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helwig arenz

der böse nik

 

roman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Oktober 2014)

© 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Millennium/Kayla Stoate

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-471-0

 

Dem Stumpfhof gewidmet

 

Prolog. Oder: In die Ferien!

Ich erwache aus dem Matsch irgendeiner pathetischen Scheiße, die ich geträumt habe. Gefangen auf dem Rücksitz eines Autos. Eingeklemmt zwischen Menschen, leblosen Lappen. Das Auto ist zu klein und wird von Kilometer zu Kilometer, den es panisch in den Süden rast, kleiner. Ab jetzt habe ich viel Zeit, um nachzudenken.

Was ich erzähle, ist Lauris und meine Geschichte. Wir haben eine Zeit lang zusammengewohnt. Aber zusammen trifft es nicht ganz. Denn da war eine Tür zwischen uns. Eine blaue Tür, die uns getrennt hat wie ein Staudamm. Auf der einen Seite ich, in einem Ozean voller reiner, selbstloser Liebe. Auf der anderen sie, in einem Inferno der Sehnsucht – und Gabriel, ein verstiegener, kleinlicher Diktator, der an ihr zerrt, während sie darin verbrennt. In ihre Asche schreibe ich meinen Namen. Ich heiße Nik. Mein Leben gehört nicht mehr mir selbst, und wie das kam – ja, daran versuche ich mich zu erinnern.

 

Wie wir Gabi den Hof machten

Jetzt muss ich mal erklären, wie wir da lebten. Wir hatten ein ganzes Haus für uns. Na ja, eigentlich waren es drei Häuser, aber ganz war da nichts. Durch ein rostiges Tor an der Straße führte eine holperige Einfahrt zum Hof. Rechts vom Weg war ein halb vertrockneter Karpfenteich, links zog sich ein Streifen Wildnis um den Hof he­rum. Dieses Gestrüpp war eine schöne Schutzmauer, denn dort war es derart vermüllt, verwachsen und sumpfig, dass sich niemand reinwagte, nicht mal die Katzen. Hinter dem Weg lagen die drei Gebäude – eines zum Wohnen, eine Scheune und eines, in das man nicht hineindurfte, das aber voller Schätze war: verschimmelte Stoffballen, rostiges Werkzeug, Stühle, Kartons. In einem Winter war das Dach einfach heruntergebrochen und hatte den ersten Stock mitgerissen. Seitdem war es verboten, sich in der Ruine rumzutreiben. Ein idealer Ort, wenn man ungestört sein oder etwas nicht mit den anderen teilen wollte. Dort, wo wir schliefen, hatten wir rostrotes Wasser, nur ein Klo ohne Tür, und die Heizung fiel aus, wenn es kalt wurde. Gabriel ließ uns da für lau wohnen. Wir mussten nur ein bisschen renovieren helfen als Gegenleistung. Doch die Ergebnisse waren mager. Keiner von uns war es gewohnt, eine Arbeit länger als fünfzehn Minuten konzentriert auszuführen. Also schoben wir weiterhin das alte Wellblech vor das Klo, wenn wir ungestört scheißen wollten, und klebten im Winter die Fenster zu.

Es strandeten immer wieder die unterschiedlichsten Leute auf Gabis Hof. Aber so richtig da gelebt – ich meine, was die Geschichte angeht – haben nur wir fünf. Tommi L und ich. Die Französin. Gabi selbst natürlich – irgendwie. Und seine Freundin Lauri. Gabi hatte den Hof gekauft und uns einen nach dem anderen von der Straße aufgelesen und mitgenommen. Wie Puppen für seine Puppenstube. Aber die Puppen waren mindestens genauso angeschlagen wie ihr neues Zuhause.

 

Lauri und ich hatten uns noch nicht mal richtig aneinander gewöhnt, als Tommi L dazukam. Wir saßen in der Küche herum. Der Riesenkerl mit dem Babygesicht drehte mir den Rücken zu und tat so, als würde er nachdenken, aber in Wirklichkeit übte er, Zigaretten zu drehen. Was jämmerlich war, weil er es nicht konnte. Wenn man ihm zusah und ab und zu eine Bemerkung fallen ließ, wurde er zittrig und sauer, das war noch lustiger.

Vor Tommi Ls Einzug waren wir nie einfach so in der Küche herumgesessen. Aber auf einmal waren wir zu dritt, und es war nicht mehr so komisch und verfänglich und es fiel nicht mehr so auf, wenn man nichts zu sagen hatte.

Wir sagten zwar immer noch nicht viel, und das Licht war kaputt, weil Wasser in die Elektrik getropft war, aber das machte nichts. Vorher war Lauri immer wie ein Geist gewesen. Schlich auf Zehenspitzen durchs Haus und erschrak, wenn man sie ansprach. Also hab ich meine Zeit damit verbracht, sie anzugucken. Warum Gabi sie anfangs bei uns hat wohnen lassen, ist mir nie so recht klar geworden. Aber ich vermute, das war so ein Gemeinschaftsding von ihm. Als Tommi L dann zu uns stieß, wurde es normaler. Aber wenn er die Tür offen ließ, stank der ganze Flur nach seinem Zimmer. Lauri konnte das nicht ertragen und wollte woandershin. Platz hatten wir ja genug, nachdem ich einen von den ­Hippies rausgeekelt hatte, ich weiß nicht mal mehr seinen Namen, so schnell ist der verschwunden. Ich glaube, er hatte sich vor der Polizei verstecken müssen. Von dem war nichts übrig außer dem Stroh, das er auf den Estrich in seinem Zimmer gestreut hatte, weil er es nicht ertragen konnte, wie ein normaler Mensch auf einem Stuhl zu sitzen. Da wollte Lauri hin.

»Man sieht auf die Bäume«, war ihr einziger Kommentar an dem Tag gewesen. Aber in dem Strohzimmer zog es irgendwann so durch das Fenster, dass wir eine Matratze davorkleben mussten. Das war ihr zu dunkel, und sie ist ganz still geworden, also ging es wieder ein Zimmer weiter. Gabi hat das Spiel dann beendet und sie zu sich in die Einliegerwohnung geholt, aber das war erst später.

Tommi L warf wütend irgendetwas hinter den Heizkörper, drehte sich um und schlich in Richtung meiner Filterzigaretten. Da flog die Tür auf. Lauri kam hereingestürmt. Hinter ihr Gabi. Ich erkannte sie erst kaum. Weil sie so strahlte und uns in die Augen leuchtete. Irgendetwas stach mich. Eine Mischung aus Wut und Geilheit.

»Lasst doch die Tür in den Angeln«, schrie ich die beiden an, etwas zu grob, ich weiß auch nicht, wieso. Dann war es vorbei: Sie setzte sich, sagte nichts, wurde still. Gabi trat vor und redete für sie, als wäre er ihr Vormund oder so.

Sie saß auf dem Stuhl, er stand neben ihr und hatte die Hand auf ihrer Schulter. So erzählte er es uns: Irgendwas mit dem Jugendamt. Lauri hat eine Tochter. Die kriegt sie jetzt vielleicht zurück.

»Du hast ne Tochter?«, fragte Tommi L und verstand die Welt nicht mehr.

»Die Leute müssen wir leider zu uns auf den Hof lassen«, erklärte Gabi. »Tommi, Nik, also da wird jemand kommen und mal nachschauen, ob wir auch richtige, nützliche Menschen sind, ja? Jemand ganz Befugtes.«

»Wir können ja so tun«, schlug ich vor und grinste schief.

»Mensch!«, wetterte er los. »Das machen wir nicht! So tun, das haben wir nicht nötig!«

Zum Wettern brauchte er seine Hände. Das gefiel mir, denn dann konnten sie nicht mehr auf Lauris Schulter liegen. Das freute mich.

»Du bist doch ein ganz nützlicher Mensch. Das kannst du ja mal rauskehren. Und Tommi auch. Apropos rauskehren. Morgen fangen wir an, hier klar Schiff zu machen. Die Klotür, die Hygiene in der Küche, ein paar Sachen draußen. Es gibt da ein paar Auflagen, die die abhaken wollen.«

»Ach, du willst, dass wir arbeiten. Sag das doch gleich! Musst doch nicht über nützliche Menschen sprechen. Das verstehen wir nicht«, lachte ich ihn an.

»Nik, du bist so ein humorvoller Mensch. Das macht mir Hoffnung«, antwortete Gabriel und schien sich zu freuen. Irgendwie hatte er nicht begriffen, dass ich keinen Witz gemacht hatte. Aber Lauri hob den Kopf. Sie lächelte mich schelmisch an.

 

Im Zimmer war es inzwischen grau geworden. Die Dämmerung versuchte Lauri unsichtbar zu machen. Aber diesmal nicht, das wollte ich nicht zulassen.

»Du siehst ziemlich glücklich aus«, sagte ich einfach so in ihre Richtung.

»Kannst du doch gar nicht sehen!«, antwortete sie. Tommi L wollte uns Licht machen, aber wir ließen ihn nicht. Er setzte sich und zündete seine krumme Selbstgedrehte an. Irgendwann ging Lauri zu ihm hin und nahm auch einen Zug. Dann reichte sie mir die Zigarette. Im Aufglühen konnte ich in ihre Augen sehen. Ich war Tommi L plötzlich recht dankbar für dieses schiefe, lose Teil.

Am nächsten Tag waren wir mit Gabriel draußen auf dem Hof. Er zeigte uns, was er vorhatte. Was gemacht werden musste, war uns selbst klar, aber er ließ es sich nicht nehmen, uns bei der Gelegenheit einen Vortrag zu halten.

»O. k., Gabi. Wir putzen hier die ganze Asozialität weg und nageln eine Tür vors Klo. Um die Ruine wickeln wir Kinderabsperrband und machen den Abwasch. Aber was willst du jetzt hier draußen von uns?«, fragte ich mal nach.

»Ihr sollt hier nicht einfach nur hausen, ihr sollt euch mal umschauen und selber auf ne Idee kommen. Was seht ihr?«, rief er und lachte und strahlte dabei.

»Drei verschimmelte Häuser«, antwortete ich, und Tommi L nickte. Gabriel aber sah etwas anderes. Wir standen vor der Scheune, und er redete unaufhörlich von Sonnenkollektoren und Trinkwasserversorgung. Er schwärmte von irgendeiner Art Unabhängigkeit, die wir nicht nachvollziehen konnten. Ich erinnere mich nicht mehr, was genau er sagte, aber es kam mir im Nachhi­nein doch recht absurd vor. Ich nickte und warf ab und zu mal was Unverbindliches ein wie: »Ja klar, neue Treppe hier wär toll.«

Vor Gabriels innerem Auge entstand gerade irgendetwas, das für uns ziemlich viel Arbeit bedeutete. Vor meins schlich sich eine Erinnerung. Der Betonboden war überall aufgebrochen, Gestrüpp wuchs hindurch. Hinten standen die beiden Autowracks wie ein blindes altes Paar. Ein paar zersplitterte Paletten lehnten an den Türöffnungen. Mitten aus dem Steinboden wuchs ein hoher Busch, so eine Art Flieder mit lila Dolden. Da hatte ich sie mal stehen sehen. Sie hatte die Augen geschlossen und die Nase mitten hinein in dieses kitzelige Nest aus Duft und Staub gereckt. Ihr Körper hatte sich ein ganz klein bisschen auf die Zehenspitzen gehoben, und so wiegte sie hin und her, um das Gleichgewicht zu halten. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich lieber wollte: ihr auf den Hintern hauen oder mich anschleichen und mich mit meinem Mund leise und heimlich gegen ihre Lippen lehnen. Ich tat gar nichts, stand nur da und machte ein kleines Loch in meine Lebenszeit. Die beiden blinden Autos grinsten zahnlos und gutmütig zu uns herüber.

»Sonnenkollektoren! Sonnenkollektoren!«, rief Ga­briel nun und schaute auf die bröseligen Ziegeldächer. Ich dachte an eine ganz andere Art, Licht in Energie umzuwandeln – es hatte mit dem Seeufer, Sonnencreme und Frauenkörpern zu tun.

Gabi kam gerade in Fahrt, Tommi L lief ihm zu langsam, und so trieb er uns immer weiter über das Gelände. Komisch, in seiner Welt bedeutete alles immer mehr, als es war.

»Das Gewächshaus hier, wenn man das wieder herrichtet!« Dadrinnen würde dann nicht nur Gemüse wachsen, sondern auch gleich ein neues Bewusstsein. Es hatte mit der Gesellschaft zu tun. Mit Transportwegen, Bioetikettenschwindel und miesen Bedingungen für Gastarbeiter. Ich sah nur eine fette rote Tomate vor mir. Als wären Supermärkte nie erfunden worden! Tommi Ls Gesichtsausdruck wurde immer leerer. Er konnte sich nicht so recht entscheiden, ob er wütend werden oder einfach tot umfallen sollte. Ich versuchte mich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Vielleicht auf die weißen Haare an Gabis Ohren, hoffentlich hatte ich solche nicht, ich fasste mir gleich mal an den Kopf.

»Was?« – Jetzt hatte er mich irgendetwas gefragt. Mist, ich hatte nicht zugehört.

»Sicher«, antwortete ich ins Blaue hinein. »Mit ein bisschen gutem Willen geht das schon. Das kriegen wir schon gebacken!« Gabriel sah mich kurz irritiert an. Tommi L feixte im Hintergrund. Wir ließen noch die Scheune und die Einfahrt über uns ergehen. Dann erlöste uns Lauris Stimme. Sie schrie etwas aus dem Fenster der Einliegerwohnung. Schreien hatte ich sie auch noch nie gehört, glaubte ich mich zu erinnern. Sie war wie ausgewechselt, seit ihr eine zweite Chance mit ihrer Tochter in Aussicht gestellt worden war. Während Gabi den Weg zurück zum Haus lief, bekam ich das Gefühl, es könnte endlich klappen. Wenn das alles wie ein Wunder auf Lauri wirkte, warum dann nicht das Wunder selbst in die Hand nehmen? Für jeden Nagel, den ich mit Gabis Hammer hier in die Balken treibe, ein paar Zentimeter näher zu diesem lebenden Rätsel von Frau. Unter die gewebten Schichten, unter die gewachsenen, unter die Knochen. Ich rammte meine Faust gegen einen morschen Pfosten am Wegrand.

»Wo bist du denn gerade?«, fragte mich Tommi L.

»Hab nur nachgedacht.« Ich lächelte. »Tommi«, sagte ich, »ich habe da was gesehen. In der Stadt.« Und dann versuchte ich ihn ein wenig anzufixen. Erzählte ihm davon, dass der alte Baumarkt hinter dem Bahnhof ja abgebrannt war. Das war in der Zeitung gestanden. Das hatten wir alle mitgekriegt. Jetzt wollten sie einen neuen aufbauen. Hinten im Industriegebiet, die Halle hatten sie schon hochgezogen, in weniger als vier Wochen. Das Ding sollte jetzt so schnell wie möglich eröffnet werden, und dafür suchten sie Leute, die einräumen halfen. Regale aufbauen, einschlichten.

»Die fragen nicht lang nach, die gucken auch nicht auf deine Papiere«, machte ich Tommi L Mut. »Schau, wir könnten dann vielleicht Sachen abstauben oder billiger kriegen. Du hättest was in der Kasse, und wir müssten nicht vor jedem Scheißbier rechnen gehen.« Tommi L schien noch unschlüssig. »Wenn du hier nur herumsitzt, kriegst du doch die Krise. Außerdem kannst du ein bisschen bei Gabi und Lauri punkten«, drängte ich weiter.

»Nik«, wandte Tommi L ein, »wenn der Job so toll ist, warum machst du es dann nicht?«

Ich hielt inne, seufzte und sah zu Boden. »Du kapierst gar nichts«, sagte ich. »Tommi, das ist nichts für jemanden wie mich. Ich mach meinen Teil hier. Ich halt dir Gabi vom Leib. Ich denk mir Sachen für uns aus.« Dass ich wenig Lust hatte, mich da draußen bei Tageslicht blicken zu lassen, konnte ich Tommi L nicht so gut erklären.

»Passt schon, Nik«, sagte Tommi L nach einer Weile und legte mir die Hand auf die Schulter. »Ist schon gut, ich seh es mir mal an.«

 

Weil Gabi abends noch einmal bei uns in der Küche vorbeischaute und ankündigte, den abgebrochenen Rundgang morgen fortzusetzen, mussten Tommi L und ich später doch noch mal raus.

»Wo ist diese Scheißtasche?«, fluchte ich. »Halt deine Taschenlampe höher!«, fuhr ich Tommi L an, der wirkte, als sei er kurz vorm Einschlafen. Ich durchwühlte die Kartons im Keller. Beim Auszug der Hippies hatte ich manchmal die ein oder andere Kiste verschwinden lassen, wenn ich was Brauchbares drin vermutet hatte. Irgendwo waren doch diese Dosen gewesen!

»Was machen wir?«, fragte Tommi L. Er klang uninteressiert.

»Hast du irgendwas genommen?«, fragte ich ihn. Er hatte. Aber das war jetzt egal, ich würde ihn schon wieder wachkriegen. »Die Führung morgen«, rief ich. »Mit Gabriel.«

»Und was ist damit?«, maulte Tommi L unwillig.

»Er sieht doch immer Sachen, die kein anderer sieht. Das kann er haben. Wir machen Graffiti.«

Nachts sprühten wir hinter die Tür zum zukünftigen natürlichen Kühlkeller, unter den visionären Carport mit fiktiven Solarzellen und vor den ungegrabenen Brunnen zur autarken Wasserversorgung Hakenkreuze und Schwänze.

»Müssen die Hippies gewesen sein«, sagte Tommi L am nächsten Tag achselzuckend zu Gabriel.

 

Flaschengeist

Es waren Tage voller Überraschungen. Seit Tommi L im Baumarkt arbeitete, fluchte er zwar den ganzen Abend über seinen Chef, wirkte aber wie ausgewechselt. Man konnte viel mehr mit ihm anfangen. Ich machte mich auf dem Hof nützlich, indem ich Eisenschrott zusammensuchte, von dem es auf dem Gelände einen Haufen gab. Den fuhr ich zu einem Schrotthändler, der mit Gabriel befreundet war. Gabriel traute mir. Gabriel freute sich. Ich konnte es in seinem Gesicht lesen, wenn er bei uns vorbeischaute. Er war zufrieden: Aus seinen Schützlingen waren Nützlinge geworden. Tommi L machte am Wochenende irgendwelche Schreinerarbeiten zu Hause. Ich riss mir Metallsplitter in die Finger. Lauri putzte und strich. Aber wegen Gabis ekelhafter Zufriedenheit brachte ich es nicht fertig, das gesamte Metall zu seinem Kumpel zu fahren. Ich klapperte auf dem Weg die Schrottplätze ab und verdiente mir so ein kleines Zubrot.

In der Sekunde, in der Gabriels Wagen hinter der Hügelkuppe verschwunden war, ließen wir den Hammer fallen. Tommi L meldete sich sofort bei der Arbeit krank, und wir kauften Bier. Meistens zog sich Lauri dann ein wenig zurück – aber diesmal nicht.

 

Sie hatte mit uns gefeiert, wir hatten gelacht und geschrien. Es war schon fast wieder Morgen. Tommi L war auf seinem Sessel eingeschlafen. Er zuckte ab und zu wie ein träumender Hund. Lauri hatte schon mindestens seit einer Stunde nichts mehr gesagt. Aber es war mir nicht aufgefallen. Ich hielt mir eine Flasche vor die Augen und versuchte ihr Gesicht darin einzufangen. Es war grün und etwas verzogen. In mein Starren hinein hob sie plötzlich den verschwitzten Haarschopf vom Tisch, und ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie mich gefunden hatten.

Der seltsame Mund in dem Glas öffnete sich, und ich hörte eine Stimme: »Gabriel kommt erst in vier Stunden zurück.« Von dem Satz drang nur ein Name in mein Gehirn, den ich nicht hören wollte, und keine Empfindung konnte sich aufraffen, jetzt noch irgendwas in mir aufzuwühlen. Das Gesicht in der Flasche zwinkerte mir zu. Dann lachte Lauri wild und schrill. Die Flasche fiel mir aus der Hand und schepperte zu Boden. Tommi L grunzte.

Erst am nächsten Tag erinnerte ich mich plötzlich an diesen Satz. Aber da stand Gabis Wagen schon längst wieder auf seinem Parkplatz im Hof, und Lauri war bei ihm. Sie hatte einfach mit uns getrunken!

Ich tat etwas für sie. Und sie gab mir was zurück. Also wollte ich mehr tun. Ich ging zu Tommi L, um mit ihm endlich das Klo zu machen, da war er schon längst an der Arbeit. Er kniete auf dem Boden herum und maß und riss an. Ich half ihm eine Weile, aber ich konnte nicht klar denken, hatte wahrscheinlich immer noch Alkohol im Blut. Als ich Tommi L dann die Arbeit versaute, weil ich falsch gemessen hatte, wurde er ein bisschen maulig. Er machte den ganzen Rest allein, und ich sah zu und staunte, was er alles konnte.

»Das sieht ja aus, als hättest du das gelernt«, meinte ich.

»Hab ich auch«, antwortete er.

»Du hast was gelernt?«, fragte ich. »Wann denn?«

Tommi L hatte seine Lehre leider im Knast nicht fertig machen können, aber dafür hatte er da andere nützliche Sachen beigebracht bekommen. Immerhin, für die Türen und Fenster, die wir basteln wollten, würde es reichen. Er zog mich in sein Zimmer und wies auf ein niedriges Regal voller Schallplatten.

»Hab ich gemacht«, sagte er stolz. Daneben stand eine Stereoanlage aus gebürstetem Metall, mit Verstärker und allem.

»Ist das deine ganze Musik? Wo hast du die Boxen her?«, fragte ich ihn.

»Aus der Ruine. Die gingen noch. Musste nur Kabel kaufen«, erklärte er. Kurz darauf saß ich mit Tommi L auf dem Boden seines Zimmers. Den Rest des Abends zog er begeistert eine Platte nach der anderen heraus und erzählte und erzählte. Am Anfang hatte er geleugnet, dass es seine Musik war, aber es war natürlich seine. Er kannte jeden Titel auswendig und wusste genau, wo welches Album stand.

»Leg doch auf«, rief ich.

»Soll ich wirklich?«, fragte er, aber da lag die erste Scheibe schon auf dem Teller. Von den meisten Sachen, die er mir vorspielte, hatte ich noch nie etwas gehört. Die Namen und Jahreszahlen, die er herunterratterte, vergaß ich sofort wieder, aber die Musik sagte mir was. Irgendetwas sagte sie mir; und auch wenn ich keine Ahnung hatte, was, hörte ich die ganze Zeit zu.

 

Die Frau auf der Planke

Eines Morgens trugen Tommi L und ich ein paar Planken von der Straße zum Haus. Die hatten wir auf einer Baustelle aufgetrieben, Tommi L wollte etwas damit bauen, ich habe vergessen, was. Ein Kumpel hatte uns die Planken bis vors Tor gefahren, das immer zugesperrt war, und dort erwischte uns Gabriel.

»Das ist ja super Bauholz!«, rief er und freute sich im ersten Moment. Dann wurde er misstrauisch: »Wo habt ihr das her?«

»Geschenkt bekommen«, antwortete ich.

»Die waren heute Morgen einfach hier gelegen«, stotterte Tommi L im selben Augenblick. Gabriel wurde böse und wickelte die Kette gleich noch ein weiteres Mal um das Tor. Dann guckte er uns ewig lang ins Gesicht. Ich dachte, jetzt muss er doch loslegen, aber er sagte nichts, sondern guckte nur, als hätten wir rote Farbe im Gesicht. Tommi L schaute weg, aber ich grinste Gabi an.

»Es hier draußen vor deinem Grundstück liegen zu lassen ist jedenfalls ein bisschen riskant. Ich meine jetzt nicht nur für Tommi und mich«, sagte ich freundlich. Gabi zögerte. Es gab einen kurzen Moment, in dem ich dachte: Jetzt explodiert er gleich. Tat er aber nicht, er blieb ruhig, wie immer.

»Ich sperr euch nicht auf. Und was ihr mit dem Holz macht, ist ja klar.« Damit ließ er uns stehen. Meine ganze Hilfsbereitschaft, im Haus was Nützliches zu tun, versickerte mit einem Mal.

»Was meint er, ›Was ihr mit dem Holz macht, ist ja klar‹?«, fragte Tommi L enttäuscht.

»Na, reintragen, was sonst! Als Strafe.«

Weil es viele schöne Planken waren, die wir nun über den Schotter schleppen würden, und weil wir noch nicht gefrühstückt hatten, beschlossen Tommi L und ich erst mal, uns ein Bier zu holen. Dann zerrten wir die Holzbohlen durch die winzige Lücke im Zaun neben dem Tor und trugen sie alle einzeln in die Scheune. Nachdem wir eine Weile geschwitzt hatten, hörte ich plötzlich was weinen. Ich ließ die Planke, die wir gerade trugen, runter und horchte. Das Heulen kam aus dem Sumpf links vom Haus. Wir schauten beide in die Richtung, aus der es kam.

»Da redet jemand was«, sagte Tommi L. Ich hörte etwas, das ich überhaupt nicht einordnen konnte. Am Anfang dachte ich noch, dass uns Gabriel vielleicht heimlich beobachtete, aber dann sahen wir es: Da war ein Geist. Ein richtiger Geist.

»Komm raus, du Scheißgeist!«, schrie Tommi L. Die Gestalt blickte auf. Es war eine Frau, und sie war nicht ganz bei sich, so viel war klar. Sie sah durch uns hindurch und rief irgendetwas auf Französisch, das konnte ich jetzt verstehen. Mir kam eine Idee.

»Tommi, hol die mal da raus«, sagte ich, drehte mich um und ging schnurstracks zu Gabi. Als ich mit ihm zurückkam, war Tommi L nass und wütend und fluchte herum. Die Frau war weit nach hinten ins Dickicht geflohen. Es dauerte eine ganze Weile und kostete viel gutes Zureden, aber dann hatten wir die Französin aus dem Sumpf. Richtig lohnte es sich nicht, sie war hässlich. Hatte gelbes struppiges Haar und ein Drogengesicht. Ihre Jeans und ihr Pullover hatten sicherlich vorher ­vielen anderen Leuten gehört. Gabi kümmerte sich um sie und redete ein wenig auf sie ein, während sie ein wirres Gemisch aus Deutsch und Französisch von sich gab. Ich drängte mich ein bisschen vor und versuchte herauszufinden, wo sie herkam. Oder wo sie hinmusste, denn ich spekulierte auf das Auto. Oder wenn Gabi es mir nicht gab, dann wenigstens darauf, dass er das Tor öffnete.

»Sie muss ins Krankenhaus, das sieht man doch«, versuchte ich ihn zu animieren. Aber Gabi durchschaute mich. Er schlug mir boshaft auf die Schulter und meinte, wir sollten das Holz vom Weg nehmen.

Also hievten wir das Ding wieder hoch und wollten eben losgehen, als Gabriel uns noch mal zurückhielt. Er sagte etwas zur Französin auf Französisch. Da lachte sie das erste Mal. Sie stand auf und hüpfte zu uns, setzte sich mitten auf die Planke, dass uns fast die Finger abrissen, und machte Geräusche, mit denen man normalerweise Hunde antreibt. Gabriel grinste uns an. Aber richtig böse konnten wir dann auch nicht mehr werden. Wir machten gute Miene zum bösen Spiel und trugen die schlammige Frau auf der Planke ins Haus. Sie war so vergnügt dabei und wackelte, dass sie fast runtergefallen wäre. In der Küche kriegte sie Kaffee. Lauri kam verschlafen aus Gabriels Einliegerwohnung. Als ich das sah, hätte ich gerne jede einzelne gestohlene Planke vor Gabriels Tür genagelt. Aber dann ging ein Riesengezeter los. Die Französin schluchzte und schrie und knallte den Kopf auf die Tischplatte. Lauri und Gabi trösteten sie und flößten ihr Kaffee ein. Tommi L und ich standen daneben und guckten zu und nahmen uns auch Kaffee. Nachdem die Französin endlich wieder ein wenig normaler geworden war, konnten wir frühstücken. Sie sprach hauptsächlich mit Lauri und beachtete uns nicht. Nur als Tommi L sich an den Tisch setzte, unterbrach sie ihren Redeschwall kurz, um ihm scharf und böse irgendetwas auf Französisch ins Gesicht zu knallen. Tommi L lachte und sagte: »Isch abe disch schon mal gese-hen.«

Hatte er wirklich, auf einmal erinnerte ich mich auch. An der Bushaltestelle unten am Hügel waren wir ihr schon mal begegnet. Aber da war sie sauberer gewesen. Sie hatte lauter leere Säcke und Tüten überall in ihre Taschen gestopft oder in den Händen. Als der Bus dann endlich gekommen war, war sie nicht eingestiegen.

»Wovon lebst du denn?«, fragte Lauri sie.

»Flaschen«, antwortete die Französin in einem seltsamen, rührenden Singsang.

»Flaschen, die du austrinkst, oder Pfand?«, fragte Tommi L vergnügt. Gabriel lachte. Lauri hatte mich den ganzen Morgen noch kein einziges Mal angesehen. Die Französin erzählte, dass sie eine Weile von Flaschenpfand gelebt hatte, bis ihr ein Typ bei einer Abgabestelle mal einfach nichts ausgezahlt hatte.

»Er hat gesagt, ich kriege nichts, weil ich Ausländerin bin. Ich bin doch keine Ausländerin! Ich bin aus Frankreich!«, erklärte sie uns empört. Sie erzählte noch so ein paar traurige Geschichten, dann schlief sie plötzlich ein. Gabi trug sie nach oben, und da wohnte die Französin seitdem. Sie hat sicher noch einen andern Namen, aber bei uns heißt sie »die Französin«. Gabriel hat sie natürlich niemandem gemeldet oder sich nach ihr erkundigt oder so was. Wer hier auf dem Hof war, war eben da. Gabriel hatte seine eigenen Regeln.

 

Im Herbst, als die ersten Blätter von den Bäumen fielen, fanden Tommi L und ich heraus, dass die Französin, bevor sie zu uns gekommen war, schon richtig lange in unserem Dschungel zwischen Hof und Straße gehaust hatte. Tommi L stand am Fenster und glotzte und glotzte und begriff gar nicht, was er da sah. Wir gingen raus, kämpften uns durch das Dickicht, und da fanden wir ihren Verschlag. Im Winter wäre sie da glatt erfroren. Aber was soll’s, sie hätte es wahrscheinlich nicht mal bemerkt. Unter dem Laub entdeckten wir in einer Tüte einige brauchbare Drogen.

»Wir müssen ihr was abgeben«, sagte Tommi L großzügig und schluckte irgendetwas.

»Warum?«, fragte ich.

»Die Sachen gehören ihr.«

»Nein. Gabriel hat sie auf Entzug gesetzt. Das müssen wir respektieren.« Aber am Ende meines Satzes war Tommi L schon längst weit, weit fort.

 

Der Geruch in ihren Kleidern

Obwohl es kühler wurde und die Heizung immer noch im gleichen faulen Rhythmus arbeitete wie wir Hausbewohner, musste ich in meinem Bett inzwischen nicht mehr frieren. Aber das Problem mit Lauri war, dass sie den Mund nicht aufmachte. Sie hat zwar nie was »über uns« gesagt, aber ich glaube, sie hat einfach Angst bekommen, als das mit uns ernster wurde. Wenngleich sie schon ein paarmal bei mir übernachtet hatte, musste ich mich jedes Mal wieder aufs Neue anstrengen, sie rumzukriegen. Wenn wir geredet hätten, hätte ich sie festnageln können. »Affäre« oder »Betrug« oder »Kleines Nichts zwischen den Welten« hätten wir es nennen können. Aber sie brachte kein Wort heraus. Wenn man mit jemandem keine Verabredung treffen kann, ist eine heimliche Affäre heikel. Ich wusste nie, wann ich sie wiedersehe. Also alleine meine ich, denn wir liefen uns ja ständig über den Weg. Wir mussten höllisch aufpassen, dass niemand was merkte. Wochenlang schlichen wir beide auf Zehenspitzen nach oben und liebten uns, wenn wir die anderen endlich besoffen genug gemacht hatten. Das war nicht immer leicht, weil die anderen tagsüber oft nichts trinken wollten und Tommi L ja arbeiten musste. Und wenn sie dann bei mir war, war es, als tauchten wir unter Wasser und sänken tiefer und tiefer, bis unsere Körper so fest aneinandergedrückt waren, als ob das Dazwischen ausgelöscht würde. Das Licht drang nur noch als Schimmern durch die Ritzen und Spalten zu uns in die Tiefe und fing sich in unseren Augen. Wir konnten uns ansehen, ohne Angst, ruhig und lang. Aber kein Wort konnte durch das Wasser dringen. Unsere Finger sprachen mit unserer Haut. Die Stille sprach. Das war Lauri. Wenn man sie zur Rede stellen wollte oder in die Enge trieb, lief sie weg. Das erste Mal, als sie es tat, dachte ich schon, ich würde sie nicht mehr wiedersehen. Gabriel war verreist, sonst hätte er alles auf den Kopf gestellt – und mich dazu.

 

Du hast es gebraten

»Was ist los? Kann ich dir helfen?«, fragte Tommi L sie höflich und lieb.

»Nein!«, rief ich mit Tränen in den Augen. »Vergiss es, Tommi! Die zählt nicht!«

Aber dann passierte doch noch etwas in Tommi Ls Liebesleben, das eine Schneise in meine Sorgen riss wie ein Bagger ins Wasserschutzgebiet.