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Martin M. Falken

Nachwuchs unterm
Regenbogen

 

 

 

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Von Martin M. Falken bisher im Himmelstürmer Verlag erschienen:

„Model zu haben“ ISBN print: 978-3-86361-328-0

„Schatten eines Engels“ ISBN print: 978-3-86361-281-8

„Unter Beobachtung“ ISBN print: 978-3-86361-269-6

„Zusammenstöße“ ISBN print: 978-3-86361-172-9

„Papas unterm Regenbogen“ ISBN print: N 978-3-86361-352-5

„Familie unterm Regenbogen“ ISBN print: 978-3-86361-400-3

 

Alle Bücher auch als E-book

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de

Originalausgabe, Februar 2015

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden 24.Auflage

 

Coverfoto: http://de.123rf.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

 

ISBN print 978-3-86361-455-3

ISBN epub 978-3-86361-456-0

ISBN pdf: 978-3-86361-457-7

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

 

 

Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen.

Friedrich Schiller, Die Räuber

Julio

Ich drehte den Zündschlüssel, der Motor brummte sofort. Ich schnappte nach Luft, wollte das Lenkrad anfassen, es in eine Richtung drehen, aber mein Vater Ricardo hatte mir deutliche Anweisungen gegeben, absolut nichts ohne seine Erlaubnis zu machen.

„Ein guter Anfang, Julio“, meinte mein Vater. „So, und nun setzt du deinen linken Fuß auf die Bremse, deinen rechten Fuß auf die Kupplung. Die Kupplung richtig durchdrücken. Bis zum Anschlag.“

Wo war nun links, wo war rechts? Ich hatte nie Probleme mit den Richtungen, aber als ich zum ersten Mal auf dem Fahrersitz im neuen Fiat meines Vaters saß, fühlte ich mich so unwohl, dass es mir schwer fiel, mich zu konzentrieren.

„Geht es dir noch gut? Oder sollen wir besser abbrechen?“, fragte mein Vater. Seine ängstliche Stimme verriet mir, dass er sich Sorgen um seinen Wagen machte und weniger um mich. „Du siehst so blass aus“, fügte er hinzu.

Jetzt wollte ich erst recht nicht aufgeben. In einer Woche stand meine erste Fahrstunde an, ich hatte schon fast zwanzig Theoriestunden hinter mir und wollte endlich üben. Dafür war ein Verkehrsübungsplatz doch da. Ich wünschte mir, dass nicht mein Vater, sondern Nicolas neben mir sitzen würde.

„Wie geht das Fenster auf?“, fragte ich.

„Konzentrier dich jetzt erst einmal auf die wichtigen Dinge.“

„Mir ist aber warm.“ Das war nicht gelogen.

„Du lernst jetzt, wie man anfährt. Fass mit deiner linken Hand ans Lenkrad … Nein, nicht so krampfhaft ... und mit der rechten drückst du die Handbremse nach unten. Halte deine Füße weiter auf Kupplung und Bremse gedrückt.“

Ich befolgte seine Anweisungen. Während er eine Pause machte, sah ich ihn fragend an.

„Guck nicht mich an, schau nach vorne! Was kommt jetzt? Müsstest du aus deinen Theoriestunden wissen.“

Oh nein! Jetzt ging er vollkommen in seiner Erzieherrolle auf. Das war der Grund, warum ich lieber mit Nicolas geübt hätte. Ich versuchte es mit dieser Antwort: „Den Fuß langsam von der Kupplung nehmen.“

„Nein, das ist falsch“, rief Ricardo ungeduldig. „Wozu bezahlen wir dir deine Theoriestunden, wenn du nicht die wichtigsten Sachen behältst?“

Ich verdrehte meine Augen und überlegte ein paar Sekunden. Mir fiel es nicht ein.

„Na, was musst du vor dem Anfahren machen?“

Ich sah an mir herunter. Angeschnallt war ich. Mir fiel es ein, als ich auf den Schalthebel sah, der noch im Leerlauf war. Ich legte den ersten Gang ein.

„Aha … Und nun?“

„Anfahren?“, fragte ich.

„Nein, Julio! Vor dem Anfahren, was macht man da?“

Jetzt standen wir fast eine halbe Stunde auf diesem Verkehrsübungsplatz und waren noch keinen einzigen Zentimeter vorwärts gekommen. Stattdessen stellte mir mein Vater hunderte Fragen, erklärte mir jedes winzige Detail in diesem Auto. Ich wusste wie Scheibenwischer, Blinker, Klimaanlage, das Radio und der CD-Player funktionierten. Aber offenbar fiel es mir gerade nicht ein, was ich vor dem Anfahren tun musste, also begann ich zu raten: „Ich muss schauen, ob meine Beifahrer angeschnallt sind.“

„Julio, du nervst“, sagte Papa und rieb seine Nasenwurzel. „Ja, das ist auf jeden Fall auch wichtig, ja. Aber ich bin angeschnallt und weitere Beifahrer sind nicht im Auto. Letzte Chance, sonst fahren wir nach Hause.“

„Aber Papa, ich wollte doch ...“

„Nichts da“, unterbrach er mich, sein Ton wurde energischer. „Glaubst du, die Spiegel hier“, er zeigte dabei auf die beiden Außen- sowie den Innenspiegel, „sind für Frauen da, die beim Fahren kontrollieren, ob sie den richtigen Lippenstift aufgemalt haben?“

„Ha ha! Sehr witzig!“

„Witzig ist das nicht. Mir ist nämlich nicht nach Lachen zumute. So, jetzt Spiegelkontrolle und dann Schulterblick. Und dann kannst du losfahren.“

Endlich! Ich sah absichtlich sehr lange in die Spiegel, bevor ich den Schulterblick machte. Ich hörte meinen Vater genervt atmen. Ich setzte meinen rechten Fuß auf das Gaspedal, während ich die Kupplung nur sehr langsam kommen ließ. Der Motor stöhnte laut auf, mein Vater ebenfalls.

Ich setzte noch einmal von vorne an, ließ die Kupplung langsam kommen und betastete das Gaspedal. Meine beiden Hände umklammerten das Lenkrad, es gab mir mehr Sicherheit. Das Auto setzte sich in Bewegung. Obwohl ich das erwartete, fühlte ich mich in der Rolle des Fahrers komisch, unpassend.

„Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr!“, rief ich, trat fest in die Bremse, so dass ich den Wagen abwürgte.

Nicolas

Ungeduldig streute ich die Krokantstückchen auf die glänzenden, dunkelbraunen Pralinen. Immer wieder sah ich auf die Wanduhr. Ich fragte mich, ob Ricardo und Julio auf dem Verkehrsübungsplatz einen Unfall gebaut hatten. Sie könnten in diesem Fall wenigstens Bescheid sagen. Unruhig lief ich zwischen meiner Theke und meiner Pralinenküche hin und her und sah auf den fortschreitenden Sekundenzeiger. Leonie musste abgeholt werden, die Kindergärtnerinnen sollten sich auf uns verlassen. Ohnehin war ich erstaunt, wie selbstverständlich es die beiden Erzieherinnen fanden, dass zwei Väter ihre Adoptivtochter dort anmeldeten. Mag sein, dass es daran lag, dass wir nicht das einzige schwule Pärchen waren, dessen Kind diesen Kindergarten besucht.

Ich begann meine Pralinen in der Theke zu zählen, um mich abzulenken. Im Zweifelsfall musste ich meine Nicolaterie eben für eine halbe Stunde schließen, leider genau zu dem Zeitpunkt, in dem zahlreiche Schüler in mein Geschäft kommen, um sich einen Schokomuffin oder das kürzlich von mir selbst hergestellte Nougat-Eis mit auf den Heimweg zu nehmen. Ich erschrak, wie umsatzgeil ich geworden war. Und meiner Familie setzte ich zum Nachtisch Tiefkühleis aus dem Supermarkt vor. Endlich fuhr Ricardo mit seinem Wagen vor. Julio sprang schnell raus, lachte offenbar, während mein Mann eine grimmige Miene machte.

„Nicolas!“, rief Julio und grinste. „Ricardo hat einen Unfall gebaut!“ Seitdem unser Sohn im Stimmbruch war, vermied er seinen Vater Papa zu nennen. Aber das hatte er ohnehin nur selten getan. Ich sah Ricardo mit schüttelndem Kopf in meine Chocolaterie kommen. Er schmeißt seinen Schlüssel scheppernd auf meine Glastheke.

„Hey, die ist neu!“, ermahnte ich ihn. „Was ist passiert?“

„Erzähl du es ihm!“, sagte Ricardo an Julio gewandt, der sofort losplapperte: „Er hat den Rückwärtsgang auf dem Verkehrsübungsplatz eingelegt. Dann ist er mit dem Fuß von der Kupplung gerutscht und gegen einen Stahlpfosten geknallt. Der rechte Blinker ist kaputt.“ In Julios Augen spiegelte sich Schadenfreude, er funkelte und grinste noch immer.

Ich sah zu Ricardo: „Wer von euch beiden hat wem jetzt das Fahren beibringen wollen?“

„Das liegt an diesen blöden Flipflops! Ich hab da kein Gefühl fürs Fahren!“

Hatte er den gleichen Fehler schon wieder begangen?

„Warum ziehst du die auch an, wenn du Auto fährst? Das ist nicht dein erster Blechschaden in diesen Schuhen! Wieso denkst du nicht einmal nach, Ricardo? Die Versicherung wird den Schaden nicht zahlen und ...“

„Ich weiß, ich weiß! Du machst ja ohnehin alles besser.“

„Nein, das nicht, aber ich lerne aus meinen Fehlern. Du bist einfach nur … doof!“

Ricardo sah auf seine Armbanduhr. „Ich muss Leonie abholen.“

„Mit dem Auto?“, fragte ich.

„Ja, wieso?“

„Schuhe wechseln, mein Freund!“

 

Als mein Mann Leonie vom Kindergarten abholte, fragte ich Julio nach seiner ersten Erfahrung als Autofahrer aus. Er erzählte mir aber lieber ein weiteres Mal von Ricardos Unfall.

„Aber ihr seid gut miteinander ausgekommen?“, fragte ich ihn und unterbrach ihn in seiner vierten Schilderung des Unfalls.

„Es geht. Würde lieber mit dir fahren.“

„Und wie viele Kilometer hast du zurückgelegt?“

„Bin gerade mal ein paar Zentimeter vorwärts gekommen. Ricardo war schnell genervt, hat dumme Fragen zum Autofahren gestellt und dann hatten wir beide keine Lust mehr.“

Was? Die waren jetzt über eine Stunde am Verkehrsübungsplatz und unser Sohn konnte gerade mal anfahren?

„Ich verspreche dir, wir fahren morgen dahin und üben. Ich habe geahnt, dass dein Vater keine Geduld dafür hat.“

Julio sah auf die Uhr, er hatte Hunger. Wir gingen in die Küche und deckten den Tisch. Unser Sohn begann Kartoffeln zu schälen, während ich die Schnitzel panierte.

„Nicolas?“ Immer wenn Julio mich so fragend ansprach, kam eine Bitte hinterher.

„Ja?“

„Wenn ich den Führerschein habe, bekomme ich dann auch ein Auto? Also ein eigenes?“

Wieder musste ich hier die Entscheidung treffen. Er wusste, wie er mich ausnutzen konnte, das hatte ich mittlerweile durchschaut. Wäre Ricardo in der Nähe, würde er solche Fragen nicht stellen. Es war offenbar nicht ausreichend, dass wir seinen Führerschein bezahlten, obgleich auch diese Diskussion sehr anstrengend gewesen war. Gabriela bestand darauf, dass Julio sich einen Nebenjob besorgen sollte. Immerhin trug er regelmäßig Zeitungen aus. Letztendlich war ich derjenige, der nachgegeben hatte. Und jetzt, da war ich mir sicher, erwartete er von mir, dass ich ihm auch ein Auto bezahlte.

„Wir würden dir wirklich alles schenken, was du willst, Julio. Aber wir können uns nicht alles leisten. Wir müssen auch in die Zukunft deiner Schwester investieren.“

Julio verzog sein Gesicht, verkniff sich aber einen gehässigen Kommentar. Unseren Sohn von einem Geschwisterchen zu überzeugen, war zunächst gar nicht so einfach. Erst hatte er keine Einwände, ja, er hatte sich sogar auf eine kleine Schwester gefreut, uns in Gesprächen mit dem Jugendamt unterstützt und dazu beigetragen, dass wir eine völlig normale Familie sind. Manchmal bezeichnete er uns in Gegenwart der Vertreter vom Jugendamt als Spießer. Und außerdem bemängelte er, dass wir oft zu bürgerlich kochen würden.

Je näher die Adoption rückte, umso mehr zog sich Julio zurück, meistens unter dem Vorwand, er müsste viel lernen. Ricardo und ich hatten sofort gemerkt, dass unser Sohn Angst hatte, in Zukunft vernachlässigt zu werden, eine Angst, die ich nachvollziehen konnte, aber die sich nicht bestätigt hatte.

Da Julio in der Pubertät immer weniger von sich erzählte als früher, machte ich mir Sorgen. Sehr oft hatte ich abends das Gespräch mit ihm gesucht. Doch auch unter vier Augen gelang es mir nicht, dass er etwas über seine Ängste verriet. Genauso gut hätte ich auf einen Stein einreden können, kalt, schweigsam und geduldig.

„Wir haben dich sehr lieb!“ Ich sagte diesen Satz oft zu ihm, vielleicht zu oft, als ob ich es nötig hätte, das zu betonen. Von ihm kam nie eine Reaktion. Auch seine Mutter Gabriela hatte Probleme, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Es gab Wochen, da hatten Ricardo und ich abends lange über ihn gesprochen. Manchmal hatten wir erwogen, den Adoptionsantrag rückgängig zu machen. Er lag zu diesem Zeitpunkt schon vor. Es war mein Mann, der mich ermutigte. „Wir haben so viele Krisen durchgestanden, dann schaffen wir das auch noch.“

Ich suchte im Internet nach Beiträgen zum Thema Geschwisterneid. Es gab etliche Geschichten von Eltern, die ihre intimsten Familienprobleme dort preisgaben. Ich ignorierte die Foren, da konnte sich ja jeder Depp beteiligen und niemand sagte mir, ob die Geschichten dort echt waren. Ich rief einfach meine Schwester Nadja an und fragte sie, wie es für sie war, als meine Mutter mit mir schwanger war. „Ich wollte dich direkt nach der Geburt samt Wiege durch das Wohnzimmerfenster schmeißen“, antwortete sie prompt. „Dann habe ich gehofft, dass du an deinem Spielzeug erstickst. Deshalb habe ich auch die kleinen Spielfiguren aus den Überraschungseiern überall liegen lassen.“

Ich schluckte. Was meine Schwester da so frivol ausplauderte, überraschte mich und zum ersten Mal sah ich sie in einem düsteren Licht. Was für ein hinterhältiges kleines Wesen sie früher war! Auch wenn es über dreißig Jahre her ist, dass ich ein Baby war, bekam ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich daran dachte, was Nadja für Mordgelüste gegen mich hegte.

„Ich habe stattdessen ein paar Tassen aus dem Wohnzimmerfenster in den Garten geworfen“, fügte meine Schwester hinzu. „Fragst du mich wegen Julio?“

„Ja, er wirkt so … unzugänglich. Er zieht sich oft in sein Zimmer zurück, redet kaum etwas und geht auch am Wochenende nicht mehr so oft aus.“

„Pubertät“, antwortete Nadja.

„Und Geschwisterneid?“

„Der auch. Aber er ist alt genug, das zu verstehen. Er will euch nicht teilen mit einem für ihn noch fremden Kind. Ist doch nachvollziehbar.“

„Für mich nicht“, sagte ich. „Ich war ja das letzte und zweite Kind in unserer Familie. Was sollen wir denn machen, Nadja?“

„Alles so durchziehen, wie ihr es geplant habt.“

Während der Unterhaltung mit Nadja kamen mir plötzlich weitere Zweifel. Was ist, wenn unser Kind wegen seiner schwulen Eltern später in der Schule ausgegrenzt oder gemobbt werden würde? Ich sprach mit Nadja über meine Sorgen, die mir geduldig zuhörte. Das vermisste ich häufig bei Ricardo.

„Ich würde euch für blöd erklären, wenn ihr deshalb einen Rückzieher machen würdet. Euch fehlt der Optimismus. Es sollten noch viel mehr schwule und lesbische Menschen denken wie ihr und zu ihrem Kinderwunsch stehen.“

Meine Schwester sagte etwas Wahres.

„Und solange ihr als Familie zusammenhaltet und sich euer Kind auf euch verlassen kann, habt ihr schon viel erreicht. Und notfalls bin ich auch noch da. Vergiss auch nicht unsere Eltern und Ricardos Vater. Das Kind wird eine wunderbare und verrückte Verwandtschaft haben.“

„Nadja, ich vermisse dich. Wieso musst du als Architektin in Straßburg arbeiten und kannst nicht unsere liebevolle Nachbarin werden? Sag mal, möchtest du Patin werden?“

Sie schwieg eine Weile und schrie dann vor Freude „Jaaa!“

Verträumt stand ich in meinem Pralinenladen und dachte an Nadja ... Sie hatte recht, denn viele Probleme, die ich befürchtet hatte, traten tatsächlich nicht ein. Oft stellte ich mir die Fragen, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn Ricardo und ich alleine geblieben wären.

Ricardo

Es gab Tage, an denen Leonie in einem durchplapperte, dann schoss ein Satz nach dem anderen raus. Und es gab solche Tage, an denen sie keinen Laut von sich gab, nicht einmal ihre Tiergeräusche neben mir machte. Heute war ein schweigsamer Tag und meistens gab es dafür einen Grund.

„Wie war's im Kindergarten?“, fragte ich, als wir an einer roten Ampel hielten, die dafür bekannt war, eine dreiminütige Rotphase zu haben.

„Geht so ...“ Leonie zuckte mit den Achseln und fing an, mit ihren Locken zu spielen. Ich sah ihr dabei zu und bemerkte an ihrem Zeigefinger ein Pflaster.

„Hast du dich verletzt?“

Sie vergrub ihre Hände unter ihren Beinen.

„Komm, sag es mir doch.“

„Ich habe mich geschnitten“, sagte sie trotzig.

„Habt ihr gekocht?“

„Ja.“

Mich wunderte das, denn im Kindergarten hatten sie bislang vormittags nie gekocht. Und als ich sie eben im Kindergarten abgeholt hatte, roch ich auch kein Essen.

„Was habt ihr denn gekocht?“, hakte ich nach. Jetzt brauchte sie eine Weile, bis sie eine Antwort gab.

„Nudeln.“

„Und was gab es dabei?“ Ich kam mir vor wie ein Richter. Hätte meine Mutter mich früher mit vielen Fragen genervt, hätte ich demonstrativ meinen Mund gehalten.

„Ketchup.“

Nun war ich sicher, dass sie kein Messer in ihrer Hand gehalten hatte. Ich hatte aber genug gefragt, sie wollte nicht reden.

Als wir nach Hause kamen, deckten Julio und Nicolas den Küchentisch. Leonie lief sofort zu ihm und umklammerte sein Bein. Nicolas sah mich fragend an, ich zuckte nur mit der Schulter. Leonie schwieg, dafür redete Julio heute sehr viel. Er erzählte uns von seinem Bio-Unterricht und dass sie gerade Genetik durchnehmen würden, unseren gestrigen Ausflug auf den Verkehrsübungsplatz erwähnte er nicht. Ich freute mich, wenn er begeistert von der Schule sprach. Für Bio hatte er schon immer eine Vorliebe, nur war das Thema in der Oberstufe deutlich anspruchsvoller. Auch wenn er mehr Fachbegriffe in sein Vokabular aufnahm, die ich nicht kannte, war ich froh, dass er sich so stark auf sein Abitur vorbereitete. Noch vor einem Jahr machten wir uns Sorgen um Julio. Nicolas und ich befürchteten, dass er uns entgleiten und unser Adoptionsvorhaben durchkreuzen würde.

 

„Nadja wird Patin“, sagte Nicolas erfreut, nachdem er mit ihr telefoniert hatte.

„Schön“, sagte ich trocken. Ich wusste in diesem Moment, dass Julio wieder seinen neuen Freund Toni mitgebracht hatte, der immer seine nach Nikotin riechende Lederjacke an unsere Garderobe hängte. Nicolas bemerkte an meinem Ton, dass Julio wieder ungebetenen Besuch mitgebracht hatte. Auch er wusste, dass Toni unseren Sohn mal zum Kiffen verleitet hatte. Ich war mir sogar sicher, dass Julio mehrmals gekifft hatte und das in seinem Zimmer. Nicolas hatte ich zwar darauf angesprochen, er winkte aber immer ab, wollte nicht darüber reden. Ich sah ihm an, dass er nicht wahrhaben wollte, dass Julio kiffte.

„Wenn er dann unsere ganze Wohnung damit vollgequalmt hat und das Jugendamt uns einen überraschenden Besuch abstattet, kannst du deine Adoptionspläne begraben“, sagte ich zu ihm. Nicolas aber machte seine Pralinen, sah mich nicht an und schwieg. Er litt darunter, dass Julio ihm nicht mehr alles erzählte, er war eben in der Pubertät und wir bemerkten, dass er sich lieber unter Gleichaltrigen aufhielt und auch über uns lästerte, meistens nicht leise. Als Nicolas und ich eines Abends in der Küche saßen und Rotwein tranken, hörten wir durch Julios geschlossene Zimmertür ein Gespräch zwischen ihm und seinen Freund Toni.

„Ich finde deinen Alten so komisch“, hörte ich Toni sagen. „Also den mit den schwarzen Haaren.“

Damit war zweifelsohne ich gemeint.

„Ja, das ist ja auch voll der Spießer!“

„Isso! Wäscht der auch jeden Samstag sein Auto wie mein Alter?“

„Ne, so schlimm ist es auch nicht. Aber er ist nah dran.“

Ich sah Nicolas an, der mich angrinste. Er fand die Unterhaltung offensichtlich sehr amüsant.

„Ich mag deinen anderen Vater lieber. Aber der hat auch einen Knall, will mir Pralinen andrehen. Als ob ich so was fresse!“

Nicolas' Grinsen verschwand. Er öffnete seinen Mund, als wollte er etwas erwidern, schloss seine Lippen dann aber wieder. Wir wussten, dass es wieder Zeit für ein Vater-Sohn-Gespräch war, doch wir mussten uns darüber streiten, wer der Vater sein sollte, der Julio auf seinen neuen Freund und das Kiffen anspricht.

„Sonst hast du dich ja nie gescheut, mit Julio zu sprechen“, sagte ich, als plötzlich Toni die Zimmertür öffnete. Er kam heraus, nickte uns mit ausdrucksloser Miene zu und ging in den Flur, wo er seine Lederjacke anzog. In Julios verdunkeltem Zimmer konnte ich einen blaugrauen Dunst erkennen. Nicolas sah mich erschrocken an.

„Das ist dein Part, Nicolas“, sagte ich. „Du triffst schon den richtigen Ton, wie du es immer machst.“ Ich stand auf, verließ die Küche und ging schlafen. Ich hatte mich von der rügenden Vaterrolle längst verabschiedet. Nicolas würde mir ja sowieso wieder vorwerfen, dass ich Julio durch meine Art und Weise, wie ich mit ihm redete, nur noch mehr provozieren würde.

 

Wenn ich heute Julio betrachtete, sah ich einen völlig anderen Menschen, einen gereiften Jugendlichen vor mir. Mich beeindruckten weniger seine Fachbegriffe, die ich eh nicht verstand, sondern seine Gestik. Egal, was er sagte, er wirkte sehr überzeugend. Und dann diese tiefe Stimme, die er in den letzten Jahren bekommen hatte. Als er zu uns kam, war er gerade im Stimmbruch, da krächzte er. Oftmals schweifte ich ab, wenn zu viele Fachbegriffe auf einmal in seinem Monolog auftauchten und schaute immer wieder auf Leonie, die langsam ihr Püree aß und ihre Frikadelle nicht einmal angerührt hatte. Nicolas schien überhaupt nicht zu merken, dass es ihr nicht gut ging, er vertiefte sich mit Julio in das Gespräch über Klonen und die ethischen Auswirkungen.

Später sprach ich Nicolas in der Chocolaterie auf Leonies Schweigen an. Ich fragte ihn, ob es ihm nicht auffiel, dass sie ihr Mittagessen oft nicht aufaß.

„Sie mag nicht so gerne Fleisch, mag Nudeln lieber. Na und? Das ist doch bei allen Kindern so.“

„Nicht bei allen“, erwiderte ich, weil das einfach nicht stimmte.

„Aber bei vielen, du Erbsenzähler.“

Jetzt war ich wieder der Erbsenzähler.

„Irgendetwas stimmt mit ihr nicht ...“, bemerkte ich.

Julio

Nein, als Streber wollte ich nicht dastehen, im Gegenteil. Aber wenn ich an einem Samstagabend zu Hause blieb und mich mit meinem Bio-Buch an den Schreibtisch setzte, verheimlichte ich das meinen Mitschülern. Jan, ein langjähriger guter Freund von mir, wusste zwar, dass Bio und Mathe meine Lieblingsfächer waren, aber ich hatte ihm nie erzählt, dass ich auch mal unabhängig vom Schulunterricht etwas las.

Aber es gab auch Fächer, in denen ich faul war. Da lagen seit Wochen Romane auf meinem Schreibtisch, die ich noch nicht einmal aufgeklappt hatte. In Deutsch sollten wir in den Osterferien Das Parfüm von Patrick Süskind lesen, für den Philosophie-Unterricht mussten wir Gudrun Pausewangs Die Wolke vorbereiten. Typisch Herr Klebmann! Anstatt uns mit wichtigen Philosophen vertraut zu machen, hielt er immer die Ökologie- und Friedensfahne hoch. Ich fand das nicht schlecht, aber in Philosophie taten wir nichts anderes, als über Atomkraft zu reden. Namen wie Kant oder Rousseau waren bis dahin nicht ein einziges Mal gefallen. Über solche große Namen erfuhr ich etwas von Toni, der sich dafür sehr interessierte. Er hätte etwas von Kant gelesen und ihn faszinierte, dass es keine Wirklichkeit an sich geben würde. So richtig nachvollziehen konnte ich das nicht. Ich hatte Nicolas mal beim Pralinenmachen darauf angesprochen, weil mich das doch beschäftigte.

„Das heißt also, dass es deine Pralinen vielleicht gar nicht gibt?“, fragte ich ihn. Er runzelte die Stirn, dachte offenbar angestrengt nach.

„Aber du siehst doch, dass sie hier sind. Du fühlst und schmeckst sie. Und im Zweifelsfall wird dir davon auch schlecht.“

„Aha … Aber Toni meinte, dass alles nur … konstruiert sei. Wir haben im Kopf Vorstellungen von Pralinen, aber die Praline an sich gibt es gar nicht. Vielleicht existierst du auch nur in meinem Kopf.“

„Ach was? Mich gibt es gar nicht, obwohl ich vor dir stehe und mit dir spreche?“ Ich sah, dass Nicolas Tonis Gedanken befremdlich fand.

„Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein. Vielleicht existierst du nur in meiner Vorstellung.“

„Also der kiffende Toni war mir lieber als der philosophische Toni. Nein, Unsinn! Aber du weißt, wie ich das meine. Soll er lieber Kant wälzen, als sich den Dreck reinzuziehen.“

Im letzten Herbst saß Toni mit mir in meinem Zimmer, wir surften durchs Internet und schauten uns Soft-Pornos an, die frei zugänglich waren. Manche waren nur für ein paar Tage online und wurden dann gesperrt. Aber gesehen hatten wir sie trotzdem und Toni filmte die härteren Pornos mit seinem Handy ab und speicherte sie. Wir beide fanden die Filme nicht wirklich geil, wir wollten eigentlich nur sehen, was man so unter Soft-Pornos verstand, wie sehr die Filmaufnahmen ins Detail gingen.

„Schon mal Gras geraucht?“, fragte er, als ich den Verlauf gelöscht hatte.

„Nein“, antwortete ich und sah, dass er begann, einen Joint zu drehen.

„Dann wird es aber Zeit. Bist doch schon siebzehn.“

„Und was passiert dann mit einem?“ Ich kam mir naiv vor, total unreif, während Toni seinen Joint drehte. Ich sah dabei in seine Augen, die mich auf geheimnisvolle Weise faszinierten. Das eine war grün, das andere grau. Ob das vom Kiffen kam?

„Hol mal Feuer!“

In meiner Schublade kramte ich nach einem Feuerzeug und reichte es ihm. Er hatte seinen Joint fertig gedreht und zündete ihn an.

„Aber die riechen das doch“, wandte ich ein.

„Deine Väter? Die sind genauso verblendet wie meine Alten. Wenn sie es wirklich rausbekommen, dass du kiffst, werden sie es unter den Teppich kehren. Meine Alten müssen es auch längst wissen. Meine Alte wäscht ja meine Klamotten, sie muss das längst gerochen haben, es sei denn, ihr Geruchssinn ist mit ihrem Gehirn völlig abgestorben.“

Toni hatte eine große Klappe, aber mich erschrak immer wieder, wie gehässig er über seine Eltern sprach. Er zündete sich den Joint an. Der Geruch von verbranntem Papier stieg in meine Nase, appetitlich fand ich das nicht. Toni schloss seine verschiedenfarbigen Augen, steckte sich den Joint zwischen seine trockenen Lippen und inhalierte den Qualm. „Hammergeil, ey! Ist besser als Sex! Isso!“

Ich nahm den Joint in meine Hand und betrachtete das rauchende Teil eine Weile.

„Los, schieb ihn rein!“

Ich öffnete meine Lippen und schob den Joint vorsichtig rein. Toni nickte mir ermunternd zu. Ich atmete leicht an und musste sofort husten. Ein ekelhaftes Kratzen belegte meinen Rachen.

„Ihr Anfänger!“, sagte Toni genervt und riss mir den Joint aus der Hand. „Bist wohl auch noch Jungfrau. Kiffen ist wie Sex. Hast du schon mal mit jemandem Sex gehabt?“

Ich lief rot an.

„Also ja oder nein?“

„So halb.“

„Halb? Ist er nicht steif geworden? Wie habt ihr's gemacht?“ Toni nahm einen tiefen Zug seines Joints. Es dauerte mehrere Sekunden, bis der hellblaue Dampf durch seine Nase wieder rauskam.

„Also?“, hakte er nach.

„Sie hat mir einen runtergeholt.“ Mann! Wieso erzählte ich ihm das? Gut, dass ich keine Namen nannte. Ich hatte eine komische Beziehung zu Jasmin. Wir waren verliebt, aber nie richtig zusammen, hatten nie Händchen gehalten, aber unsere nackten Körper kannten wir gut.

„Wer?“

Nein, darauf bekam er keine Antwort. Er reichte mir den Joint wieder, doch ich lehnte ihn ab.

„Okay, du bist loyal. Aber warum habt ihr nicht richtig gefickt? Bist du nicht aufgeklärt worden?“ Toni grinste gehässig, langsam ging er mir echt auf die Nerven.

„Doch, klar, Mann!“

„Aber? Ach ja, du hast ja schwule Väter. Die erzählen dir wohl nur etwas vom Schwänze blasen.“

„Hey! So redest du nicht über sie!“, fauchte ich ihn an.

„Ist ja gut, ist ja gut! Sorry! Sollte nur ein Witz sein.“

„Ich lach dann später.“

Toni nahm weitere Züge seines Joints und als er ihn endlich fertig geraucht hatte, legte er sich samt seinen Turnschuhen auf mein Bett.

„Hast du sie schon mal beim Sex erwischt?“, fragte er und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf.

„Na ja … Beim Vorspiel. Wenn Nicolas nackt die Küche putzt, dann … also, das geht dich eigentlich gar nichts an!“ Mann, ich war ein Idiot! Wieso musste ich eigentlich immer eine ehrliche Antwort geben?

„Geil! Das lasse ich meine Freundin später auch machen! Wird er dabei auch ausgepeitscht?“

„Nein!“ Mann, was Toni für Vorstellungen hatte!

„Trotzdem geil! Nicolas könnte mir auch gefallen …“

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Begann er gerade für ihn zu schwärmen? Ich versuchte das Thema auf ein neues Computerspiel zu lenken, doch darauf ließ sich Toni nicht ein. Er fing an von Ameisen zu sprechen, die an der Wand hochkrabbelten. Ich sah nichts, kein einziges Insekt in meinem Zimmer. Doch er beharrte darauf, dass da Ameisen wären.

„Da sind keine Ameisen!“

Ein lautes Auflachen folgte, das sich rasch in ein Wimmern verwandelte und dann in Weinen überging. Tränen rannen über Tonis Gesicht. Am liebsten hätte ich Nicolas geholt, ich wusste nicht, was ich mit Toni machen sollte. Nach ein paar Minuten torkelte er durchs Zimmer, völlig orientierungslos.

 

Das Kiffen hatte Toni längst aufgegeben. Ob er andere Drogen genommen hatte, weiß ich nicht. Der philosophische Toni war mir jedenfalls lieber als ein Freund, der mir immer Zeug zum Probieren geben wollte und mir peinliche Fragen stellte.

„In eurem Alter habe ich mich mit anderen Dingen beschäftigt, als mit Sinnfragen“, sagte Nicolas.

„Ja, wahrscheinlich hast du Tag und Nacht Rezepte abgeheftet.“ Das war zu viel, das sah ich an seinem beleidigten Gesichtsausdruck. Über seine Leidenschaft, Pralinen zu machen, sollte ich in Zukunft weniger Witze machen, dabei meinte ich das ja nicht gehässig oder böse.

„Am besten, du machst deine Hausaufgaben.“ Er sah mich nicht an, sondern nur auf seine Schokoladenmasse auf seiner Arbeitsplatte.

Ich hörte schnelle Schritte herantapsen. Leonies Augen wurden groß, als sie die Schokolade sah. „Darf ich ein Stück?“, fragte sie. Nicolas lächelte sie an und gab ihr ein kleines Stück Blockschokolade.

„Ich hab dich lieb, Vati!“, sagte sie, während sie kaute und mit dem Handrücken ihren mit Schokolade beschmierten Mund abwischte.

„Ich hab dich auch lieb, Kleine!“

Ich ging ohne weitere Worte nach oben.

Nicolas

Sie konnte wie ein Hündchen schauen, das man an einer Autobahn-Raststätte ausgesetzt hat und das jeden vorbeikommenden Menschen mit seinem Blick anfleht, ihm doch bitte ein neues Zuhause zu geben. Ich musste aber darauf achten, Leonie nicht zu viel Schokolade zu geben. Mir fiel das schwer, denn sie fing an zu schluchzen, wenn ich die köstliche Masse wieder im Kühlschrank verstaute. Für Leonie hieß das, dass es für heute genug war.

„Na, Nicolas“, hörte ich plötzlich Manuels Stimme. Über seine Besuche war ich sowohl erfreut als auch genervt zugleich. Ricardo und ich schätzten unseren langjährigen Freund, doch er wusste nie, wo seine Grenzen waren. Manchmal beleidigte er mich als schlechten Vater, dann versuchte er mich zu verführen. Was war mir lieber?

„Ich bin in der Küche“, rief ich. Leonie sah immer noch mit traurigem Blick zum Kühlschrank. Aber sie wagte nicht, ihn zu öffnen.

„Du solltest an der Pralinentheke stehen!“, sagte Manuel. In seiner silbernen, glitzernden Jacke wirkte er wie ein Fremdkörper in meiner Küche.

„Ja, da ist ja auch die Kleine!“ Er schritt auf Leonie zu und hob sie hoch. „Krass! Bist du schwer geworden! Füttert dich der böse Nicolas mit zu viel Schokolade?“

„Lass mich runter!“ Leonie sah Manuel böse an, der sie sofort wieder auf den Boden stellte.

„Ist ja gut, ist ja gut.“

„Ich mag dich nicht, ich mag dich nicht!“ Leonie rief diesen Satz immer wieder und lief über die Treppe in unsere Wohnung. Manuel sah ihr hinterher und schaute mich dann betroffen an. Mir war es egal, ob Leonie ihn mochte oder nicht.

„Die wird aber früh zur Zicke.“ Manuels Stimme klang vorwurfsvoll, als könnte ich etwas dafür, dass sie ihn nicht leiden konnte.

„Du kannst mit Kindern nicht umgehen ...“ Ich hätte vorher nachdenken sollen, denn ich wusste ja, wie sehr sich Manuel eine ähnliche Familie wünschte. Aber er hatte ja noch nicht mal einen Partner.

„Habt ihr Samstagabend Zeit?“ Er klang weniger betroffen, als hätte er Leonies Reaktion schon völlig vergessen. „Ich würde gerne in alten Zeiten schwelgen und schwules Flaschendrehen spielen. Und dann einen schwulen Dia-Abend machen und danach schwules Raclette.“

Ich rollte genervt mit meinen Augen.

„Was ist?“, fragte er nun leicht hysterisch.

„Warum ist bei dir alles schwul?“

„Weil ich nur schwule Männer eingeladen habe. Alles Singles, die sich besser kennenlernen sollen. Ich will ganz viele Typen verkuppeln.“

„Warum lädst du uns dann ein?“

„Weil ihr meine allerbesten Freunde seid.“ Manuel verstand es wirklich, mich zu nerven. Er hatte es nötig, uns immer wieder klarzumachen, dass wir alles für ihn seien. Und genau das ging mir sehr auf die Nerven.

„Wir kommen nicht“, sagte ich direkt. „Wir gehen mit Leonie ins Kino, das haben wir ihr schon seit Wochen versprochen.“

Manuel schaute auf meine Arbeitsplatte und nahm sich ein Stückchen Schokolade. „Okay. Wenn ich euch nicht mehr wichtig bin, dann sag es direkt.“ Er klang beleidigt, aber ich wusste, dass alles nur Inszenierung war.

„Und die Big-Gay-Party übernächste Woche? Da kommen Stripper.“

„Nein!“, erwiderte ich. „Aus dem Alter sind Ricardo und ich raus. Wir haben keine Lust mit depressiven Singles über das schwermütige schwule Leben zu reden und uns anzuhören, wie oberflächlich die Szene ist und so. Deine Freunde und du redet doch sowieso nur über Sex und Partys.“

„Ist vielleicht abendfüllender als über Pralinen zu reden.“ Manuel drehte mir prompt den Rücken zu und ging. Eine Weile danach fragte ich mich, ob ich wieder einmal zu fies zu ihm war und woran es lag, dass ich immer öfter mit Manuel aneinandergeriet. Dass wir nun eine Familie waren, die anderes zu tun hatte, als sich über die kohlensäurearmen Getränke auf Gay-Partys auszulassen, wollte er nicht verstehen. In seinen Augen hatten wir uns zum Nachteil entwickelt, wie er betonte. Wir waren nun Spießer, echte Spießer. Ricardo schmunzelte darüber, mich ärgerte das. Manuel hatte keinerlei Ahnung, was es hieß, sich Tag und Nacht um einen pubertierenden Jungen und ein kleines Mädchen zu kümmern, das sich an die neue Umgebung noch gewöhnen musste. Und darüber hinaus mussten wir uns auch noch um Toni kümmern …

 

Toni … Als er zum ersten Mal mit Julio zu uns nach Hause kam, hatte er trockenen Matsch unter seinen Schuhsohlen verloren, in regelmäßigen Abständen. Er grüßte Ricardo und mich in der Küche nur mit einem stummen Nicken und sah uns nur flüchtig an, als könnte er uns nicht in die Augen sehen. Ich wartete schon auf eine Bemerkung meines Mannes, doch er hielt sich zurück. Ich schlug vor, eine Kleinigkeit für uns vier zu kochen, so dass wir beim Essen Julios neuen Freund besser kennenlernen konnten.

Ricardo bereitete Zwiebelschnitzel zu und schob ein Blech Pommes in den Backofen. Unterdessen stellte ich eine kleine Mischung aus verschiedenen Pralinen für den Nachtisch zusammen. Bevor ich bei Julio anklopfte, presste ich mein Ohr an die Zimmertür. Just in diesem Moment riss er die Tür auf und ich sprang einen halben Meter zurück, als hätte ich einen Stromstoß bekommen.

„Wie lange stehst du schon da?“, fragte er und schnupperte. „Habt ihr gekocht?“

„Ja, haben wir“, antwortete ich und umging seine erste Frage. „Mögt ihr mitessen?“

„Toni“, rief Julio in das verdunkelte Zimmer. „Hast du Hunger?“

„Wenn's was Gutes gibt, ja!“

Toni saß mir beim Essen direkt gegenüber und mir fiel auf, dass er verschiedenfarbige Augen hat. Mir gefiel allerdings nicht, dass er die Griffe seines Bestecks wie einen Hammer umfasste, ich sagte aber nichts dazu. Dass er die Pommes mit den Fingern aß, war sowieso salonfähig in seinem Alter.

„Schmeckt's euch?“, fragte Ricardo. Toni hörte plötzlich auf zu kauen und sah Ricardo mit einem bedrohlichen Blick an.

„Ja, aber die Pommes sind schlabbrig“, antwortete Julio, während Toni weiter aß.

„Habe sie ein wenig zu früh aus dem Backofen geholt“, gestand ich. „Dafür gibt es aber gleich leckeren Nachtisch.“ Ich überlegte einen Moment, etwas mehr aus Toni herauszulocken. „Magst du Pralinen, Toni?“ Er hob seinen Kopf und schaute mich nur an, zwar nicht so grimmig, wie er eben meinen Mann angesehen hatte, aber auch nicht freundlich. Mich regte dieser schweigende Teenager auf. „Ich bin übrigens Nicolas“, sagte ich. „Wir haben uns ja noch nicht vorgestellt.“

„Schön“, sagte er völlig desinteressiert und zerschnitt sein Schnitzel, als müsste er Wut ablassen. Für einen Moment bereute ich, ihm ein Messer gegeben zu haben. Ricardo sah mich an, dann Julio, der Tonis Verhalten ignorierte. Ich legte mein Besteck beiseite, als ich fertig war und holte die Schüssel mit den Pralinen aus dem Kühlschrank.

„Ein originellerer Nachtisch fällt dir in diesem Leben nicht mehr ein, was?“, fragte Ricardo gehässig. Ich knallte die Schüssel in die Mitte des Tisches. Toni wischte sich mit seiner Serviette den Mund ab und lief plötzlich ins Bad.

„Hat er ein Problem?“, fragte Ricardo leise an Julio gewandt.

„Keine Ahnung“, antwortete Julio.

„Komm, jetzt red du wenigstens mit uns, wenn er schon die Klappe nicht auf bekommt. An mangelndem Selbstbewusstsein kann es bei ihm nicht liegen.“

Ich stand auf, beschloss, Toni vor dem Badezimmer abzufangen, um unter vier Augen mit ihm zu reden. Die Tür des Bades stand einen Spalt offen und ich sah, dass Toni mit hochgekrempeltem Pullover vor dem Spiegel stand. Seine Arme waren von roten, dünnen Strichen übersät. Mir war die Situation auf einmal zu heikel, ich verschwand schleichend wieder und setzte mich in die Küche. Als Toni wieder dazu kam, bot ich ihm an, die Pralinen zu kosten. Er nahm eine und steckte sie in den Mund.

„Spielen wir jetzt weiter?“, fragte er kauend.

Julio stand auf und die beiden verschwanden in seinem Zimmer.

 

„Nicolas?“ Ricardos Stimme lenkte mich ab. „Bist du anwesend?“

„Ja, wieso?“

Ricardo warf mir den Autoschlüssel klirrend in eine leere Porzellanschüssel. „Ich hab dich hundert Mal gerufen.“

Ich sah den Schlüssel, dann ihn fragend an.

„Dein Part! Du kannst Julio gerne das Autofahren beibringen, ich bin dazu ja wohl nicht imstande. Ich bin ja hier überflüssig.“

Am liebsten hätte ich ihm den Schlüssel in sein Gesicht geknallt. Es war wieder so ein Tag, an dem er seinen Frust an uns allen auslassen wollte. War er nun so gekränkt, dass Julio lieber mich als Beifahrer bevorzugte? Ich fand, dass das sogar abzusehen war, aber das behielt ich besser für mich.