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Zum Buch

Südtirols Opfer der Schoah wurden von Faschisten observiert und ausgewiesen, großteils von einheimischen Nationalsozialisten verfolgt und deportiert. Nach 1945 weigerte man sich, Überlebende für ihre materiellen Verluste zu entschädigen. Die Erinnerung an die Opfer wurde verdrängt.

„Mörderische Heimat“ dokumentiert die vielseitigen Äußerungsformen des in Südtirol tief verwurzelten Antisemitismus. Südtirols NS-Opfer hatten ihre Heimat geliebt und wichtige Beiträge in der Medizin, Wirtschaft und im Tourismus geleistet. Das Aufzeigen der Spuren jüdischen Lebens in der Geschichte Südtirols lässt ihnen eine späte Anerkennung zuteilwerden.

Der Herausgeber

Nur wenige Spuren einer einst rührigen jüdischen Vergangenheit finden sich heute in den größeren Städten Südtirols. Seit einigen Jahren erfasst das Jüdische Museum in Meran Daten über frühere jüdische Einwohner und Einwohnerinnen. Bisher konnten nahezu 200 Opfer der Schoah ermittelt werden. Die Datenbank mit den gesammelten Informationen über Leistungen, Schicksale, Vertreibung, Verfolgung und Auslöschung bildet die Grundlage dieses Buches.

Autor und Autorin

Joachim Innerhofer studierte an der Universität Innsbruck, war viele Jahre lang Journalist für die „Neue Südtiroler Tageszeitung“ und leitet das Jüdische Museum in Meran. Er ist Mitglied der jüdischen Gemeinde in Meran.

Sabine Mayr studierte an der Universität Wien, arbeitete unter anderem an der OSZE und am Institut für Höhere Studien in Wien. In Zusammenarbeit mit Albert Sternfeld veröffentlichte sie „Die Sternfelds. Biographie einer Familie“ (2005), mit Evelyn Adunka und Dieter Hecht „Brücken, Beziehungen, Blockaden. Initiativen und Organisationen in Österreich und Israel seit 1945“ (2007).

© Edition Raetia, 2015

Lektorat: Harald Dunajtschik, Innsbruck

ISBN Print: 978-88-7283-503-6

Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com

Inhalt

Vorwort von Peter Turrini

Teil I – Zedaka im Traubenkurort

Meran – kein Ort für Rabbiner

„Unleidliche Verhältnisse im judenreinen Südtirol“

Händler und Bankiers aus Hohenems

Viktor Schwarz

Raphael Hausmann und die Gründung der Königswarter-Stiftung

Redakteur Jakob Straschnow aus Prag: „Klerikale Tobsucht“

Das Asyl für mittellose Juden in Meran

Der Kurort erhält eine Synagoge

Teil II – Rassisch verfolgt und deportiert

Der Angriff auf die Juden beginnt

Adalgisa Ascoli

Elena Luzzatto – Riccardo Luzzatto

Im „Arbeitserziehungslager“ Reichenau

Therese Reich

John Gittermann

Alfred Bermann

Im Güterwagen in die Vernichtungslager

… am 22. Februar 1944

Malwine Lehmann

Clemens Fränkel

… am 5. April 1944

Alfred Grün

Markus Krys – Josefine Krys

Charlotte Landau – Felicitas Landau

Käthe Collin

… am 16. Mai 1944

Auguste Freund

… am 26. Juni 1944

… am 1. August 1944

Adolf Schwarz

Hans Eiseck

… am 24. Oktober 1944

Arthur Spielberger

Direktorinnen, Präsidenten und Pioniere

Die Leiterin des jüdischen Asyls

Clara Salus

Im Bellaria der Familie Bermann

Rosa Bollack – Pauline Bollack – Josephine Bollack

Terka Bermann – Katharina Zadra

Ein Genesungsheim für KZ-Überlebende

Berta Rosenfeld

Walther Hausmann

„… schreiben Sie mir bitte, was Sie über Großmutti und Tante Tini wissen“

Jenny Vogel – Ernestine Vogel

Kantor und Vorbeter der jüdischen Gemeinde – Die Familie Götz aus Trebitsch

Emma Götz – Moritz Götz – Leopold Götz

Berta Weichselbaum-Götz – Rosa Weissenstein-Götz

„Gott soll geben, dass die Zores bald ein Ende nehmen“

Wilhelm Breuer – Katharina Breuer – Fritz Breuer – Edmund Breuer

Friedrich Stranskys Nachfolger, Wenzel Herzum und die Montecatini

Rosa Beer-Stransky – Elsa Mautner-Stransky

Hugo Welleminsky – Anna Welleminsky – Helene Welleminsky

Martin Krebs – Josef Krebs – Chaim Krebs

Hedwig Tauber – Paula Tauber

Familie Weinstein und das Kaufhaus „Al buon Mercato“ im Trentino

Josef Weinstein

Die Wiener Familie Zipper und das „Dachaulied“

Charlotte Zipper

Paul Berger: Gemeindevorstand, Asyl-Sekretär und Hoteldirektor

Kaufleute und Geschäftsführer

1001 Nacht in Meran

Sabetay Gabay – Alfonso Gabay

Josef Honig

Rudolf Kronau: Schauspieler und Kunstliebhaber

Alfred Kronau

Ein Flügel aus Bozen geht um die Welt

Gustav Furcht

Damen-, Herren- und Kindermode, Hüte und Wäsche in der Meraner Altstadt

Arnold Stützel – Nelly Stützel – Anton Stützel

Ida Löwy-Baum

Frieda Hajek-Mamma – Wilhelm Mamma

Lola Glück

„Kann man nicht erfahren, wohin all die Unglücklichen geschickt wurden?“

Jakob Augapfel – Rosa Augapfel – Emanuel Augapfel

David Apfel – Rosa Apfel

Die Familie des Leder- und Pelzwarenhändlers Oskar Bondy in Bozen

Otto Bondy – Ludwig Bondy

Jüdische Schneiderkunst in Bozen: Oskar Kienwald und die ägyptische Königin

Leo Köhler

Das Tapeziergeschäft von Ferdinand Imlauf am Rennweg

Henriette Imlauf – Josef Schenkel – Josef Lekner

37 Siddurim der Familie Löwy

Emil Löwy – Siegfried Löwy

Kellereizubehör und Autoreifen: Die Brüder Popper in Bozen

Alexander Popper – Rosalie Popper – Paul Popper

Friseurmeister Abraham Hammer aus Galizien und die erste vegetarische Küche Merans

Abraham Hammer – Taube Hammer

Pioniere des Lebensmittel-, Obst- und Getreidegroßhandels

Carlo Servi

Aldo Castelletti

Jakob Seif

Renzo Carpi – Lucia Carpi – Alberto Carpi – Germana Carpi – Olimpia Carpi

Amalie Fleischer

Unbekannte Unternehmerinnen

Meta Sarason – Gertrude Benjamin

Imre Adler – Istvan Adler – Gabor Adler

Regina Gentilli

Karla Popelik – Hermine Popelik

Fanny De Salvo – Elena De Salvo – Klara Stern

Marta Gold und die Pension „Carlo Goldoni“

Kurt Buchsbaum

Ärzte und Kurärzte

Ludwig Balog – Josefine Balog

Otto Heller

Oskar Goldstein

Bernhard Czopp

Die Flucht der Familie Singer aus Meran und der Familie Polacco aus Bozen

Rechtsanwälte im Visier des Unrechts

„Kein Freund von Diktaturen“

Wilhelm Alexander Loew

„Ist es noch nicht verheilt?“ – Die Vertreibung der Familie Langer

Oskar André – Anna Neuberg

Heimatrecht abgelehnt – „mit Rücksicht auf den angegebenen Aufenthaltsort in Obermais“

Dorothea Gronich

Anmerkungen

Anhang

Abkürzungen

Archive

Literatur

Bildnachweis

Namensregister

Vorwort von Peter Turrini

Ich nehme das Wort „Heimat“ ungern in den Mund, und wenn es dort einmal landet, dann spucke ich es schnell wieder aus. Für mich ist entscheidend, wo sich ein Mensch zu Hause fühlt. Für einen Moment, für eine Weile, für längere Zeit. Dieses Gefühl kann man bei einem anderen Menschen empfinden, für eine Gegend, es kann sich auf eine Situation beziehen oder auf Laute. Der Begriff „Heimat“ wurde nicht nur in der Nazizeit missbraucht, sondern wird es heute genauso. Auf der einen Seite sprießen Heimat- und Brauchtumsveranstaltungen nur so aus dem Boden, aber andererseits ist dieser Boden ausgelaugt oder von Schnellstraßen zerschnitten. Unser industriell produziertes Essen ist voll mit Gift, aber in der Lebensmittelwerbung werden ländliche Idyllen gezeigt, die an die faschistische Ästhetik erinnern. Alles, was man umgebracht hat, feiert als Ideologie, als Kitsch seine Auferstehung.

Heimat „Österreich“, was ist das überhaupt? Ein politisches Gebilde, das in hundert Jahren fünf Mal seine Gestalt gewechselt hat. Von der Monarchie zur Ersten Republik, von dort zum Ständestaat und dann ab ins Dritte Reich. Dann geht’s wieder los mit der Zweiten Republik. Ich bin zur Österreichliebe schon deshalb unfähig, weil mir das Objekt der Zuwendung zu instabil ist. Und was ist schon das Einheimische, was das Fremde? Nehmen wir Maria Saal, das Zollfeld, von wo ich herkomme. Da vermischte sich das Keltische mit dem Römischen, das Deutsche mit dem Slawischen. Wie in jedem Grenzland sind wir vermischte Wesen, es gibt keine echten Kärntner und das ist grundsätzlich eine Freude. In keinem anderen Land ist der Fremdenhass so idiotisch wie in Österreich, denn was man hierzulande dem Fremden unterstellt, was man an ihm ablehnt, wessen man ihn verdächtigt, das ist immer ein Teil von einem selbst. Ein Österreicher, der einen Tschechen, einen Kroaten oder einen Slowenen beschimpft, beschimpft sich selbst. Der ethnisch reine Österreicher ist eine Erfindung, es gibt ihn nicht. Es gibt keinen österreichischen Bundespräsidenten, es gibt keinen österreichischen Bundeskanzler. Es gibt und gab jüdische und kroatische und tschechische Einwanderer und deren Nachkommen in besagten Positionen. Was man Österreicher nennt, ist ein europäisches Gemisch gleichen Namens. Eine Promenadenmischung, die den Glücksfall ihrer Mischung nicht wahrhaben will und sich immer wieder als deutscher Schäferhund ausgibt. Man stelle sich das einmal bildlich vor, eine Promenadenmischung setzt sich die Ohren eines Schäferhundes auf und bellt großdeutsch. Das macht die österreichischen Fremdenhasser so lächerlich und unberechenbar. Wenn ich also gegen jemanden eine Phobie entwickle, dann hat das nicht mit seiner Mischkulanz, sondern mit seinem Charakter zu tun. Deppen gibt es überall.

Mein Vater war ein italienischer Kunsttischler, den es in den 1930er-Jahren nach Kärnten verschlagen hatte. Seine Sprache, dieses Gemisch von Kärntnerisch und Italienisch, seine ganze Art, passte nicht in die bäuerliche Umgebung. Man akzeptierte ihn, weil er das Fremde an sich, das „Katzelmacherhafte“, durch eifriges Nachahmen der ortsüblichen Tugenden, Schuften und Häuselbauen, zu verwischen trachtete. Er galt als fleißiger Italiener, eine Ausnahme, die man sich gefallen ließ. Bis an den Stammtisch der eingesessenen Bauern im Gasthaus schaffte er es allerdings nie. Ich habe mich in unserem Dorf nie heimisch, nie geborgen gefühlt. In der Schule wurde mir Heimat als Heimatkunde vermittelt, das Dorf als ein Ort der Harmonie, in dem Probleme nur durch das Auftauchen eines schlechten Charakters entstanden, den die Gemeinschaft loswerden musste. Heimat ist, so schilderte es der Volksschullehrer, der Ort des Brauchtums, der Gebete, der Bewahrung. Die Heimat, die mich in meiner Kindheit umgab, war aber so ganz anders als die Heimat in meinem Lesebuch, einer bearbeiteten Ausgabe eines Schulbuchs aus der Nazizeit.

Die Wirren der Nachkriegszeit hatten langsam aufgehört; die Verhältnisse begannen sich auf kapitalistische Weise zu normalisieren. Die Mechanisierung der Landwirtschaft machte Knechte und Mägde überflüssig, sie gingen als Hilfsarbeiter in die Stadt. Die Kleinbauern, deren Höfe unrentabel wurden, folgten ihnen. Unser Nachbar erschoss sich mit einem Schlachtschussapparat. Der reale Verlust der Heimat führte zur Ideologie von Heimat. Es geschah, was heute noch immer, schon wieder, im größeren Rahmen geschieht. Am Sonntag stehen die Blas- und Trachtenkapellen auf der Wiese neben dem überfüllten Parkplatz und beschwören singend und blasend eine Heimat, die es gar nicht mehr gibt. Ein anachronistisches Bild voller Brauchtum und Trachten, eine große Lüge. Der Nationalsozialismus trieb diese Methode auf die Spitze: mit seinem großdeutsch uniformierten Brimborium missbrauchte er die Reste gewachsener, lokaler Ausdrucksformen, zerstörte durch die Umstellung auf Kriegswirtschaft die letzte Unabhängigkeit der Bauern und mystifizierte gleichzeitig den Bauernstand, erhob ihn zum völkischen Vorbild.

In der Ersten österreichischen Republik war der Kaiser tot, blieben also Gott und Vaterland. Die Bourgeoisie der Ersten Republik schlug mit ihren blutrünstigen Heimwehren so lange auf eine immer stärker werdende Arbeiterschaft ein, bis von deren Organisationen nichts mehr übrig blieb. Dabei ging der Staat gleich mit drauf, und man gründete sich einen eigenen: im Namen Gottes und des Vaterlands, den klerikalen, vaterländischen Staat faschistischer Prägung. Der Durchschnittsösterreicher hat daraus gelernt: Wenn die Mörder auf Seiten des Staates sind, haben Gott und die Gerichte nichts gegen sie. Es war also zweckmäßig, das Abzeichen der Vaterländischen Front zu tragen, egal was man dachte oder fühlte. Zwei Gruppen waren aus dieser Vaterländischen Front ausgeschlossen: Die Roten, weil sie ja laut ihres Programms Internationalisten waren, und die Juden, weil sie ja schon seit zweitausend Jahren Internationalisten sind. Wenn trotzdem ein Jude etwas Öffentliches und Wichtiges tat, wurde er nie ohne das Attribut „jüdisch“ zitiert, was unter augenzwinkernden Österreichern schon immer geheißen hat: Der ist zwar dabei, aber er gehört nicht dazu. Als die deutsche Bourgeoisie Appetit auf die österreichischen Vorräte bekam, als der große Hai den kleinen fraß, als im Zuge des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich die Gold- und Devisenbestände der österreichischen Nationalbank ausgeräumt wurden, als IG Farben und die Berndorfer Metallfabrik von Dynamit Nobel und Krupp geschluckt wurden, ließ diese deutsche Bourgeoisie ihr niederes Treiben von einem Herrn ausführen, der einen besonders hohen Absender hatte: die Vorsehung. In diesem Namen agierte der neue Staat, und der gelernte Österreicher agierte, so schnell er konnte, mit. Für ihn bestand die Katastrophe nicht etwa darin, unter den Staatsmantel der faschistischen Barbarei gelangt zu sein, im Gegenteil, das Schlimme für ihn wäre gewesen, wenn er darunter keinen Unterschlupf gefunden hätte, wenn er seine Pflicht nicht hätte tun können. Denn der Staat, auch der verbrecherischste, veredelt jegliches Tun.

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Auf der Meraner Kurpromenade um 1900

Das erste Antlitz des demokratisch gewordenen Österreich, welches ich zu sehen bekam, waren die Gesichter der Dorfhonoratioren am Stammtisch des Dorfgasthauses. Der neue demokratische Staatsmantel öffnete sich weit und verzeihend über alle Verächter der Demokratie. Die ersten Jahre der Zweiten österreichischen Republik dienten der moralischen und politischen Rettung der Nazis. Wozu trauern, wenn der neue Staat sie dringend zum Aufbau dessen brauchte, was sie soeben zerstört hatten?

1985 waren nach einer Umfrage der Zeitschrift „profil“ 39 Prozent der Österreicher, also zwei Millionen Wähler, der Meinung, der Nationalsozialismus werde übertrieben und falsch dargestellt. 25 Prozent der Befragten aus Kärnten sagten damals, dass es nicht das Schlechteste wäre, wenn wieder ein kleiner Hitler kommen würde. Hinter diesen sichtbaren Zahlen verbarg sich das Unsichtbare, das Alltägliche, der gewöhnliche Faschismus, der die österreichische Republik durchzog wie ein unsichtbarer brauner Strom. Mit den Ausnahmen von kurzen öffentlichen Ausbrüchen war die braune Gewalt privat geworden, verbreitete sich schweigend in den eigenen vier Wänden, murmelnd und glucksend und rülpsend in den Gaststuben, kalt und dekretierend in den Amtsstuben. Sie war, weil sie ständig ist, nicht mehr berichtenswert, sie ist so gewöhnlich, dass man sich schon an sie gewöhnt hat, und folglich ist sie nicht mehr beklagenswert. Wer schreibt und redet schon von einem Taxifahrer, der – selbstverständlich nur so dahin gesagt – gern ein paar Tschuschen überfahren würde, um das Fremdarbeiterproblem auf seine Weise zu lösen? Wer spricht davon, dass meinen iranischen Freunden in Wiener Gemüsegeschäften grundsätzlich verdorbene Waren angedreht werden, dass Beamte des Arbeitsamtes Gastarbeiter, die sich mit den Formularen nicht so auskennen, nicht in die Kartei aufnehmen, sondern die schlecht ausgefüllten Formulare einfach in den Papierkorb werfen, dass mir ein ehemaliger Schulkollege aus Klagenfurt erzählt hat, er hätte das Personal seines Textilgeschäftes slowenenfrei gehalten? Die Ausländer sind zum Auffangbecken aller Verdächtigungen geworden, an ihnen handelt jeder Dreckskerl seinen eigenen Dreck ab.

Was soll die theoretische Frage an uns selbst, ob wir im Jahre 1939 feige oder mutig gewesen wären, wo die Frage doch nur lauten kann, ob wir heute feige oder mutig sind.

Teil I

Zedaka im Traubenkurort

Seit einiger Zeit arbeitet das Jüdische Museum in Meran an der systematischen Erfassung früherer jüdischer Einwohner Südtirols. Es kam auf nahezu 200 Opfer der Schoah, die durch die faschistischen Rassengesetze observiert, aus der Provinz Bozen ausgewiesen und von Nationalsozialisten verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Ihre Leistungen für Südtirol und ihr Leidensweg sind das Thema dieses Buches. Erst nach Jahrzehnten der Verdrängung tritt ihre Ermordung langsam ins Bewusstsein. Zuvor störten die Opfer der Schoah „die ethnische Eindimensionalität der Südtiroler Welt“1. Konnten sie aber nicht ignoriert werden, wie Walli Hoffmann, die nach Meran zurückgekehrte, einzige Überlebende jener Gruppe, die am 16. September 1943 aus Meran deportiert wurde, so wurden sie als „Südtiroler“ Opfer dargestellt, denen von „Fremden“ Unrecht angetan wurde.2 Immer wieder wurde durch Aussagen von Politikern genauso wie in einseitigen historischen Darstellungen das wahre Ausmaß relativiert, in welchem die jüdischen Einwohner Südtirols die wirklichen Opfer des Faschismus und Nationalsozialismus in Südtirol sind.

Aus der Sicht der Familienangehörigen der Opfer der Schoah ist diese Problematik des Umgangs Südtirols mit seiner eigenen Vergangenheit bitter. Er ist eine besonders resistente Variante jener aus Österreich bekannten Opferthese: Zum Selbstverständnis der Zweiten Republik gehörte jahrzehntelang die Behauptung, Österreich sei das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen, während gleichzeitig österreichische NS-Täter offizielle Ehrungen erhielten. Die lang andauernde Verdrängung verhinderte auch ein Bewusstsein dafür, dass Südtirol eine vor allem wirtschaftlich wichtige jüdische Geschichte hatte. Der Politologe Anton Pelinka sieht diesen Zusammenhang so: „Der Mord und Raubzug gegen die Meraner Juden wurde ‚Fremden‘ zugeschrieben. Gleichzeitig wurden die Meraner Juden zu ‚Fremden‘ – ihre Opfer zählten weder als deutsche, noch als italienische. Der Holocaust wurde zum Massenmord von Fremden an Fremden. Eine jüdische Geschichte, eine jüdische Identität, die Teil einer umfassenden Südtiroler Geschichte und Identität wären, werden so verschwiegen.“3

In diesem ersten Teil soll daher der Aufbau der jüdischen Gemeinde in Südtirol ausführlich beleuchtet werden. Erst wenn die ebenso zahlreichen wie beeindruckenden Beiträge jüdischer Familien zur Entwicklung Südtirols und des Kurortes Meran angemessen dargestellt sind, kann die nationalsozialistische Perfidie und Faktenverdrehung in ihrem vollkommenen Ausmaß erfasst werden.

Die Darstellung der Entstehungsgeschichte der jüdischen Gemeinde in Meran zeigt, dass diese stark in dem wichtigen jüdischen Gebot der Wohltätigkeit, hebräisch „Zedaka“, verankert war. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Recherche liegen nur sehr wenige Daten über jüdische Einwohner Südtirols vor. Dies gilt auch für in Südtirol Geborene und Juden, die eine enge persönliche Bindung zu Südtirol hatten. Sie alle sahen sich plötzlich einer „rassisch“ begründeten, lebensbedrohlichen Verfolgung ausgesetzt. Die dürftigen Informationen mussten in den verschiedenen Archiven mühsam gesammelt, gewertet und miteinander in Bezug gebracht werden. Zwar halfen dabei die peniblen Aufzeichnungen und umfassenden Korrespondenzen der faschistischen Ämter bei der Umsetzung der italienischen Gesetze zum sogenannten „Rassenschutz“, dennoch mussten oft die allerkleinsten Hinweise der behördlichen Verwaltungen ausreichen, die nur einen sehr oberflächlichen Eindruck vermitteln. Nur dank der Hilfe von Überlebenden und Familienangehörigen war es möglich, auf das Schicksal und das Leid der Verfolgten ausführlicher einzugehen. Ohne ihre Unterstützung gäbe es dieses Buch – und seine Erinnerung an einen Teil der Geschichte Südtirols – nicht.

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Innenraum der Meraner Synagoge zur Zeit des Ersten Weltkriegs

Meran – kein Ort für Rabbiner

Eine wunderbare Natur, weitläufige Wiesen und glucksende Waale, die im Frühjahr und Herbst ihre schönste Pracht entfalten, umgeben das kleine, aber feine Bethaus von Meran mit seinem geradezu poetischen Reiz, schreibt Rabbiner Joshua Grünwald Anfang der 1920er-Jahre.4 Grünwald war von 1921 bis 1939 Oberrabbiner von Meran und der Provinz Venezia Tridentina. Er kam ursprünglich aus Gelsenkirchen, war von der Kurstadt bald verzaubert und wohnte zunächst in der Villa Posch in der Galileistraße. Einladende Unterkünfte in der Nähe der Synagoge würden sich hier bestens für einen Aufenthalt gemäß den religiösen Vorschriften eignen, verkündete Grünwald in einem Schreiben, mit dem er für die Schaffung einer Ausbildungsstätte für jüdische Erziehung warb. Das Hotel Bellaria werde den höchsten Ansprüchen jüdischer Reisender gerecht, während die Pension Vogel einen bescheideneren, dafür aber preisgünstigeren Verbleib erlaube. Der Kurort Meran sei schließlich einer der schönsten Orte Europas, so Grünwald.

Bildung und Erziehung waren im Judentum zu allen Zeiten oberstes Gebot. Von früher Jugend an lernten jüdische Knaben im „Beth Hamidrasch“ – dem „Lehrhaus“ oder „Haus, in dem gelernt wird“, das sich meist neben oder auch in der Synagoge befand – die alten Schriften, wurden in die Kunst des dialektischen Argumentierens eingeführt und zu sozialer Gerechtigkeit erzogen.5 Wer sich dem Studium widmet, erfüllt damit gleichzeitig auch andere religiöse Pflichten, denn das Wesen des Judentums stützt sich auf das Studium der Thora und anderer religiöser Überlieferungen. Wer sich in die jüdische Kultur einlebt, der stärkt sie und gibt sie an nachfolgende Generationen weiter, erklärt Rabbiner Simon De Vries in seinem viel zitierten Werk „Jüdische Riten und Symbole“: „Das gilt immer und überall, insbesondere jedoch zu solchen Zeiten und unter solchen Umständen, in denen die Juden von anderen mächtigen Kulturen umgeben sind und unzählige, vielfache und fremde Strömungen in sich aufnehmen. So wurde aus dem Unterrichtszimmer auch die Synagoge, die gleichbedeutend wurde mit dem Unterrichtssaal. Und deshalb wurde sie im Volksmund als Schul, d. h. Schule, bezeichnet.“6

Die Einschulung der Kinder erfolgte im „Cheder“, hebräisch für „Zimmer“, bei einem Lehrer zu Hause, was im osteuropäischen Judentum bis zur Schoah üblich war. Als Nächstes besuchten orthodoxe Schüler – Mädchen wurden nach orthodoxer Tradition nicht zum Thora-Studium zugelassen – die Jeschiwa, eine Talmud-Thora-Schule im Beth Hamidrasch.

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Briefkopf von Rabbiner Joshua Grünwald, Meran

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Briefkopf von Rudolf Goldstein, Wien

Auch für Joshua Grünwald war Bildung sehr wichtig. Er ermahnte die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, ihre Kinder am regelmäßigen Religionsunterricht teilnehmen zu lassen. Eine solche Anregung erhielt etwa der in Bozen lebende Schneidermeister Oskar Kienwald aus Przemysl in Galizien, als Kienwalds Söhne Leonhard und Erwin vorübergehend nicht zum Religionsunterricht erschienen. Bald reisten sie wieder eigens dafür nach Meran, wurden von einem Gemeindemitglied am Bahnhof abgeholt und ins nahe gelegene Hotel Bellaria gebracht, wo der Unterricht stattfand.7

Ein jüdisches Bildungsinstitut in Meran, das Grünwald in einer Kooperation mit dem Collegio Convitto Dante Alighieri vorschwebte, wäre eine vorbildliche Einrichtung gewesen, welche die Stadt Meran für jüdische Familien in ganz Italien attraktiv gemacht hätte. Doch das Projekt konnte nicht realisiert werden, und trotz seiner positiven Darstellung Merans dürfte Grünwald die judenfeindliche Stimmung der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg nicht entgangen sein. Aus den lokalen Tageszeitungen hallte das Echo der damals in ganz Europa vernehmbaren Beschimpfungen von „Juden und Kommunisten“, die für den verheerenden Krieg und die wirtschaftliche Nachkriegsmisere verantwortlich gemacht wurden. Dazu kam in Südtirol noch der Unmut der Bevölkerung über die Abtrennung von Österreich, die einem angeblichen Einfluss jüdischer Politiker zugeschrieben wurde. Die antijüdische Hetze war derart stark verbreitet, dass am 11. Juni 1920 im Gemeinderat von Obermais beschlossen wurde, „prinzipiell ohne gesetzlichen Zwang keine Juden mehr in den Gemeindeverband aufzunehmen“.8 Zu diesem Beschluss bemerkte der jüdische Arzt Julius Stein, dass es in Tirol offensichtlich nur dann eine solidarische Anteilnahme am Schicksal unterdrückter Minderheiten gebe, wenn Tiroler selbst davon betroffen seien. Ansonsten scheine das Interesse an gesellschaftlichen Minderheiten sehr begrenzt zu sein.9

Seit ihrer Gründung im Jahr 1872 förderte die Königswarter-Stiftung jüdisches Leben in Meran mit Hilfe religiöser Einrichtungen, auch wenn die Meraner Glaubensgemeinschaft offiziell Teil der jüdischen Gemeinde Hohenems in Vorarlberg blieb. Hohenems war vom 17. bis zum 19. Jahrhundert das religiöse Zentrum der Juden Vorarlbergs und Tirols, der Wohnsitz zahlreicher jüdischer Familien und der Amtssitz des Landesrabbiners, verlor aber im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgrund der Abwanderung vieler Familien rasch an Bedeutung. Unter der Ägide der jüdischen Gemeinde von Hohenems gab es in Meran, das im Gegensatz zu Hohenems im selben Zeitraum einen großen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatte und zu einem internationalen Kurzentrum anwuchs, weder ein eigenes Rabbinat, das sich vor Ort um die Anliegen der Gemeinde kümmern konnte, noch eine eigene Matrikenführung, um Geburten, Trauungen oder Todesfälle aufzuzeichnen. Für die rapide ansteigende Zahl jüdischer Kurgäste sowie für die in Meran niedergelassenen jüdischen Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte wurde dies zum Problem. Jahrzehntelang musste ihre Gemeinschaft öffentlich unter dem Deckmantel einer Stiftung auftreten. Erst die Gründung eines Kultuskomitees am 15. Februar 1914, der eine intensive Auseinandersetzung unter den jüdischen Einwohnern Merans vorausgegangen war, eröffnete hier neue Perspektiven.10

Ein erster Schritt, um für Meran eine unabhängige Gemeindeverwaltung zu erwirken, erfolgte im Frühjahr 1905 durch Aron Tänzer, der seit dem 11. Dezember 1896 das Amt des Landesrabbiners in Hohenems ausübte und damit auch für Meran zuständig war. Damals war eine Umstrukturierung des Tiroler und Vorarlberger Landesrabbinats angesichts der schwindenden Bevölkerung von Hohenems bereits unvermeidlich. Im Kuratorium und im Beirat der Königswarter-Stiftung waren angesehene Vertreter des gehobenen Bürgertums aus dem deutschsprachigen Raum, darunter der Bankier Friedrich Stransky, die Ärzte Raphael Hausmann und Maximilian Koref, der Kasseler Tapetenfabrikant Gustav Katzenstein, der böhmische Kaufmann Gustav Rie, der Antiquitäten- und Kunstsammler Otto Feist aus Berlin, Teilhaber der Kohlengroßhandlung seines Schwiegervaters Caesar Wollheim und Sohn des Sektfabrikanten Feist aus Frankfurt am Main, Heinrich Gutmann aus Wien, Siegmund Knina aus Prag, der in Wien lebende Privatier aus Jungbunzlau (Mladá Boleslav) Albert Winterberg, Bruder eines finanzstarken Wollhändlers in Reichenberg, sowie der Arzt N. Bergmann aus Hannover.11

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Leopoldine und Siegmund Knina

Sie hatten Aron Tänzer das Angebot gemacht, ihn für fünf Jahre als Rabbiner für Meran anzustellen und zu besolden. Da aber eine eigene unabhängige jüdische Gemeinde für Meran von allen zuständigen Behörden eindeutig abgelehnt wurde, ersuchte Tänzer den Kultusvorstand in Hohenems darum, seinen Wirkungsbereich auf Südtirol einzugrenzen. Tänzer begründete diese Maßnahme damit, dass das religiöse Leben in Meran durch die jüdische Gemeinde in Hohenems zu wenig gefördert würde und dass darunter vor allem die Kinder litten, die aus seiner Sicht über die jüdische Religion zu wenig lernten. Am 8. Mai 1905 willigte der Kultusvorstand in Hohenems ein und Aron Tänzer wurde zum „Bezirksrabbiner“12 für Meran berufen, der auch für Gläubige aus Borgo Valsugana, Cavalese, Cles, Fiera di Primiero, Arco, Riva del Garda, Rovereto, Tione di Trento, Mezzolombardo und Trient zuständig war. Die behördliche und ministerielle Bestätigung des „Rabbinats für Südtirol mit Sitz in Meran“13, wie Tänzer seinen Wirkungsbereich bezeichnete, blieb allerdings aus.

Aron Tänzer war ein „deutsch-jüdischer Doktorrabbiner“, dessen Gelehrsamkeit beispielhaft für viele Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinden des deutschen Sprachraums war.14 Er wurde am 30. Januar 1871 als Sohn von Marie Schlesinger und des Kaufmanns Heinrich Tänzer in der heute slowakischen, damals ungarischen Stadt Pressburg (slowakisch Bratislava, ungarisch Pozsony) in eine bekannte Rabbinerfamilie geboren. Tänzer besuchte die städtische Jeschiwa, studierte in Berlin und Bern Philosophie, Germanistik, semitische Philologie und Geschichte. Zu seinen Universitätslehrern gehörten der Philosoph Wilhelm Dilthey, der Goetheforscher Erich Schmidt, der Orientalist Hermann Strack und der Völkerpsychologe Moritz Lazarus. Nach Ablegung der Rabbinatsprüfung hielt er sich in Fogarasch (heute Făgăraş) im damals ungarischen Siebenbürgen und in der galizischen, heute ukrainischen Stadt Buczacz auf.15 Ein Aufenthalt in Meran war für Tänzer aus mehreren Gründen interessant. Moritz Lazarus war 1896 aus gesundheitlichen Gründen hierher übersiedelt. 1824 in Posen geboren und erzogen von einem Schüler Akiba Egers, eines wichtigen Vertreters der jüdischen Orthodoxie, der sich für die politische Besserstellung der Juden in Posen eingesetzt hatte, war Moritz Lazarus ein Vorkämpfer für die Rechte der Juden und führte bei der ersten Israelitischen Synode 1869 in Leipzig den Vorsitz.

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Aron Tänzer mit seinen Söhnen Fritz (links) und Paul (rechts)

Außerdem lebte noch ein weiterer Freund Tänzers in Meran, der im In- und Ausland hohes Ansehen genoss: der Kurarzt Raphael Hausmann aus Breslau, der in zahlreichen Publikationen Meran als einen für Lungenkranke und deren Rekonvaleszenz idealen Winterkurort präsentierte. Aber auch Erkrankungen der inneren Organe oder allgemeine Körperschwäche konnten, so Hausmann, in Meran auf dem Wege der Klimatotherapie oder der Balneotherapie – etwa durch die Milch-, Molke-, Kephir- oder Traubenkur – kuriert und, wenn nicht geheilt, so zumindest gelindert werden. Damit machte Hausmann Meran bekannt, noch bevor Kaiserin Elisabeth am 16. Oktober 1870 erstmals ins Burggrafenamt kam. Es ist anzunehmen, dass Hausmann im Verlauf der mehrmaligen Aufenthalte „Sissis“ bis 1889 Merans bedeutendster Kurarzt war. In Robert Flechsigs europaweit herangezogenem Bäderlexikon aus dem Jahr 1883 wird sein Name vor allen anderen Meraner Kurärzten an erster Stelle angeführt.16 Hausmanns Standardwerk „Die Weintraubenkur mit Rücksicht auf Erfahrungen in Meran“, 1884 im Verlag von Fridolin Plant erschienen, wurde bis 1905 insgesamt sechsmal aufgelegt.17 1879 erschien Fridolin Plants „Neuer Führer durch Meran und dessen Umgebung mit einem medizinischen Beitrage von Dr. R. Hausmann“ in zweiter Auflage.18 Der ehemalige Präsident der jüdischen Gemeinde Meran Federico Steinhaus und die Historikerin Rosanna Pruccoli betonen wiederholt die Bedeutung Hausmanns für die Entwicklung Merans zu einem Kurort, der 30 Jahre zuvor noch gar nicht existiert hatte. So listet etwa der „Bote für Tirol und Vorarlberg“ auf die leicht rückgängige Kursaison 1833 zurückblickend folgende Bäder der historischen Region Tirol auf, die unter den damals mehr als 14.000 Kurgästen den größten Zuspruch fanden: das Mitterbad in St. Pankratz, Bad Rabbi, die Bäder Pejo und Comano, Bad Badhaus in Reutte, das Innicher Bad, Bad Maistatt, Bad Altprags, Bad Bachgart und Bad Retzis in Kastelruth.19 Lange bevor Kurorte um die Jahrhundertwende zum Ziel temporärer Massenfluchten wurden, erkannte Hausmann das Entwicklungspotenzial, das in der Attraktivität Merans für jüdische Gäste lag. Schon seit geraumer Zeit boten die Kurorte Marienbad (Mariánské Lázně), Karlsbad (Karlovy Vary) oder Franzensbad (Františkovy Lázně) jüdischen Kurgästen, die diese Bäder oft und gerne aufsuchten, „idealisierte Gegenwelten des Alltags“20. Nach ihrem Vorbild könne auch Meran zu einem solchen utopischen, temporären „Schutzraum“ für jüdische Kulturen im Aufbruch werden. Zuerst mussten Einrichtungen geschaffen werden, ein Friedhof für die Verstorbenen jüdischer Religion und Wohltätigkeitseinrichtungen, die auch mittellosen Kranken die Möglichkeit boten, sich in Meran aufhalten zu können und behandeln zu lassen. Bald erhielt das humanitäre Projekt einen Namen. Es sollte ein „Asyl für mittellose kranke Israeliten“ werden. Die etwas eigenwillige Wahl der Bezeichnung „Asyl“ – abgeleitet vom lateinischen Ausdruck „asylum“ und vom griechischen „ásylon“ für „unberaubt, sicher“ – drückt das Wissen um eine Bedrohung und die Suche nach einem gesellschaftlichen Refugium für Schutzbedürftige aus.

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Moritz und Ruth Nahida Lazarus

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Von Ruth Lazarus verschickte Postkarte mit der Villa Ruth, 10. März 1904

Die „Gegenwelt“ der Kurbäder, die in Anlehnung an Foucault auch als „kompensatorische Heterotopie“21 bezeichnet wurde, hatte im Zeitalter der Säkularisierung ein Potenzial als Schwellenraum, in dem gesellschaftliche Veränderungen und Übergänge geübt und ritualisiert sowie gleichzeitig zentrale „Mitzwot“ des Judentums erfüllt werden konnten. Als „Mitzwa“ – oder im Plural „Mitzwot“ – wird im Hebräischen ein religiöses Gebot bezeichnet. Unter den vielen jüdischen Geboten war Wohltätigkeit oder Zedaka eine sehr wichtige, zentrale Forderung, die gerade im Rahmen eines Kuraufenthalts umgesetzt werden konnte. Hier konnten sich die Fürsorge und das Mitgefühl mit anderen Kurgästen entfalten, an die gerne appelliert wurde, um Kurgäste dazu zu bringen, sich für einen wohltätigen Zweck einzusetzen und zu spenden. Zedaka unterscheidet sich von der christlichen Haltung der „Caritas“ vielleicht insofern, als Zedaka weniger einem Gefühl der Barmherzigkeit und des Mitleids entspringt. Sie wird vielmehr als eine gesellschaftliche Verpflichtung zur Hilfe betrachtet und beruht auf dem Gedanken, dass Juden dazu verpflichtet sind, das, was Gott ihnen anvertraut hat, mit anderen zu teilen. Sie soll Bedürftigen, die als gleichberechtigte Mitglieder sowie Gesellschaft gesehen werden, im Idealfall als Hilfe zur Selbsthilfe dargebracht werden. Neben der Zedaka gibt es als weitere Mitzwot die „Gemilath Chesed“ oder die selbstlose Güte, die „Rachmanut“ oder religiös motiviertes Mitleid oder „Bikkur Cholim“, das Gebot, Kranke zu besuchen und zu pflegen. Neben Gottesdienst und Lehre bildet Wohltätigkeit eine dritte wichtige Säule der jüdischen Religion.

Der Meraner Stadtmagistrat wusste 1879 von 26 jüdischen Einwohnern der Stadt, zu denen sich jährlich etwa 500 bis 600 jüdische Kurgäste gesellten.22 Noch viel geringer war die Anzahl der jüdischen Einwohner Merans 50 Jahre zuvor, während für Hohenems 1823 511 jüdische und 2.610 christliche Einwohner vermeldet wurden.23 In Bozen sollen im 18. Jahrhundert gar nur zwei jüdische Familien ansässig gewesen sein.24 In der Datenbank der Hohenems Genealogie, die sich auf die 1784 von Joseph II. eingeführten Geburten-, Heirats- und Sterberegister stützt, sind bis zum Jahr 1885, also in einem Zeitraum von 100 Jahren, 27 Geburten von Kindern jüdischer Familien in Bozen verzeichnet, in Meran sogar nur 14.25 Ohne hier auf diese Zahlen näher eingehen zu können, kann angenommen werden, dass Meran bereits Anfang der 1870er-Jahre bei den Kurgästen jüdischen Glaubens ein beliebtes Reiseziel war. So konnte Raphael Hausmann gemeinsam mit den Bankiers Daniel und Jakob Biedermann und dem Tuchhändler David Gutmann aus Altenstadt in Bayern unter den wohlhabenden jüdischen Kurgästen Geldspenden für wohltätige Zwecke sammeln. Seit der Eröffnung der Brennerbahnstrecke von Innsbruck nach Bozen am 24. August 1867 konnte die Anreise selbst aus entfernteren Gebieten an einem Tag bewerkstelligt werden. Die bessere Erreichbarkeit brachte auch ärmere jüdische Patienten in größerer Zahl nach Meran, die dank der von Hausmann, Biedermann und Gutmann gesammelten Spenden dort auch versorgt werden konnten. „Die ärztliche Behandlung der Armen besorgte Dr. Hausmann, die einlaufenden Spenden verwalteten die Brüder Biedermann. Dieses wohltätige Wirken war das erste Regen jüdischen Geistes in Meran“, schreibt Aron Tänzer in der Festschrift „Die Geschichte der KönigswarterStiftung in Meran 1872–1907“, in der er das „außerordentlich humane Wirken der Stiftung“, deren Gründungsgeschichte und ihre Tätigkeiten bis 1907 darstellt.26

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Der tschechische Kurort Marienbad

Aron Tänzers „Geschichte der Königswarter-Stiftung“ war eine vorbereitende Studie zu einem geplanten dritten Band seiner „Geschichte der Juden in Tirol und Vorarlberg“, deren ersten zwei Bände 1905 im Meraner F. W. Ellmenreich-Verlag veröffentlicht wurden. Darin befasst sich Tänzer an einer Stelle mit der Arbeit des Historikers. Dieser sei nicht der Richter der Vergangenheit, sondern lasse die Lesenden ihr Urteil selbst bilden, anhand der gewonnenen Erkenntnis und der aufgedeckten Verbindung zwischen Ursache und Wirkung. Oft sei die Erkenntnis historischer Ereignisse erst später möglich. „Wahrheit aber, diese Stütze, diese Hoffnung des Verkannten, Schwachen, Unterdrückten, bietet immer erst die Zukunft der Vergangenheit, die Geschichtsforschung der Nachkommen den Erlebnissen der Vorfahren.“27 Da Tänzer in den ersten zwei Bänden jüdische Präsenz in Südtirol nur am Rande behandelt, wollte er nun in einem dritten Band die Geschichte der Juden in Südtirol beleuchten. Tatsächlich erscheint dieser dritte Band nie, und auch Tänzers Biografie über Moritz Lazarus bleibt unvollendet.28

Aufgrund der ausbleibenden behördlichen Bestätigung seiner Stellung in Meran und der letztlich ablehnenden Haltung des Kultusministeriums in Wien sah Tänzer in Meran keine Zukunft für einen Rabbiner. Im August 1907 verließ er die Kurstadt und nahm eine Stelle in Göppingen in Württemberg an. Nach Tänzer wirkten noch die Rabbiner Viktor Kurrein und Adolf Altmann in Meran. Adolf Altmann kam im Frühjahr 1914 nach Meran, wurde nach den Kriegsjahren jedoch entlassen, da damals weder Handel noch Tourismus genügend Einkünfte brachten, um einen Rabbiner zu bezahlen.29 In seiner Abschiedsrede am 9. Februar 1919 reagierte Altmann auf die zunehmend feindlich gesinnte Umgebung, forderte die Abkehr von der Assimilation, welche nur die jüdische Existenz bedrohe, und empfahl stattdessen die Rückbesinnung und Hinwendung zu einer erneuerten „Volksgemeinde“.30

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Rabbiner Adolf Altmann, 1944 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet

Noch konnte niemand ahnen, dass wenige Jahrzehnte später mit der Vernichtung der jüdischen Gemeinden Europas durch den Nationalsozialismus sämtliche Archive, Aufzeichnungen und Dokumente zerstört werden sollten. Davon blieb auch das Archiv der jüdischen Gemeinde in Meran nicht verschont. Ein Teil dieses Archivs wurde allerdings nach vielen Jahren wieder aufgefunden und konnte von dem Historiker Leopold Steurer im Jahr 1987 erstmals durchgesehen werden.31 Die folgende zusammenfassende Darstellung der Entstehung einer jüdischen Gemeinde in Südtirol, für die Aron Tänzers „Die Geschichte der Königswarter-Stiftung“ eine unverzichtbare Quelle bleibt, stützt sich neben anderen Quellen auf diese erhaltenen Dokumente aus dem Archiv der jüdischen Gemeinde in Meran.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass im folgenden Text leider nur männliche Sprachformen verwendet werden, wo eigentlich Doppelformen („Jüdinnen und Juden“) angemessen wären. Abgesehen davon, dass Doppelformen die Lesbarkeit des vorliegenden Textes beeinträchtigen würden, soll die reflektierte Beibehaltung der männlichen Form auch aufzeigen, dass Männer in der behandelten historischen Epoche eine durch die patriarchale Gesellschaft bedingte, stärkere Präsenz zeigten als Frauen, wenngleich im Judentum die berufliche Tätigkeit von Frauen stets gefördert wurde. Auch die folgende Darstellung wird zeigen, dass es in Südtirol verglichen mit der christlichen Bevölkerung auffallend viele jüdische Handelsfrauen, Restaurantbetreiberinnen oder Hoteldirektorinnen gab und, darüber hinaus, dass jüdische Handelstreibende, Gastronomen, Fabrikanten, Ärzte und Rechtsanwälte die wirtschaftliche Entwicklung Südtirols in viel stärkerem Ausmaß gefördert haben, als bisher bekannt ist. Für die Bezeichnungen ihrer Herkunftsorte wurde jene Sprache gewählt, die in der jeweiligen Familie gesprochen wurde. In den meisten Fällen war dies Deutsch. Um auf das grausame Schicksal der Opfer der Schoah hinzuweisen, unterbrechen ihre Namen und Lebensdaten den laufenden Text – zum Beispiel: Viktor Schwarz (1880 – unbekannt). Schließlich wird um Verständnis dafür gebeten, dass bei den folgenden biografischen Kurzdarstellungen eine Auswahl getroffen werden musste, die vom Gedanken geleitet war, die Schicksale bekannter jüdischer Familien Südtirols weniger ausführlich zu behandeln, und stattdessen unbekannte Beispiele aufzuzeigen. Es hätte den Rahmen des Buches gesprengt, würde man das Schicksal der Vertreibung und Verfolgung aller jüdischen Familien mit Verbindung zu Südtirol darstellen wollen.

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Beisetzung gefallener jüdischer Soldaten des Ersten Weltkriegs, im Trentino exhumiert, am 4. November 1931 auf dem jüdischen Friedhof in Meran in Anwesenheit von Rabbiner Joshua Grünwald (im rechten Bild vermutlich rechts), des Präsidenten der jüdischen Gemeinde in Meran Illes Eisenstädter (mit Zylinder und Bart), von Josef Bermann (mit Zylinder) und weiterer Mitglieder der Gemeinde

„Unleidliche Verhältnisse im judenreinen Südtirol“32

Laut „Encyclopedia Judaica“ liegt Meran in jenem Gebiet, über das im Jahr 1475 ein „Cherem“ gesprochen wurde. Cherem ist die hebräische Bezeichnung für einen religiösen Bann oder Boykott einer Gegend, die von Gläubigen bis zur Aufhebung des Bannes gemieden werden sollte. Der Cherem Tirols sollte an die Verbrechen mahnen, die unter dem Vorwand des Ritualmordprozesses um den „Simonino“, den „kleinen Simon“, an Juden in Trient begangen wurden.33

Eine jüdische Ansiedlung in Bozen ist wie jene in Brixen und Trient für das 14. und 15. Jahrhundert nachgewiesen, doch „unter dem Drucke unleidlicher Verhältnisse“34, so Aron Tänzer, bald verschwunden. Eine kirchlich abgesegnete, von Ablehnung und Misstrauen geprägte Grundeinstellung der christlichen Bevölkerung gegenüber jüdischen Einwohnern im historischen Tirol, die aus den wenigen erhaltenen Dokumenten deutlich hervorgeht, war ständig in Gefahr, in eine mörderische Pogromstimmung zu kippen, hinter der sich oft rein materielle Interessen verbargen. Der Antisemitismus, der sich im Spätmittelalter auf kirchlicher, weltlicher und volkstümlicher Seite zunehmend anzunähern begann, offenbarte seinen auch pragmatischen Charakter, wenn es in Krisenzeiten galt, die eigene Macht zu sichern und Differenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zum eigenen Nutzen zu überwinden. Für weltliche Machthaber waren Juden als Finanziers und Sündenböcke überaus zweckdienlich: Sie sicherten einerseits die finanzielle Lage, und bei politischen Unruhen konnte der Volkszorn auf sie abgelenkt werden.35

In Südtirol kam es nach einer Heuschreckenplage, einem starken Erdbeben und der in den Jahren 1348 und 1349 wütenden Pest zu grausamen Massakern an Juden, die beschuldigt wurden, Brunnen vergiftet zu haben, um die christliche Bevölkerung zu vernichten. Das wahre Motiv hinter den blutigen Pogromen waren meist Schulden, die Christen bei jüdischen Geldverleihern hatten. Mit dem Tod der Geldverleiher waren sie rasch aus der Welt geschafft, während sich die Tiroler Landesherren bei Ausschreitungen als rechtmäßige Erben des Vermögens vertriebener oder getöteter Juden ausgaben.36 Das Judenmassaker nach 1348/49 gab ein Muster für die Verfolgung von Juden vor, das für die nächsten 150 Jahre gültig blieb. Die Verbindung von religiösem Hass mit wirtschaftlichem und politischem Nutzdenken führte zur Vertreibung, Bekehrung und völligen Vernichtung jüdischer Gemeinden. Für die Bekämpfung der vermeintlichen „Christusmörder“ waren dank der jahrhundertelangen Polemik der Kirche gegen die jüdische Religion theologische Argumente stets zur Hand. Ergänzend ereiferten sich die Prediger von Bettelorden über die ohnedies angefeindeten jüdischen Geldverleiher.37

Juden mussten in Tirol eine „Judensteuer“ zahlen, unterlagen eigenen Strafgesetzen und Kleidungsvorschriften und wurden auf dem Gebiet des historischen Tirol zum Gegenstand mehrerer Ritualmordgerüchte.383940