben der Tür sinken. Das Holz knarzt verdächtig unter dem Gewicht.

Es klingelt.

Ich schaue auf die Uhr. „Zumindest ist sie pünktlich. Es ist genau drei Uhr, wie vereinbart.“

Greta steht auf. Ich öffne die Haustür.

„Hallo. Ich bin Sabine Dirks. Ich bin hier wegen des Zimmers“, begrüßt mich die Frau und lächelt. Ich muss sagen, auf den ersten Eindruck sieht sie ganz sympathisch aus. Sie trägt ein Sommerkleid einer angesagten spanischen Marke, wie man unschwer an dem handtellergroßen Aufdruck auf Brusthöhe erkennen kann.

Ich persönlich bin ja kein großer Markenfreund. Understatement ist mein Motto. Ich mag es nicht, wenn der Name des Designers groß auf meinen Klamotten steht. Ich komme mir dann vor wie ein wandelndes Werbeplakat.

„Ich bin Marie, und das ist meine Freundin Greta.“ Ich reiche Sabine die Hand.

„Ihr seid Lesben?“ Sabine beäugt uns misstrauisch. Okay, das war jetzt ziemlich direkt und völlig unerwartet!

„Äh, nein.“ Ich werfe Greta einen fragenden Blick zu. „Wir sind einfach nur Freundinnen. Wieso?“

„Gut! Ich mag nämlich keine Lesben. Die sind immer so radikal. Außerdem möchte ich in Ruhe gelassen werden. Ihr wisst schon, was ich meine.“ Sabine verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen.

Das war es dann mit der Sympathie für sie bei mir. „Aha!“

„Ja“, nickt Sabine. „Das ist genau wie mit den Schwulen.“

„Wieso, was ist denn mit Schwulen?“, fragt Greta.

„Die nerven mich mit ihrem überdrehten Getue“, erklärt Sabine freimütig. „Die spielen sich immer auf. Man braucht sich nur diesen schrecklichen Glööckner ansehen. Ich verstehe überhaupt nicht, was die Leute an dem so toll finden.“

„Ich finde den Glööckner eigentlich ganz gut.“ Tatsächlich bin ich bekennender Glööckner-Fan. Wenn ich schlechte Laune habe, was Gott sei Dank relativ selten der Fall ist, brauche ich einfach nur den Fernseher einzuschalten und mir seine Sendung auf dem Homeshoppingkanal anzusehen, und sofort geht es mir besser. Glööckner at his best! Der Meister mit Hahnenkammfrisur und Backenbart, fast immer in Schwarz gekleidet, präsentiert einem illustren Publikum aus überwiegend Hausfrauen seine neueste Modekollektion.

Ich liebe es, wie er die zumeist leicht schwergewichtigen Frauen, die er als Model beschäftigt, mit seinen aufgespritzten Lippen anlächelt und dabei in den höchsten Tönen seine Kleider anpreist. Mein Lieblingssatz ist immer: Meine Damen, sehen Sie (dabei streichelt Glööckner meist zärtlich über das angepriesene Modeteil), das ist Pompöös! (Und das bereits in die Jahre gekommene Model lächelt dazu, als hätte sie gerade im Lotto gewonnen.) Das ist Qualität. Das gibt es einfach nur bei Pompöös!

Meine Mutter, eine bekennende Anhängerin des Homeshopping, hat fast die gesamte Kollektion von Glööckner bei sich hängen. Wenn man in ihren Schrank schaut, wird man fast blind von dem ganzen Glitzerkram. Aber ich muss sagen, sie sieht darin besser aus als in manch teurer Katalogware.

„Na ja, das macht ja nichts“, winkt Sabine gnädig ab. „Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich mir die Wohnung mal ansehe?“

„Äh nein. Deshalb bist du ja schließlich hier“, sage ich bemüht freundlich. Innerlich habe ich die eingebildete Kuh bereits abgeschrieben. Aber man soll ja immer offen bleiben und Menschen nicht zu schnell aburteilen.

Wir gehen durch alle Räume. Gelegentlich rümpft Sabine die Nase, sagt aber ansonsten kein Wort.

„Das wäre dann dein zukünftiges Zimmer.“ Greta öffnet die Tür.

Mit zusammengepressten Lippen schreitet Sabine durch den Raum, ganz so, als würde es sich dabei um ein ehemaliges Chemielabor handeln, das auf verbleibende Schadstoffe untersucht werden muss.

„Ganz Nett.“ Sie wirft einen Blick aus dem Fenster. „Und die Gegend ist wirklich schön. Ich habe mir vor dieser Wohnung noch eine WG in Hamm angesehen. Ich hätte eigentlich gleich wissen müssen, dass das nichts für mich ist.“ Sie macht ein Katzenpopo-Mündchen. „Da wimmelt es ganz im Gegensatz zu hier nur von Schwarzen und Türken. Also, ich nehme das Zimmer.“ Ihre Mundwinkel bewegen sich einen Zentimeter nach oben, was wohl ein Lächeln darstellen soll.

Ein kurzer Blick zu Greta genügt und ich weiß, was zu tun ist. Wir haben dieser Frau schon viel zu lange unsere Aufmerksamkeit geschenkt.

„Leider kannst du das Zimmer nicht haben, denn ich habe etwas gegen Frauen mit Sabine als Vornamen“, sage ich mit zuckersüßer Stimme, „und Menschen mit Vorurteilen – bei dir trifft leider beides zu.“

„Wie bitte?“ Sabines Blick wandert zwischen uns hin und her.

„Ich denke, du hast meine Freundin richtig verstanden. Und deshalb möchten wir dich bitten, unsere Wohnung sofort zu verlassen.“ Greta stemmt die Hände in die Hüfte.

„Aber ...?“ Sabine sieht uns verstört an.

„Hier entlang“, deute ich nach draußen. Auf das höfliche „Bitte“ verzichte ich in diesem Fall. „Das ist wirklich eine Unverschämtheit“, plustert sich Sabine auf.

„So sind wir“, grinst Greta.

Mit erhobenem Kopf rauscht Sabine in Richtung Haustür. „Also, so eine Frechheit!“ Mit dieser Stimme könnte sie Glas schneiden! „Und dafür opfert man nun seinen freien Tag.“ Mit einem Knall fällt die Haustür ins Schloss.

„Die Frau spricht mir aus der Seele.“ Greta reibt die Handflächen aneinander.

„Noch zwei Termine, dann haben wir es geschafft“, stöhne ich. „Nach Sabine kann es eigentlich nur noch besser werden!“


„Was für ein Tag!“ Ich lasse mich erschöpft auf den Stuhl sinken. Mir raucht der Kopf. Ich glaube, ich habe noch nie soviel geredet wie heute. „Wenigstens waren die letzten zwei Bewerberinnen nett. Mir hat Laura gut gefallen. Die war offen, ehrlich und machte auch sonst einen gepflegten und ordentlichen Eindruck. Ich hatte die Hoffnung nach dieser Sabine schon aufgegeben.“

„Das war vielleicht eine Ziege. Ich dachte, solche Leute gibt es nur in Büchern.“ Greta schüttelt den Kopf. „Ich persönlich fand diese Laura auch nett, wobei mir nicht gefallen hat, dass sie Raucherin ist.“

„Mhm, das hatte ich schon fast wieder vergessen. Eigentlich hatten wir in der Anzeige doch geschrieben, dass wir ein Nichtraucherhaushalt sind.“

„Stimmt.“ Greta zieht ihre Schuhe aus. „Das tut gut.“ Sie reibt sich die Füße.

„Und was ist mit Annette?“

„Die Stewardess?“

„Genau die“, nicke ich.

„Die war auch ganz okay“, überlegt Greta. „Wenn ich es mir so überlege, wäre eine Stewardess als Mitmieterin doch genial. Stewardessen sind nie zu Hause, und wenn wir mal was aus dem Ausland brauchen, kann sie es uns mitbringen.“

„Stimmt, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Außerdem lernen wir durch sie vielleicht einen schicken Piloten kennen.“

„Ach vergiss es. Piloten sind komische Typen.“ Greta verzieht das Gesicht.

„Woher willst du das denn wissen?“, frage ich.

„Erinnerst du dich noch an Ralf?“

„Du meint den Kleinen, mit der Topffrisur, der immer eine Sonnenbrille getragen hat?“

„Genau den – Pilot!“ Greta macht eine bedeutungsvolle Pause.

„Quatsch.“ Mit Ralf hatte Greta vor mehr als einem Jahr mal eine wilde Affäre. Der Typ war ein laufender Meter, tat aber so, als wäre er der absolute Lottogewinn für eine Frau. Die wenigen Male, die ich Ralf begegnet bin, hatte er immer eine Sonnenbrille auf, war braungebrannt und stolzierte durch die Gegend wie ein aufgeblasener Gockel.

„Eigentlich hätte ich gleich als ich seinen Namen gehört habe, gehen müssen – Ralf Edler von Loew. Ich meine, welcher normale Mann heißt denn so?!“ Greta rollt mit den Augen.

„Jeder greift mal daneben“, tröste ich. „Außerdem waren die Mojitos, die Ralf gemixt hat, einfach unglaublich gut. Ich finde, da kann man sich einen Mann schon mal schön trinken.“

„Das sagst du so einfach, du bist ja nicht mit ihm im Bett gewesen.“ Greta rollt mit den Augen.

„Wieso? Schlimm?“

„Schlimmer! Der Typ hat selbst beim Sex die Sonnenbrille nicht ausgezogen und mich ständig gefragt, ob ich einen Orgasmus habe!“ Greta verzieht das Gesicht.

„Nicht dein Ernst?“ Ich schmunzele bei der Vorstellung.

„Wenn ich es dir sage. Ralf Edler von Loew hat seine Pilotenbrille immer aufgehabt – egal was er gemacht hat.“ Greta überlegt. „Wahrscheinlich war das Ding auf seiner Nase festgewachsen.“

„Also fällt das Argument »Piloten« somit flach.“

„Jawohl! Nie wieder einen Pilot“, nickt Greta. „Annette bleibt aber trotzdem im Rennen.“

„Okay, dann sind wir uns einig. Annette und Laura sind in der engeren Auswahl des heutigen Tages.“

„So ist es!“ Greta lehnt sich genüsslich zurück.

Ich schnappe mir meine Sporttasche.

„Wo willst du hin?“

„In die Kaifu Lodge zu Yoga.“

Greta verzieht das Gesicht. „Sport ist Mord!“

„Sagst du. Ich brauche ein bisschen Bewegung nach dem heutigen Tag, um mich abzureagieren. Außerdem ist heute der Stichtag für mein selbsternanntes Sport–Flirt–Programm.“ Ich zwinkere Greta zu.

„Wenn´s denn schön macht! Aber jammere mich morgen nicht voll, dass dir jeder Knochen weh tut.“

„Keine Angst. Bis später.“

„Bis später!“