KryptoFiction

 

 

Verborgene Wesen 2

Kryptozoologische Anthologie

 

 

 

 

 

Twilight-Line Verlag GbR

Obertor 4

D-98634 Wasungen

 

www.twilightline.com

www.kryptozoologie.net

 

2.Auflage, August 2016

ISBN 978-3-941122-86-4

eBook-Edition

 

© 2012-2016 Twilight-Line Verlag GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

 

Bestien-Biotop

Eileanora Eibhlin

 

Der Affen-Sultan

Frank Neugebauer

 

Elwetritsche im Speckhemdchen

Ollivia Moore

 

Verrat oder Verzicht

Jacqueline Mayerhofer

 

AHOOL

Diandra Linnemann

 

Normadragon

Anett Steiner

 

Die letzte Erinnerung

Anett Steiner

 

Kryptopark

Anett Steiner

 

Aufnahmeprüfung

Anett Steiner

 

Im Garten
Anett Steiner

 

Die seltsame Geschichte einer alten Dame

Anett Steiner

 

Interview mit Kapitän Doll

Anett Steiner

 

Von der Entstehung Islands

Anett Steiner

 

Das Nest

Oliver Wehse

 

Das Nessie-Tagebuch

Anett Steiner

 

Elfenschmetterling und Teufelsfalle

Anett Steiner

 

 

 

 

Bestien-Biotop

Eileanora Eibhlin

 

Die gelben Echsenaugen beobachteten mich schon die ganze Zeit. Das Tier war nicht größer als ein Huhn und fast benahm es sich auch so; wie es mit seinem Eidechsenkopf nickte, wenn es auf seinen zwei Vogelbeinchen hin und her trippelte, wie es gurrte und piepte. Fast könnte es sogar niedlich sein; wären da nicht diese Augen …

Sie durchstachen mich wie Röntgenstrahlen. Es sah alles; selbst das, was ich ihm nicht zeigen wollte. Wer weiß, vielleicht las es ja sogar meine Gedanken …

Auch wenn ich es durch einen kräftigen Tritt mit meinen Stahlkappenstiefeln außer Gefecht setzen könnte, ertappte ich mich, wie ich verstohlen nach einem dicken Ast oder Stein Ausschau hielt … Ein Urinstinkt im Angesicht einer lebenden Legende?
Sogar in der Hoffnung, mein Gegenüber würde nichts davon merken. Natürlich tat er es doch und legte das Köpfchen schief. Die Geste war unschuldig, aber hinter den Bernsteinspiegeln seiner Seele fanden Abwägungen statt; Abschätzungen, Statistiken, Vergleiche, Situationssimulationen … Serviervorschläge …

Vorsichtig, genau überlegt, machte es einen Schritt vor.
Ich erschrak so heftig, als wäre es plötzlich auf Godzilla-Größe angewachsen.
Wissen ist Macht, heißt es, aber in diesem Moment hatte es Macht über mich, denn ich weiß, wozu der Kleine hier fähig sein kann. Und das jagte meinen Puls wie ein ausgemergelter Windhund die Hasenattrappe. Schon streckte sich sein Hals neugierig vor, die kleinen Nüstern blähten sich. Es roch den Angstschweiß.
Ich versuchte mich schnell zu beruhigen, doch es war zu spät.
Mit verspielter Leichtigkeit hüpfte es nun fröhlich zwitschernd auf mich zu, ähnlich einem Hund der sich freut dich zu sehen. Als ob es genau wüsste, dass im menschlichen Gehirn darauf ein Programm starten würde, welches unter dem Begriff „süß finden" abgespeichert war. Aber nicht mit mir, mein Freund!

Nadelscharfe Zähne blitzten auf, während sie auf mein Schienbein zurasten.

Ein Augenzwinkern später war mein rechtes Hosenbein in Streifen gerissen, als wäre es aus Klopapier und der metallische Geruch von Blut kroch zu meiner Nase rauf. Da besannen sich meine Füße endlich dem Spektrum ihrer Möglichkeiten und das Tier quietschte mitleiderregend, als es durch die Luft eierte, wie ein löchriger Football.

Durch ein geheimes Signal erwachte nun der Dschungel um mich herum zum Leben, denn er piepste plötzlich von allen Seiten auf mich ein; tausend Echos von dem aufgebrachten Wesen vor mir, welches halb Eidechse, halb Vogel war. Compsognathus longipes!

Es mussten dutzende sein, welche erschienen, sich förmlich aus den Sträuchern, den Blättern und den Baumstämmen transformierten und auf mich zuströmten, wie auf einen riesigen Magneten aus Fleisch, Blut und einer Menge Nervenfasern. Leider, dachte ich in dem Moment, in dem der Schmerz von Millionen winziger Messerstiche zu meinem Kopf hochpochte und mich schwindelig machte. Ich hörte, wie ich schrie und spürte wenig später den weichen Humusboden an meiner Wange.
Wahrscheinlich hatte ich als erster und letzter Mensch das Privileg zu erleben, wie es ist, von kleinen Dinosauriern der Oberjura bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden. Ich schaffte ein verzerrt sarkastisches Grinsen, was mich den Rest meiner Kraft kostete. Ich konnte nicht einmal mehr stöhnen, als einer der kleinen Teufel, (ein ganz besonderer Feinschmecker...) auf meinen Kopf sprang und meine weichen Augäpfel mit äußerstem Entzücken begutachtete.

Dann wurde es dunkel.

Schwarze Watte umhüllte mich und auf eine beunruhigend beruhigende Weise dämpfte sie die Schmerzen und überhaupt jedes körperliche Empfinden; Einfach alles!

Ich kuschelte mich darin ein, einverstanden, für immer in dieser süßen Sorglosigkeit zu schlafen.



„Professor?"
Das war Muriel. Sie wohnte in der Universitätsbibliothek, wo sie sich von den Büchern ernährte, vorzugsweise den alten dicken. Und ja, ihre Stimme war immer so schrill.

„Geht es Ihnen nicht gut?"

Die Watte verschwand wieder. Ich bemerkte, dass ich die Sorte von Kopfschmerzen hatte, die einen Nachgeschmack von Übelkeit am Gaumen hinterließen. So gern ich es auch wollte, ich konnte mich nicht totstellen, denn Muriel würde dann nicht einfach kurz an mir schnuppern und weiterlaufen, wie jeder andere Säuger hier im Dschungel. Sie würde mir unangenehme Dinge antun, wie mich ansprechen oder an mir rütteln.
Langsam kreiste mein Bewusstsein um die Realität, ehe es sich zu ihr herabließ. Hatte sie mich da gerade gefragt, ob es mir nicht gut ginge?

Wenn ich bedachte, was vor wenigen Minuten passiert war und mir dann dazu Muriels Frage auf der belegten Zunge zergehen ließ, kam ich mir vor wie in einer schlechten Sitcom.
Ich rappelte mich halbwegs hoch. Mein äußeres Erscheinungsbild sollte zur Antwort genügen, doch das brünette Mädchen schaute mit ihrem gewohnt glasigen Blick zu mir runter. Sie schien mir nicht so abgebrüht, dass sie ein fehlendes Auge kalt lassen würde, also musste etwas mit mir nicht stimmen.
Vorsichtig, auf alles gefasst, fuhr ich mit meinen Händen über die verdächtigen Stellen und tatsächlich: beide Augen waren noch vorhanden, auch der Rest meines Körpers, einschließlich meiner Hose waren unangetastet. Nicht ein einziger Biss, kein Tröpfchen Blut (und gottseidank auch keine der peinlicheren Flüssigkeiten, welche in Schocksituationen gerne an die Oberfläche traten). Was mein Hemd an meiner Haut kleben ließ war lediglich Schweiß und das zwar in rauen Mengen, aber dafür nur Schweiß!

Ich war äußerst beruhigt, schien das allerdings nicht wirklich auf Muriel zu übertragen, wie ich da auf dem Boden lag und mich selbst betastete.

„... Ähm … Ich hol dann mal das Morphium", murmelte sie.
Wir hatten kein Geld mehr übrig gehabt einen Notfallkoffer zusammenzustellen, also nahmen wir nur Morphium mit; als Universalmedikament sozusagen. Bis jetzt hatte das auch prima geklappt. Jeder hatte sich nach einer Injektion damit besser gefühlt.

„Nicht nötig" meinte ich zu ihr. „Es reicht, wenn ich auf den Schreck was trinke" und kramte meinen Flachmann aus der Innentasche meiner Weste. Wurde sowieso mal wieder Zeit. Meine Leber litt schon unter Defizitkomplexen.

„Sie sind ein ziemlich … individueller Mentor", bemerkte Muriel mit hochgezogener Augenbraue. Distinguiert wie immer.
Was sie mal wieder vergaß, ich war nicht so ganz freiwillig ihr sogenannter Mentor und deswegen hatte ich auch nicht vor, mich an ungeschriebene Vorschriften zu halten. Ich wollte einfach nur mal an die frische Luft.

Ich hatte Angst in dieser Universität irgendwann elendig an einer Staublunge zu verrecken und da ich mich dafür definitiv als zu jung empfand, bat ich um eine Audienz beim Dekan. Eine Exkursion, eine Forschungsreise, egal! Hauptsache es war auf der anderen Seite dieser meterdicken Wände.

Und Muriel? Irgendetwas musste sie eines Tages aus ihren Büchern angesprungen oder gebissen haben, denn urplötzlich war sie der Meinung ein eigenes Abenteuer erleben zu müssen, sich selbst anspruchsvoll zu verwirklichen oder so ähnlich hatte sie es beschrieben. Natürlich geschah dies gleichzeitig mit meinem Bewegungsdrang; wir liefen uns also sozusagen in die Arme.

Der Dekan war ein praktisch und finanziell vernünftig veranlagter Mensch. „Prima!" hatte er gerufen, „dann können sie sich ja beide zusammentun. Sie werden das Laichverhalten der Quastenflosser in Madagaskar studieren. Meyer", (das war ich), „Sie haben selbstredend die Verantwortung. Gute Reise!"

Das waren seine Worte gewesen, in welche Muriel nun ihre Streberphantasien hineininterpretierte. Eigentlich konnte mir das auch scheißegal sein; ich bedauerte es nur, dass sich ihre Phantasien immer nur um das eine drehten: Besserwissen.

 

„Wir sind jetzt schon drei Tage hier und haben noch nicht ein Wort über die Quastenflosser dokumentiert. Ich denke, wir sollten bald damit beginnen."

Was hab ich gesagt? Es wurde Zeit, dass ich mit dem Mädel mal Tacheles redete, ein paar Grenzen absteckte ... oder erweiterte ... wenn sie mal lächelte (ein seltenes Ereignis, aber die Chance bestand, dass es eintrat) konnte ihr Gesicht ganz hübsch sein und ich war mir sicher, unter dieser Schlabberhose verbarg sich ein toller Arsch ...


„Haben Sie öfters Halluzinationen?"

Aus sämtlichen Konzepten gebracht, holte mich Muriels Frage in die Nüchternheit zurück.

„Wie bitte?"

„Oh, ich habe nur eine Verbindung vermutet zwischen ihrem Alkoholkonsum und ihrem ... sagen wir, etwas wunderlichen Verhalten, auf etwas zu reagieren, das nicht existent ist."

„Haben Sie vor unter die Psychologen zu gehen?"

„Ich gebe zu, mit dem Gedanken ein-, zweimal gespielt zu haben. Jedenfalls-", fuhr sie fort, „vermute ich bei Ihnen ein Delirium tremens, was auf einen Alkoholentzug hindeuten würde, was für einige Leichen in ihrem Keller beweisend wäre."

Was sollte ich ihr sagen? Dass sie mit nur zwei Sätzen (wenn auch recht langen), meine gesamte Psyche analysiert hatte? Wie nackt ich mich fühlte, nachdem sie mühelos durchschaut, was ich mühevoll in jahrelanger Sorgfalt um mein charakterliches Erscheinungsbild aufgebaut hatte? Sollte ich das Psychologen-Klischee erhärten, indem ich beichtete, dass die Wurzel meiner Probleme in meiner Kindheit lag, welche hauptsächlich aus Niederträchtigkeiten, Beschimpfungen und Hänseleien in allen kreativen Varianten bestand und mich das Jahre später dazu veranlasste Biologie und Paläontologie zu studieren, um meine ständig zwangsweise unterdrückte Leidenschaft auf seriösem Wege ausleben zu können? In der Hoffnung, als Lehrkörper mit meiner Begeisterung andere zu inspirieren? Oder sollte ich den Schwerpunkt lieber auf meinen Vater legen, dem alten Suffkopp und seinen besten Freund, dem Schürhaken?

„Aha", antwortete ich.

„Selbstverständlich müssen Sie mir jetzt keinen Seelenstriptease vorführen oder so ...", fügte sie hinzu und ich fand, sie hätte ruhig etwas mehr Mitgefühl in ihre Stimme legen können.

„Ich hab mich lediglich gefreut theoretisches in der Praxis anwenden zu können."

Munter hüpfte sie davon und ließ mich einfach so stehen, wie ich war. Umgegraben und zerwühlt. Dieses Miststück!

Zwischen den Blättern einer Schwertpflanze blinzelte es gelb auf. Ich kippte mir Whiskey in den Hals, bis es verschwand.

 

 

 

Der Affen-Sultan

Frank Neugebauer

 

 

Kryptozoologische Reisen sind oft keine konkreten Reisen, sondern Streifzüge durch private Zeitungsarchive und hohe Stapel »Bunter Blätter«. Bis in die neueste Zeit hinein sind es gerade die illustrierten »Sensationsblättchen«, die sich seltsamer Tiere und angeblich fabelhafter Lebewesen annehmen. Mein Streifzug beginnt also auch hier: in alten Nachkriegszeitungen, auf den grauen Seiten schmaler Heftchen mit »wahren Geschichten«, eben in der inoffiziösen grauen Literatur.

Der Leser wird verzeihen müssen, dass ich nicht alle Quellen angeben kann. Zum Teil sind sie mir auch gar nicht bekannt. Manche Geschichte wurde mir mündlich vorgetragen - recht frei fabuliert nach einem Erlebnis oder auch nach einer viele Jahre zurückliegenden Lektüre irgendeiner Zeitung. Wo ich offensichtlich erdichtete »Zutaten« seitens der Berichterstatter fand, habe ich sie belassen - den eigentlichen Kern wird der Leser selbst herausfinden.

 

Der Affen-Sultan

Über lebendige Wesen aus Stein hat man schon sehr viel gehört. Und so abwegig ist der Gedanke auch gar nicht. Unser heutiges Leben auf der Erde besteht aus Kohlenstoffketten, sie halten uns und die Tiere zusammen. Ohne König Kohlenstoff ist die Evolution gar nicht denkbar. Oder doch?

Nun, Silizium lässt sich ebenfalls in Ketten anordnen. Mutter Natur probiert stets alle Möglichkeiten aus, wie wir schon lange wissen. Und warum sollte es nicht eine zweite parallele Evolution geben. Allerdings ist Silizium letztlich nichts anderes als Sand und Stein. Deshalb wären Lebewesen der Siliziumreihe ziemlich steinerne Gesellen.

Ein altes, aber immer wieder in Nordafrika erzähltes Märchen erzählt von einem wunderbaren Paradiesgarten, den ein Herrscher (Sultan) angelegt haben soll. Die Namen und Orte wechseln je nach Erzähler, aber die Zeitung »Abrad Radab« aus Tunis brachte 1950 folgende »wahre Geschichte«, die den Kern aller Varianten enthält:

(Im Garten von Sultan Raschid’al’den’Aldurin...) Ein wippender Vogel, ein gebogener Ast, ein Bach, der im tiefen Blättergrün darunter dahinschießt: das reicht, um ein Kind in den Bann zu schlagen. Die plumpen Finger des neugierigen Kindes greifen nach dem Vogel, er fällt herab - und zerbricht in tausend Stücke aus Stein.

Selten, aber eben doch kommt es vor, dass ein junger Besucher des Zaubergartens von Sultan Raschid’al’den’Aldurin die Zeit vergisst und die Stunde der Gartenschließung verpasst. Manchmal, aber eben zufällig heute, geht dann nicht der wachhabende Wärter durch die Reihen, die Straßen und Labyrinthe im kunstvoll angelegten Dschungel. Sondern Sultan Raschid’al’den’Aldurin selbst, der äffische Erfinder und Meister des Gartens nahe Tunis, springt heimlich und schnell im Geäst umher.

Zum Glück funkelt das schwarze Haar des Kindes zwischen den Blättern, und Affen-Sultan Raschid’al’den’Aldurin kann es leicht hinter der Absperrung entdecken. »Komm jetzt, die Tiere wollen schlafen, die Pflanzen ruhiger atmen!«, sagt der große, etwas grimmige Affe so nett, wie es ihm möglich ist.

Das Kind spricht aber ganz verwirrt: »Der wippende Vogel, er ist herabgefallen — und zerbrochen! Hörst du, Affen-Sultan, zerbrochen

Sultan Raschid’al’den’Aldurin furcht die Stirn: »Ja, Kind, haben dir deine Eltern nicht erzählt, dass alles in diesem Garten, angefangen von den Kieseln im Bach bis zur Blattspitze und den Käfern darauf, lebender Stein aus der großen Sahara ist?«

Doch was als Trost gemeint war, verfehlt seine Wirkung. »Dann will ich hier nicht sein! Dann kann ich mich an nichts freuen!«, beharrt das Kind. Und, nach einem Augenblick schnellen Überlegens, blitzt es Sultan Raschid’al’den’Aldurin böse an: »Und du, Affen-Sultan, weshalb kannst du dich an allem hier im Garten freuen, wenn es doch eigentlich unecht ist?«

Affen-Sultan Raschid’al’den’Aldurin zieht das Kind an sich heran mit zitternder Hand, mit finsterer Entschlossenheit: »Du willst also wissen, warum mir dieser Garten das Liebste im Universum ist? Ich will dir etwas zeigen, was erst morgen die ganze Welt aus der Zeitung erfahren wird.« Und Sultan Raschid’al’den’Aldurin beugt sich herab, tief und tiefer, und erschreckt das Mädchen fast dabei und beugt sich immer weiter — bis es dem Kinde ganz mulmig wird.

Da sieht es, dass Affen-Sultan Raschid’al’den’Aldurin tatsächlich sein Gesicht verloren hat. Er balanciert eine Gesichtsmaske auf den schwarzen äffischen Fingerspitzen. Dahinter aber, in seinem wahren, echten Gesicht, fließt blitzend sauberer Quarzsand durch Adern aus rotem Granit und honiggoldenem Bernstein. »Jetzt, mein Kind, weißt du Bescheid, weshalb ich diesen steinernen Garten so liebe: weil ich selbst aus Stein bin wie der wippende Vogel!«

 

B’eulen nach Athen

Diese Geschichte erzählen sich die australischen Ureinwohner bis heute. Ein britischer Weltenbummler will die Story selbst von einer alten Ureinwohnerin am Lagerfeuer vorgetragen bekommen haben und berichtete davon in einem Artikel des »Daily Mirror« im Mai 1953.

Ich gebe die Geschichte leicht gekürzt, aber ungeschönt wieder. Interessant wird dieser Bericht durch die »moderne Beimengung« griechischen Sagenstoffs unter Verwendung eines bekannten deutschen Sprichworts. Wir können nur raten, wie die ursprüngliche Fabel ausgesehen hat - bevor die Europäer kamen und ihre Traditionen mitbrachten. Manche grobe Albernheit im Text stößt uns sauer auf, aber wir sollten nicht vergessen, dass der australische Ureinwohner eine tragische Gestalt ist und häufig unter der Trunksucht leidet. Aber trotzdem mag man sich an dem schönen Erzählgarn ohne Reue erfreuen.

 

(Die alte Aborigines-Frau erzählt...) Vor langer Zeit, als Beutelwolf und Eule nicht nur Gute Nacht zueinander sagten, sondern gemeinsam im Bau verschwanden, um Kinder zu zeugen, wandelten bald B’eulen auf Erden, die einzigen Beutelvögel der Welt, die weisesten Tiere von allen.

Als im alten Australien, das damals noch ein einziger Eukalyptuswald war, immer mehr B’eulen rheumatisiert und steif wie französische Stangenbrote von den Ästen kippten, beschlossen die Weisen der Tierwelt, etwas gegen die teuflische Zugluft zu unternehmen, die sie für ihr Zipperlein verantwortlich machten.

So berieten sie sich untereinander wohl sieben mal sieben Tage lang, und manche hatten nicht richtig zugehört und brieten sich untereinander wohl sieben mal sieben Tage lang - das führte zu herben Verlusten in den eigenen Reihen; aber das ist eine andere Geschichte, die an anderer Stelle vielleicht einmal erzählt werden soll. (Die alte Frau lacht heiser...)

Man einigte sich darauf, neue Türen modernen Zuschnitts einzubauen, zumal just in diesem Augenblick ein Sonderangebot eines sowjetischen Tischlers aus Potemkin vorlag: Tausend Türen sollten lediglich acht australische Pfennige kosten - zusammen!

»Das ist ja wirklich ein gutes Angebot«, schnatterten die B’eulen durcheinander und lasen dann das Kleingedruckte: »Preise nur für Selbstabholer!«

Gleich nach Sonnenuntergang gingen die B’eulen los: 20.000 stolz und langsam stolzierende B’eulen; denn ans Fliegen hatten sie aus Versehen gar nicht gedacht. Vorausschauend und ihr besonderes Sehvermögen ausnützend, wanderten die Beutelvögel nur des Nachts, um so der unerträglichen Mittagshitze des Sommers zu entgehen. Blöd nur, dass gerade Winter war und es fror, dass es nur so knackte.

In Potemkin wurde man sich schnell handelseinig; die B’eulen schmissen dem Tischler die acht Pfennige in die Schatulle, und der Tischler schmiss die tausend Türen auf die 20.000 stolzen B’eulen.

Nach weiteren, an dieser Stelle äußerst schwer zu erzählenden Abenteuern und Strapazen und einem Umweg über Athen kamen die völlig geschlauchten B’eulen zu Hause in Australien an, wo auch schon jemand auf sie wartete: nämlich die Heidenarbeit, die Türen zu montieren.

Leider wusste niemand, wie die Türen an die Bäume geschraubt werden mussten. Da erhob sich ein großes Weh und Ach unter den B’eulen; und manch eine kippte wie ein Stangenbrot vom Ast.

Moral: Es lohnt der Mühe nicht, offene Türen nach Athen zu tragen - erst recht nicht, wenn man eine B’eule ist. (Die alte Frau wird ungeduldig und scheucht mich davon.)

 

Wiesen-Riemenfisch. Ein Lexikonartikel auf Kaugummipapier, zirka 1946...

(Vermerk auf der Packung...) Attention! Nicht für Kommunisten und german Nazis!

Nach der Befreiung Nazideutschlands durch die Amerikaner waren eine Zeitlang Zigaretten, Nylonstrümpfe und Kaugummis eine »harte Währung«. Nun, auf die Packungen der legendären Armeezigarette Lucky Strike druckten die Besatzer nur ein paar fromm-demokratische Sprüche.

Ins Kaugummipapier jedoch gelangte auch etwas »Wissenschaft«, Lexikonartikel und populäre Darstellungen aus allen Geistesgebieten. Eines dieser kuriosen Kaugummipapiere liegt im Haus der Geschichte und enthält Angaben über einen kryptozoologischen Sensationsfund, den ich Ihnen nicht vorenthalten will.

 

Wiesen-Riemenfisch

Verbreitung: Nordostatlantik und nordeuropäische Küsten. Habitat: von der Hochsee (1000 m Tiefe) bis zu Küstenflachwasser, Flussmündungen, Altarmen und verlandenden Seen. Länge: durchschnittlich 18 m.

Der Wiesen-Riemenfisch, ein sehr eigentümlicher Fisch, hat einen langen bandförmigen Körper, der seitlich stark zusammengedrückt ist. Die drei Geschlechter erreichen häufig Längen von 18 Metern, ein 1944 bei Aschaffenburg gefundener Kadaver maß 25 Meter. Dieser große Fisch bringt es auf einen Meter Höhe, jedoch auf lediglich 50 Zentimeter Dicke in seinem fleischigsten Abschnitt.

Die rot schimmernde Rückenflosse beginnt unmittelbar hinter dem Maul, läuft über den ganzen Leib und geht direkt in eine schwache Afterflosse über. Die ersten Strahlen dieser Rückenflosse sind verlängert und bilden einen auffälligen Kamm, von dem vermutlich elektromagnetische Strahlung ausgeht.

Der enorm anpassungsfähige Fisch ist aus der Tiefsee in die Flussmündungen der freien Gebiete Europas eingewandert. Sein Vorkommen blieb jedoch viele Jahre auf Gewässer beschränkt, die über Zu- und Abläufe für den eher mäßigen Schwimmer zu erreichen waren. In letzter Zeit erobert er sich aber auch feuchte Wiesen, was ihm schließlich, als man ihn fortan öfter beobachtete, seinen Namen eintrug.

Regelrechte Sichtungen sind allerdings noch immer sehr selten. An einem frühen, kühlen Maimorgen kann ein zufälliger Beobachter zwar durchaus einen Blick auf seinen Kamm und den nugatroten Leib erhaschen, jedoch führt das Tier ungebetene Zaungäste dadurch in die Irre, dass es die menschliche Aufmerksamkeit auf eine Stelle zwei bis drei Meter links von sich lenkt.

Da der Fisch Temperaturen unter dem Gefrierpunkt erträgt und sicher giftigen Milieus widersteht, kann er möglicherweise Monate und Jahre in der SBZ überleben.

Trotz gegenteiliger Behauptungen handelt es sich bei dem Wiesen-Riemenfisch um keinen harmlosen Vertreter.

Anlass zu Spekulationen geben zwei lange, dünne Bauchflossen, an deren Spitzen taschenartige Hautlappen sitzen, die man an einem verendeten und schon stark verwesten Weibchen kürzlich in West-Berlin gefunden hat. Die Täschchen enthielten sortenreine Böden in kleinen Mengen, weshalb einige Forscher annehmen, dass der Wiesen-Riemenfisch eine künstlich erzeugte kommunistische Lebensform ist, die die Sowjets zu Spionagezwecken entwickelt haben.

 

Nur zu klar aber, dass man 1946 andere Sorgen hatte und nicht viel auf den Tatsachenartikel über den Wiesen-Riemenfisch gab, so dass der Beitrag rasch in Vergessenheit geriet.

 

Luftrochen fängt man mit Klößen

Nach Schießbefehl und Kubakrise waren die Menschen der DDR besonders erpicht darauf, von echten Wundern zu hören. Die raue und schlecht an die übrige Republik angebundene Ostseeküste war ein idealer Ort für schaurige Geschichten über seltsame Tiere und Dinge.

Durch den Bitterfelder Weg war es möglich, dass auch Arbeiter und Bauern ihre Erfahrungen literarisch formten und in kleinem Rahmen publizieren konnten. Aus dem äußersten Nordosten der DDR stammt ein sehr ungewöhnlicher Bericht, der in den »Jahresberichten des VEB Heringsfischerei Rosa Völkerfreundschaft, Heft 4, 1961« abgedruckt wurde und den ich hier in voller Länge wiedergebe.

 

»Was weißt du über Luftrochen, Karl Leninowitsch?«, fragte Genosse Erich Saarland seinen Elfjährigen.

»Der Luftrochen kommt nur in den Küstengewässern der Deutschen Demokratischen Republik vor, dort, wo drei Atom-Unterseeboote unserer Befreier, der Roten Armee, im Kampf gegen Faschismus und Imperialismus gesunken sind«, sagte der aufgeweckte Junge artig — ganz dem sozialistischen Katechismus seiner Zeit verpflichtet.

Der Vater nickte müde und zufrieden; er war schon älter, sein Karl ein Nachkömmling. Die Kenntnisse seines Jungen waren staunenswert, damit hatte er nicht gerechnet. Verlegen streichelte der alte Mann seine große, derbe Ledertasche, die auf seinen Knien stand. Würde dem Jungen das Geschenk gefallen?

»Junge, da weißt du mehr als manch anderer«, sagte er dann rau und wollte nicht zugeben, dass er von dem, was der Junge gesagt hatte, gerührt war, »auf jeden Fall bist du der Richtige.«

Der Richtige wofür? Schnell öffnete der Vater die Tasche und holte einen zitternden Klumpen Leben heraus: einen verletzten Luftrochen!

»Er hockte auf einem Balken in der volkseigenen Fischhalle und sah mir bei der Planerfüllung zu«, berichtete der Vater, »nun gehört er dir, bis er wieder gesund ist; sein rechter Hautlappen ist lahm.«

Karl nahm das Flugtier freudig an und sagte: »Er braucht ein Haus. Ich weiß, wir nehmen unseren alten Schuppen und nageln über die Fensterlöcher Draht!«

Erich Saarland stimmte zu, und Karl zähmte das wilde Tier rasch.

Nach zwei Wochen warf Karl den Rochen in die Luft. Unsicher drehte das Tier ein paar Runden, landete dann entfernt auf einem Ast. Karl legte einen kalten Kartoffelkloß mit einer Zwetschge darin, den er der Mutter aus dem Kühlschrank gestohlen hatte, auf seine Hand und lockte den Rochen. Er lockte und rief, bis der Rochen aus dem Äther zurückkehrte und er das Tier bei den Krallenfüßen ergreifen konnte.

Die Übungsflüge wurden immer ausgedehnter. Weit und lang. Weiter, länger. Und am einundzwanzigsten Tag kehrte der Luftrochen nicht wieder.

»Er hat sich die Freiheit genommen«, tröstete der Vater, »Freiheit, die ihm sowieso zusteht. Vergiss nicht, dass der Luftrochen ein wildes Tier ist!«

Karl nickte und legte den Kopf auf Vaters Schulter. »Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht«, sagte er sehr ernst, »wahrscheinlich hätte ich den Zwetschgenkloß auch am einundzwanzigsten Tag ganz aufbrechen müssen, damit der Luftrochen sieht, was darinnen ist. Aber ich habe es nicht getan, weil ich dachte, er wird schon wissen, dass die Zwetschge im Innern wartet.«

Der Vater rückte den Jungen halb grob, halb verwirrt von sich. »Du verfütterst Klöße an den Luftrochen? Unser Mittagessen?«

Über die Schulter blickte der Vater hilfesuchend zur Mutter, die ihm aber gleich lächelnd zuzwinkerte; sie wusste natürlich von allen Diebstählen. Seit einundzwanzig Tagen schon.

Karl stellte sich vor dem Vater auf und sagte ernst: »Natürlich, wusstest du nicht, dass man Luftrochen mit Zwetschgenklößen fängt?«

»Nein«, tat Erich Saarland erstaunt, »das wusste ich nicht.«

 

Am nächsten Morgen rief Bezirksleiter Ruppka im Hause Saarland an:

»Hier ist ein zahmer Luftrochen, lieber Genosse Erich«, sagte Ruppka, »das Tier hält die Leute von der Feldarbeit ab. Wenn er dir oder deinem Sohn Karl gehört, kommt sofort, sonst holen wir die Volkspolizei und lassen das Viech erschießen!«

Karl schwang sich aufs Rad, winkte den Eltern und raste hinaus auf die Felder.

»Warum nur lässt du ihn allein gehen?«, fragte die Mutter. Der feuchte Glanz in ihren Augenwinkeln war deutliche Anklage.

Der Vater beschirmte seine Augen, als müsste er dem Jungen bis in alle Ewigkeit nachsehen. Dabei war der Himmel bezogen, und das nahe Waldstück verwehrte schon den Blick. Karl war außer Sicht. Dann sagte er: »Auf unseren Karl werden sie nicht schießen, aber vielleicht auf mich. Du kennst Ruppka nicht, er soll ein verkappter Konterrevolutionär sein!« Er rieb seinen Rücken ganz feste am Türpfosten, dass das Holz jammervoll stöhnte.

 

Eine kleine Traube Feldarbeiter in grauer Brigaden-Uniform bezeichnete die Stelle, wo der Luftrochen die Ackerkrume umwühlte. Pickend, zahm, offensichtlich an Menschen gewöhnt.

Karl kurvte den Ackerweg herauf. Warm war’s; heiß der Kopf. Runter vom Rad; er schob es nachlässig in eine krumme, knisternde Kiefer.

»Da kommt unser Dompteur«, dröhnte der Bezirksleiter, an seiner Brust wippten sämtliche Parteiabzeichen, »hepp, hepp, mach schnell!«

Und als Karl einen Zwetschgenkloß aus einem blauen Taschentuch auswickelte, sagte Ruppka noch: »Kartoffel, Mehl und Pflaume als Köder, du hast Einfälle, Junge!«

»Komm, mein Tierlein«, sagte Karl schon und konzentrierte sich ganz auf den seltenen Vogel.

Die Leute feuerten ihn an, aber der Luftrochen hopste nur unwillig herum. Dann verging den Erwachsenen schon die Laune. Sie rissen ihre Witze, nannten Karl einen Angeber.

»Am Ende ist das gar nicht dein Luftrochen!«, rief Peterle, der jüngste unter den Feldarbeitern. »Geh doch in die BRD zum Klassenfeind, du Aufschneider!«

»Selber Klassenfeind. Wirst schon sehen«, giftete Karl zurück, das Gesicht rot und erhitzt — und er fixierte den Luftrochen und sagte mit Gedankenstimme, so laut es ging: ›Komm schon, ich will dir nichts Böses, liebes Tierlein!‹

Da breitete der Rochen die Schwingen aus, bedrohlich, und flatterte auf Ruppkas Augen zu. Die Feldarbeiter sagten: »Ho!«, und schlugen die Hände vors Gesicht; Ruppka hob die Fäuste, um den Luftrochen abzuwehren.

Der seltene Vogel aber schlug mit seinen Hautflügeln so lange nach dem Bezirksleiter, bis der hinfiel und sich verängstigt im Staub suhlte.

Karl sprang vor und riss den Luftrochen an sich und steckte ihn unter seine Jacke.

Als Ruppka aufstand, sahen alle, dass er im Kampf mit dem Luftrochen alle seine Orden und Medaillen verloren hatte. Alle - bis auf ein winzig kleines Parteiabzeichen der NSDAP mit Hakenkreuz, das Ruppka ganz vergessen hatte abzunehmen und das im Gewimmel der anderen Auszeichnungen viele Jahre lang gar nicht aufgefallen war.

»Seht nur, da ist der Faschist«, rief Peterle flink.

Unter den Feldarbeitern waren zum Glück ein paar Offiziere der Staatssicherheit. Sie ließen unter diesen besonderen Umständen ihre Tarnung fallen und nahmen Ruppka fest.

Da wurde ein großes sozialistisches Freudenfest gefeiert, und Karl saß mit seinem Luftrochen in der Mitte.