Über das Buch:
Grace Byler verlässt die Amischgemeinschaft von Bird-in-Hand, um in Ohio nach ihrer Mutter zu suchen. Doch was, wenn die nicht gefunden werden will? Denn Lettie Byler ist längst nicht am Ziel ihrer Suche angekommen. Zwar fühlt sie sich zunehmend hin- und hergerissen zwischen der Familie, die sie einfach im Stich gelassen hat, und ihrer Sehnsucht nach dem Kind, das sie nie kennenlernen durfte, doch aufgeben will sie nicht. Nach wie vor folgt sie einem Hinweis nach dem anderen und sehnt sich danach, die Bruchstücke ihrer Vergangenheit zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Doch kann sie darauf wirklich hoffen? Was wird passieren, wenn die Wahrheit endlich ans Licht kommt? Führt die Enthüllung der Familiengeheimnisse in die Katastrophe – oder zum Happy End?

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

Kapitel 6

Dad, du Scherzkeks!, dachte Heather, als er ihr eine SMS schickte, in der er sie an ihren Besuch in der Kurklinik nächste Woche erinnerte. Das werde ich bestimmt nicht vergessen! Lächelnd spazierte sie an einem weiteren Bauernhaus vorbei. Die Straße war kurvenreich. Die arme, nervöse Grace hatte vorhin viel Mühe gehabt, jeden Briefkasten auf ihrer Fahrt zu Susan Kempfs Haus zu suchen und die Nummer zu lesen. Und jetzt erfährt sie, dass ihre Mutter schon wieder fort ist. Heather hatte großes Mitleid mit ihr.

„Etwas stimmt hier ganz und gar nicht“, flüsterte sie und lehnte den Kopf zurück, um sich die Nachmittagssonne voll ins Gesicht scheinen zu lassen. Sie wollte Graces Mutter wirklich gern kennenlernen, diese Frau, die so plötzlich im Leben anderer Menschen auftauchte und dann genauso plötzlich wieder verschwand. Heather fand Lettie Bylers Verhalten äußerst merkwürdig, besonders jetzt, da es so aussah, als wäre sie geflüchtet, weil ihr jemand einen Tipp gegeben hatte, dass Grace käme.

Heathers Mutter hätte nie etwas so Sonderbares gemacht. Ihr Vater hingegen war eine ganz andere Geschichte. Seine Entscheidung, im Herzen von Amischland, wo rundherum Pferde und Einspänner das Bild prägten, ein Grundstück zu kaufen und dann ein modernes Bauernhaus darauf zu bauen, schien sehr impulsiv gewesen zu sein. Aber abgesehen von diesen überraschenden Umzugsplänen war das einzige Spontane, das er und ihre Mutter je gemacht hatten, ihre Entscheidung gewesen, Heather zu adoptieren. Wenigstens fand sie diese Entscheidung spontan, nach allem, was ihr Vater ihr vor Kurzem darüber erzählt hatte.

Sie konnte nicht vergessen, wie er sie angesehen hatte, als er ihr vor wenigen Tagen erzählt hatte, wie sie das Kind ihrer Eltern geworden war. Es fiel ihr immer noch schwer zu glauben, dass sie irgendwo eine amische Mutter hatte. Hier in Ohio vielleicht? Na ja, keine Mutter im eigentlichen Sinn, sondern eine Frau, die sie auf die Welt gebracht hatte. Ihr Vater hatte sehr verletzlich ausgesehen, als er ihr das alles verraten hatte. Diese zarte Seite an ihm hatte sie vermisst, seit ihre Mutter gestorben war. Aber seit seiner aufrüttelnden Enthüllung liefen Heathers bisherige Vorstellung von dem, wer sie war, und das Bild, das sie jetzt von sich selbst hatte, in ihrem Kopf kreuz und quer durcheinander wie ein Muster auf Marian Riehls Quiltdecken.

Ihre Gedanken wanderten zu Grace zurück. Sie fragte sich, was ihre Freundin mit Susan besprach. War Grace schon einmal so weit von zu Hause weggewesen? Heather bezweifelte das sehr. Was sie selbst anging, so würde dieser Ausflug für eine Weile ihre letzte längere Fahrt sein.

Sie seufzte. Beim Gedanken an die Zukunft hoffte sie, dass sie noch viele Jahre leben würde. Außerdem ging es nicht nur darum, zu leben, wie ihre Mutter wenige Wochen vor ihrem Tod gesagt hatte: Es ging darum, zu lieben. „Gut zu lieben.“

Wie könnte eine Tochter so etwas vergessen? Kaum zu glauben, dass ihre Mutter ebenfalls den Wunsch gehabt hatte, die Klinik von Dr. Annie Marshall aufzusuchen. Leider war ihrer Mutter die Erfüllung dieses Wunsches versagt geblieben. Auf sehr reale Weise war ihre Mutter also für Heathers momentanen Weg verantwortlich. Und auch Gott, würde ihre Mutter wahrscheinlich hinzufügen, wenn sie noch am Leben wäre.

Heather atmete den köstlichen Duft des Spätfrühlings ein. Ihre Mutter hatte in ihren letzten Wochen noch andere bemerkenswerte Dinge gesagt. „Du ziehst dich zu sehr in die Einsamkeit zurück, Schatz. Lerne, durch andere Menschen Kraft zu schöpfen.“

„Zählt dann das, was ich hier tue?“ Heather war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht merkte, dass jemand sie rief.

„Hallo!“, rief eine weibliche Stimme zum zweiten Mal.

Als sie aufblickte, sah sie eine amische Frau, die ein wadenlanges rostbraunes Kleid mit einer schwarzen Schürze trug und dabei einen Weidenkorb leicht hin und her schwang. Einen flüchtigen Moment lang hatte Heather fast den Eindruck, als würde die Frau sie kennen. Oder sie war nur ungewöhnlich freundlich, wie die meisten Amisch, denen Heather bis jetzt begegnet war.

„Hallo“, antwortete Heather. „Ein schöner Tag heute.“

„Ja, das stimmt“, sagte die freundliche Frau und warf einen Blick auf Heathers Jeans und Bluse. „Sie stammen nicht hier aus der Gegend, nicht wahr?“

Nun ja, einerseits schon … andererseits auch wieder nicht. „Ich bin mit einer Freundin hier, die Susan Kempf besucht.“ Heather deutete in die Richtung von Susans Haus.

„Ach, Susan ist eine so liebe Nachbarin. Wir haben im Laufe der Jahre jede Menge Sachen eingemacht und auch oft miteinander gequiltet.“ Die Frau schaute auf ihren Korb hinab. „Ich habe hier im Korb Stoffstücke zum Quilten. Mich juckt es in den Fingern zu nähen.“

Heather lachte leise. Dann stellte sie sich vor. „Ich bin Heather.“

„Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich bin Minnie Keim.“

„Minnie“, wiederholte Heather. „Was für ein liebenswerter Name.“

„Meine Freunde sagen, er passt zu mir.“

„Ist er eine Abkürzung?“

Minnie schmunzelte. „Nein, ich heiße einfach Minnie.“ Dann winkte sie fröhlich. „Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Zeit bei Susan. Ach, damit Sie später nicht sagen, ich hätte Sie nicht gewarnt: Sie kocht und backt gern. Sie will, dass ihre Gäste reichlich zu essen haben.“

„Ich könnte ein paar Pfund mehr ganz gut vertragen“, erwiderte Heather, obwohl sie nicht die Absicht hatte, fettes Essen zu sich zu nehmen. Für sie musste es frisch und roh sein. Wenigstens bis ihre Blutwerte zeigten, dass sie gesund war. Wie bei Sally Smucker, wenn alles gut geht.

Heather verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. Und wenn ich die Entgiftung in der Kurklinik überlebe.

* * *

Lettie umklammerte das Telefon von Hallies Nachbarin. „Könnte ich bitte mit Dr. Hackman sprechen?“

„Der Herr Doktor ist gerade bei einem Patienten“, antwortete die Frau am anderen Ende der Leitung. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Ich habe ein paar Fragen, aber ich würde gern persönlich mit ihm sprechen. Geht das irgendwann heute?“

„Heute ist kein Termin mehr frei, Miss. Ich würde vorschlagen, dass Sie sich einen Termin für eine Untersuchung geben lassen.“

Sie atmete tief ein. Werde ich den Mut haben, dieses Telefon wieder zu benutzen? „Könnten Sie vielleicht etwas für mich nachsehen?“

„Das ist mir nicht möglich. Tut mir sehr leid.“

Lettie ließ nicht locker. „Ich warte schon sehr lange.“ Sie holte tief Luft. „Es geht um etwas sehr Wichtiges … um ein Baby. Um ein kleines Mädchen, das ich vor Jahren zur Adoption freigab.“

„Das müssten Sie mit Dr. Hackman besprechen.“

„Ich bin aber nur sehr kurz hier in der Stadt.“ Es war normalerweise überhaupt nicht ihre Art zu feilschen. Aber Lettie konnte die Informationen, nach denen sie sich sehnte, fast schon greifen. Sie stand so kurz davor, das herauszufinden, weswegen sie gekommen war.

„Können Sie mir bitte Ihren Namen sagen?“, fragte die Frau am Telefon.

„Lettie Byler.“

„Ich schaue, ob ich kurzfristig einen Termin für Sie finde. Bitte warten Sie einen Moment.“

Es folgte ein längeres Schweigen, dann drang leise Musik an ihr Ohr. Oh, Herr, bitte führe mich, betete Lettie. Lass das alles friedlich ausgehen. Nach deinem Willen.

Während sie wartete, erinnerte sie sich an die Geburt ihres ersten Sohnes. Ach, was für eine unbeschreibliche Freude war es gewesen, als sie in Adams winziges, rundes Gesicht geschaut hatte. Sie hätte ewig in diese blauen Augen schauen können. Und nach ihm waren noch drei Kinder gekommen. Ihre und Judahs Kinder. Sie hatte dieselbe Freude erlebt, als sie jedes von ihnen das erste Mal in den Armen gehalten hatte, nachdem sie die liebe Grace und später die süße Mandy und dann den pausbäckigen Joe auf die Welt gebracht hatte.

„Mrs Byler?“, sagte die Arzthelferin, als sie wieder ans Telefon kam. „Wir können Sie morgen um halb zehn dazwischenschieben.“

„Das passt mir gut“, stimmte Lettie zu. „Vielen Dank.“ Sie legte auf und drehte sich um, um sich bei Lana zu bedanken, Hallies englischer Nachbarin, die mit ihrem kleinen tragbaren Computer auf dem Schoß auf dem Sofa saß. „Vielen Dank, dass ich Ihr Telefon benutzen durfte.“

„Keine Ursache. Sie können gern jederzeit wiederkommen“, sagte Lana. Sie blickte kurz auf und dann schnell wieder auf ihren Bildschirm.

Letties Gedanken waren bei dem morgigen Arzttermin. „Gut, danke.“ Sie ging zur Mückengittertür und achtete darauf, dass sie nicht gegen den Rahmen schlug. Während sie zu Hallie zurückging, wurde ihr plötzlich bewusst, dass Lana so nahe neben dem Telefon gesessen hatte, dass sie Letties Teil des Gesprächs vielleicht gehört hatte. Ach, hoffentlich nicht.

Lettie folgte dem schmalen Weg und sah die roten Farben eines Rotkehlchens an sich vorbeiflattern. Sie hoffte, diese Fahrt würde nicht als Sackgasse enden. Sie war emotional ausgelaugt und ihr tat furchtbar leid, was sie ihrer Familie angetan hatte. Sie schämte sich fast zu sehr, um nach Hause zurückzukehren, obwohl sie sich von ganzem Herzen danach sehnte. Judah war ein sanfter und gutmütiger Mann. Doch sie glaubte nicht, sie könnte einfach wieder in sein Leben und in das Leben ihrer Kinder zurückkehren, als wäre nichts gewesen, nachdem sie ohne Erklärung einfach verschwunden war.

Außerdem war da noch eine andere Sache. Die Gemeindeältesten würden Lettie zweifellos auffordern, Buße zu tun. Höchstwahrscheinlich würde sie vor der Gemeindemitgliederversammlung öffentlich beichten. Ach, der liebe Judah müsste sich ihre Beichte anhören und auch Adam und Grace und Mandy, da sie bereits Kirchenmitglieder waren. Nein, die Rückkehr nach Bird-in-Hand würde nicht einfach werden.

Kapitel 7

Grace saß an Susans Tisch und wartete, während ihre Gastgeberin ihr Erdbeermus fertig machte. „Das wird euch sicher aufmuntern“, sagte Susan fröhlich von der anderen Seite der Küche.

Während sie darauf wartete, dass Heather zurückkehrte, war es Grace gelungen, die Fernbedienung des Autos, die Heather auf dem Wohnzimmertisch liegen gelassen hatte, zu betätigen. Sie hatte Heathers Tasche und ihre eigene Tasche aus dem Kofferraum geholt und sie in die zwei Gästezimmer nach oben gebracht. Es war ein so sonderbares Gefühl, dass Mama an diesem Tisch gesessen und vielleicht sogar in dem Bett geschlafen hatte, in dem Grace heute Nacht schlafen würde. Je mehr sie über den übereilten Aufbruch ihrer Mutter gestern nachdachte, umso stärker wurde ihr Verdacht, dass sie einen Grund dafür gehabt haben musste. Genauso wie vor einigen Wochen, als sie in den frühen Morgenstunden, als alles noch schlief, von zu Hause wegging.

Sie hob den Kopf und sah, wie Susan kleine Gläser mit dem halb gefrorenen Erdbeermus zum Tisch brachte. „Hmm, das sieht köstlich aus.“

„Oh, es wird euch schmecken.“ Susan stellte Grace ein Glas hin und zog dann rechts neben der Stirnseite des Tisches einen Stuhl heraus. Sie warf einen Blick auf den leeren Platz und erwähnte, dass ihr verstorbener Mann immer hier gesessen hatte. „Ich beschloss, diesen Platz ihm zu Ehren leer zu lassen, nachdem er gestorben war.“

Grace fand, dass sie noch nie etwas so Berührendes gehört hatte. „Hast du das Mama auch erzählt?“

Susan lächelte und griff nach ihrem eigenen Glas. „Oh ja. Ich muss sagen, deine Mutter ist sehr feinfühlig.“

„Ja, das ist sie.“ Grace nippte an dem Erdbeermus. „Deine Erdbeeren müssen in diesem Jahr früh reif sein.“

„Die Erdbeerzeit ist schon fast vorbei.“

„Unsere Erdbeeren zu Hause sind noch nicht ganz reif“, erzählte sie.

Die schlichte Küche war hell und freundlich und erinnerte Grace in vielerlei Hinsicht an zu Hause. Die gelb nachgedunkelten Fichtenoberschränke standen in einer sauberen Reihe auf der verkratzen, abgenutzten Arbeitsplatte. Mehrere Kuchen kühlten auf der Arbeitsplatte. Sie befanden sich auf einem Gitter und waren am Rand glatt und gleichmäßig gebacken.

„War Mama traurig, als sie hier war?“, fragte Grace leise.

„Eher besorgt, würde ich sagen.“

Grace ließ den Kopf hängen. „Ich dachte, dass sie auch traurig wäre. Und dass sie ihre Familie vermissen würde.“

Susan beugte sich über den Tisch und berührte ihre Hand. „Oh, sie vermisst euch alle. Jeden Einzelnen.“

Grace hätte ihre Frage von zuvor am liebsten wiederholt. Sie wollte zu gern wissen, warum Mama die Familie, die sie liebte, verlassen hatte, um hierherzukommen. Aber Susan sah aus, als wäre sie tief in ihren eigenen Gedanken versunken. Grace schwieg wieder und begann, sich allmählich Sorgen zu machen, weil Heather so lange fortblieb.

* * *

Nachdem Kusine Hallie und ihre Familie nach Indiana gezogen waren, hatte Lettie als Mädchen mit niemandem sprechen oder spielen wollen. Natürlich hatte sie mit ihren Schwestern und mit Mama gesprochen. Aber Hallie war immer ihre beste Freundin gewesen, wenigstens bis Naomi geheiratet hatte und sie beide sich auch sehr nahe gekommen waren. Die Winter waren in jenen wenigen Jahren ohne Hallie schmerzlich lang gewesen. Lettie hatte es vermisst, mit ihrer liebsten Kusine zu sticken, zu nähen und zu backen. Manchmal hatte sie gedacht, wie schön es wäre, einfach loszufahren und sie in Nappanee zu besuchen. Ich muss damals schon in meinem Herzen auf Wanderschaft gegangen sein, dachte sie, während sie den langen Hügel vor Lanas Haus hinabging.

Mit neun und zehn Jahren war Lettie daheim geblieben, außer wenn sie zur Schule gehen musste, und hatte Mama an den Nachmittagen und an den Samstagen beim Kochen und Putzen geholfen. Sie war nicht der Typ, der in einer Mondscheinnacht zum Himmel hinaufgeschaut hätte und sich fragte, ob Kusine Hallie denselben schwarzen Himmel sah. Sie war eher praktisch veranlagt. Trotzdem hatte sie immer wieder gedacht, dass Hallie bestimmt viel mehr Lebensfreude hatte als sie. „Das Gras ist da draußen auch nicht grüner“, hatte Mama manchmal zu ihr gesagt, wenn Lettie in Tagträumen versank oder sich darüber beklagte, dass sie ihre beste Kusine verloren hatte. Lettie hatte viele Kugelschreiberminen aufgebraucht, um lange Briefe zu schreiben und sie an Hallie in der Ferne zu schicken.

Es ist schön, mehr Zeit mit ihr verbringen zu können, auch unter diesen Umständen, dachte Lettie jetzt. Sie trat in Hallies Küche, wo ihre Cousine gerade einen Topf mit selbst gemachter Gemüserindfleischsuppe umrührte. Hallies Mann hatte nicht das Geringste dagegen gehabt, als die Gemeindeältesten in Nappanee übereingekommen waren, Gasherde und -öfen zu erlauben. Lettie lächelte, als sie an die lebhafte Diskussion zu diesem Thema vor einigen Jahren in ihrem eigenen Bezirk denken musste.

Hallie blickte vom Herd auf. „Hast du Lanas Haus gefunden?“

Sie nickte. „Du hattest recht. Lana hat mich ihr Telefon benutzen lassen.“

„Sie sind sehr nette Leute.“

„Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich bis morgen Nachmittag hierbleiben muss“, sagte Lettie vorsichtig und leicht beschämt, obwohl sie miteinander verwandt waren. „Das heißt, natürlich nur, wenn ich einen Fahrer finde, der mich dann nach Hause bringt. Sonst könnte es noch länger dauern.“

Hallie lachte. „Bleib, so lang du willst. Ich spanne dich höchstens beim Kochen und bei anderen Arbeiten im Haushalt ein.“

Denki, Hallie, wenn du sicher bist, dass ich nicht störe.“

„Ich habe doch gerade gesagt, dass du nicht störst.“ Hallie trat vom Herd zurück, um sich mit dem Saum ihrer Schürze Luft zuzufächern. „Es ist ja nicht so, dass ich dich oft sehen würde, oder?“

Lettie lächelte. Sie war froh, dass Hallie nicht nachgefragt hatte, wozu sie ein Telefon gebraucht hatte. Vielleicht glaubt sie, ich hätte versucht, einen Fahrer anzurufen.

„Ben wird bald vom Feld kommen.“ Hallie warf ihr einen Blick zu. „Aber es ist noch genug Zeit, falls du dich noch ein wenig ausruhen willst.“

„Das ist nicht nötig“, antwortete sie und fragte sich, ob Hallie glaubte, sie wäre aufgrund einer Krankheit müde und erschöpft. „Ich helfe dir, das Abendessen vorzubereiten.“ Da Susan großen Wert darauf gelegt hatte, allein zu kochen, sehnte sich Lettie danach, Hallie zu helfen.

„Du könntest den Salat machen.“ Hallie öffnete einen Schrank, um eine große Holzschüssel herauszuholen. „Wir brauchen sehr viel Salat. Heute Abend sind wir mehr Leute beim Essen. Die meisten Feldarbeiter werden hier sein.“

„Nachbarn?“ Lettie wusste, dass Hallies und Bens Söhne verheiratet waren.

„Ich weiß von mindestens drei Männern, die kommen.“

Lettie begann grünen Salat und Gurken zu schneiden, schälte die Haut von mehreren Tomaten und schnitt sie dann in Stücke. Dabei musste sie an Grace und Mandy denken und fragte sich, ob sie beide in der Küche halfen oder ob Grace und Mama das Kochen übernommen hatten. Lettie schmerzte der Gedanke, dass die ganze Arbeit an ihren Mädchen hängen blieb.

Als sie die Karotten kleingehackt hatte, streute sie sie über den Salat und fragte Hallie: „Wie alt warst du, als du Ben geheiratet hast?“

Hallie lächelte sie glücklich an. „Es kommt mir vor, als wären wir unser ganzes Leben lang zusammen.“

„Warst du damals schon zwanzig?“ Lettie erinnerte sich nicht mehr, da sie nicht bei der Hochzeit gewesen war.

„Nein, ich war achtzehn.“ Wieder lachte Hallie leise. „Wir wussten, dass wir füreinander bestimmt waren. Deshalb heirateten wir ziemlich schnell. Es ist besser zu heiraten, als sich vor Leidenschaft zu verzehren.“

Lettie konzentrierte sich auf das Salatdressing, das sie anrührte – Essig und Öl, Knoblauchzehen und Zwiebeln, Salz und Pfeffer – und wich Hallies Blick aus.

„Lettie, ich wollte dich eigentlich fragen, was du hier in Indiana machst“, sagte Hallie, während sie zum Kühlschrank ging und ihre Rote Grütze herausholte.

„Ach, ich bin einfach zu Besuch hier.“

„Ohne Judah?“

„Ja“, sagte sie leise, ein wenig unruhig wegen dieser Wende, die das Gespräch jetzt einschlug. „Es ist Ablammzeit.“

Hallie nickte. „Außerdem sind unsere Männer meistens nicht so leicht fürs Verreisen zu begeistern, nicht wahr?“

„Das stimmt.“ Lettie entspannte sich wieder. „Ich decke den Tisch. Wie viele Teller brauchen wir?“

„Ungefähr zwölf. Ich weiß nicht genau, wie viele kommen werden. Aber wir stellen für alle Fälle genug Teller und Gläser bereit.“

Sie trug das Geschirr zum Tisch und hoffte, Hallie würde ihren Besuch in Indiana nicht noch einmal ansprechen. Lettie wollte wirklich nicht lügen. Und das werde ich auch nicht.

Wenig später kamen Ben und die anderen hereingestapft und stellten sich am Waschbecken in der Abstellkammer an, um sich zu waschen. Als Ben fertig war, beobachtete Lettie überrascht, dass er auf Hallie zuging und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Dann flüsterte er etwas, bei dem ihre Kusine errötete und lächelte. Er drehte sich um und begrüßte Lettie, bevor er sich an die Stirnseite des Tisches setzte. So ruhig Ben auch war, scheute er sich nicht, Hallie immer wieder liebevolle Blicke zuzuwerfen, während sie großzügige Portionen der Suppe verteilte. Als sie sich endlich selbst auch an den Tisch gesetzt hatte, beugte er sich zu ihr hinüber und legte zum Tischgebet seine große, schwielige Hand auf ihre. Er ließ sie danach noch einen Moment dort liegen, während er mit der anderen nach seinem Wasserglas griff.

Während der gesamten Mahlzeit war Lettie von der unübersehbaren Zuneigung zwischen ihrer Kusine und ihrem Mann fasziniert. Sie sprachen sich gegenseitig mit „Schatz“ und „Liebling“ an, was in der amischen Gemeinde, die Lettie kannte, sehr selten vorkam. Standen sie sich so nahe, weil sie miteinander aufgewachsen waren? Oder waren sie nur sehr gute Freunde, wie es in einigen Romanen, die sie gelesen hatte, beschrieben wurde?

Was auch immer der Grund war, sie konnte kaum den Blick von den beiden abwenden.

* * *

Lettie war müde und freute sich darauf, bald nach oben zu gehen und sich schlafen zu legen, während sie noch mit Hallie in der Küche saß. Sie genossen ein zweites Stück Erdnussbutterkuchen. Hallie plauderte über alles Mögliche, aber plötzlich sagte sie, dass sie Lettie „etwas sehr Wichtiges“ fragen müsse. „Es geht um etwas, das ich von unserer Nachbarin Lana gehört habe.“ Hallies braune Augen schauten sie ernst an. „Ach, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

Letties Herzschlag stockte. „Warum sagst du es nicht einfach geradeheraus?“

„Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es wahr ist.“ Hallie ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn leicht. „Puh, ich komme mir so komisch vor, es anzusprechen.“

„Hallie, wovon sprichst du?“

Ihre Kusine hob den Kopf und schaute sie mit sorgenvollen Augen an. „Lana macht sich Sorgen um dich, Lettie.“

„Um mich?“

Hallie atmete tief ein. „Lana versuchte, diskret zu sein, aber als sie nach dem Abendessen hier war, um Eier zu kaufen, erwähnte sie etwas von deinem Baby.“

Letties nackte Zehen rollten sich auf dem Linoleumboden unter dem Tisch zusammen. Lana hat mein Gespräch mit Dr. Hackmans Arzthelferin also doch gehört.

„Es tut mir so leid, dass ich das so offen anspreche.“ Hallie klopfte sich leicht auf die Brust, als hätte sie Probleme, genug Luft zu bekommen.

„Nein … nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Lettie war die Geheimniskrämerei so leid. Sie hatte das Gefühl, dass es längst an der Zeit war, die Sache offen anzusprechen. Alles.

Hallie verzog das Gesicht zu einem tiefen Runzeln. „Ich … ich bin völlig verwirrt.“

„Das kann ich mir gut vorstellen.“ Lettie stand auf und ging der Länge nach durch die Küche und drehte sich dann langsam zum Tisch herum, an dem Hallie immer noch saß. „Das ist der Grund, warum ich hierhergekommen bin. Ich will das Kind finden, das ich als junges Mädchen weggegeben habe.“

„Ach, Lettie!“, keuchte Hallie und schaute sie mit großen Augen an. „Das kann doch nicht dein Ernst sein!“

„Doch, es ist wahr.“ Sie setzte sich wieder.

Das wird nicht leicht werden …

Hallie zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich die Wangen und die Stirn ab. „Oh, meine Güte! Oh, um Himmels willen“, murmelte sie.

„Güte und der Himmel haben nichts damit zu tun.“

Hallie klagte weiter. Doch dann sagte sie zu Letties Überraschung: „Und der Vater … Es war doch nicht dieser Samuel, oder? Wir haben damals viel über ihn gehört.“

Lettie gab ihr darauf keine Antwort; sie wollte Samuel aus diesem Gespräch heraushalten.

Hallie legte den Kopf in ihr Taschentuch. „Du armes, liebes Mädchen.“ Jetzt schaukelte sie so schnell vor und zurück, dass Lettie fürchtete, sie könnte vom Stuhl fallen.

„Ich bin kein armes Mädchen, Hallie. Bitte reiß dich zusammen.“ Sie seufzte. Es war viel schwerer, als sie gedacht hatte. „Das alles ist vor langer Zeit passiert, aber jetzt bin ich mit dem Ziel hier, das in Ordnung zu bringen, was ich in meiner Vergangenheit falsch gemacht habe. Ich habe vor, meine älteste Tochter zu finden und ihr die Wahrheit über mich zu sagen.“

„Und deine Familie? Weiß sie Bescheid?“

Lettie wich der Frage aus. „Im Moment erzähle ich es dir, weil ich es dir erzählen muss, Hallie. Morgen habe ich einen Termin bei dem Arzt, der die Adoption meines Babys arrangiert hat.“ Sie wartete, bis sich Hallie beruhigt hatte, bevor sie weitersprach. „Ich hoffe, dass ich daran nicht zerbreche.“

„Ein Arzt hier aus der Gegend?“

Lettie nickte langsam. Sie begann, ihrer Kusine alles zu erzählen, und sprach die Worte aus, die sie auch Judah würde sagen müssen, wenn sie ihm diese schmerzliche Geschichte enthüllte. „Aber du musst alles für dich behalten. Du darfst auch Ben kein Wort verraten. Wenigstens nicht, bis ich Gelegenheit hatte, nach Hause zu fahren und mit meinem Mann zu sprechen.“

Hallie atmete scharf ein. „Du meinst …?“

„Ja“, gestand Lettie schließlich. „Judah weiß nichts von meinem ersten Kind.“

„Wie kann das sein?“

„Glaube mir: Er weiß nichts von meiner Tochter.“

Hallie blinzelte wieder. „Ein Mädchen, sagst du?“

„Ja.“ Lettie seufzte und hoffte, sie tue das Richtige, indem sie Hallie alles verriet. Hallie war dafür bekannt, dass sie gern redete. Aber welchen Sinn hatte es jetzt noch, die Wahrheit zu leugnen?

„Wenn ich damals nur in deiner Nähe gewohnt hätte! Vielleicht wäre das alles nicht passiert.“

„Das kannst du nicht wissen. Außerdem ist es an der Zeit, dass ich etwas tue, um es zum Guten zu wenden.“ Für Gott, dachte sie und erklärte weiter: „Ich dachte, ich würde ihn lieben, Hallie. Und ich war starrköpfig. Ich wollte meinen Kopf durchsetzen, egal, was alle anderen von meinem Freund hielten. Deshalb war ich meinen Eltern ungehorsam und brach ihnen das Herz.“ Lettie schwieg eine Weile. „Kein Wunder, dass Mama mich zwang, das Baby wegzugeben.“ Die Erinnerungen überrollten sie. Sie erinnerte sich an jede Kleinigkeit und bereute erneut ihre Sünde. Ach, aber Gott hat das benutzt, um ein unschuldiges Leben in die Welt zu bringen. Ein schönes Mädchen, das in den Augen des himmlischen Vaters so kostbar ist.

Hallie gab einen traurigen Seufzer von sich, stützte die Arme auf den Tisch und beugte sich vor. „Ich hoffe, du glaubst das nicht, was du gerade gesagt hast.“ Sie schaute Lettie direkt an. „Denn, meine liebe Lettie, das war bestimmt nicht der Grund, warum deine Mama darauf bestanden hat, dass du dein Baby weggabst. Siehst du das denn nicht? Sie hat dich aus Liebe dazu gezwungen. Aus Liebe zu dir und zu deinem Baby.“

Wie konnte ihre Kusine wissen, was Letties Mutter oder ihr Vater vor so vielen Jahren gedacht hatten?

„Sie hat das sicher aus Liebe zu ihrem Enkelkind gemacht“, wiederholte Hallie. „Sie wollte, dass das Kind die Liebe einer Mutter und eines Vaters hat. Ein gutes Zuhause mit beiden Eltern.“

Lettie wusste nicht, was sie denken sollte. Minnie Keim hatte das Gleiche gesagt, aber Lettie sah die Dinge anders. Ihre Eltern hatten zum einen eine starke Abneigung gegen Samuel gehabt und außerdem unbedingt Letties Ruf und ihre Heiratschancen wahren wollen. Das verrät nicht viel Liebe zu meinem Baby.

„Egal, was ihre Gründe waren, du musst deiner Mutter vergeben, Lettie. Dazu fordert Jesus uns auf. Vergib ihr, denn das gehört dazu ... als Gottes Kind.“

Hallie hatte recht. Mama zu vergeben war sehr schwer, aber Lettie musste es trotzdem tun.

Kapitel 8

Heather war dankbar für den frischen Salat zum Abendessen und die Mühe, die sich Susan gemacht hatte, indem sie Sellerie- und Karottenstreifen und auch Tomaten und Gurken geschnitten hatte. Trotzdem hatte sie nach dem Essen immer noch Hunger; vermutlich war ihr Magen gerade dabei zu schrumpfen. Sie hatte nach dem Essen eine halbe Stunde gewartet, bevor sie langsam ein Glas Wasser getrunken hatte, wie Dr. Marshall ihr geraten hatte.

Jetzt lag sie in dem kleinen Gästezimmer und starrte zur Decke hinauf, nachdem sie geduscht und ihren Pyjama angezogen hatte. Wenn es nach ihr ginge, würden sie morgen noch vor Tagesanbruch aufstehen und ihre Rückfahrt nach Pennsylvania antreten. Aber so wie Susan beim Abendessen gesprochen hatte, klang es, als wollte sie Grace überreden, morgen früh noch ein paar Stunden zu bleiben und sich ein wenig zu entspannen.

Sie konnte Grace im Zimmer nebenan eine Melodie summen hören, die sie nicht kannte. Anscheinend hatte ihre amische Freundin an diesem Tag genug Gesellschaft gehabt oder sehnte sich einfach danach, ein wenig zur Ruhe zu kommen. So wie ich.

Sie lehnte sich gegen mehrere selbst gehäkelte Kissen und wurde sich erneut bewusst, wie schwer der Ausgang dieser Fahrt für Grace sein musste. Heather selbst war mit keinen konkreten Erwartungen nach Ohio gefahren. Die Fahrt war sozusagen ein letztes Abenteuer vor ihrem bevorstehenden Aufenthalt in der Kurklinik. Und der Versuch, einer stets einfühlsamen jungen Frau einen Gefallen zu tun.

Heather rollte sich auf die andere Seite und betrachtete die Petroleumlampe auf dem Tisch. Eine Bibel stand in dem kleinen Regal darunter. Ein Lesezeichen ragte oben aus dem Buch heraus. „Mama hat am Ende ihres Leben mehr in der Bibel gelesen als vorher“, hatte Dad ihr vor einem Jahr erzählt. „Werden Menschen nicht religiöser, wenn sie wissen, dass sie bald sterben werden?“, hatte sie erwidert. Aber ihr Vater hatte ihr darauf keine Antwort gegeben.

Heather streifte ihre Armbanduhr ab und legte sie auf den kleinen Tisch. Sie nahm die Bibel und stützte sich auf den Ellbogen. Mit einem langsamen Seufzen schob sie den Finger in der Nähe des Lesezeichens aus gepressten Blumen zwischen die Seiten. Hier fand sie einen Zettel mit einer Liste verschiedenster Vögel: Kletterwaldsänger, Rainammer, Baltimoretrupial, Scharlachtangare, Reisstärling, Rotrücken-Spottdrossel …

Sie überflog die Seite und stellte fest, dass über zwanzig Vögel aufgelistet wurden, jeder mit einer Beschreibung seines Gesangs. Unten auf der Seite stand in winzigen Buchstaben: LB, 16. Mai.

„LB?“, flüsterte sie. „Lettie Byler?“ Sie schaute sich um und begriff, dass Graces Mutter in diesem Zimmer geschlafen haben musste.

Einen Moment regte sich in ihr der überwältigende Wunsch aufzustehen, an Graces Tür zu klopfen und ihr anzubieten, dass sie die Zimmer tauschen könnten. Würde Grace nicht in dem Bett schlafen wollen, in dem ihre Mutter geschlafen hat? Aber Grace hatte sich inzwischen wahrscheinlich in ihrem Zimmer eingerichtet. Deshalb entspannte sich Heather und ließ die Atmosphäre des Raumes auf sich wirken, in dem Lettie, die heimlich von zu Hause weggegangen war, Vögel beobachtet, in dieser Bibel gelesen und wahrscheinlich geschlafen hatte.

Sie war nicht sicher, wie lang sie mit der aufgeschlagenen Bibel auf ihrem Bett lag. Sie musste dabei eingeschlafen sein, denn als Heather aufwachte, hörte sie jemanden weinen. Sie stand auf und legte die Bibel ins Regal zurück. Als dabei die Liste mit den Vogelnamen auf den Holzboden flatterte, bückte sie sich, um sie aufzuheben, und bemerkte einen Hinweis auf einen Bibelvers auf der Rückseite.

Sie hatte keine Ahnung, wo sich in der dicken Bibel Psalm 42 befand, deshalb machte sie sich erst nicht die Mühe, danach zu suchen. Grace würde es wissen. Mit der Liste in der Hand schlich Heather aus dem Zimmer und an den niedrigen Fenstern vorbei, die mit grünen Jalousien geschlossen waren, die das Mondlicht aussperrten.

Als sie auf dem Flur stand, hörte Heather, dass Grace sich die Nase putzte. „Ist bei dir alles in Ordnung?“, rief sie leise durch die Tür, da sie Susan nicht wecken wollte.

„Komm herein, Heather.“

Sie trat auf Zehenspitzen ein und sah, dass Grace zusammengerollt im Bett lag. „Ich habe dich gehört. Kann ich irgendetwas für dich tun?“

Grace setzte sich auf und lehnte sich an das Kopfteil des Bettes. „Ich habe schlecht geträumt“, flüsterte sie. „Tut mir leid, ich wollte mich nicht wie ein Kind anhören.“

Heather lächelte. „Meine Mutter hat einmal gesagt, dass wir in unserem Herzen alle Kinder sind.“ Es war vielleicht dumm, das zu sagen, aber es war das Erste, was ihr einfiel. „Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ich habe etwas von deiner Mutter gefunden.“ Sie gab Grace die Liste mit den Vögeln. „Ich dachte, das möchtest du vielleicht haben.“

Grace stand auf und zündete die Petroleumlampe auf ihrem Nachttisch an. Die Liste zitterte in ihrer Hand, als sie sie zärtlich und fast ehrfürchtig festhielt. „Ach, das sind Vögel, die sie gesehen hat. Mama liebt Vögel so sehr!“

Heather deutete zu der Bibelstelle auf der Rückseite des Zettels. „Liebt sie diese Bibelstelle auch?“

Grace kniff die Lippen zusammen und schloss die Augen. Ein sanfter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht, während ihr stumme Tränen über die Wangen liefen. „Tagsüber seufze ich: Herr, schenke mir doch wieder deine Gnade! Und nachts singe und bete ich zu Gott; er allein kann mir das Leben wiedergeben.“ Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Diesen Vers hat Mama vor einem Monat auf meine Geburtstagskarte geschrieben.“

Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, wandte Heather den Blick ab. „Ich bin auch ein Aprilkind“, sagte sie gedankenverloren.

„Ja? Sind wir auch genauso alt?“ Grace wischte sich die Tränen weg.

„Ich bin vierundzwanzig.“

Grace schaute sie schüchtern an. „Ich bin einundzwanzig … und schon fast ein Mädel.“

„Ich hoffe wirklich, dass ein Mädel nicht das ist, wonach es sich anhört.“

„Bei den Amisch gelte ich schon fast als alte Jungfer.“

Heather lächelte. „Wenn Yonnie dich jetzt sehen könnte …“

Jetzt bestimmt nicht. Unser Bischof ist gegen Bundling. Auch wenn es noch Amischgemeinden gibt, in denen es üblich ist, dass ein unverheiratetes Paar im Schlafzimmer des Mädchens allein zusammen ist. Aber so etwas verstößt gegen unsere Kirchenordnung.“

Heather war sprachlos. „Hey, das sollte nur ein Scherz sein.“ Sie wusste so wenig über die amische Kultur. „Ich wollte damit nur sagen: Solange Yonnie in dich verliebt ist, bezweifle ich, dass du das wirst, was du gerade gesagt hast.“

„Ein Mädel.

„Ja, genau, das meinte ich.“

Grace lachte leise, aber gleichzeitig kamen ihr wieder die Tränen, als sie die Liste ihrer Mutter an ihr Herz drückte.

Heather wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, dass Grace sich an ihrer Schulter ausweinte. Weinte sie um ihre verschwundene Mutter oder um Yonnie? Was auch der Grund war, Heather war überwältigt, als dieses arme Mädchen neben ihr schluchzte.

Langsam öffnete sie ihr Herz und staunte darüber, wie viel ihr Grace inzwischen bedeutete. „Es ist okay, Grace“, flüsterte sie und legte die Arme um sie. „Weine dich ruhig aus.“

* * *

Heather fiel Graces ernster, fast trübsinniger Gesichtsausdruck auf, als sie am nächsten Morgen das Auto beluden. Sie war erleichtert, dass sie früh aufbrachen. Grace trug ihre Taschen, ohne etwas zu sagen, zum Auto und tiefe Schatten lagen unter ihren blauen Augen. Sie ist am Boden zerstört.

Heather ging noch einmal ins Haus und bedankte sich bei Susan, dass sie bei ihr hatten übernachten können. „Das war wirklich sehr freundlich von Ihnen“, sagte sie zu ihr.

Susan lächelte. „Wenn ihr wieder einmal nach Ohio kommt, seid ihr herzlich eingeladen, bei mir zu wohnen. Ich freue mich, wenn Leute bei mir sind.“

„Sie sind eine wunderbare Gastgeberin“, sagte Heather.

Susan umarmte sie. „Ich bete für euch, während ihr heute auf der Straße unterwegs seid.“

Grace erschien an der Haustür. „Denki, Susan“, sagte sie leise. „Auch dafür, dass du dich so um Mama gekümmert hast.“ Ihre Stimme klang erstickt und ihre Augen schimmerten feucht.

Heather ließ die beiden allein und eilte die Treppe hinauf, um ihre letzte Tasche, einen Kosmetikkoffer, zu holen. Sie schaute sich noch einmal im Zimmer um. Als ihr Blick auf die Bibel fiel, in der sie Letties Vogelliste gefunden hatte, erfüllte sie ein abgrundtiefes Mitleid mit Grace. Sie quälten so viele unbeantwortete Fragen: Warum war ihre Mutter weggegangen? Wohin war sie gegangen? Und wann würde sie wieder nach Hause kommen?

Als Heather wieder aus dem Haus trat, stellte sie fest, dass Grace bereits auf dem Beifahrersitz saß und geistesabwesend durch die Windschutzscheibe schaute. Susan ging auf die andere Seite herum, beugte sich in das offene Autofenster und sagte leise etwas. Bald danach verabschiedeten die drei Frauen sich noch einmal und Susan und Grace wünschten sich gegenseitig Gottes Segen.

Sie fuhren dieselbe schmale Landstraße zurück, die sie gekommen waren. Die Kühe grasten auf den Weiden, während Heather und Grace auf Sugarcreek zusteuerten.

„Susan ist wirklich etwas Besonderes“, bemerkte Heather.

„Fast als gehörte sie zur Familie.“

Als sie an der Stelle vorbeikamen, wo Heather die freundliche Frau mit dem reizenden Namen Minnie getroffen hatte, warf sie einen Blick in den Rückspiegel und erinnerte sich, wie entspannt sie bei diesem Spaziergang gewesen war.

Grace drehte sich zu ihr herum. „Es tut mir leid, dass diese Fahrt so erfolglos war. Du hast mich so weit hierhergefahren und es war alles vergeblich.“

„Ach, mach dir meinetwegen keine Sorgen, Grace.“

„Wir haben meine Mutter so knapp verpasst.“ Grace wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie saß fast wie eine Stoffpuppe da, ohne Kraft in den Armen, die Beine ausgestreckt und die Füße auf der kiesfarbenen Bodenmatte.

Ein flüchtiger Gedanke schoss Heather durch den Kopf: Wenn sie nicht in der Kurklinik angemeldet wäre, hätte sie vielleicht angeboten, hier in Baltic oder anderswo Detektiv zu spielen. Aber die Uhr tickte laut. Sie musste an ihre Gesundheit denken.