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Samstagabend, 30. September

Underdog:Hallo Engel

Engelchen:Hallo

Underdog:Bist du wirklich einer?

Engelchen:Und was für einer

Underdog:Siehst du auch so aus?

Engelchen:Wie frisch vom Himmel gefallen

Underdog:Blond?

Engelchen:Klar, Engel müssen blond sein

Underdog:Langes Haar?

Engelchen:Bis zu den Flügeln

Underdog:Du lügst mich doch nicht an, mein Engel? Engel dürfen nicht lügen

Engelchen:Ich lüge nicht. Und wer bist du?

Underdog:Wer weiß? Vielleicht der Teufel persönlich

Engelchen:Angenehm, Teufel

Underdog:Bist du allein?

Engelchen:Ja

Underdog:Was hast du an?

Engelchen:Was Engel halt so tragen 

Underdog:Und darunter?

Engelchen:Schneeweiße Haut

Underdog:Ich wär jetzt gerne bei dir. Wie wäre es mit Champagner bei Kerzenschein?

Engelchen:Klingt nicht übel

Underdog:Du trägst ein weißes Hemd und nichts darunter. Ich lasse die Badewanne einlaufen. Du ziehst dein Hemd aus, ganz langsam, dann setzt du dich in einen Berg aus knisterndem Schaum.

Engelchen:Wie auf eine Wolke

Underdog:Ja, ein Engel auf einer weißen Schaumwolke. Überall ist Schaum, auf deinen Brüsten, deinem Bauch 

Sie löst den Blick vom Bildschirm und gähnt. Wie sich die Phantasien doch gleichen. Nachthemd oder Strapse, Bett oder Badewanne, irgendwie ist es immer dasselbe. Lauter öde kleine Pornofilme, die durch ihre Köpfe geistern.

Underdog:… sehe ich zu, wie du dich reinigst. Nach dem Bad werde ich dich in ein großes, warmes Tuch hüllen. Ich öle deinen Körper mit Rosenöl ein, deine Schenkel 

Sie steht auf und tastet sich zum Kühlschrank. Es ist dunkel, der fahle Bildschirm ist die einzige Lichtquelle. Sie öffnet eine Dose Red Bull, schüttet den Inhalt in ein Glas, zusammen mit ein paar Eiswürfeln und einem Schuß Wodka. Sie setzt sich wieder vor den Schirm, achtet aber nicht auf die Worte, sondern schließt die Augen. Der Schmerz pulsiert dicht hinter der Schläfe. Es ist kurz nach eins. Dabei wollte sie nur ein Stündchen … Das war um acht. Gestern war es zwei. So geht das nicht weiter. Mein Schönheitsschlaf kommt zu kurz, ganz zu schweigen davon, daß mein Sexleben allmählich bizarre Formen annimmt.

Underdog:Wie gefällt dir das?

Underdog:Bist du noch da?

Underdog:Bist du schockiert? Warum antwortest du nicht, Engel?

Engelchen:Sorry, hatte meine Hände gerade woanders

Underdog:Verrat mir, wo

Engelchen:An verbotenen, dunklen Orten

Underdog:Würdest du mir einen Gefallen tun?

Engelchen:Kommt drauf an

Underdog:Zieh dein Hemd aus!

Sie leert ihr Glas zur Hälfte. Leise vor sich hin kichernd, tippt sie:

Engelchen:Schon geschehen. Und jetzt?

Underdog:Du lügst mich doch nicht an, oder? Engel dürfen nicht lügen

Engelchen:Ehrlich, ich bin ganz nackt

Underdog:Frierst du?

Engelchen:Nein

Underdog:Hast du Angst, so allein im Dunkeln?

Sie stutzt. Woher will er überhaupt wissen, daß ich hier im Dunkeln sitze? Aber das kann er sich vielleicht denken. Wieviel tausend Menschen wohl in dieser Nacht im Dunkeln vor ihrem Bildschirm sitzen, allein, so wie sie, auf der Suche nach … ja, nach was eigentlich?

Underdog:Mach jetzt das Licht an

Engelchen:Wozu soll das gut sein?

Underdog:Damit dich alle Welt sehen kann, deinen nackten, schutzlosen Körper

Himmel, ist der Kerl schräg drauf.

Engelchen:Licht ist an

Underdog:Stell dich raus auf den Balkon

Ein kleiner Adrenalinschub läßt sie aufspringen. Woher weiß er, daß ich einen Balkon habe? Kennt er mich? Fröstelnd reibt sie über ihre Oberarme. Sie fühlt sich nun tatsächlich nackt, trotz des dicken Pullovers, den sie über dem ausgeleierten Schlafanzug trägt. Ob womöglich dieser Typ von gegenüber, der immer hinter seiner Jalousie steht 

Sei nicht hysterisch! Niemand kennt Engelchen, genauso wie niemand Sahnetörtchen kennt oder Belladonna oder Gutefee. Ach, wie gut, daß niemand weiß 

Du bist übermüdet und siehst Gespenster. Dieser Underdog wünscht sich, daß ich einen Balkon habe oder notfalls einen erfinde. Er ist eine Requisite in diesem Spiel, eine Illusion, wie der blonde Engel, den er in mir sieht, oder wie der Kerl aus der Campari-Werbung, den ich mir vorstelle, während sich irgendwo wahrscheinlich ein Bauch-Bart-Brille-Typ sein Feinripp bekleckert.

Irgendwie macht es heute keinen Spaß. Sie ist müde und wird diesen Kerl jetzt ausknipsen. Eine winzige Bewegung ihres Zeigefingers, schon ist er aus ihrem Leben verschwunden. Das ist das Praktische an Internet-Beziehungen: Man behält die Kontrolle.

Underdog:Du lügst mich an, oder? Ich werde dir sagen, was ich mit Engeln mache, die mich anlügen.

Engelchen:Was denn?

Underdog:Ich breche ihnen die Flügel

Genug für heute. Sie verläßt den Frankfurter City-Chat und fährt den Computer herunter. Sie geht jetzt tatsächlich auf den Balkon und atmet tief ein und aus. Eine Ahnung von Herbst liegt in der kühlen, feuchten Luft, am Stadthimmel, der vom Flughafen so erhellt wird, daß man kaum noch Sterne sieht, steht eine schmale Mondsichel. Verloren klimpern die Eiswürfel in ihrem Glas. Im Haus gegenüber brennt nur noch in drei Wohnungen Licht. Im ersten Stock rechts liegt ein Paar auf der Couch, jeder in seiner Ecke, sie starren in eine Richtung, bewegungslos. Vielleicht sind die beiden längst tot? In der Dachwohnung im vierten Stock trägt eine junge Frau ihren Säugling von Zimmer zu Zimmer. Das geht seit zwei Wochen so, Nacht für Nacht. Armes Geschöpf.

Vor dem erleuchteten Fenster im dritten Stock links hängt eine Jalousie, sie wurde noch nie hochgezogen und fast immer brennt dahinter Licht. Ab und zu meint sie hinter den Lamellen den Umriß eines Mannes zu erkennen. Jetzt steht er auch wieder da. Regungslos. Kann er mich sehen, schaut er mich an?

Sie lauscht in die Nacht. Alles ist still, die Nachtschwärmer, die im Sommer das Viertel bevölkern, haben sich heute früh verkrochen. Unter ihr liegt, schwarz wie ein Brunnen, der Hinterhof. Was wäre, wenn sie jetzt um Hilfe riefe? Würde jemand reagieren? Schon wieder so ein absurder Gedanke. Zeit, daß ich schlafen gehe.

Dudek wickelt eine zerrissene Plastiktüte um die Wodkaflasche und steckt sie in ein Stück graues Abflußrohr. Es ist halb elf, er macht sich auf in Richtung städtische Bühnen. Vielleicht läßt sich am Ausgang des Theaters noch die eine oder andere Mark schnorren.

Er hat keinen Blick für den Zauber moderner Architektur in Form des gläsernen Foyers, das Oper und Schauspiel wie ein luftiges Band aus Licht verbindet. Die Oper scheint schon aus zu sein, das Theater noch nicht.

Den Weg hätte er sich sparen können, stellt er wenig später fest. Das Publikum, das aus der Vorstellung kommt, scheint nicht besonders gut gelaunt zu sein. Er beschließt, demnächst nachzusehen, was gespielt wird, das den Leuten die Laune so vermiest, aber auf dem Weg zurück zu seinem Lager hinter dem Bauzaun vergißt er sein Vorhaben. Jetzt freut er sich nur noch auf den Russen.

Verdammte Scheiße! Das hätte er nicht tun sollen, die Flasche dalassen. Wie konnte er nur so blöd sein? Jetzt haben sie ihm in der kurzen Zeit nicht nur den Wodka, sondern auch noch die Isomatte geklaut.

Dudek rafft seine ihm verbliebenen Besitztümer zusammen und macht sich mit den zwei Plastiktüten auf, um die üblichen Verdächtigen auf den Verlust von Schnaps und Bettstatt anzusprechen. Ein weiterer Fehler. Prompt fängt er sich im Zuge seiner Recherchen eine blutige Nase von Katschenko ein. Wahrscheinlich ist das Nasenbein gebrochen, es hört einfach nicht auf zu bluten, sein ganzer Parka ist schon versaut davon, und außerdem beginnt er zu frieren. So warm die Tage noch sind, die Nächte werden allmählich frisch. Die Luft riecht, als würde es bald regnen, kein Stern ist zu sehen, nur vorhin kam ganz kurz eine dünne Mondsichel zum Vorschein. Wenn er nur eine Unterlage zum Schlafen finden würde.

Die Suche treibt ihn hinter die Oper, in die Nähe einer Baustelle. Diese zwei großen Abfallcontainer sehen recht vielversprechend aus. Er sieht sich um. Es ist niemand in der Nähe. Im schwachen Schein einer Straßenlaterne und der Baustellenbeleuchtung beginnt er, den ersten Container zu inspizieren. Die wenigen vorbeifahrenden Autos stören ihn nicht. Solange es nur keine grün-weißen sind. Eine dicke Plastikfolie macht gar keinen so schlechten Eindruck, darunter verbergen sich bemalte Sperrholzbretter, vermutlich ausgediente Kulissen, für seine Zwecke ungeeignet. Viel zu schwer. Der zweite Container ist nicht ganz so voll, aber ein Stück Styropor ragt verheißungsvoll in die Nacht. Dudek zerrt es aus dem Gerümpel und schaut in ein bleiches Gesicht mit zwei weit geöffneten Augen. Er will die Requisite beiseite schieben und zuckt plötzlich zurück: Heiliger Bimbam, die ist ja echt. Augenblicklich bekommt er Herzrasen. Wenn man jetzt bloß den Russen zur Hand hätte, für die Nerven. Oder habe ich schon Halluzinationen? Vorsichtig tastet er sich wieder an den Container. Tatsächlich, da liegt einer. Mausetot. Oder nein. Es ist eine Frau, das da unter dem Hemd sind Titten, eindeutig. Sie hat kaum noch Haare auf dem Kopf. Sie ist angezogen, nur ihre Schuhe sind weg. Er inspiziert den Müll, der die Leiche umgibt. Nein, so hat das keinen Sinn, die muß da raus. Sonst kommt man an die unteren Lagen ja gar nicht ran. Der Körper ist kalt, aber noch nicht steif, das bemerkt Dudek, als er ihn aus dem Container zerrt. Für Sekunden hängt die Leiche kopfunter über dem Rand, ihre Arme baumeln herum wie bei einer Marionette. Dann fängt Dudek sie von außen auf, wobei er zu Fall kommt. Fluchend macht er sich von der Last des Körpers frei und rappelt sich auf. Sauschwer, das Ding! Hier, im Schatten der Container, liegt sie erst mal gut, Dudek kann in Ruhe die Abfälle durchwühlen. Frauen haben ja oft Handtaschen bei sich. Und in Handtaschen finden sich Geld und andere Dinge, die sich zu Geld machen lassen. Aber die da scheint keine Tasche gehabt zu haben. Wahrscheinlich hat die Tasche derjenige, der die Tote da reingeworfen hat, kombiniert Dudek messerscharf. Er klettert aus dem Container, versetzt ihm einen frustrierten Tritt und widmet seine Aufmerksamkeit der Leiche.

Hoppla! Da hätte er doch fast was übersehen. Na also. Hatte ich es doch gleich im Urin, daß der Abend noch gut enden wird. Ob der Stein wohl echt ist? Sieht aus wie Bernstein. Dudek keucht vor Anstrengung, aber der Ring läßt sich nicht abstreifen, denn irgend so ein gelbes Zeug klebt an den Fingern. Er seufzt. Seine Hand fährt zielsicher in seine Hosentasche. Das Butterfly hat er immer griffbereit, und die kleine Operation ist schnell erledigt, eine saubere Sache, Leichen bluten bekanntlich nicht. Aber der Ring klebt immer noch fest am Finger, was ist das bloß für ein Zeug? Nun gut. Manche Probleme lassen sich eben nicht vor Ort lösen, sie verlangen nach Spezialwerkzeug. Finger und Ring verschwinden in der Tasche seines Parkas.

Dann betrachtet Dudek die am Boden liegende Gestalt. Könnte auch ’ne Tunte sein. Die Frisur sieht aus, als würde sie sonst Perücken tragen. Der Rock ist weit nach oben gerutscht, sie trägt Strumpfhosen, allerdings sind die inzwischen ordentlich ramponiert. Nein, das ist keine Tunte, nicht mit den Beinen. Er ist Experte für Frauenbeine, schon von Berufs wegen. Er sieht ihnen den ganzen Tag nach, die Augen auf Kniehöhe hat er einen guten Blickwinkel, wenn sie auf der Zeil oder der Freßgaß an ihm vorbeistöckeln. Er ist ein Kenner, er liebt glatte Haut, schlanke Fesseln, elegante Schuhe. Er liebt das Geräusch hoher Absätze auf dem Asphalt. Und wenn ein wohlgeformtes Paar Beine in Pumps und hauchdünnen Nylons vor ihm stehenbleibt, während eine Münze in seinen Hut fällt, kann er manchmal das Knistern unter dem Rock hören, wenn im Weitergehen die Schenkel aneinander reiben.

Durch den zerrissenen Stoff der Strumpfhose berührt er ganz kurz die Haut. Kühl. Glatt. Seine Hand tastet sich nach oben, und er kommt ein wenig ins Schwitzen, als er die Strumpfhose zerschneidet und der Leiche die Unterhose auszieht. Champagnerfarben, so weit er das bei den schlechten Lichtverhältnissen erkennen kann. Jedenfalls blaßgelb. Wie Sauerkraut. Oder Pisse. Ein letztes Lebenszeichen sozusagen? Er hält sich das Textil an die Nase, schnüffelt daran und zuckt mit den Achseln. Sein Geruchssinn war noch nie der beste. Den Slip wird er dem Legionär bringen, der alte Bock bezahlt für so was. Scheiße! Jetzt ist da Blut drangekommen, von seiner Nase. Na, auch egal. Das läßt sich erklären. Vielleicht macht es die Sache noch exquisiter, teurer, wer weiß? Sein Blick fällt auf den nun nackten Unterleib der Toten. Mit seinen rissigen, dünnsohligen Stiefeln schiebt er die Beine sachte ein Stück auseinander. Eindeutig keine Tunte. Sieht alles ganz normal aus. Normal ist gut. Er stößt ein schnaubendes Lachen aus. Als sähe ich so was jeden Tag in natura. Aber es gibt Dinge, die vergißt man nicht. So wie die Farbe von Champagner, obwohl es lange her ist, daß er welchen getrunken hat. Damals, in seinem anderen Leben. Krampfhaft versucht er nun zu eruieren, wann und bei welcher Gelegenheit sich ihm zuletzt ein vergleichbares Objekt ähnlich darbot. Es muß gewesen sein, als er noch im Anzug durch fremde Städte spazierte und in sauberen Hotelbetten schlief. Nun reicht seine Erinnerung lediglich zurück zu einer gewissen Hilda, die am Kaisersack campiert und für einen Schluck Fusel jeden an ihre Möse läßt. Aber das ist, als würde man einen italienischen Modellschuh mit seinen ausgelatschten Stiefeln vergleichen. Wenn ihn auch sein Hirn im Stich läßt, zumindest ein Körperteil an ihm erinnert sich nun recht deutlich. Aber hoppla! Geradezu gewaltig.

Verdammt noch mal, Dudek, du alte Sau! Das ist eine LEICHE. Die Frau ist TOT. Andererseits – schlecht hat sie sich nicht angefühlt. Er legt die Hand auf die begehrte Stelle und forscht. Kühl. Ein bißchen gummig. Aber weich. Nachgiebig. Okay, schachmatt ist schachmatt, und tot ist tot, aber anscheinend gibt es graduelle Unterschiede. Bestimmt ist die da noch gar nicht lange tot. Also quasi nur so ein bißchen.

Mittwoch, 4. Oktober

Sie wollten mich täuschen. Mich und IHN! Das ist das Schlimmste. Aber sie werden die Quittung dafür bekommen. Groß werden ihr Schmerz und ihre Reue sein, ihr Jammern und Zähneklappern. Ich kann es kaum erwarten. Mein ist die Rache, spricht der Herr. Ich bin nur SEIN Werkzeug.

»Exitus.« Vincent Romero schüttelt betrübt sein Haupt.

»Unmöglich!« Antonie versucht es noch einmal mit Schütteln und gutem Zureden. »Come on, baby, mach schon … Nun hab dich nicht so.« Es folgen ein paar Faustschläge und die Androhung eines Fenstersturzes. Vergeblich. Die Lichter an den Schaltern brennen vorschriftsmäßig, um nicht zu sagen scheinheilig, und die Maschine gibt die vertrauten Geräusche von sich, aber die braune Flüssigkeit, die sie lustlos in das Designertäßchen speit, ist lauwarm und ohne eine Spur von crema, auch jetzt wieder, beim dritten Versuch.

»Scheiße! Das Ding ist doch noch gar nicht alt! Und es war sicher sauteuer, oder?«

Selbstverständlich beantwortet Hauptkommissar Vincent Romero diese Frage nicht, während er sich jetzt sehr, sehr langsam aus seinem Ledersessel hievt.

»Gewalt hilft da nicht.« Romero legt seine kräftige Hand an die Seitenwand.

»Was dann? Handauflegen?« spottet Antonie.

»Sie heizt nicht«, diagnostiziert ihr Chef.

Antonie legt ihre Hand an die andere Seite der Maschine. Glatter Edelstahl, kühl wie der Morgen da draußen, vor dem Bürofenster.

Sie blicken sich über die Maschine hinweg betrübt an.

»Tut mir leid. Ich hätte sie euch gerne in einwandfreiem Zustand dagelassen.« Romero zuckt bedauernd die Schultern unter seinem Sakko, auf dessen weichfließendem Tuch das ordinäre Neonlicht der Bürolampe einen vornehmen Silberschimmer annimmt.

»Verdammt noch mal, wie kann das Ding einfach über den Feiertag seinen Geist aufgeben?« jammert Antonie.

»Maschinen haben keinen Geist.«

»Wo kriegen wir jetzt einen vernünftigen Espresso her?« Eine Frage, die unbeantwortet bleibt, denn in diesem Moment wird die Tür geöffnet.

Romero und Antonie lösen rasch ihre Hände von der Kaffeemaschine.

»Wie wäre es mit Anklopfen, Frau Bulka?« brummt Romero, wobei es ihm wie stets ein wenig grotesk vorkommt, das Mädchen mit den blechgespickten Ohren und dem Ring durch die linke Augenbraue mit »Frau« anzusprechen.

»Tschuldigung. Was macht ihr da? Ist das was Rituelles?«

»Was meinst du, Irina«, fragt Antonie, »haben Maschinen einen Geist?«

»Na, klar. Wenn ich zum Beispiel meinem Computer blöd komme, dann schaltet der total auf stur. Warum?«

»Die Espressomaschine ist kaputt«, seufzt Antonie.

»Wart ihr nicht nett zu ihr?«

»Doch, immer«, versichern Romero und Antonie eiligst.

»Schade. Gerade wollte ich einen schnorren. Na, dann mach ich mal Kaffee.«

Bei diesen Worten ziehen sich Antonies Magen und Romeros Stirnfalten synchron zusammen, und sie tauschen einen entsetzten Blick.

»Ich verhindere das Schlimmste.« Antonie stürzt hinaus auf den Flur. Irina Bulka ist seit zwei Monaten die Sekretärin der Mordkommission und hat durchaus ihre Qualitäten. Kaffeekochen gehört nicht dazu.

Wieder allein, läßt sich Vincent Romero langsam in seinen ergonomischen Schreibtischsessel sinken. Er versucht, sich in ein Schreiben des Innenministeriums zu vertiefen, aber seine Gedanken sind nicht bei der Sache. Was geht mich dieser Unfug noch an? In wenigen Tagen ist sowieso alles vorbei. Ein grausiges Szenario spielt sich vor seinem inneren Auge ab: Sie werden ihm einen Blumenstrauß und einen Freßkorb schenken, dazu Gesundheits- und Glückwünsche auf einer Karte mit einer goldenen, lorbeerumrankten 60, die die Unterschriften der ganzen Dienststelle trägt. Er wird seinen Schreibtisch leerräumen, mit dem Pappkarton unter dem Arm über den Parkplatz gehen und dann nach Hause fahren, wo ihn der Ruhestand erwartet. Ruhe. Langeweile, Alter, Siechtum. Ein Artikel wird in den Lokalteilen der Rundschau und der FAZ erscheinen, in dem sie ihn weidlich loben werden. Am besten machen sie gleich einen schwarzen Rand drum herum … Er wird aus seinen trüben Gedanken gerissen, als die Tür nach kurzem Klopfen aufgeht.

»Immer her mit der Droge«, brummt er, aber statt einer Kaffeekanne hat Antonie Bennigsen ihre Dienstwaffe in der Hand.

Romeros Gesicht hellt sich auf. »Der Gnadenschuß. Das ist die Lösung!«

»Hoch mit dir«, fordert Antonie ihren Vorgesetzten auf. »Da ist etwas, das wir uns ansehen sollten.« Sie steckt die Pistole in ihre Handtasche. Gurt und Holster ruinieren Antonies Meinung nach jedes Outfit, und Romero hat es aufgegeben, ihr deswegen Vorträge zu halten.

Er stemmt sich erneut aus seinem Stuhl, schräge einsachtzig in maßgeschneidertem Anthrazit. Antonie hat bereits seinen zyanblauen Kaschmirmantel vom Bügel genommen und hält ihm das gute Stück hin. Romeros Art, sich zu kleiden, die eher an einen Bonvivant als an einen Polizisten denken läßt, ist im Präsidium seit Jahren Anlaß für Spötteleien. Aber Romero lehnt es ab, diesbezüglich Kompromisse zu machen. Er ist überhaupt nicht der Mann für Kompromisse. Vincent Romero setzt fast immer seinen Willen durch, meist so geschickt, daß die anderen überzeugt sind, alles wäre von Anfang an ihre Idee gewesen.

»Meine liebe Antonie«, seufzt er, als sie über den Parkplatz des Präsidiums eilen, »du würdest deinen alten, kranken Dienstgruppenleiter nicht früh am Morgen und eine Woche vor seiner Pensionierung ohne einen Schluck Kaffee aus seinem privat angeschafften ergonomischen Stuhl scheuchen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre, das würdest du doch nicht übers Herz bringen, oder?«

»Herz? Was ist das?« antwortet Antonie mit einem Grinsen, das so schief ist wie Romeros Haltung.

»Dachte ich’s mir. Also, was gibt es?«

»Eine weibliche Leiche bei den Städtischen Bühnen.«

»Jetzt übertreiben sie es mit ihren ewigen Personalquerelen. Und überhaupt: Ist das nicht dein Job? Und Gellers? Ich bin der Mann für die Akten. Das habe ich mir verdient. Deshalb habe ich diese Espressomaschine angeschafft und den monströsen Stuhl. Um’s richtig gemütlich zu haben.«

»Erstens kommt Geller erst morgen aus der Dominikanischen Republik zurück und …«

»Wieso fliegt der Mann nicht nach Kuba und bringt ein paar anständige Cohibas mit?« unterbricht Romero unwillig. »Wäre für seine Beurteilung jedenfalls kein Schaden.«

»… und zweitens habe ich das Gefühl, daß dir momentan etwas Zerstreuung ganz gut tut.«

»Du und Gefühl.« Romero läßt sich vorsichtig auf den Beifahrersitz gleiten. »Autositze«, stöhnt er, »sind das pure Gift.«

»Du solltest dich operieren lassen.«

»Komisch, genau das sagt mein Arzt auch. Mit dem Messer sind diese Jungs unglaublich fix. Aber noch gebe ich nicht auf. Ab morgen abend bekomme ich regelmäßig ayurvedische Massagen.«

»Ist das was Unanständiges?« Antonie wirft Blaulicht und Martinshorn an.

»Wahrscheinlich. Meine Mutter hat es mir empfohlen.« Romeros rechte Hand tastet nach dem oberen Haltegriff, als Antonie vor dem Hauptbahnhof den BMW in die Kurve legt. »Es kommt aus Indien. Und jetzt rase bitte nicht so. Leichen pflegen nicht davonzulaufen.«

»Mir graust.«

»Seit wann graust dir vor Leichen?«

»Vor Pfeiffer, dieser BKA-Knalltüte.«

»Du wirst dich schon arrangieren.«

»Wie kann so ein mickriger Macho deinen Job kriegen?«

»Stehst du denn nicht auf Machos?« fragt Romero in schlecht gespieltem Erstaunen.

Statt einer Antwort wirft sie ihm einen schrägen Blick zu.

»Mich mußt du nicht so giftig ansehen. Ich bin der Ober-Macho.«

»Das weiß ich. Soll ich mal ehrlich sein?«

»Lieber nicht«, wehrt Romero ab, aber schon bricht es aus Antonie heraus: »Ich finde es einfach megabeschissen, daß du gehen mußt! Ich meine, schau dich mal an. Du bist topfit – bis auf deinen Ischias – du hast Erfahrung und Verstand, du weißt, wie man mit Leuten umgeht, du bist der einzige Mann der Dienststelle, der Manieren hat …«

»Probst du schon für meinen Nachruf?« unterbricht Romero. »Und was für eine Ausdrucksweise! Megabeschissen. Du redest wie unser gepierctes Abteilungsküken, das keinen Kaffee kochen kann.«

»… und so einer wird zwangsweise nach Hause geschickt!« schimpft Antonie unbeirrt weiter. »Das ist Verschwendung, wenn man mich fragt, aber mich fragt ja keiner.«

»Wir sind da.« Romero deutet auf die Armada einschlägiger Fahrzeuge. Antonie hält an, springt aus dem Wagen und knallt die Tür zu. Romero quält sich aus seinem Sitz, wobei ihm Antonie die Tür aufhält.

»Danke für die aufmunternden Worte. Das freut einen alten Mann.«

»Du bist kein alter Mann, du siehst höchstens aus wie fünfzig. Eher neunundvierzigeinhalb.«

»Mag sein«, stöhnt Romero. »Aber an manchen Tagen fühle ich mich älter als meine Mutter und der liebe Gott zusammen.«

Hinter den Städtischen Bühnen herrscht Betrieb. Etliche Uniformierte wuseln herum, eine kleine Gruppe Neugieriger lauert hinter dem Absperrband.

Ein kleiner Mann in einem Overall eilt auf Romero und Antonie zu. »Herr Kommissar, isch hab se gefunne. Isch wollt die zwa Wanne do ufflade, und grad dahinter hat se im Dreck geläsche …«

Antonie nimmt ihren Notizblock aus der Tasche. »Ihren Namen bitte.«

»Majad Boukhalaf Abdusselam.«

»Würden Sie das bitte langsam buchstabieren?«

Romero überläßt den Zeugen Antonie und sieht sich um. Die Rückseite der Oper Frankfurt hält nicht so ganz, was die elegante Front des Gebäudes verspricht. Ein weißer Lastwagen mit einer blauen Aufschrift »Städtische Bühnen Frankfurt« parkt auf dem staubigen Platz, der von einem Bauzaun eingefaßt wird. Wenige Meter entfernt stehen zwei Müllcontainer, die die Sicht auf die Leiche von der Straße aus versperren. Zwei Herren von der Spurensicherung sind dabei, den Fundort zu vermessen, ein dritter filmt und fotografiert die Leiche. Ein junger Mann mit Schnauzer und Lederjacke stellt sich als Kommissar Bauch vom Ersten Revier vor und führt Antonie und Romero mit einladender Geste hinter die Container.

Die Tote liegt mit gespreizten Beinen auf dem Rücken und ist unterhalb der Taille nackt, bis auf eine völlig zerfetzte Strumpfhose, die sich um den Knöchel des linken Beins ringelt. T-Shirt und BH sind bis über die Brüste hochgeschoben. Wo die Haut noch intakt ist, zeigt sie Verfärbungen in allen Nuancen von Blau und Braun. Der Fotograf der Spurensicherung ist dabei, die Tote Zentimeter für Zentimeter abzulichten, und obwohl Romero keinerlei Zweifel an der Notwendigkeit seines Tuns hat, ist ihm, als würde damit der Toten der letzte Rest ihrer Würde genommen.

»Papiere?«

»Nichts gefunden«, bedauert Bauch.

Ein Mann mit einer orangefarbenen Weste mit der Aufschrift NOTARZT gesellt sich zu der Gruppe. »Sie ist nicht mehr ganz frisch«, meint er lakonisch. »Die Fliegen haben sie zuerst gefunden.«

»Todesursache?« fragt Romero.

»Ungeklärt«, antwortet der Mediziner achselzuckend und deutet auf die linke Hand der Toten. »Der Ringfinger fehlt. Aber daran ist sie nicht gestorben.«

Alle Blicke senken sich auf die verstümmelte Hand der Toten.

»Sieht aus wie abgeschnitten«, meint der Arzt.

»Und wo ist der Finger?« Antonies Augen suchen den Boden um sie herum ab. In ihrem Gesicht spiegeln sich abwechselnd Ekel und Konzentration wieder. Für einen törichten Moment befürchtet sie, bereits draufgetreten zu sein.

»Bei der Leiche lag er nicht. Die Kollegen suchen noch.« Der Kommissar vom Ersten Revier deutet mit seinem Kinn auf die Streifenbeamten, die mißlaunig den Inhalt des Containers inspizieren.

»Was ist das gelbe Zeug da an ihrem Mund?« fragt Antonie niemand Bestimmten. Die Kiefer der Toten klaffen auseinander, ein paar dünne, gelbliche Schlieren kleben wie angetrocknete Zuckerwatte an dem, was von den Lippen noch zu sehen ist.

»Keine Ahnung«, bekennt der Arzt. »Ist nicht mein Bier. Das sollen sie mal in der Rechtsmedizin klären.«

»Das Haar sieht aus, als wäre es mit einer stumpfen Klinge büschelweise abgeschnitten worden«, bemerkt Kollege Bauch zu Romero, der brummend nickt. Antonie beugt sich über den Kopf der Toten. Einige grünschimmernde Fliegen in den Augenhöhlen fühlen sich gestört und machen sich träge davon. Die Frau muß schulterlanges, braunes Haar gehabt haben, im Nacken sind noch ein paar Strähnen davon zu sehen, und Antonie schämt sich ein wenig, als ihr bei dieser Gelegenheit einfällt, daß sie heute abend noch einen Termin bei Gianni hat.

»Wie lange ist sie schon tot?« will Romero vom Notarzt wissen, aber in diesem Augenblick veranlaßt ein kleiner Tumult die vier, sich umzudrehen. Ein Mann ist über das Absperrband gestiegen, verfolgt von zwei Polizisten. Schon schnurrt seine Kamera, das Objektiv ist auf die Leiche gerichtet. Romero stellt sich rasch vor die Tote, aber offenbar nicht rasch genug.

»Danke, das war’s schon«, ruft der Journalist, der jetzt von der jungen Polizistin und einem ihrer Kollegen zurückgedrängt wird. »Herr Kommissar, können Sie uns schon sagen, worum es sich hier handelt? Ein Sexualverbrechen, einen Raubmord?« Romero sieht den Mann nur kurz an, sein Gesicht zeigt dabei einen Ausdruck, als hätte er eine Ratte in seinem Kühlschrank entdeckt. Er wendet sich an Antonie: »Sind wir hier fertig?«

»Wenn du das sagst.«

»Wir sind fertig. Laß uns zu Wacker fahren. Ich brauche jetzt einen anständigen Kaffee.«

Sie haben Glück, es ist noch nicht Mittagszeit, und sie ergattern einen der wenigen Tische im Café Wacker. Aufseufzend nimmt Romero seine Schonhaltung ein und sieht der Dame hinter dem Tresen beim Kaffeeverkaufen zu. Antonie holt zwei Milchkaffee und balanciert sie an den Tisch.

»Costa Rica Nummer zwei.«

»Du bist ein Engel.«

Antonie zückt ihr Handy und setzt Irina in knappen Worten über den Leichenfund in Kenntnis. »Augenfarbe? Kann ich nicht sagen. War nicht mehr zu erkennen. Bis gleich.« Sie legt das Handy auf den Tisch. »Irina checkt die Vermißtenmeldungen.«

Romero nimmt einen Schluck Kaffee. »Köstlich. Antonie, du weißt, daß ich es gerne gesehen hätte, wenn du Pfeiffers Job bekommen hättest.«

»Ich auch«, gibt Antonie zu.

»Ich habe mich für dich eingesetzt, aber ich hatte das letztendlich nicht zu entscheiden.«

»Ich weiß. Mach dir keine Gedanken.«

»Es wird andere Chancen geben, du wirst deinen Weg machen«, prophezeit Romero.

»Danke«, lächelt ihm Antonie zu. »Das tut gut. Ich bin halt nicht so ein As im Arschkriechen wie Pfeiffer.«

Romero steckt sich einen Zigarillo an und hält Antonie die Schachtel hin. »Echte Cohibas in Miniaturausführung. Nett, nicht wahr? Raucht meine Mutter neuerdings. Magst du eine?«

Antonie lehnt lächelnd ab. »Du machst auch nicht gerade einen glücklichen Eindruck, so die letzten Tage.«

Die letzten Tage … sinniert Romero. »Ach, weißt du, ich mache mir ein wenig Sorgen um die Tabakernte auf Kuba. In der Zeitung stand, es grassiert ein Schimmelpilz auf den Plantagen.«

Antonie sieht ihn prüfend an. »Dann bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon, du freust dich womöglich gar nicht auf dein Leben als Privatier.«

»Doch, doch. Wie ein Schneekönig.«

Privatier. Klingt gar nicht so schlecht. Man muß dem Kind nur den richtigen Namen geben. Romero reibt sich nachdenklich das Kinn, auf dem schon wieder Bartstoppeln zu spüren sind. Er gehört zu den Männern, die sich eigentlich zweimal am Tag rasieren müßten. Auch das wird in Zukunft möglich sein. Ja, das Leben als Privatier hat sicherlich auch angenehme Seiten. Endlich Zeit für sich. Er könnte sich den Hund anschaffen, den er schon immer haben wollte, er wird die Bücher lesen, die ihm seine Mutter seit Jahren schenkt und für deren Lektüre nur selten Zeit war, er kann sich zivilisiert kleiden, ohne daß hinter seinem Rücken darüber gelästert wird, und er wird endlich so oft und so lange er will seiner uralten Leidenschaft frönen können: »Ich freu mich aufs Golfspielen.«

Denk positiv, Romero: Wenn du dich anstrengst, und wenn diese dumme Ischiasgeschichte auskuriert sein wird, dann kannst du dein Handicap endlich einmal nennenswert runterdrücken, wenn du dich wirklich reinhängst 

»Hm. Lecker.« Antonie macht einen langen Hals zum Nebentisch, wo ein älterer Herr einen Teller mit Gebäck vor sich stehen hat.

»Sag nicht, daß du schon wieder Hunger hast.«

»Doch, irgendwie schon«, gesteht Antonie. »Als ich die Stelle bei der Mordkommission annahm, habe ich gehofft, ein paar Kilo abzunehmen, aber das Gegenteil ist der Fall: Leichen machen mich immer hungrig.«

»Du brauchst nicht abzunehmen.«

»Das sagen Männer immer. Ich habe übrigens neulich dein Risotto Milanese nachgekocht, aber es hat nicht so gut geschmeckt wie bei dir.«

»Laß mich raten: Du hast einen Weißwein genommen, den du irgendwann geschenkt bekommen hast und den du pur nie trinken würdest, weil schon der Anblick des Etiketts dein ästethisches Empfinden beleidigt, du warst zu faul, echte Kalbsbrühe zu kochen, und hast Körnerbrühe verwendet und viel zu wenig umgerührt.«

»Woher weißt du das?«

»Ich bin Kriminalist.«

Antonie sieht ihren Chef prüfend an. Wie ein Schneekönig sieht er nicht gerade aus, seine Stimmung kommt ihr in letzter Zeit recht gedämpft vor.

Ehe sich Romero erneut der Endzeitstimmung hingeben kann, fudelt Antonies Handy. Abwartend sieht Romero zu, wie Antonie sich Notizen macht.

»Das war Irina wegen dieser Leichensache. Heute morgen wurde eine junge Frau namens Stefanie Greven von ihren Eltern vermißt gemeldet. Die Beschreibung könnte passen. Der Vater ist unterwegs in die Gerichtsmedizin.« Als hätte sie die Tatsache, daß die Tote nun einen Namen hat, plötzlich nachdenklich gemacht, rührt Antonie gedankenversunken in ihrem Kaffee.

»Kannst du dir vorstellen, wie es sein muß, seine Tochter auf Heumanns Tisch liegen zu sehen?« fragt sie Romero.

»Nein. Der Tod ist immer unvorstellbar.«

Buchsbaumgesäumte Auffahrt, Doppelgarage, Alarmanlage. Das Einfamilienhaus auf dem Lerchesberg läßt auf gehobene Einkommensverhältnisse schließen, wie die meisten Anwesen in dieser Wohngegend. Die blonde Frau dürfte Anfang fünfzig sein, er ein wenig älter, wie sich das gehört, beide sind gepflegte, attraktive Menschen, schlank, mit aufrechter Haltung, und dennoch erinnern beide an Gespenster. Zur Verzweiflung kommt der Jet-lag. Bei der Frau ist unter dem rechten Auge die Wimperntusche verschmiert.

Romero und Antonie werden in ein großzügiges, pastellfarbenes Wohnzimmer gebeten, das aussieht, als wäre es von einem Feng-Shui-Berater eingerichtet worden. Ein offener Kamin dominiert den Raum, cremefarben gewischte Wände strahlen Ruhe aus, die vom Plätschern eines Zimmerspringbrunnens unterstrichen wird. Sie bekommen Kaffee und Wasser angeboten, lehnen beides höflich ab. Eine antike Standuhr schlägt dreimal. Die Eltern von Stefanie Greven wissen seit den Mittagstunden Bescheid, der Vater hat seine Tochter im Rechtsmedizinischen Institut identifiziert. Romero und Antonie setzen sich den Grevens gegenüber auf eine hellgraue Ledergarnitur, und Herr Greven nimmt seine Brille ab. Seine Augenlider sind gerötet. Die Frau macht einen abwesenden Eindruck, wahrscheinlich steckt sie randvoll mit Beruhigungsmitteln, so leer wie der Blick ihrer blauen Augen wirkt und so schleppend wie sie spricht, als sie jetzt ungefragt erklärt: »Sie hat seit Tagen nicht angerufen.«

»Ihre Tochter ist bei Ihnen gemeldet. Stimmt das noch?«

»Natürlich. Ja, sie wohnt bei uns. Warum sollte sie woanders wohnen?«

Die Frage bleibt unbeantwortet, statt dessen erkundigt sich Romero: »Wo arbeitete Ihre Tochter?«

»Bei mir«, antwortet Herr Greven. »Ich habe ein Architekturbüro in der Innenstadt. Stefanie ist seit Beendigung ihres Studiums bei mir angestellt.«

»Als Architektin?«

»Ja. Sie erschien am Montag nicht zur Arbeit. Das erfuhr ich drüben von meinem Kompagnon. Daraufhin sind wir unruhig geworden. Auf ihrem Handy hat sich nur diese Mailbox gemeldet.«

»Wir haben sonst jeden Tag telefoniert oder wenigstens so eine … eine …«

»SMS?« hilft Antonie Frau Greven weiter.

»Ja, eine SMS geschickt. Ich wußte gleich, daß etwas nicht stimmen kann, denn sich tagelang nicht zu melden ist absolut nicht ihre Art, ganz und gar nicht. Sie ist sehr gewissenhaft, sie würde uns nie tagelang im Ungewissen lassen, sie nicht!«

»Was meinen Sie mit ›sie nicht‹?« hakt Romero nach.

»Nichts«, antwortet Herr Greven für seine Frau.

Frau Greven schluchzt auf.

»Am vergangenen Samstag nachmittag haben wir noch mit ihr telefoniert«, nimmt Herr Greven Romeros nächste Frage vorweg. »Nach deutscher Zeit um sechzehn Uhr.« Offensichtlich hat er sich auf bestimmte Fragen sorgfältig vorbereitet.

»Worum ging es in dem Gespräch?«

Herr Greven sieht seine Frau an. Die hört auf, an dem spitzengesäumten Taschentuch in ihren Händen zu zerren, und sagt: »Nichts Besonderes. Wie es ihr geht, wie es uns in Florida gefällt, wie das Wetter ist. Alltägliche Dinge.«

»Hat sie gesagt, was sie am Wochenende vorhatte?«

Die Mutter schüttelt den Kopf. »Nur, daß sie mal mit Nina ins Kino wollte.«

»Wer ist Nina?«

»Christina, unsere jüngere Tochter«, antwortet Herr Greven.

»Hat Stefanie einen Freund?« Romero fällt auf, daß er eigentlich »hatte« sagen müßte, aber er bringt es nicht übers Herz.

Der Vater schüttelt den Kopf. »Sie hatte einen, drei Jahre lang etwa, aber das ging auseinander. Ist schon über zwei Jahre her. Er war nicht der Richtige.«

Antonie fragt sich im geheimen, wem er nicht gepaßt hat, der Tochter oder den Eltern.

»Sonst wissen Sie von keinen Männerbekanntschaften?«

»Männerbekanntschaften. Ich bitte Sie!« protestiert Herr Greven müde.

»Tut mir leid«, entschuldigt sich Romero für den Ausdruck, »es war nicht so gemeint, wie es sich anhörte.«

»Nein, sonst wissen wir nichts.« Er sieht seine Frau an. Die schüttelt bestätigend den Kopf und fügt hinzu: »Stefanie hat keinen schlechten Umgang. Ich verstehe nicht, wie ausgerechnet ihr so etwas zustoßen kann.« Die Worte klingen jetzt schrill und kurzatmig. Sie streicht sich nervös über ihr dunkelblondes Haar, das im Nacken von einer perlmuttfarbenen Spange zusammengehalten wird. Eine schöne Frau, bemerkt Romero, man kann es immer noch sehen.

»Wie alt ist Stefanies Schwester?« versucht Romero das Gespräch in ruhigere Bahnen zu lenken.

»Drei Jahre jünger. Sie wurde im April siebenundzwanzig«, antwortet Frau Greven. »Sie wohnt in Bockenheim in der Leipziger Straße. In so einer Studenten-WG

»Sie macht gerade ein Volontariat bei der Rundschau«, erklärt der Vater und nickt grimmig. »Sie hat ihr Germanistikstudium hingeschmissen und will partout nicht fertig studieren. Obwohl sie intelligent genug wäre. Journalistin will sie jetzt werden!« Er spuckt das Wort aus wie eine verdorbene Auster.

»Weiß sie schon Bescheid?« fragt Romero.

Herr Greven schüttelt den Kopf: »Sie war nicht zu Hause. So eine Nachricht kann ich ihr schließlich nicht auf den Anrufbeantworter sprechen, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Waren die beiden Schwestern viel zusammen?«

»In letzter Zeit nicht mehr so oft«, sagt der Vater.

»Doch, sie haben sich regelmäßig bei Nina getroffen«, widerspricht die Mutter, und sie und ihr Mann sehen sich an, als wollten beide sagen Was weißt du schon?

»Haben Sie Fotos von Stefanie?«

Beide fangen an zu kramen, Frau Greven in ihrer Handtasche, die sie aus der Garderobe holt und die auf dezente Weise edel aussieht, Herr Greven zückt die Brieftasche. Antonie ertappt sich bei dem Gedanken, daß eine Frau – eine Dame – wie Frau Greven gut zu Romero passen würde. Der Vater legt ein Farbfoto vor Romero hin. Er wirkt müde und resigniert, als er sagt: »Wozu brauchen Sie das jetzt noch?«

Romero erklärt ruhig: »Ich möchte Ihre Tochter kennenlernen. Ich will möglichst viel über sie wissen. Ich versuche herauszufinden, wie sie auf Fremde gewirkt haben mochte.«