Alois Theodor Sonnleitner


Die Höhlenkinder im Pfahlbau



Zweiter Band der "Höhlenkinder - Trilogie"

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-945667-89-7


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Dreiunddreißigstes Kapitel - Versöhnung



Als Peter erwachte, fand er sich auf seinem gewohnten Lager, bis zum Hals zugedeckt mit einer Bastmatte, die mit weichem Rehfell gefüttert und am Rande sauber umnäht war. Schwer lag sein Kopf auf einem Polster aus zusammengenähten Buchenschwammlappen. Das Morgenlicht fiel durch die offene Fensterluke in seine Stube, die ihm heute viel geräumiger erschien als sonst. Leuchtende Sonnenstäubchen tanzten im schrägen Strahlenbündel. Im warmen Lichtfleck auf dem Fußboden schlief die alte Einäugel und zuckte mit den Pfoten. Sie träumte wohl von fröhlicher Jagd. Mitten in der Stube lag Schnapp und nagte am Knorpelkopf eines Röhrenknochens.

Langsam ließ Peter seine Blicke durch den Raum schweifen. Der Lehmboden war reingefegt, das Durcheinander seines Allerleis, über das er sonst ungerührt stolperte, war verschwunden. Hölzer, Steine, Metallklumpen, Scherben und Knochen lagen, Gleiches bei Gleichem, zu Haufen geordnet, an der Wand. Neben seinem Lager stand ein großer, rostfarbig glasierter Napf; und in der Ecke am Fußende seines Lagers lehnte sein Jagdgerät.

Eva hatte hier aufgeräumt wie einst in der Wohnhöhle. Wo war sie? Er versuchte, sich auf den Ellbogen aufzurichten. Ein qualvolles Zerren und Spannen in den Oberarm- und Brustmuskeln ließ ihn stöhnend zurücksinken. Er war ja verwundet. Ja, der Bär hatte ihn unter sich gehabt. Da schob er trotz der Schmerzen, die ihm jede Bewegung verursachte, die Bastmatte von seiner Brust. Und da fand er sie beklebt mit Lappen aus Buchenschwamm, die nach Fichtenharz dufteten. Matt schloß er die Augen und lauschte dem leisen Schlag der Wellen, die ein sanfter Wind gegen die Pfähle der Hütte trieb. Wie hatte Eva ihn nur heimgeschafft? Seine Gedanken verwirrten sich, er schlief wieder ein, und im Traume sah er sie hochaufgerichtet am Vorderende des Floßes stehen und fühlte sich sanft gewiegt vom ab und auf wippenden Floß.

In Wirklichkeit kniete Eva am Kopfende seines Lagers. Mit angehaltenem Atem hatte sie das Erwachen und Wiedereinschlummern des Verwundeten beobachtet. Jetzt schlich sie auf den Zehenspitzen aus dem Raum, melkte die Ziege und näherte sich wieder dem Lager des Kranken. Lautlos stellte sie die Milchschüssel auf den Boden und kniete am Kopfende nieder. Erst wollte sie abwarten, bis Peter wieder erwachte, als er aber im Schlaf unruhig wurde und, mit schwerer Zunge lallend, angstvoll ihren Namen rief, da beugte sie sich über ihn und strich ihm die langen schwarzen Haare aus der Stirn. Ein Zittern lief über den Körper des Schlafenden, seine Augenlider flatterten, als wollten sie sich öffnen, dann wurde er wieder ruhig. Geduldig kauerte Eva neben dem Lager des Träumenden. An der Genesung des Verwundeten zweifelte sie nicht. Als sie eine Fliege verjagte, die sich auf Peters Stirn niedergelassen hatte, versuchte er von neuem, die Augen zu öffnen. Es gelang. Sein Blick fiel auf Eva, die errötend und lächelnd vor ihm stand. "Eva, bis du's?" begann er zu flüstern, "jetzt ist alles gut!" Da sagte sie leise: "Ja, Peter, alles ist gut, und ich bin dir auch gut." Sie umklammerte seine Rechte mit beiden Händen und fuhr eindringlich fort: "Verzeih du mir, ich verzeihe dir alles, alles, und nichts mehr soll zwischen uns kommen; was mein ist, sei dein, was dein ist, sei mein. Ich danke dir mein Leben, und du dankst mir dein Leben. Wir sind die einzigen Menschen im Heimlichen Grund, und wir wollen einander liebhaben bis zum Tode. Hörst du, bis zum Tode!" Große Tränen rollten über Peters Wangen in den weichen, dunklen Bart. Er preßte ihre Finger und sprach nach: "Ja, bis zum Tode."

Müde schloß er die Augen. Sie aber zog die Milchschale heran, schob ihren linken Arm um Peters Nacken, hob seinen Kopf und führte mit der Rechten vorsichtig den bis zum Rand gefüllten Löffel an seine Lippen. Er schlürfte die noch laue Milch. In Evas Art, ihn zu betreuen, lag so viel mütterliche Zartheit und Strenge, daß er dankbar nachgab.

Als Peter satt die Lippen schloß und Eva den müde gewordenen Arm unter seinem Nacken hervorzog, sank er in tiefen Schlaf und träumte seit vielen, vielen Jahren zum erstenmal wieder von seiner Mutter. Wie seltsam, daß sie Evas Züge trug! Leise schlich seine Pflegerin aus der Stube, frisches Futter für die Scheckin zu holen.

Als sie wieder eintrat, fand sie Peter bewußtlos neben der Falltür in der Mitte der Stube. Bei ihrem Versuch, ihn aufzurichten, kam er zu sich und verlangte heftig, sie solle gehen, fort, fort, und den Bären suchen, der ihm die Kraft aus dem Leibe genommen hatte. Das Herz des Bären wolle er haben, essen wolle er es; darin waren ja die Kräfte des starken Feindes.

Eva, die den Aberglauben des Verwundeten teilte, beeilte sich, seinen Wunsch zu erfüllen. Aber erst nachdem sie Peter zu Bett gebracht hatte, konnte sie den Pfahlbau verlassen. Es kostete sie schwere Mühe, das dicke Fell des Bären zu schlitzen und seinem Brustkorb das Herz und die Lunge zu entnehmen. Das Abhäuten mußte sie auf den nächsten Tag verschieben. Während sie über die abendliche, mattleuchtende Fläche des Moorsees heimwärtsfuhr, war ein großer Jubel in ihr. Sie brachte ja das Heilmittel, das Peter seine Kraft zurückgeben sollte. Und sie überlegte, wie sie das Herz des Bären feingeschnitten mit Gundelkraut, wildem Kümmel, Salz und Schwadenkornschrot zubereiten und in duftender Tunke ihm vorsetzen wollte.

Als sie mit der Ampel an Peters Lager trat, schien er sie gar nicht zu sehen. Seine glänzenden Augen schauten an ihr vorbei, seine Wangen glühten, und seine Lippen murmelten Unverständliches. Während Eva das Bärenherz zubereitete, suchte ihre angstgepeinigte Seele Zuflucht bei der Ahnl und beim Allmächtigen.

Als sie mit dem Essen an Peters Lager trat, kehrte sein Bewußtsein zurück. Während er noch am ersten Bissen kaute, mahnte er: "Iß auch du, Everl, und gib der Einäugel was und auch dem Schnapp. Wir alle brauchen es." Dann wurde er still und schlief lächelnd ein. Evas Nähe tat ihm wohl.

Sie wachte die ganze Nacht am Lager des Kranken. Und während sie seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschte, erstarkte ihre Zuversicht, daß er in ihrer Obhut gesunden werde. Auf die stillen Wochen, in denen der Genesende ihrer Fürsorge bedurfte, baute sie die Hoffnung, daß es ihr gelingen werde, ihn so zu machen, wie sie ihn haben wollte.

Und dann, wenn er gesund war, wollte sie ihn ins Heiligtum ihrer alten Wohnhöhle führen. Dort wollte sie vor Gott feierlich das Gelöbnis wiederholen, das sie beide nicht mehr vergessen sollten: "Wir wollen einander gut sein bis zum Tode."

 

 

Inhalt




Erstes Kapitel - Peter und Eva, die Höhlensiedler

Zweites Kapitel - Opfergaben

Drittes Kapitel - Lenz

Viertes Kapitel - Der Bastgürtel

Fünftes Kapitel - Flechtnadel

Sechstes Kapitel - Steinkocherei

Siebentes Kapitel - Der Feuerbohrer

Achtes Kapitel - Das Sonnenbild

Neuntes Kapitel - Sonnwendfeuer

Zehntes Kapitel - Salzkammer

Elftes Kapitel - Brunnstube

Zwölftes Kapitel - Die Überschwemmung der Höhle

Dreizehntes Kapitel - Die Nestsiedler

Vierzehntes Kapitel - Der Pfahlbau des Rohrsängers

Fünfzehntes Kapitel - Gold!

Sechzehntes Kapitel - Zelt, Erdstube und Fahrbaum

Siebzehntes Kapitel - Schlangen in der Erdstube

Achtzehntes Kapitel - Pfahlbau im Moor

Neunzehntes Kapitel - Gebrannte Tonscherben

Zwanzigstes Kapitel - Webstuhl und Quirlbohrer

Einundzwanzigstes Kapitel - Peters Töpferei

Zweiundzwanzigstes Kapitel - Tauschhandel

Dreiundzwanzigstes Kapitel - Holzkohle und Blasebalg

Vierundzwanzigstes Kapitel - Ampel und Wirtel

Fünfundzwanzigstes Kapitel - Gebläse-Ofen

Sechsundzwanzigstes Kapitel - Mißlungener Bronzeguß

Siebenundzwanzigstes Kapitel - Steinschleuder und Bronzebeil

Achtundzwanzigstes Kapitel - Die Fuchshündin

Neunundzwanzigstes Kapitel - Bläff, der Haushund

Dreißigstes Kapitel - Die Wildgeiß in der Fallgrube

Einunddreißigstes Kapitel - Ziegenmilch

Zweiunddreißigstes Kapitel - Gold, Lüge, Leid

Dreiunddreißigstes Kapitel - Versöhnung

 

 

Erstes Kapitel - Peter und Eva, die Höhlensiedler



Als mächtiger Feuerball stieg die Sonne an diesem Wintermorgen hinter dem breiten Massiv des Monte Cristallo empor, dessen Zinnen und Zacken in ihrer Lichtflut lagen. Fern im Westen glühten die eisgekrönten Hochgipfel, und das tieferliegende Bergland zwischen der Sonne und den Eisfeldern, die ihr Licht zurückwarfen, lag unter einem wallenden Nebelmeer.

Als die Sonne über dem Monte Cristallo stand, tauchten im Norden die Kuppen des Urgebirges, im Süden die Schroffen des wetterzerrissenen Dolomitkalks auf. Zwischen ihnen strömten, sich schiebend und drängend, die Nebel hin, getrieben vom Morgenwind. Als Wolkenfetzen stiegen sie an Halden und Wänden empor, lösten sich von den Firnen der Berge und verflüchtigten sich in der Wärme der Sonne.

Inmitten der hellen Firnfelder war ein fast viereckiger Nebelsee eingebettet, der einen tiefen Einsturzkessel füllte: den Heimlichen Grund, gemieden von Deutschen und Welschen, da so mancher von ihnen vom Steinschlag in der Klamm getötet worden war. Diese Klamm war der einzige Zugang zu der abgeschlossenen Stille des Heimlichen Grunds. Damals, als die Menschen noch an Hexen glaubten, wähnte das Volk, daß hier böse Mächte ihr Spiel trieben; niemand wagte sich durch die Klamm. Für Peter und Eva war die Furcht der anderen ein Schutz.

Höher stieg die Sonne, der Nebel begann an den in ihrem Lichte liegenden Klammwänden emporzuschweben. Als sie über dem Winkel zwischen den Salzwänden und den Grabwänden stand, wurden Moorleiten und Südwand frei. Zähe hafteten die Nebelmassen im wipfelreichen Urwald, der am rechten Klammbachufer den Salzwänden vorgelagert war.

Das Feuer in Peters Wohnhöhle war im Laufe der Nacht niedergebrannt, aber noch sandten die klobigen Steine, die die Feuerstelle umgaben, gelinde Wärme aus. Peter lag in seiner Schlafgrube, tief eingewühlt in die dicke Moosschicht über der Reisigunterlage, das Fell des besiegten Bären auf sich. Das ungewisse Dämmerlicht des Wintermorgens drang nur spärlich durch die Lichtluken im Brennholz, das zwischen der grobgefügten Schutzmauer und der Wölbung des Höhlentors verstaut war. Es störte den Schlaf des jungen Menschen nicht. Der hatte ja am Vortag schwere Arbeit getan. Vom glimmenden Buchenschwamm, der als Gluthalter in der Asche lag, kräuselte dünner Rauch zum Trockenboden hinauf, umzog einige dort aufgehängte Speckseiten und drang durch die dichten Lagen der Tannenreiser, die sich unter der Last angehäufter Vorräte bogen. Dann entwich er mit der Warmluft teils durch die kleine Öffnung in der Höhlendecke nach der großen Grotte im Berginnern, teils zog er durch den schrägen Gang an Peters Schlafgrube vorbei zur höher gelegenen Wohnhöhle Evas. Auch sie schlief noch unter ihrer Decke aus Rehfellen. Ihr Kopf lag auf dem mit Moos ausgestopften Hasenbalg; ihre Hände waren vor dem Mund gefaltet.

In Peters Höhle wurde es kalt. Prickelnd drang der Nebel in seine Nase. In dem gebräunten Gesicht zuckte es. Mit einem kräftigen "Haptschi!" erwachte Peter und strich sich die langen, dunklen Haare aus der Stirn. Widerwillig kroch er unter der Bärendecke hervor, stieg über den quer in der Höhle liegenden Steigbaum, den er abends zuvor hereingenommen hatte, stocherte die Glut unter der Asche auf und legte dürre Föhrenzweige und Prügelholz darauf. Dann kroch er noch einmal in sein warmes Nest zurück und ließ die Ereignisse jüngst vergangener Tage an sich vorüberziehen: wie er den Bären unten an der Fleischgrube getötet hatte, den Bären, dessen Fell ihm jetzt als Decke diente.

Auch das Feuer fiel ihm wieder ein, wie sie es gefunden, heimgebracht, gepflegt und genährt hatten, daß es nicht mehr ausging. Ja, viel haben wir erlebt und geschafft, dachte Peter.

Duft und Wärme des Feuers stiegen auch zu Eva empor und ließen sie von Dingen träumen, die viel, viel weiter zurücklagen als Peters Erlebnisse. Im Traum wurde längst Vergangenes zur Gegenwart. Sie war wieder die kleine Eva, die mit den Püppchen aus Galläpfeln, Eicheln und Rosengallen spielte. Plötzlich stand der Knecht des Kohlbauern bei der Großmutter, der Ahnl, und flüsterte ihr mit heiserer Stimme ins Ohr: "Stoderin, wahr' dich beizeiten, die vom Gericht steigen durch die Geierwänd' auf; sie wollen dich verbrennen, als Hex'." Und dann erlebte Eva wieder die hastige Flucht durch Wald und Nacht. Sie sah den Ähnl stürzen, begraben vom Steinschlag in der Klamm; sie fühlte die ziehende Hand der Ahnl, die mit ihr und Peter dem Heimlichen Grund zustrebte; sie sah die müde alte Frau einschlafen unter dem überhängenden Stein und wollte sie wachrütteln, aber die Ahnl war tot. Dann ging Eva mit Peter über das Steinfeld, den Klammbach aufwärts. Gewitterschwüle lagerte in dem von Felswänden umgebenen Kessel des Heimlichen Grunds. Ein Blitz fuhr hernieder und traf die Wetterfichte am Sonnstein. Im Klammbach, der den Felsen umfloß, spiegelte sich die flammende Lohe. Eva und Peter schwangen brennende Äste und trieben zwei mächtige Bären vor sich her quer über das Steinfeld den Südwänden zu. Dann gingen sie einträchtig bachaufwärts und lagerten die Feuerbrände auf den Boden der unteren Höhle.

Peter verspürte Hunger. Er stand auf und wusch sich im Wasserkorb. Dann ritzte er einen neuen Tagstrich über seinem Lager in die Felswand, schnitt mit dem Steinmesser eine Handvoll Kastanien auf und legte sie zwischen die glimmenden Holzkohlen an den Rand des Feuers. Der Duft ihrer Lieblingsspeise weckte Eva. Nachdem sie vor den Ahnenbildern Zwiesprache mit Gott und den guten Heimgeistern gehalten hatte, ordnete sie ihren Lendenschurz und den Schultermantel, die sie während des Schlafes zerknittert hatte. Auch sie wusch sich in ihrem Wasserkorb, fuhr sich mit ihrem groben Kamm aus angekohlten und zurechtgeschliffenen Holzstäbchen durch das Haar, legte das Stirnband an und stieg durch den Gang zu Peter hinunter. Beim Frühmahl sprach er von der Tagesarbeit, die er ihr zugedacht hatte. Das gestern gesammelte Holz müsse zum Trocknen um die Feuerstelle geschichtet werden; das Gedärm des Bären sei zu reinigen und zu spannen. Nichts, aber auch nichts dürfe verloren gehen. Er selbst mußte wieder Holz holen, bevor es zu tauen begann.

Fast den ganzen Tag verbrachte Eva allein bei der Arbeit. Beim Wenden und Spülen des Gedärms verdroß es sie nicht wenig, daß Peter ihr gern Arbeiten zuschob, die ihm zuwider waren. Erst als sie mit Aschenlauge und Lehm die Hände gesäubert, allen Abfall durch den Müllschacht hinausgefegt und in der Höhle aufgeräumt hatte, schwand ihr Zorn. Sie sagte sich, daß Peter draußen härtere Arbeit verrichtete als sie daheim. Nun, dafür sollte er auch etwas Ordentliches zu essen bekommen. Sie schlitzte mit dem Steinmesser ein Stück gesalzenes Bärenfleisch und tat Speck, Bergsaturei und Lauch hinein. Nun konnte der Braten gedeihen!

Gerade als die Mahlzeit bereit war, hörte sie Peter mit seinem Schlitten heranstapfen. Als er, noch immer schwer atmend, über den Steigbaum herauf in die Höhle trat, beeilte sie sich, ihm mit dem Föhrenbesen den Schnee von der Fellkleidung zu streifen und ihm die durchnäßten Fellwickel von den Füßen zu lösen. Peter fiel, wie immer, wenn er von der Außenarbeit kam, über das Essen her, daß ihm das Fett vom Kinn tropfte. Beide aßen um die Wette, bis nur noch abgenagte Knochen dalagen, während die zum Nachtisch bestimmten Kastanien in der Glut hüpften. Je dunkler es draußen wurde, um so behaglicher wurde es in der hell erleuchteten, warmen Höhle.

Zweites Kapitel - Opfergaben



Wie früher im Sommer und Herbst, als Peter und Eva Blumen und Früchte auf das Grab der Ahnl gelegt hatten, so opferten sie zur Winterszeit in der oberen Grotte vor den Bildstöcken der Ahnen vom Besten, das sie besaßen. Und merkwürdig, was sie am Abend geopfert hatten, das war am nächsten Morgen verschwunden. Ein freudiges und zugleich unheimliches Gefühl, halb Andacht, halb Furcht bemächtigte sich der Höhlensiedler. Nun waren sie fest davon überzeugt, daß die Geister ganz nahe bei ihnen waren als Zeugen ihres Tuns und Lassens, als Helfer in Nöten und Beschützer in Gefahren.

Peter, den die Sorge um das Brennholz zu immer längeren Wanderungen zwang, überließ die Pflege des kleinen Heiligtums der stillen Eva. Halbe Tage lang kauerte sie vor dem Herdfeuer, entkernte Bucheckern oder versuchte, das noch immer nicht durchlochte Steinbeil mit einem Jaspissplitter zu durchbohren.

Der Kampf um das tägliche Brot und die Zeit, die vergangen war, hatte aus dem Knaben Peter einen jungen Mann gemacht. Auch Eva war kein Kind mehr, sondern ein nachdenkliches junges Mädchen, das oft vor sich hinsann. Aber das Heim vernachlässigte sie nie, nicht das Herdfeuer, nicht die Heiligtümer. Je mehr ihre Seele mit den Geistern der Ahnen sprach, um so selbständiger wurde sie, auch Peter gegenüber. Sie dachte nicht mehr daran, bei jedem Splitter, den sie sich eingezogen hatte, seine Hilfe zu suchen. Solches und andere kleine Leiden machte sie mit sich allein ab. Wenn sie sich nicht gesund fühlte, bereitete sie auf gut Glück eine Arznei aus gesammelten Heilkräutern, wie sie es oft von der Ahnl abgeguckt hatte, und betete zum Schöpfer, daß er ihr helfe.

Als im Laufe des Winters nicht nur die Opfergaben, sondern auch manche Mahlzeitreste über Nacht verschwanden, glaubten die Höhlenmenschen allen Ernstes, Berg- und Waldgeister seien die Diebe. In einer lauen Nacht aber entdeckte Peter zwei Mäuse, die an einem saftigen Knochen nagten. Von da an fing er sie in Fallen, das waren schräg aufgestellte Steinplatten, die er mit Holzstäbchen abstützte. Die Fettbrocken, die er daran band, dienten als Lockspeise.

Langsam gingen die Wochen des Nachwinters dahin; Schneestürme tobten, naßkaltes Tauwetter setzte ein, gefolgt von Frost und Eis, es war eine wechselvolle, unbehagliche Zeit. An Tagen, wo das vom Fels tropfende Wasser vor dem Höhlentor einen starren Vorhang aus Eiszapfen bildete, fühlten sich die jungen Menschen wie abgeschieden von der Außenwelt. Sie sehnten sich nach wärmeren Tagen. Ihre Blicke richteten sich zum Himmel, und sie lernten, auf seine Zeichen zu achten. Daß die Zeit fortschritt, merkten sie am auffälligsten daran, wie der Mond wuchs und abnahm, verschwand und wieder erschien, und wie die Sonne beim Untergehen täglich ein wenig von der Stelle wegrückte, wo sie am Vortag untergegangen war. Sie sank nicht mehr hinter dem Horn hinab, sie kam Tag für Tag näher an die Henne heran, den merkwürdigen Berggipfel über den Klammwänden, hinter dem sie im Herbst untergegangen war. Der Weg, den sie jetzt tagsüber am Himmel beschrieb, wurde länger und so auch die Dauer der Tageshelle. Vom Eisvorhang vor dem Höhlentor fiel Zapfen um Zapfen klirrend ab.

Die gelben Knospen des kleinen Winterlings hoben sich aus dem vermoderten Laub unter dem Gebüsch, ja, schon durchbrachen sie da und dort die dünn gewordene Schneedecke. Und bald darauf schoben sich die weißlichen Blüten des Frühlingskrokus aus moosigem Wiesengrund ans Licht.

In den lauen Nächten schallte aus dem Dunkel des Waldes das jammervolle Miauen der Wildkatzen und das unheimliche Paarungslied der großen Waldohreulen. Der dröhnende Donner stürzender Schneelawinen, das Prasseln und Knattern der Steinschläge steigerten die Einzugsmusik des Frühlings zu wildem Festgetön.

Immer häufiger wurden die föhnigen Tage, an denen es wegen der Lawinenstürze nicht ratsam war, auszugehen. Da arbeiteten die Höhlenbewohner in ihrem Heim. Peter, dessen Bärenfell von Tag zu Tag unangenehmer roch, entschloß sich endlich, es mit Aschenlauge zu reinigen, mit Salz und Lehm einzureiben, es zu räuchern und dann durch Klopfen und Dehnen geschmeidig zu machen. Den Schädel des Bären hatte er über dem Höhlentor neben dem Geierbalg befestigt. Nur die mächtigen Eckzähne hatte er ihm ausgebrochen und durchlöchert; nun trug er sie an einer Darmsaite um den Hals. Das Fleisch hängte er in die Räucherkammer; die meisten Knochen aber kamen ins Allerlei. Der Salzvorrat ging zur Neige. An einem frostklaren Morgen unternahm Peter den unaufschiebbaren Aufstieg zur Salzlecke des Steinwildes. In halber Bergeshöhe blieb er ausruhend stehen und sah in die Tiefe zurück. Ihm schien, als teilte das noch eisgesäumte Rinnsal des Klammbaches den Talgrund in zwei Reiche: links, soweit der blaue Schatten der Grableiten reichte, glanzlos überreifte Nadelholzbestände und das Steinfeld mit seinen reifüberhauchten fahlen Gräsern, Disteln und Karden, rechts die besonnte, im ersten Grün prangende Heide, der Urwald und die knospenden Laubbestände unter der Südwand. Die flimmernde Talsohle stieg drüben zur Hochfläche des Moores an, hinter dem sich das glänzende Grau des Glimmerschiefers scharf von aufgelagerten, rot und weiß leuchtenden Marmorschichten abhob. Und fern über den Klammwänden ragten eisgekrönte Berggipfel in den hellblauen Himmel hinein, jene Gipfel, an denen die Höhlenmenschen das Weiterrücken der Sonne abschätzten: gegen Mittag das Winterhorn, im Abendrot die Henne und gegen Mitternacht der Sommerspitz.

Ein sonderbares Knattern von der Salzlecke herüber ließ Peter zusammenzucken. Dort fochten zwei Steinböcke ungeachtet des schmalen Standplatzes einen Zweikampf aus, der damit endete, daß eines der Tiere kopfüber die steile Wand hinabstürzte. Beim ersten Geräusch, das Peter mit seinem Bergstock verursachte, verschwand der siegreiche Bock in der Wand. Nach einer lebensgefährlichen Kletterei über vereiste Stellen langte Peter mit zerschundenen Knien und blutenden Händen an der Salzwand an und füllte ein Rehfell zur Hälfte mit dem kostbaren Gewürz. Dann suchte er auf Umwegen die Stelle der Schutthalde auf, wo der gestürzte Bock mit gebrochenem Rückgrat tot zwischen Steinblöcken lag. Mühsam schleifte er erst den Bock, dann den zurückgelassenen Salzschlauch heim. Eva war nicht da.

Als er den neuen Salzvorrat in harzgedichteten Körben untergebracht hatte, kam sie. Flüchtig sah sie Peters Ausbeute an und hielt ihm einen Strauß Winterlinge entgegen, aus dem ein blühender Seidelbast ragte: "Da schau, der Frühling ist da."

Peter mußte lächeln. "Weißt du auch, daß der Seidelbast giftig ist?"

"Wenn auch", sagte Eva, "ich geb' die Blumen der Ahnl, die hat's gern heim'bracht von ihren ersten Ausgängen nach dem Winter."

Da füllte Peter drei kleine Bockshörner mit Wasser und bat sie: "Gib auch meiner Mutter und dem Ähnl von den Blumen."

Und als die einfachen Gefäße, zwischen Steinen eingeklemmt, mit den ersten Frühlingsboten vor den Ahnenbildern standen, verharrten die Höhlensiedler eine Weile schweigend davor und gedachten ihrer Toten.

Drittes Kapitel - Lenz



Von Woche zu Woche wurde der Talgrund reicher an Blumen. Die Tage wurden länger. Als die Sonne dicht neben der Henne unterging, hatte sie den Ort wieder erreicht, an dem sie zur Zeit der Kastanienreife untergegangen war. Damals war es Herbst gewesen, jetzt war es endlich wieder Frühling. Tage und Nächte waren wieder gleich. Der Föhn, der Schneefresser, hatte die Halden des Heimlichen Grunds von allen Spuren des Winters reingeleckt, und im Walde hatte er das tote Holz aus den Kronen geräumt, manchen morschen Baumriesen hingestreckt. Die Laubbäume unter der Südwand prangten im Knospengrün, und aus den mageren Zweigen der Lärchen auf der Moorleiten sproßten die blaßgrünen Büschel junger Nadeln. Die Welt wurde von Tag zu Tag schöner. Die Kalkhalden der Salzleiten leuchteten im Schmuck der fleischroten Frühlingsheide und der duftenden Goldprimel, deren Blütendolden sich über weißbestäubten, saftstrotzenden Blattsternen auf schlanken Schäften wiegten. Duftschwaden strichen von den Hängen zu Tal, wo sie sich mit den Wohlgerüchen großblütiger Veilchen und nickender Frühlingsknotenblumen vermengten. Waldbienen und Hummeln flogen schwerfällig dahin mit ihren dicken Höschen voll Blütenstaub.

Auch Peter und Eva waren im Sonnenschein stets unterwegs. Aber nicht sorglos trabten sie dahin; er trug seine Waffen und sie den Feuerkorb, stets gefaßt, es mit den Bären aufnehmen zu müssen, die den Talkessel unsicher machten. Doch wenn sie mit ihren Grabhölzern und holzgeschäfteten Steinmessern die noch zarten Blattsterne der Wegwarte, des Maßliebchens, des Wegerichs, des Baldrians, die üppigen Stauden der Brunnenkresse und die weichen Ranken der Gundelrebe als Wildgemüse ausstachen, folgten ihre Blicke den summenden Bienen und gaukelnden Faltern.

Auch der Geröllboden des Steinfeldes war nicht schmucklos. Lichthungrig reckte der Huflattich seine zartbeschuppten Stengel mit den hellgelben Blütenkörbchen der Sonne entgegen. Und am Waldrand schimmerten die weißen Blütendolden des Bärenlauchs, dessen breite, fettig glänzende Blätter so stark rochen.

Eva freute sich über den Gesang der Vögel, über die Balz der Waldhühner, Peter aber wollte jagen. Eier und Fleisch wollte er haben, frisches Fleisch und nicht mehr die ausgetrockneten, scharfgebeizten Reste der Wintervorräte! Es behagte ihm nicht mehr, sich hauptsächlich von Kräuter- und Wurzelmus zu nähren, wie es Eva in ihrer Freude am langentbehrten Gemüse tat. Oft stand er mitten in der Nacht auf und ging auf die Jagd.

An einem hellen Morgen trug er einen Auerhahn heim und prahlte damit, daß er ihn in der Frühdämmerung während des Hennenlockens erlegt hatte. Wochen später brachte er eine Auerhenne, die er beim Brüten erschlagen hatte. Eva war empört darüber, daß er nicht einmal eine brütende Vogelmutter verschonte. Der Auerhahn war zäh und die Henne mager. Peter freute sich auf die rotgelben, dunkelgetupften Eier. Es waren fünf Stück. Als Eva das erste öffnete, fiel ein Küken heraus, das aber noch nicht lebensfähig war. Die noch weichen Beinchen konnten den Leib nicht tragen, matt ließ es das Köpfchen hängen. Obwohl Eva das Vogelkind in die hohle Hand nahm und es mit ihrem Hauch wärmte, starb es vor ihren Augen. Keines der übrigen Eier war genießbar.

Ärgerlich warf Peter die kleinen Vogelleichen über die Brüstung der Schutzmauer hinaus auf den Köderplatz und verlangte barsch, Eva solle die Henne braten. Widerwillig tat sie es und gab außer Salz kein anderes Gewürz daran. Peter sollte merken, daß eine Bruthenne keine gute Brathenne abgibt. So ärgerte sich einer über den anderen, dieses und manches andere Mal. Groll stand zwischen den beiden, die aufeinander angewiesen waren.

Beutegierig durchstreifte Peter das Tal und ließ bald da, bald dort sein Lagerfeuer lodern, an dem er das erlegte Wild frisch briet und verzehrte. Eva hielt sich meist unweit der Höhle am Bocksgrabenbach auf. Aus seinem tief eingerissenen Bett sammelte sie das angetragene Schwemmholz auf, um damit das Herdfeuer zu nähren, das sie nun allein zu betreuen hatte. Zum Binden ihrer Bürde benutzte sie biegsame Weidengerten und Rindenstreifen, die sich samt dem saftreichen Bast von den Zweigen lösten. Von den abgestorbenen, moderfeuchten Zweigen, deren Rinde verwittert war, gingen ganze Strähnen Bastfasern ab. Dies brachte sie auf den Gedanken, aus dem Bast einen leichten Schurz und einen Schultermantel zu flechten. Dazu mußte sie viel Bast haben. Sie suchte die dichten Weidenbestände am Klammbach unweit des Sonnsteins auf, schnitt mit ihrem Steinmesser einen großen Vorrat von Weidenruten und stapelte sie am Fuße des Steigbaumes auf. Als sie nach einigen Tagen merkte, daß sich die Rinde von den abgestorbenen Ruten nicht lösen wollte, lagerte sie diese am Bachrand in einer mit Sickerwasser gefüllten Vertiefung ein. Fast jeden Tag trug sie einen neuen Vorrat schlanker, unverzweigter Gerten herbei.

Während sie eifrig sammelte, vergaß sie Peter und allen Verdruß und lauschte dem Trillern der Wasseramseln, mit dem sich das Gezwitscher der Grünfinken, der winzigen Goldhähnchen, der Zaunkönige und anderer Sänger zu einem vielstimmigen Chor vereinte.