Paul Grote

Ein Riesling zum Abschied

 

Kriminalroman

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

Originalausgabe 2011

© 2011 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40822 - 6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21319 - 6

 

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|5|Fast zwangsläufig wird man schließlich zu der Person,

für die einen die anderen halten.

 

Gabriel Garcia Marquez:

Erinnerung an meine traurigen Huren

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

|7|1

Er blickte an dem Haus mit den dunklen Fenstern empor. Es schien verlassen, und nirgends brannte Licht, nur die Straßenlaternen, an diesem Sommerabend von Insekten umschwirrt, schienen hell und kalt. Der fahle Schein der Laternen, in dem Fledermäuse sich im Flug satt fraßen, ließ die menschenleere Straße noch einsamer erscheinen. Weiter vorn fiel das kalte Blau einer Lichtreklame auf den Asphalt. Der Nachtwind griff in die Tannen, die Schatten ihrer großen Zweige strichen lautlos über die Fassade. Im ersten Stock stand ein Fenster offen, eine weiße Gardine wehte heraus, wie um etwas zu verdecken – oder als Mahnung? Der weiße Schleier stand für einen Moment still in der Luft, verharrte in der Form einer Totenmaske, und Thomas Achenbach meinte, in ihr Alexandras Züge zu erkennen. Ihn schauderte.

Am Abend war bei Tisch über sie geredet worden, und die Gespräche hatten die Geburtstagsfeier überschattet. Am Freitag war er Alexandra zuletzt auf dem Campus begegnet. Jetzt war sie tot, erschlagen, und lag irgendwo in einem eisigen Keller der Gerichtsmedizin von Wiesbaden.

Ratlos, entsetzt und auch widerwillig hatten seine Kommilitonen die absurdesten Theorien gewälzt und jeden zum Mörder erklärt, der aus diesem oder jenem Grund als Täter in Betracht kam oder am wenigsten sympathisch war. An Manuel hatte niemand gedacht. Bestand nicht auch die Möglichkeit, dass Alexandra von einer Frau getötet worden |8|war? Als eine Mitarbeiterin der Hausverwaltung am Montag die Heizungsmonteure in die Wohnung gelassen hatte, war die Tote entdeckt worden. Die Nachricht vom Mord hatte nicht nur unter den angehenden Önologen des Fachbereichs Geisenheim, wie dieser Teil der Hochschule RheinMain hieß, rasend schnell die Runde gemacht. Auch die Bevölkerung des Städtchens war schockiert. Seit dem Mord war nichts wie vorher.

Thomas fand es immer noch richtig, dass er sich den Abend über mit seiner Meinung zurückgehalten hatte. Im Grunde genommen hatte er überhaupt keine. Er wusste nichts über die Todesumstände. Außer Manuel und Regine, mit denen er die Wohnung teilte, wusste niemand von seiner Abneigung gegenüber der Toten, von seinem tief sitzenden Misstrauen. Er war Alexandra, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, stets aus dem Weg gegangen, damit sich seine Antipathie nicht zur Feindseligkeit auswuchs. Ihm kam dabei entgegen, dass sich ihre Studiengänge sehr voneinander unterschieden. Alexandra hatte Internationale Weinwirtschaft gewählt.

»Ich will mir doch nicht alle fünf Minuten die Fingernägel sauber machen.«

Diese Worte, bei ihnen am Küchentisch ausgesprochen, hatte er noch im Ohr. Aber sie hatte es für nötig befunden, die Nägel mehrmals täglich zu lackieren, mal eben so, nebenbei. Er selbst und seine Freunde hingegen machten sich nicht nur die Finger schmutzig, auch die Hände, die Schuhe, sie schwitzten bei der Arbeit – sie studierten eben Önologie und Weinbau. Ihnen machte das nichts aus.

Es gab allerdings einige gemeinsame Lehrveranstaltungen, bei denen ein Zusammentreffen unvermeidlich war. Er und Alexandra hatten es bei der Andeutung eines Kopfnickens belassen. Morgen hätten sie sich bei der Mikrobiologie-Vorlesung gesehen, und auch im Kurs Weinbeurteilung |9|waren sie zwangsläufig zusammengetroffen. Aber da saß sie stets neben Manuel.

Thomas wusste, dass Alexandra ihn genauso verabscheute wie er sie. Er hatte sie durchschaut – und sie hatte es gemerkt. Es war nichts als ein Augenblick gewesen, in seinem Blick hatte sie sich erkannt gefühlt, abends bei ihnen in der Küche, nach dem Essen, beim Espresso. Der Rest des Abends war dann nur noch peinlich gewesen, schließlich war sie Manuels Freundin.

»Ich liebe Hausmannskost«, pflegte sie an solchen Abenden zu sagen und hatte ihn, der meistens kochte, dabei herausfordernd angegrinst. Die brachte er nun wahrlich nicht auf den Tisch. Aber was war für eine junge Frau schon gut genug, die am liebsten in den Etablissements von Sterneköchen verkehrte?

Außer dem trockenen Hall seiner Schritte hörte Thomas nur das Knarren der großen Äste der Tannen. Es würde Regen geben. Er konnte es riechen. Er hatte sich angewöhnt, an allem zu riechen, nicht nur an Früchten, nicht nur am Essen, an Holz oder Blumen, er roch an Eisen, an Glas, an Kunststoffen und an der Erde. Und er hatte Alexandra von Anfang an nicht riechen können. Die Abneigung war geradezu körperlich. Aber das hatte er Manuel genauso verschwiegen wie dieses Gefühl, dass sie allen etwas vorspielte. Doch er hatte es gespürt, und es verletzte ihn. Thomas’ gespanntes Verhältnis zu Alexandra machte seinem Freund arg zu schaffen.

An der Kreuzung neben der Sparkasse blieb Thomas stehen, schaute nach rechts zum Bahnhof und blickte noch einmal zu dem Haus mit dem offenen Fenster zurück. Er meinte, die weiße Gardine wieder gesehen zu haben, aber war das bei der Entfernung überhaupt möglich? War es ein Zeichen, ein Wink, eine Warnung? Ihm wurde schon wieder kalt, die Gänsehaut kroch von den Schulterblättern zum Nacken hinauf. Geh weiter, sagte er sich, sieh nach vorn, doch auch der Anblick des nächtlichen Bahnhofs mit dem |10|wartenden Taxi, das abgeblendet unter dem Baum davor parkte – der Fahrer hoffte wohl auf einen späten Fahrgast aus dem letzten Zug aus Wiesbaden –, wirkte nicht beruhigend. Links daneben drohte die massige Silhouette des in völligem Dunkel liegenden Schlosses Schönborn. Der Anblick der Weinstöcke davor, von einer halbhohen Mauer umfriedet, ließ Thomas aufatmen. Riesling wuchs hier. Was sollte es im Rheingau auch anderes sein? Ein wenig Spätburgunder? Thomas betrachtete die knorrigen Gebilde, von Blättern umrankt, in der Dunkelheit mehr Scherenschnitt als Wirklichkeit. Geisenheimer Schlossgarten hieß diese Lage mitten in der Stadt, fünfundzwanzig oder dreißig Jahre mochten die Weinstöcke hier stehen. Anthroposophen hätten an dieser Stelle kaum je etwas gepflanzt, ihnen wäre es für die Pflanzen zu laut gewesen. Aber eine Nacht wie diese, wenige Tage nach einem Mord und noch dazu kurz vor dem Regen, war sehr still – bis der nächste Güterzug aus dem Rheintal heraufdonnerte und die lautlose Dunkelheit zerriss. Thomas ging schnell weiter, um seinen düsteren Gedanken zu entkommen.

Er ärgerte sich, dass er zu träge gewesen war, den Vorderreifen seines Fahrrades zu flicken, andernfalls wäre er längst zu Hause gewesen. Den Wagen ließ er grundsätzlich stehen, wenn klar war, dass probiert und getrunken wurde. Es gab kein Essen unter den angehenden Önologen, bei dem nicht wenigstens einer von ihnen die Weine vom elterlichen Weingut oder sonstige Proben auf den Tisch stellte. Heute hatten sie die Weine von Hans Lang probiert, es hatte sozusagen ein Themenabend über biologisch gemachte Weine werden sollen.

In Sachen ökologischer Weinbau war Lang einer der Ersten im Rheingau, und was er und seine Mannschaft produzierten, gehörte zur Spitze. Sie hatten Gutsweine sowie zwei Lagen- und Ursprungsweine probiert, »vom bunten Schiefer«. Zum Kauf von Ersten Gewächsen reichte das studentische Budget nicht. Thomas war der Ansicht, dass |11|ein Winzer, der seinen einfachsten Weinen nicht die gleiche Sorgfalt angedeihen ließ wie seinen besten Gewächsen, ihnen nicht als Vorbild dienen konnte. Aber Lang war ein Vorbild, und seine Weine waren erschwinglich, und es war eine Frage des Geschmacks, des Anspruchs und der Möglichkeiten, für welchen Wein man sich entschied.

Thomas hatte es der Spätburgunder angetan, ein rebsortentypischer Wein, diskret im kleinen Holzfass ausgebaut, mit einem schönen Beerenaroma. Als grandios hatte er den Johann Maximilian »R« von einer Probe auf dem Weingut in Erinnerung. Thomas’ Freunde hatten mehr vom Grauburgunder und von Langs Riesling mit der Goldkapsel geschwärmt, leider hatten sie von allem nur eine Flasche, mehr gab der väterliche Monatsscheck nicht her. Sie lernten, sie probierten, sie diskutierten, und sie genossen, aber heute hatte ihre Privatdegustation, wie sie es nannten, nicht in euphorischer Stimmung geendet.

Heute Nacht kam Thomas die Winkeler Straße besonders lang vor, fremd und leblos, und er fragte sich, welche Sorge ihn mehr bewegte. War es Mitgefühl für Manuel, mit dem er seit einem Jahr zusammenwohnte und studierte, der sein Partner und inzwischen auch sein Freund geworden war? Mit Argwohn hatte er bemerkt, wie Alexandra ihn eingewickelt und umgarnt hatte, wie er mehr und mehr auf ihre Tricks reingefallen war und ihren lasziven Mund. Sie hatte mit Manuel gespielt, sie hatte seine Klaviatur schnell begriffen und ihre Fertigkeiten ausprobiert und perfektioniert. Manuel war blind gewesen, dankbar für das, was er für Liebe, für Zuneigung hielt. Er begriff nicht, dass sie ihn ausgenutzt, ihn verführt und dabei in die Irre geführt hatte.

Manuel war reich, vielmehr seine Eltern waren es, und für jemanden, der hoch hinauswollte, so hoch hinaus wie Alexandra, musste er das Ziel ihrer Träume gewesen sein.

Kreisrund und hell stand der Mond am Himmel, Wolkenschleier zogen vorüber. Thomas wäre gern unten am Rhein |12|gewesen, ein Glas Wein in der Hand, und hätte das Glitzern des Lichts auf den Wellen genossen, aber er war zu müde, bis ans Ufer zu laufen. Außerdem war der Weinstand bestimmt längst geschlossen. Er sah das Schild an einem Mast:

 

Weinproben, Flaschenwein, Verkauf – Versand

 

Alles hier in Geisenheim war Wein, kam mit dem Wein, geschah durch den Wein und hing vom Wein ab. Vom Küchenfenster der WG sah er den Rothenberg, der sich nach dem langen Winter längst mit frischem Grün überzogen hatte. Auch sein Leben drehte sich um nichts anderes, seit er Köln hinter sich gelassen hatte.

Die Straße machte einen Bogen nach links, das Licht der Schaufenster erleuchtete die Fußgängerzone. Einen Bürgersteig gab es nicht, die Autos standen dicht an den Hauswänden. In dieser Nacht wirkte alles leblos und ungenutzt. Eine solche Nacht hatte Thomas in den anderthalb Jahren in Geisenheim noch nicht erlebt. Aber in einer solchen Nacht war er auch noch nie durch die Stadt gegangen, weder nach einem derartig schrecklichen Ereignis noch allein. Obwohl es ein Umweg war, ging er am Bach hinunter zum Dom und folgte dem Plätschern des Wassers.

Wäre Alexandra einfach aus Manuels Leben verschwunden, hätte sich an einen wohlhabenderen Kandidaten rangemacht, wäre er froh gewesen und Manuel einiges erspart geblieben. Außerdem hätte er die Chance gehabt, etwas über sich selbst zu lernen: Falschheit zu erkennen, seine Reaktionen darauf und seine Schwäche zu begreifen. Man war zu einem Teil immer selbst schuld! Nun aber würde sich dieser Widerspruch niemals auflösen, die Trauer würde die Erkenntnis unmöglich machen, die Chance war vertan. Alexandra gab es nur noch in der Vergangenheit, sie war das Opfer, damit wurde sie heilig gesprochen – und er, Thomas, sah sich zum Schweigen verdammt, denn über Tote sprach |13|man nicht schlecht. Wieso eigentlich, wenn sie es verdient hatten? Aber seine Meinung teilte kaum jemand, und allen Unbeteiligten war es egal.

In der Rheingau Apotheke hing ein Plakat mit dem Produkt des Monats. Einen Wein des Monats konnte Thomas sich durchaus vorstellen, aber ein Produkt des Monats – aus einer Apotheke? Kopfschmerztabletten? Nasentropfen oder Insulinspritzen? Na dann schon besser Kondome, aber die gab’s in der Drogerie, und schon wieder dachte er an Alexandra und daran, dass er den Eindruck gehabt hatte, dass sie nie wirklich scharf auf Manuel gewesen war. Oft war sie abends nicht bei ihm geblieben und hatte vorgeschützt, noch lernen, einen Vortrag oder eine Präsentation ihrer Arbeitsgruppe vorbereiten zu müssen. Sie hatte sich dann von Manuel heimfahren lassen und ihn anschließend nach Hause geschickt oder war selbst ins Auto gestiegen oder hatte sich ein Taxi kommen lassen. Manuel, der Idiot, hatte sogar dafür bezahlt.

Regine, der Frau in der WG, war das natürlich aufgefallen, und vorsichtig wie sie war, hatte sie ihre Kritik in Verwunderung gekleidet. Sie kannte Thomas’ Einstellung Alexandra gegenüber und hatte ihn mehrmals gefragt, woher er die Frechheit nahm, derart negative Äußerungen über Menschen von sich zu geben. Ihr gefiel überhaupt nichts, was den geringsten Anschein von Radikalität erweckte, was sich absolut anhörte und sich nicht zurücknehmen ließ; alles das, wofür man sich nicht entschuldigen konnte, war ihr zuwider. »Schwamm drüber« war einer ihrer Lieblingsausdrücke, und es ärgerte Thomas maßlos, wenn sie meinte, dass schließlich jeder selbst wissen müsse, was er tue.

Für einen Moment blieb Thomas vor dem Fotogeschäft stehen. Hochzeitsbilder waren der Renner: Ein überglückliches Brautpaar vor einem vom Wein überrankten Torbogen lachte ihm entgegen. Das würde Manuel nun erspart bleiben. Der einzige Moment, an dem Thomas seinen Freund hatte zweifeln sehen, war der gewesen, als Alexandra |14|erklärt hatte, dass sie in Weiß heiraten wolle, und Thomas erinnerte sich an Manuels Augen. Es war ein sehr kurzer Blick gewesen, ein Blick, in dem Zweifel aufgetaucht waren, Angst, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren, als wenn er Thomas hätte fragen wollen, ob es das war, was er meine. Alexandra hatte es bemerkt, ihre Augen waren denen von Manuel gefolgt, und sie fand sich von Thomas’ Blick gefangen. Sie hatte gespürt, dass er ihr misstraute, und ihre Augen hatten sich mit Verachtung gefüllt.

Die übergroße Taschenuhr über dem Juwelierladen zeigte zehn Minuten vor Mitternacht. Thomas ging schneller, er wollte schlafen, er wollte nicht denken, nicht grübeln. Sicher war Manuel noch wach, und es würde wieder eine Nacht mit unendlichen Gesprächen werden. Manuel war traurig, aber er war auch hilflos, und ihm fehlte die Orientierung. Er stand wie vor einer inneren Mauer. Er wusste, dass dahinter etwas lag, aber er wusste nicht, was es war. Noch nie hatte Thomas einen Menschen in diesem Zustand erlebt.

Vor ihm schälte sich die Linde aus dem Dunkel, mit ihr hatte Geisenheim sich zur Lindenstadt gemacht. Der Baum sollte siebenhundert Jahre alt sein. Im Rathaus dahinter brannte unter den Arkaden über der Freitreppe noch Licht. Die Buchhandlung Untiedt, wo er seinen Bedarf an Büchern und Schreibpapier deckte, lag im Dunkeln. Der Besitzer vom »Kiosk Linde« hinter dem Rathaus versuchte verzweifelt, die letzten Zecher am Stehtisch vor seiner Tür zur Aufgabe zu bewegen, und als Thomas um die nächste Ecke bog, hörte er noch immer ihre lauten Stimmen. War Alexandra für sie ein Thema? Sicher, denn vor Kurzem war hier auf jemanden aus einem fahrenden Auto heraus geschossen worden.

Regine konnte mit all dem am wenigsten anfangen; sie war nur entsetzt, dass Menschen anderen Menschen etwas antun konnten. Am liebsten hätte sie den Kriminalbeamten, von denen sie gestern verhört worden waren, einen Namen gesagt und damit basta. Aber sie konnte keinen Namen |15|nennen, hatte nicht den leisesten Verdacht. In Gefühlsangelegenheiten war Regine hilflos, in allen Fragen des Weinbaus war sie Spitzenklasse und bei der Lösung von technischen Problemen immer vorneweg. Aber mit Männern, Kindern oder Familie hatte sie nichts im Sinn. Thomas erinnerte sich schmunzelnd, wie sie vor dem Schaufenster des Geisenheimer Wäschegeschäfts »Unterm Rock« stehen geblieben waren, um einen Freund zu begrüßen. Als sie bemerkt hatte, wo sie standen, war sie knallrot geworden.

Thomas sah drei junge Leute, die er vom Sehen her kannte, das »Colours« betreten. Gehörten sie zu den Landschaftsarchitekten oder zu den Getränketechnikern? Er zögerte, ob er auch ... nein, besser nicht, Manuel würde ihn vielleicht brauchen. Das Bräunungsstudio »California – sun & more« erinnerte ihn wieder an Alexandra. Hier hatte sie sich ihre Ganzkörperbräune geholt, wie er bemerkt hatte, als er einmal unabsichtlich in das nicht abgeschlossene Badezimmer geplatzt war.

Zehn Minuten später war er zu Hause. In dem Zweifamilienhaus oberhalb der Bahnlinie bewohnten sie zu dritt die untere Etage. Auf der Straße davor stand Manuels schwarzes Alfa Romeo Cabrio, ein Anlass für neidvolle Blicke. In Manuels Zimmer brannte Licht, demnach war er noch wach. Thomas schloss die Haustür auf, die Wohnungstür war nicht abgeschlossen, und als er leise Manuels Zimmer betrat, sah er nur den über die Tasten des Klaviers gebeugten Rücken und die langen schwarzen Locken, die sich bewegenden Hände, von denen eine plötzlich weit nach links griff und mit spielerischer Leichtigkeit zurück über die Tasten lief. Das einzige Geräusch war Manuels heftiger Atem und die trockene Berührung der Tasten mit den Fingern. Beethoven, wie ihn einige Studenten nannten, die von seiner Passion wussten, hatte die Stummschaltung aktiviert. Nur er hörte sich selbst über den Kopfhörer. Manuel hatte sich in seine Welt zurückgezogen.

|16|Müssen wir wieder von vorne anfangen?, fragte sich Thomas und dachte daran, wie die Starre von Manuel nach und nach abgefallen war, wie er aus seiner Zurückgezogenheit hervorgekrochen war und sich seiner Umwelt mit vorsichtiger Neugier näherte. Zu einem großen Teil hatten die Besuche auf ihrem Pfälzer Weingut dazu beigetragen. Zuerst hatte er sich geweigert, die Einladungen anzunehmen, mittlerweile freute er sich auf die Wochenenden, obwohl sie immer in eine elende Schufterei ausarteten – und das nach einer anstrengenden Studienwoche mit einem Stundenplan, der für studentische Sperenzien, wie nächtliche Fahrten in die Disco nach Wiesbaden, kaum Zeit ließ. Thomas hatte es gern gesehen, dass Manuel besonders zu seinem Vater Zutrauen gefasst hatte, erstaunt, dass es Väter gab, mit denen man reden, zu denen man gar ein freundschaftliches Verhältnis haben und sie lieben konnte. Manuel konfrontierte ihn mit Fragen, die er seinem eigenen Vater nie hatte stellen dürfen, die nie beantwortet worden waren. Der Vater hatte sich Manuel schon immer entzogen und das Geld gemacht, mit dem er ihn heute vollstopfte und ihn sich vom Leib hielt. Der Alfa Romeo war mehr ein Schweige- als ein Geburtstagsgeschenk gewesen. Als Manuel, ein Mensch mit einem grünen Daumen und ein Crack in Biologie, den Wunsch geäußert hatte, Winzer zu werden, hatte ihn sein Vater endgültig abgeschrieben.

Thomas sah Manuel lange zu, sah seine Hände über die Tasten gleiten, sah, wie er Weinstöcke anfasste, vorsichtig, respektvoll, aber doch entschieden. Da nahm Manuel die Bewegung hinter sich wahr, hielt inne und hob den Kopf. Er drehte sich um und blickte Thomas mit großen Augen an, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden, dann lächelte er erleichtert.

»Du hast mich überrascht ...«, sagte er atemlos.

Thomas ging zum Klavier und nahm die Notenblätter in die Hand. Es war das Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin.

|17|»Das werde ich beim Rheingau Musik Festival in diesem Jahr im Kloster Eberbach spielen. Es wird mein erster großer Auftritt werden.« Manuel seufzte. »Schade, dass Alexandra das nicht erleben darf. Sie hätte sich riesig gefreut.«

»Bestimmt«, sagte Thomas und nickte mehrmals, als müsse er das Gesagte bestätigen, »das hätte sie gewiss getan.«

Es war schrecklich, einen Freund anzulügen, aber hätte er Manuel die Wahrheit sagen sollen? Alexandra hätte aller Welt erzählt, dass sie die Freundin des Solisten sei und der Rest des Orchesters unwichtig.

Manuel schaltete die Stummschaltung des Klaviers aus, rührte einige Tasten an, horchte auf den Klang und nickte. »Wie war dein Abend? Worüber habt ihr geredet?« Furcht stand in seinem Gesicht.

Thomas biss sich auf die Lippe und zuckte mit den Achseln. »Worüber wohl – ist doch klar, oder? Alle wollen wissen, was los ist, sie fragen, ob wir mehr wissen, wir hatten ja engen Kontakt zu ihr, besonders du! Und dass die Leute neugierig sind bei so einer Sache (das Wort »Mord« wollte er lieber nicht in den Mund nehmen), finde ich verständlich.«

»Sensationsgierig sind sie, geil auf Drama, für die ist es doch nichts weiter als eine neue Soap, eine Seifenoper. Endlich ist in dem verpennten Geisenheim mal was los. Da können sie sich das Maul zerreißen. Aber was es bedeutet ...«, er hielt inne, und sein Blick kehrte sich nach innen, »was es bedeutet, was dieser Verlust bedeutet, für sie, für Alexandra, für mich, für ihre Eltern ...«

»Du kennst sie?«, unterbrach ihn Thomas. »Das wusste ich gar nicht.«

»Nein, ich kenne sie nicht, sie sollen morgen in Wiesbaden sein.«

»Hast du etwa mit ihnen geredet?« Thomas wunderte sich, denn Alexandra war den Fragen nach ihren Eltern stets ausgewichen, was seinen Verdacht genährt hatte, dass sie sich ihrer schämte.

|18|»Ich weiß es von der Polizei. Kurz nachdem du gegangen bist, hat dieser Typ von der Mordkommission angerufen. Ich glaube, der taucht morgen hier auf, er hat gefragt, wann wir zu Hause sind. Die wollen uns alle noch mal verhören. Du kennst ja die dummen Sprüche, alles sei reine Routine.«

»War das wieder dieser Sechser? So heißt der wohl ...« Thomas erinnerte sich an das erste Gespräch oder Verhör mit dem unangenehmen Kommissar. Er ernährte sich falsch, das sah man ihm an, und Thomas hielt ihn für einen jener Polizisten, die ihre Überlegenheit herauskehren, aber in Wirklichkeit unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Studenten litten. »Hat er irgendeinen Verdacht geäußert? Haben sie irgendwelche Spuren gefunden?«

Die Entspannung, die Manuel beim Klavierspiel gewonnen hatte, war verflogen. Seine sonst vollen Lippen waren wieder schmal geworden, er senkte die Augen, und seinem Körper entwich die Luft wie einem Ballon, der in sich zusammenfiel.

»Es gibt keinerlei neue Hinweise, bislang ... hat dieser Sechser gesagt. Alexandra muss ihren Mörder in die Wohnung gelassen haben. Es sind keinerlei Einbruchsspuren gefunden worden. Es gibt keine Hinweise auf einen Kampf oder darauf, dass sie sich gewehrt hat. Abwehrverletzungen nennt man das wohl. Es ist ein grausiges Vokabular.« Bittend sah er Thomas an. »Können wir nicht von etwas anderem reden?«

»Vorhin haben sie mich gefragt, wer alles einen Schlüssel zu ihrer Wohnung hatte. Woher soll ich das wissen? Vielleicht eine ihrer Freundinnen, die Rosa Handtaschen?«

Ein verzweifeltes Kopfschütteln war alles, was von Manuel kam. »Bitte, hör auf, mir solche Fragen zu stellen.«

»Was ist mit ihrem Mobiltelefon?«

»Ich habe nicht danach gefragt, ehrlich gesagt habe ich es vergessen«, sagte er unwillig. »Außerdem war ich froh, als das Gespräch vorüber war. Der Kommissar ist direkt auf |19|mich losgegangen, so als zweifelte er an allem, was ich sagte, so von oben herab, weißt du?«

Manuel war am Ende seiner Kräfte. Seine Freundin war tot, ermordet. Es war für Thomas schwer zu begreifen, wie viel Alexandra Manuel bedeutet hatte. Sie war zwar nicht seine erste Freundin gewesen, aber die erste, von der er meinte, geliebt zu werden. Er verkniff sich weitere Fragen und ging zu dem Bord neben dem Piano, wo der Flaschenkühler stand. Der Rest in der grünen Flasche reichte kaum, um ein Glas zu füllen.

»Ich hole eine neue«, sagte Manuel entschuldigend und stand auf. »Ich habe zu viel getrunken. Mit den Noten hat es heute nicht so geklappt. Die wollten nicht in meiner Art gespielt werden.« Er grinste verlegen. »Aber ich habe die ganze Scheiße für eine Weile vergessen. Wenn Regine kommt, trinkt sie vielleicht noch ein Gläschen mit, oder?«

»Wo ist sie eigentlich?« Thomas blickte auf die Uhr. Es war Viertel vor eins. »Sonst ...«

In diesem Moment hörten sie Schlüssel klimpern. Leise, als wolle sie niemanden wecken, trat ihre kleine Mitbewohnerin in den erleuchteten Flur. Sie hatte offenbar nicht erwartet, ihre beiden Wohnis, wie sie ihre Mitbewohner nannte, noch munter anzutreffen. Um acht Uhr begann die Vorlesung zur Agrarmeteorologie, die sie alle gemeinsam belegt hatten.

»Noch Lust auf einen kleinen Schlaftrunk?«

Regine nickte begeistert, obwohl sie todmüde zu sein schien. »Ich habe den ganzen Abend über keinen Tropfen angerührt, obwohl Thorsten mich ...«, erschrocken hielt sie inne, und ihre Wangen überzogen sich mit einem feinen Rot. Thomas und Manuel kapierten es sofort: War der Fall eingetreten, den Regine für die Zeit ihres Studiums immer weit von sich gewiesen hatte? Den Annäherungsversuchen ihrer Kommilitonen wich sie stets mit Bravour aus, hatte auch die gut gemeinten immer mit einem coolen Spruch |20|beendet, darin war sie klasse. Und nun tauchte ein Thorsten auf? In jeder anderen Situation hätten Thomas und Manuel sie nach ihrer neuen Bekanntschaft gelöchert, aber nach einem Seitenblick auf Manuel, dem sein kläglicher Gemütszustand ins Gesicht geschrieben war, hielt Thomas sich zurück.

»Gibt’s irgendwas Neues?«, fragte sie vorsichtig. »Wisst ihr inzwischen mehr?« Es war klar, worauf sich ihre Frage bezog.

Manuel überließ Thomas die Antwort. Er ging in die Küche, sie hörten, wie er den Kühlschrank öffnete und wieder schloss und laut in der Schublade mit dem Besteck herumkramte.

»Der Korkenzieher ist in der mit dem Kleinkram«, sagte Regine, die ihm mit Thomas gefolgt war.

Manuel starrte auf den Korkenzieher in seiner Hand und dann auf den Schraubverschluss der Flasche. »Es gibt keine neuen Erkenntnisse.« Mit einem Knacken brach der Schraubverschluss, ein langweiliges Geräusch im Vergleich zum Herausrutschen eines Korkens. »Jedenfalls hat die Polizei nichts in der Richtung verlauten lassen. Ach – nur dass in ihrer Küche eine angebrochene Flasche Riesling stand – und zwei sauber abgewaschene und abgetrocknete Gläser, nicht ein Fingerabdruck war drauf. Da hat sich jemand Mühe gegeben, seine Spuren zu beseitigen.«

»Würdest du dich als Mörder anders verhalten?«

Manuel überging Thomas’ Einwand.

»Ein Riesling zum Abschied – Weingut Altensteineck?« Regine schüttelte den Kopf. »Ganz ordentlich, aber nichts Besonderes. Wundert mich, dass Alexandra so was getrunken hat.«

Mit einem Glas in der Hand setzte sich Regine an den Küchentisch und hielt es Manuel am ausgestreckten Arm hin. »Ich bin sicher, dass man den Mörder bald fasst. Man traut sich nachts ja gar nicht mehr auf die Straße.«

|21|»Woher weißt du, dass es ein Mann war?«, fragte Thomas und steckte seine Nase ins volle Glas.

»Ist doch logisch. Eine Frau schlägt nicht zu. Eine Frau mordet anders.«

»Als wir neulich die Pfähle in der Neuanpflanzung gesetzt haben, hast du dich mit voller Kraft reingehängt, nicht anders als ein Mann. Wenn es eine Winzerin war, eine angehende zumindest?« Wer ihm dabei kurz in den Sinn gekommen war, ließ sich Thomas nicht anmerken.

»Übrigens ...« Thomas wurde gewahr, dass Manuel längst nicht genügend Abstand hatte, um darüber zu reden, deshalb wechselte er das Thema. »Ich wollte fragen, Regine, ob du am Wochenende mit uns rauf in die Pfalz kommst. Wir müssen spritzen, und du kannst die Düsen besser einstellen als ich. Während der Lehre hatte ich kaum Gelegenheit dazu. Du hast das schon auf eurem Weingut gemacht.«

»Und was war letztes Jahr? Du warst dabei.«

»Ja, mit dem alten Betriebsleiter des Vorbesitzers, von dem wir das Weingut übernommen haben. Aber der will keine Neuerungen, der ist unfähig, was zu lernen, und er kann nicht erklären.«

»Genau wie mein Vater.« Regine verzog gequält das Gesicht. »Ihr Quereinsteiger habt es leichter.« Damit meinte sie Thomas und auch dessen Vater, der als ehemaliger Chef-Einkäufer eines Weinimporteurs das Weingut übernommen hatte. Manuel hingegen war Neueinsteiger, er hatte nach dem Finanzstudium in der Schweiz lediglich ein halbjähriges Praktikum auf einem Weingut absolviert.

»Dafür haben wir andere Probleme, du Klugscheißerin. Was ist? Kommst du mit?«

»Am Wochenende muss ich selbst auf den Schlepper.«

»Auch nachts? Und was sagt Thorsten dazu?«

»Jetzt meinst du wohl, dass du mich erwischt hast, nicht wahr? Außerdem haben wir ein Gerät mit Radialgebläse, und ihr habt eins mit Tangentialgebläse. Und ihr habt ein |22|Recyclingsystem. Damit würde ich auch lieber arbeiten, aber mein Alter ... na ja, ihr fangt eben in der Gegenwart an, und wir leben in der Vergangenheit. Frag doch morgen einfach die Techniker drüben vom Weinbau, die erklären dir alles.« Sie trank ihr Glas aus, stellte es unsanft auf den Tisch, umarmte Manuel und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Frühstück um sieben Uhr? Ich gehe pennen ...«

Thomas und Manuel blieben zusammen, bis die Flasche leer war. Thomas meinte Manuel alles berichten zu müssen, was während des Essens an diesem Abend geredet worden war.

 

»Haben sie ihn schon?« Die pausbäckige Verkäuferin in der Bäckerei sah Thomas mit großen Augen an und tastete derweil nach den Roggenbrötchen im Korb hinter ihr. »Sie wollten drei haben, oder?«

Die Fragen nach dem Mörder hingen Thomas zum Halse heraus, obwohl er sie sich natürlich selbst auch stellte. Es hatte den Anschein, dass die gesamte Bevölkerung des Städtchens wusste, dass er mit dem Freund des Mordopfers zusammenwohnte und Alexandra gekannt hatte.

»Was für ein hübsches Mädchen«, sagte die Verkäuferin und steckte noch zwei Kümmelbrötchen in die Tüte, dann stutzte sie, runzelte die Stirn. »Jetzt habe ich doch vier Roggenbrötchen genommen. Drei wollten Sie haben, oder?«

Thomas zwang sich ein Lächeln ab. »Und drei Stütchen, also Rosinenbrötchen. Und dann nehme ich noch ein Dinkelbrot.« Vielleicht konnte er sie mit Bestellungen von ihren Fragen abbringen. Doch die Verkäuferin blieb hartnäckig.

»Ich verstehe nicht, wie jemand einer so hübschen Frau was antun kann. Was sind das nur für Menschen heutzutage?«

»Keine Ahnung. Möglicherweise ...« Thomas tat geheimnisvoll und beugte sich über den gläsernen Tresen, »möglicherweise läuft der Mörder noch in der Stadt herum!« |23|Er machte ein so finsteres Gesicht, dass die Verkäuferin zweifeln musste, ob er sie ernst nahm. Beleidigt packte sie die Brötchen ein.

»Es kann doch nicht sein, dass man sich über eine so ernste Sache lustig macht, das ist ... Sie wissen bestimmt mehr, als Sie mir sagen.« Sie nickte, um sich selbst zu bestätigen. »Wahrscheinlich hat die Polizei Sie vergattert, den Mund zu halten? So wird es sein, damit die Untersuchung nicht gefährdet wird.« Das hörte sich ganz wichtig an.

»Das Dinkelbrot, bitte ...« Thomas hatte die Tüte mit den Brötchen in Empfang genommen und streckte die andere Hand aus, als eine Kundin den Laden betrat, die mit Vornamen begrüßt wurde. Die Verkäuferin brannte darauf, ihr zu erzählen, dass jemand aus dem Dunstkreis des Mordopfers neben ihr stand. Sie gab Thomas die Tüten, er zahlte, verstimmt über das Gespräch und dass hier niemand so schmackhaftes Brot buk wie ihr Edelbäcker in Köln, der auch nicht wesentlich teurer gewesen war. Mit einem hinterhergeworfenen »Schönen Tag noch« wurde er verabschiedet.

Er hatte sich notgedrungen Manuels Rennrad ausgeliehen und es vor dem Schaufenster der Bäckerei abgestellt. Durch die Scheibe sah er die beiden Frauen tuscheln, und die Verkäuferin zeigte mit dem Finger auf ihn wie auf den Mörder persönlich. So würde man ihm überall begegnen, bis der tatsächliche Mörder gefasst wäre. Es graute ihm vor den Fragen an der FH, mehr noch waren es die Blicke, die ihn verunsicherten, besonders wenn er neben Manuel den Hörsaal betrat.

Der Besuch im Supermarkt, wo er Aufschnitt fürs Frühstück kaufen wollte, war angenehmer, hier wechselte das Personal mit den Minijob-Verträgen so häufig, dass niemand mehr einen Kunden kannte. Er kaufte Käse und gekochten Schinken, Regine bestand darauf, und nahm eine Packung aus dem Kühlregal, um das Kleingedruckte zu |24|lesen. Wie leicht vergriff man sich, packte Kunstkäse in den Einkaufswagen und kam mit Pseudo-Schinken nach Hause. Man musste schon genau hinsehen. Nichts war so, wie es aussah, sogar beim Wein: Wenn Riesling auf dem Etikett stand, konnten durchaus fünfzehn Prozent Weißburgunder in der Flasche sein. Das, was er für Betrug hielt, war legal.

Als ihn das Mädchen an der Kasse anblickte, stand schon wieder diese verdammte Frage im Raum. Der Gedanke an den Mord ließ ihn nicht los, seit sie am Dienstag davon erfahren hatten. Es fiel Thomas schwer, sich auf seine Angelegenheiten zu konzentrieren, auf das Studium, auf die Vorlesung in Mikrobiologie heute, er hatte nicht einmal die der letzten Woche wiederholt. Er durfte den Anschluss nicht verpassen. Er musste den Spritzplan für ihr Weingut aufstellen, auch den für seine Arbeitsgruppe. Er hatte fest mit Regines Hilfe gerechnet und nicht bedacht, dass ihr Vater wie immer mit alter Technik auf der Stelle trat.

Thomas hängte sich die Tasche auf den Rücken und stemmte sich in die Pedale. Manuel würde in seinem Zustand in Bad Dürkheim sicher auch keine Hilfe sein. Ob es gut war, ihn mit Arbeit zu überschütten? Sie hatten ihren eigenen Versuchsweinberg angelegt, genau nach Geisenheimer Vorbild, nur dass sie zu Hause völlig auf sich gestellt waren.

Dieser verfluchte Mord. Wer kam auf eine so beknackte Idee? Was hatte Alexandra getan, gewusst oder unterlassen, dass jemand sie aus dem Weg räumen wollte?

Thomas sah den Wagen im letzten Moment aus der Einfahrt kommen. Er riss an den Bremsen, die Tasche rutschte vom Rücken, die Brötchen kullerten über den Asphalt – aber das Rad stand. Eine Bleistiftlänge trennte ihn von der Motorhaube des Wagens. Die Fahrerin ließ wenig gerührt die Scheibe herunter, entschuldigte sich kurz – und fuhr die Brötchen platt. Thomas starrte ihr nach ... das war heute nicht sein Tag ...