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Ross Thomas, Teufels Küche

 

 

 

 

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Das Buch: Der Geldbeschaffer und geheime Wahlmanager Draper Haere bereitet gerade die Präsidentschaftskandidatur des Gouverneurs von Kalifornien vor, als er einem rechtsorganisierten Putsch in einem mittelamerikanischen Krisenstaat auf die Spur kommt. Er beschließt, das Geheimnis hinter den Machenschaften aufzudecken, um seinem Kandidaten so den Platz im Weißen Haus zu sichern. Während seiner lebensgefährlichen Ermittlungen engagiert er den Starreporter Morgan Citron, der vor einiger Zeit aus einem afrikanischen Gefängnis entlassen wurde, in welchem die Gefangenen Menschenfleisch aufgetischt bekamen. Gemeinsam stellen sie sich gegen Kokaindealer, lateinamerikanische Generäle, korrupte US-Beamte und Citrons kaltherzige Mutter, Chefin eines Skandalblatts.

 

Deutscher Krimi-Preis 1986!

 

Der Autor: Ross Thomas, geboren 1926 in Oklahoma, war Journalist, politischer Berater und Mitorganisator von Wahlkämpfen. In den 50er Jahren baut er in Bonn das deutsche AFN-Büro auf, arbeitet danach für verschiedene amerikanische Organisationen. Mit 40 schreibt Thomas seinen ersten Roman. Er wurde mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis und dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bis zu seinem Tod 1995 entstehen 25 Romane.

 

»Nach seinen Romanen sind die Kenner süchtig!« Der Spiegel

 

»Ross Thomas ist ein Monolith der amerikanischen Politthriller-Landschaft.« Günther Grosser, Berliner Zeitung

 

»Der beste Thriller-Autor aller Zeiten.« Lutz Göllner, zitty Berlin

 

 

Ross Thomas

 

Teufels Küche

(Missionary Stew)

 

 

Aus dem Amerikanischen

von Wilm W. Elwenspoek,

bearbeitet von Jochen Stremmel

und Anja Franzen

 

Mit einem Nachwort von Laf Überland

 

 

 

Alexander Verlag Berlin

 

Von Ross Thomas liegen in gleicher Ausstattung ebenfalls vor:

 

 

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Nachwort

1

An einem kalten, nassen Novembernachmittag kam er mit dem Flugzeug in Paris, seiner Geburtsstadt, an. Er kam aus Äquatorialafrika, trug eine grüne Polyesterhose, ein weißes T-Shirt, das argwöhnisch die Frage stellte: »HAVE YOU EATEN YOUR HONEY TODAY?« und eine maschinengestrickte Wolljacke, deren Farbe, wie er schließlich entschieden hatte, Mauve war.

Die Kleidungsstücke, vermutlich Abgelegtes von Oxfam, waren ihm von Miss Cecily Tettah von Amnesty International aus einem grünen Lumpensack überlassen worden, wobei die Spenderin sich weder für die Qualität noch für die Paßform ihrer Gaben entschuldigte. Die mauvefarbene Strickjacke mußte einmal einem dicken Mann gehört haben – einem ungewöhnlich großen, dicken Mann. Morgan Citron war annähernd einsfünfundachtzig, aber die Wolljacke reichte ihm fast bis zur Mitte der Oberschenkel und schlotterte um seine ausgemergelten vierundsechzig Kilo wie die Kutte eines reuigen Sünders. Andererseits war sie aus Wolle, und sie war warm, und Citron war mittlerweile ziemlich egal, wie er aussah.

Er war vor einundvierzig Jahren in einem billigen Hotelzimmer in der Nähe der Gare du Nord als Sohn einer völlig mittellosen zwanzigjährigen amerikanischen Studentin aus Holyoke und eines neunundzwanzigjährigen Leutnants der französischen Armee, der im Mai bei den Kämpfen um Sedan gefallen war, geboren worden. Citrons Mutter, von ihrer Armut besessen, hatte ihren Sohn nach einem entfernten Vetter, der irgendwie mit der Bankiersfamilie verbunden war, Morgan genannt. Citron wurde am 14. Juni 1940 geboren. Es war der Tag, an dem die Deutschen in Paris einrollten.

Jetzt, an diesem kalten Novembernachmittag im Jahr 1981, passierte Citron die Zoll- und Paßkontrolle im Flughafen

Charles de Gaulle, fand ein Taxi und machte es sich auf dem Rücksitz bequem. Als der Fahrer fragte: »Wohin?« antwortete Citron auf französisch: »Nehmen wir an, Sie haben einen Vetter, der auf dem Land lebt.«

»Ah, mein Vetter vom Lande. Ein Bretone, natürlich.« »Er kommt nach Paris.«

»Aber mein Vetter ist arm.«

»Leider.«

»Trotzdem hätte er gern eine hübsche, billige Bleibe.« »Darauf würde er bestehen.«

»Dann würde ich ihm das Siebte Arrondissement empfehlen, Nummer 42 in der Rue Vaneau – Le Bon Hotel.«

»Ich nehme Ihre Empfehlung gern an.«

»Sie haben eine kluge Wahl getroffen«, sagte der Fahrer.

Als sie den Périphérique erreichten, vertraute Citron sich dem Fahrer noch einmal an. »Ich habe einen Diamanten«, sagte er fast nebenbei.

»Einen Diamanten? Sehr gut.«

»Ich würde ihn gern verkaufen.«

»Können Sie ihn ohne weiteres verkaufen?«

»Natürlich.«

»Verstehen Sie etwas von Diamanten?«

»So gut wie nichts«, sagte Citron.

»Sie möchten aber nicht gerade übers Ohr gehauen werden.« »Nein.«

»Dann sollten wir es bei Bassou versuchen. Und Sie sollten ihm sagen, daß ich Sie zu ihm geschickt habe. Er wird mir eine Provision geben. Eine bescheidene, natürlich. Er wird Ihnen auch einen angemessenen Preis bieten. Niedrig, aber angemessen.«

»Gut«, sagte Citron. »Versuchen wir es bei Bassou.«

Drei Tage zuvor hatte Citron in den bereits schwülen frühen afrikanischen Morgenstunden Gaston Bama, den Sergeanten der Wache, beobachtet, wie er jene berüchtigte Mahlzeit brachte und austeilte, die schließlich dazu beitrug, den Kaiser-Präsidenten von seinem Elfenbeinthron zu vertreiben.

Bama war damals ein alter Mann von dreiundfünfzig, fett, korrupt und langsam in seinen Bewegungen, mit drei Winkeln auf seinem Ärmel, die seinen Rang bekundeten, den gleichen Rang, den er seit siebzehn Jahren innehatte. Während nahezu der gesamten vergangenen Dekade war er Oberaufseher der section d’étranger des alten Gefängnisses, das die Franzosen bereits 1923 gebaut hatten, lange ehe das Land, das damals nur ein Territorium von Französisch-Äquatorialafrika gewesen war, ein Kaiserreich wurde oder auch nur eine Republik.

Die Ausländerabteilung war in dem kleinen abgetrennten Ostflügel des Gefängnisses untergebracht. In diesem November beherbergte sie nicht nur Morgan Citron, sondern auch vier erfolglose Schmuggler aus Kamerun, eine Handvoll selbsternannter politischer Flüchtlinge aus Zaire, sechs Sudanesen, angeblich Sklavenhändler, einen geheimnisvollen Tschechen, der selten sprach, und einen zweiundzwanzigjährigen Amerikaner aus Provo, Utah, der darauf bestand, Mormonenmissionar zu sein, was ihm niemand glaubte. Ferner waren da drei reiche junge Deutsche aus Düsseldorf, die versucht hatten, Afrika auf ihren BMW-Motorrädern zu durchqueren, wenige Kilometer vor der Hauptstadt aber eine Panne und kein Geld mehr gehabt hatten. Weil niemand so recht wußte, was man mit ihnen machen sollte, wurden sie ins Gefängnis gesperrt und vergessen. Die reichen jungen Deutschen schrieben jede Woche nach Hause und baten um Geld und eine Intervention der UN. Ihre Briefe wurden niemals abgeschickt.

Vor allem weil er Französisch und Englisch gleich gut sprechen konnte, war Morgan Citron in die Position eines Sprechers der ausländischen Gefangenen gewählt oder vielleicht auch genötigt worden. Seine einzige andere Qualifikation war seine goldene Armbanduhr, eine teure Rolex, die er 1975 in Zürich auf Anraten eines gut informierten Barkeepers gekauft hatte, der der Meinung war, Gold könne sich als ein Anlageobjekt erweisen. Kurz bevor die Geheimpolizisten des Kaiser-Präsidenten in sein Zimmer im Intercontinental gekommen waren, um ihn zu holen, hatte Citron die Uhr vom linken Handgelenk abgenommen und unter der Socke um den rechten Fußknöchel gelegt.

Das war vor annähernd dreizehn Monaten gewesen. Seither hatte er die goldenen Glieder des Metallarmbands, eines nach dem anderen, bei Sergeant Bama gegen zusätzliche Rationen Hirse und Maniok und Fisch eingetauscht. Selten, nicht öfter als einmal im Monat, konnte es auch mal etwas rotes Fleisch geben. Normalerweise Ziege. Ältere Ziege. Citron teilte alles mit den anderen Gefangenen und wurde deshalb nicht in seinem Bett ermordet.

Das goldene Armband hatte ursprünglich aus sechsunddreißig Gliedern bestanden. In dreizehn Monaten hatte Citron sich von vierunddreißig getrennt. Er wußte, daß er sich bald auch von der Uhr selbst würde trennen müssen. Sobald das Gold alle war, würde auch seine Amtszeit als Sprecher schnell enden, dessen war Citron sich sicher. Falls er nicht aus seinem Posten verjagt werden würde, wollte er zurücktreten. Citron war einer von jenen, auf die politische Ämter keinerlei Anziehungskraft ausübten.

Sergeant Bama sah zu, wie der magere junge Soldat den riesigen schwarzen Eisensteintopf in der Nähe der Bank absetzte, auf der Citron vor seiner Zelle im Schatten saß.

»Da«, sagte Sergeant Bama. »Wie ich versprochen habe. Fleisch.«

Citron schnüffelte und sah in den Topf. »Fleisch«, stimmte er zu.

»Wie ich versprochen habe.«

»Was für Fleisch?«

»Ziege. Nein, keine Ziege. Vier junge Zicklein, zart und süß. Probier, wenn du willst.«

Citron gähnte ausführlich, um sowohl seine Gleichgültigkeit zu demonstrieren als auch mit dem Feilschen zu beginnen. »Letzte Nacht«, sagte er, »konnte ich nicht schlafen.«

»Ich bin untröstlich.«

»Diese Schreie.«

»Was für Schreie?«

»Die Schreie, die mich nicht schlafen ließen.«

»Ich habe keine Schreie gehört«, sagte Sergeant Bama und wandte sich an den Soldaten. »Hast du heute nacht Schreie gehört? Du bist jung und hast scharfe Ohren.«

Der Soldat sah zur Seite und auf den Boden. »Ich habe nichts gehört«, sagte er und scharrte mit der bloßen Zehe eine Linie in den roten Boden.

»Wer hat denn dann geschrien?« fragte Citron.

Sergeant Bama lächelte. »Vielleicht irgendwelche Päderasten mit widerwilligen Partnern?« Er zuckte mit den Achseln. »Ein Streit zwischen einem Liebespaar? Wer kann das wissen?«

»Sie dauerten eine halbe Stunde lang«, sagte Citron. »Die Schreie.«

»Ich habe keine Schreie gehört«, sagte Sergeant Bama gleichgültig und runzelte die Stirn. »Willst du das Fleisch? Vier Kilo.« »Und der Preis?«

»Die Uhr.«

»Du wirst nicht nur auf deine alten Tage taub, sondern auch senil.«

»Die Uhr«, sagte Sergeant Bama. »Ich muß sie haben.«

Citron schluckte den größten Teil des Speichels, der sich durch den Geruch des Fleisches in seinem Mund angesammelt hatte, herunter. »Ich gebe dir zwei Glieder – die zwei letzten – vorausgesetzt, daß zu dem Fleisch zwei Kilo Reis kommen.«

»Reis! Reis ist sehr teuer. Nur die Reichen essen Reis.«

»Zwei Kilo.«

Sergeant Bama wurde finster. Das war ein ausgezeichnetes Geschäft, weit besser als er erwartet hatte. Er vertauschte den finsteren Ausdruck mit einem Lächeln süßer Einsichtigkeit. »Die Uhr.«

»Nein.«

Sergeant Bama wandte sich an den Soldaten. »Hole den Reis. Zwei Kilo.«

Nachdem der Soldat gegangen war, hockte Sergeant Bama sich neben den Eisensteintopf. Er griff mit der rechten Hand in den lauwarmen Inhalt und fischte ein kleines Stück Fleisch heraus. Er bot Citron den Brocken an. Einen Augenblick lang zögerte Citron, ehe er das Fleisch nahm und in den Mund steckte. Er kaute langsam, sorgfältig, und schluckte dann.

»Das ist keine Ziege«, sagte Citron.

»Habe ich Ziege gesagt? Ich sagte Zicklein – jung und zart. Zergeht es dir nicht auf der Zunge?«

»Das ist auch kein Zicklein.«

Sergeant Bama blickte argwöhnisch in den Topf, fischte ein anderes kleines Stück Fleisch heraus, das in der bräunlichen Brühe schwamm, und schnüffelte daran. »Schwein vielleicht?« Er hielt Citron das Stück hin. »Wenn es Schwein ist, brauchst du nicht mit den Sudanesen zu teilen; die sind Mohammedaner.«

Citron nahm das Fleisch und kaute es. »Das ist kein Schwein. An Schwein erinnere ich mich.«

»Und das hier?«

»Das hier ist süß und zäh und faserig.«

Sergeant Bama kicherte. »Natürlich. Wie dumm von mir.« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn – eine theatralische Geste. »Das kann nur Affe sein. Eine seltene Delikatesse. Süß, hast du gesagt. Affe schmeckt süß. Es gibt nichts Süßeres für die Zunge als frischer junger Affe.«

»Ich habe noch nie Affenfleisch probiert.«

»Nun ja, jetzt hast du.« Der Sergeant lächelte selbstzufrieden und sah sich um. Die anderen Gefangenen kauerten oder hockten im Schatten, keiner näher als sechs Meter, und warteten auf den Ausgang des Handels. Als der Sergeant sich wieder Citron zuwandte, war der finstere Ausdruck wieder da, und seine Stimme hatte einen neuen, schroffen, eindringlichen Klang. »Ich muß die Uhr haben«, sagte er.

»Nein«, sagte Citron. »Dafür nicht.«

Sergeant Bama nickte unbeeindruckt und blinzelte in die heiße Ferne. »Heute nachmittag um 15 Uhr kommt ein Besucher«, sagte er. »Eine schwarze Frau aus England, die eine hohe Funktion in einer Gefangenenorganisation mit einem seltenen Namen hat.«

»Du lügst natürlich«, sagte Citron und wischte sich mit dem Handrücken einen dünnen Fettfilm vom Mund.

Sergeant Bama sah ihn an und zuckte mit den Achseln. »Glaub, was du willst, aber sie wird um fünfzehn Uhr hier sein, um das andere ausländische Gesindel zu interviewen. Es ist alles vorbereitet. Du wirst natürlich in den Isolationsblock verlegt und deshalb die schwarze Engländerin nicht zu sehen bekommen. Wie schade. Man hat mir gesagt, daß sie wundervoll anzusehen ist. Natürlich ...« Das unausgesprochene Angebot ging in einem kunstvollen afro-gallischen Achselzucken verloren.

»Die Uhr«, sagte Citron, der jetzt verstand.

»Die Uhr.«

Citron musterte Sergeant Bama einige Sekunden lang. Über die linke Schulter des Sergeanten hinweg konnte er den Soldaten mit einem großen Topf Reis kommen sehen. »Also gut«, sagte Citron, »du kriegst die Uhr, aber erst nachdem ich die schwarze Engländerin gesehen habe.«

Er war überrascht, als der Sergeant mit nur einem einzigen Wort zustimmte: »Gut.« Sergeant Bama richtete sich auf und wandte sich den anderen Gefangenen zu. »Kommt essen«, rief er in einer Sprache, die fast wie Englisch klang, und fügte in raschem Französisch, dem nicht alle folgen konnten, hinzu: »Wir wollen, daß ihr alle fett und glatt seid, wenn die schwarze Engländerin zu Besuch kommt.«

Die Gefangenen erhoben sich und kamen im Gänsemarsch an den Töpfen mit Fleisch und Reis vorbeimarschiert. Der Sergeant herrschte über das Fleisch, der Soldat über den Reis. Der Sergeant teilte mit einer Kelle aus Flaschenkürbis das Fleisch in die Plastikschalen der Gefangenen aus.

»Was ist das für ein Scheiß?« fragte der junge Mormonenmissionar.

»Affe«, antwortete Citron.

»Oh«, sagte der Mormone und zog sich mit seinem Essen schnell in den Schatten zurück, wo er sich hinsetzte und mit den Fingern aß.

 

Miss Cecily Tettah, die bei der Londoner Zentrale von Amnesty International arbeitete, war auf einer großen Plantage in Ghana unmittelbar außerhalb von Accra geboren worden. Das war vor zweiundvierzig Jahren gewesen, als Ghana noch Goldküste genannt wurde. Nach dem Krieg war sie von ihrem kakaoreichen Vater zur Ausbildung nach London geschickt worden. Sie war nicht mehr nach Ghana zurückgekehrt, hatte nie geheiratet, und wenn sie danach gefragt wurde, beschrieb sie sich mit ihrem vortrefflichen britischen Akzent in der Regel selbst als ledige Lady oder als alte Jungfer. Viele hielten sie für hoffnungslos altmodisch. Die wenigen Männer, die im Lauf der Jahre das Glück gehabt hatten, den Weg in ihr Bett zu finden, entdeckten dort nicht nur einen prachtvollen Körper, sondern auch einen beißenden Witz und einen außergwöhnlichen Verstand.

Miss Tettah, wie sie sich ziemlich prüde fast gegenüber jedermann selbst vorstellte, war eine immer noch hübsche, ziemlich große Frau mit ergrauendem Haar. Man hatte ihr für die Interviews mit den ausländischen Gefangenen Sergeant Bamas winziges Büro zur Verfügung gestellt. Sie saß hinter dem nackten Holztisch, vor sich eine dicke, aufgeschlagene Akte. Citron saß auf dem Stuhl ihr gegenüber. Cecily Tettah klopfte mit einem Bleistift auf die offene Akte und blickte Citron mit weit auseinanderstehenden Augen von der Farbe bitterer Schokolade an. Sie gab sich keine Mühe, ihren Argwohn aus ihrem Ton oder ihrem Blick fernzuhalten.

»Über Sie sind hier keine Unterlagen«, sagte sie und klopfte mit ihrem Bleistift abschließend auf die Akte. »Über alle anderen gibt es hier Unterlagen, aber nicht über Sie.«

»Nein«, sagte Citron. »Das überrascht mich nicht.«

»Man behauptet, Sie wären ein Spion, entweder ein französischer oder amerikanischer. Sie sind sich nicht sicher, was.« »Ich bin Reisender«, antwortete Citron.

»Heute morgen hatte ich eine Audienz bei dem Kaiser-Präsidenten.« Sie schniefte. »Vermutlich sollte man es so nennen – eine Audienz. Er hat zugesagt, alle Ausländer zu entlassen – alle außer Ihnen.«

»Warum mich nicht?«

»Weil er Sie für einen Spion hält, wie ich schon sagte. Er will mit Ihnen sprechen. Privat. Sind Sie einverstanden?«

Citron dachte darüber nach und zuckte mit den Achseln. »Warum nicht?«

»Kein Grund zur Sorge«, sagte Cecily Tettah. »Wir werden alles klären. Was anderes. Wie hat man Sie behandelt?«

»Nicht schlecht, wenn man alles bedenkt.«

»Wie war die Verpflegung? Sie sehen dünn aus.«

»Es reichte – gerade so eben.«

»Heute, zum Beispiel. Was bekamen Sie heute zu essen?« »Fleisch und Reis.«

»Was für Fleisch?«

»Affe.«

Cecily Tettah schob billigend die Lippen vor, nickte und machte sich eine Notiz. »Affe ist nicht schlecht«, sagte sie. »Recht nahrhaft. Fast ohne Fett. Hat man Ihnen oft Affe gegeben?«

»Nein«, erwiderte Citron. »Nur einmal.«

 

Das Vorzimmer des Kaiser-Präsidenten war eine riesige Halle ohne Stühle oder Bänke und hatte einen ehemals prachtvollen Parkettfußboden, der jetzt durch Brandstellen von Zigaretten und Schrammen von Stiefeln ruiniert war. Der Raum war dicht gefüllt von Leuten, die dem Kaiser-Präsidenten Bittgesuche vorlegen wollten, und solchen, die einen Mordanschlag auf ihn verhindern sollten.

Mindestens zwei Dutzend uniformierte Wachen waren anwesend sowie ein weiteres Dutzend Geheimpolizisten. Die Geheimpolizisten trugen alle breite, grelle Krawatten und beäugten mit Argwohn durch große dunkle Sonnenbrillen die übrige Welt. Die Wachen und die Geheimpolizisten standen. Die schäbigen Bittsteller hockten auf dem Boden, wie auch eine Schar aufgeputzter Schmeichler und eine Gruppe schläfriger junger Botengänger und ein Paar slawischer Geschäftsleute in steifen Straßenanzügen, die miteinander bulgarisch sprachen und versuchten, furchteinflößend auszusehen, aber deren feuchte, arglose Augen ihre optimistischen Krämerseelen verrieten.

Auch Citron kauerte auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wand und von Sergeant Bama bewacht, der es nicht lassen konnte, immer wieder sein linkes Handgelenk vorzustrecken, um seine neue goldene Rolex zu bewundern. Der Sergeant sah grinsend auf seine Uhr und dann finster auf Citron.

»Du wirst mit ihm allein sein.«

»Ja.«

»Erzähl keine Lügen über mich.«

»Nein.«

»Wenn du lügst, müßte ich vielleicht enthüllen, was heute morgen in dem Fleischtopf gewesen ist. Es gibt Leute, die viel dafür bezahlen würden, wenn sie erfahren könnten, was es war.«

»Affe«, sagte Citron, der wußte, daß es keiner gewesen war.

Der Sergeant lächelte ein ziemlich grausames Lächeln, von dem Citron glaubte, er würde sich noch jahrelang daran erinnern. »Affe war es nicht«, sagte Sergeant Bama.

»Letzte Nacht«, sagte Citron. »Die Schreie. Sie klangen wie Schreie von Kindern.«

Sergeant Bama zuckte mit den Achseln und gönnte seiner neuen Uhr noch einen bewundernden Blick. »Ein paar sind zu weit gegangen.«

»Wer?«

»Das will ich nicht sagen.« Er blickte sich schnell nach allen Seiten um, beugte sich dann näher zu Citron hinab. Das Lächeln erschien wieder, sogar noch schrecklicher als vorher. »Aber ihr habt geholfen, die Beweise zu vernichten«, flüsterte er und kicherte dann. »Ihr habt die ganzen Beweise aufgegessen.«

 

Während der Audienz stand Citron die ganze Zeit über, während der Kaiser-Präsident zusammengesackt auf seinem Thron saß, der in Paris kunstvoll aus Ebenholz und Elfenbein angefertigt worden war. Citron fand, der Thron sähe unbequem aus. Er fand auch, daß der Kaiser-Präsident so aussähe, als ob er einen Kater hätte.

»So«, sagte der Kaiser-Präsident. »Sie verlassen uns also.« »Ich hoffe es.«

»Manche sagen, Sie sind Franzose, andere sagen Amerikaner. Was sagen Sie?«

»Eine Zeitlang war ich beides. Jetzt bin ich Amerikaner.« »Wie konnten Sie beides sein?«

»Eine Frage der Papiere.«

»Dokumente?«

»Ja.«

»Ahhh.«

Der Kaiser-Präsident schloß die Augen und schien für einen Augenblick lang einzunicken. Er war ein klobiger Mann, Anfang fünfzig, mit einem dicken Bauch, der unter einem langen weißen Baumwollgewand hüpfte und rollte. Das Gewand erinnerte an ein Nachthemd, und Citron dachte, daß es sowohl kühl wie auch äußerst praktisch sein müßte. Der Kaiser-Präsident öffnete die Augen, die etwas entzündet zu sein schienen, bohrte in der Nase und wischte sich die Finger irgendwo an seinem Thron ab. Dann winkte er Citron herbei. »Kommen Sie näher.«

Citron trat näher.

»Noch näher.«

Citron ging zwei weitere Schritte vor. Der Kaiser-Präsident sah sich mißtrauisch um. Sie waren allein. Er winkte Citron mit einem einzelnen Finger zu sich. Citron beugte sich so weit vor, daß er den Gin vom gestrigen Abend riechen konnte. Oder den von heute morgen.

»Ich will an die Präsidenten von Frankreich und von den Vereinigten Staaten eine Botschaft schicken«, flüsterte der Kaiser-Präsident. »Keiner darf etwas davon erfahren. Niemand.«

Er wartete auf Citrons Antwort.

»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte Citron vorsichtig, »wie bald ich sie sprechen werde.«

Der Kaiser-Präsident nickte mit seinem großen Kopf, als ob das die Worte wären, die er von einem Spion zu hören erwartete. »Meine Botschaft ist kurz. Sagen Sie ihnen – sagen Sie ihnen beiden, daß ich zu einer Versöhnung bereit bin – zu ihren Bedingungen.«

»Ich verstehe.«

»Können Sie das behalten?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Hier.« Der Kaiser-Präsident fummelte in den Falten seines langen weißen Gewandes, fand die Tasche und zog die geballte Faust wieder heraus. »Strecken Sie Ihre Hand aus.«

Citron streckte die Hand aus.

»Handfläche nach oben.«

Citron drehte die Handfläche nach oben. Der Kaiser-Präsident öffnete seine Faust. Ein zweikarätiger Diamant fiel in Citrons geöffnete Hand. Automatisch ballte er die Faust um ihn.

»Ein Zeichen«, sagte der Kaiser-Präsident. »Eine Geste.« »Eine Zeichengeste.«

»Ja. Für Ihre Mühe.«

»Ich verstehe.«

»Sie können jetzt gehen.«

»Ja. Gut. Ich bedanke mich.«

Citron drehte sich um und ging auf die hohe Doppeltür zu, blieb aber stehen, als er die Stimme des Kaiser-Präsidenten hörte. »Warten Sie.« Citron drehte sich um.

»Ich habe gehört, Sie hätten heute Affe zu essen bekommen.« Citron nickte nur.

»Hat es Ihnen geschmeckt?«

»Ich habe es gegessen.«

»Ich auch«, sagte der Kaiser-Präsident und begann verhalten zu lachen – in einem tiefen Baß, der aus seinem Bauch heraufzusteigen schien. »Wir haben heute beide Affe gegessen«, sagte der Kaiser-Präsident und begann wieder zu lachen. Er lachte immer noch, als Citron durch die hohe Doppeltür hinausging.

Miss Cecily Tettah zählte dreihundert französische Francs auf die nackte Tischplatte, hob sie auf und reichte sie Citron. Er nahm sie und schob sie in den Umschlag, der schon seinen AirFrance-Flugschein nach Paris und seinen amerikanischen Paß enthielt.

»Wie war er?« fragte sie. »Sie haben nichts darüber gesagt.« »Er hat viel gelacht.«

»Sonst nichts?«

»Er hält mich immer noch für einen Spion.«

»Wirklich? Ich dachte, das wäre alles ausgeräumt. Sind Sie immer noch sicher, daß Sie niemand in den Vereinigten Staaten benachrichtigen wollen?«

»Nein, niemand.«

»Nicht einmal Ihre Mutter?«

Citron schüttelte den Kopf. »Ganz besonders sie nicht.«

2

Es war auf den Tag fast ein Jahr, nachdem Citron in Paris seinen Diamanten verkauft hatte, daß Draper Haere, der Geldbeschaffer, aus New York kommend, in Denver einflog. Er kam spät an, kurz vor Mitternacht. Da Haere in den vergangenen Jahren mit Taxifahrern in Denver zwei recht unerfreuliche Erfahrungen gemacht hatte, sah er sich den Mann hinter dem Steuer an der Spitze der Taxireihe genau an und war beruhigt, als er entdeckte, daß es ein Mexikaner und anscheinend ein sehr fröhlicher Bursche war.

Vor zwei Jahren, als Haere sich an Denvers Stapleton Airport ein Taxi genommen hatte, erwies der Fahrer sich als ein ehemaliger, davongejagter stellvertretender Gouverneur von Louisiana, der angefangen hatte zu trinken, sich jetzt aber auf dem steinigen Weg der Besserung befand, wie er es nannte, und Haere alles davon erzählen wollte. Das zweite Mal, fast ein Jahr später, war der Taxifahrer ein ehemaliger Sekretär der Transportarbeitergewerkschaft aus St. Louis gewesen, der erwischt worden war, als er in die Kasse griff. Der frühere Sekretär nahm es philosophisch. »Zum Teufel, was soll’s, Draper«, sagte er. »Ich hab was riskiert und bin geschnappt worden.« Manchmal fragte Haere sich, ob Taxifahren in Denver eine mystische stärkende Erfahrung wäre, die den Gefallenen irgendwie half, wieder auf den Hocker der Erlösung zu klettern.

Ehe Haere nach Denver geflogen war, hatte er in New York im Pierre Station gemacht, um mit einem Mann zu sprechen, der mit dem Gedanken spielte, für die Präsidentschaft zu kandidieren – vorausgesetzt, es kostete nicht zuviel – und vorausgesetzt, seine Mutter gab ihm die Erlaubnis. Aber als der Mann, der Präsident werden wollte, unfähig zu sein schien, zu einem Entschluß zu kommen, traf Haere eine Verabredung mit der Mutter.

Sie trafen sich zum Tee im Plaza. Oder besser gesagt, sie trank einen Wodka-Martini, und Haere trank Tee. Es dauerte nur fünf Minuten, vielleicht auch nur vier, bis sie darin übereinstimmten, daß der dreiundvierzigjährige Sonny noch nicht ganz soweit war, daß er Präsident werden konnte, zumindest nicht 1984 und wahrscheinlich auch 1988 noch nicht. Danach verbrachten sie noch etwa eine weitere angenehme halbe Stunde miteinander und sprachen über Politik.

Haere entdeckte, daß sie einen dieser schockierend brillanten politischen Köpfe besaß, die manchmal in Gegenden wie Texas und Wisconsin oder sogar Nebraska (Norris kam ihm in den Sinn) gediehen, aber nur selten in New York und so gut wie nie in Kalifornien. Sie stammte aus Westvirginia und hatte Stahl geheiratet. Viel Stahl. Als Haere ihr sagte, es sei zu schade, daß sie selbst sich nicht um die Präsidentschaft bewerben könnte, hatte sie, mehr als nur etwas geschmeichelt, gelächelt. Haere machte sich nicht die Mühe, Sonny anzurufen, der, wie er überzeugt war, die schlechte Nachricht wahrscheinlich von Mommy erhalten würde.

Wenn der mexikanische Fahrer in Denver nicht über irgendein nettes Geheimnis lächelte, summte er vor sich hin und schien der Meinung zu sein, daß eine Unterhaltung überflüssig sei. Und während der Fahrer summte, starrte Haere aus dem Taxifenster und dachte an das Denver seiner Kindheit und frühen Jugend, als es eine stille, schläfrige und merkwürdig grüne Stadt gewesen war, die sich damit abgefunden hatte, am Fuß der Rocky Mountains unter dem vereinigten Daumen der Banken und von Colorado Fuel and Iron und Great Western Sugar zu liegen. Damals, erinnerte sich Haere, kamen Schwindsüchtige aus dem Osten noch wegen der Luft nach Denver. Jetzt kam niemand mehr wegen der Luft. Wer saubere Luft haben wollte, blieb in Pittsburgh.

Wie immer freute sich Haere, als er sah, daß mit dem Brown Palace Hotel in den vergangenen rund neunzig Jahren nicht viel geschehen war – außer dem neuen Westflügel, der in den sechziger Jahren hinzugekommen war. Natürlich hatten die Zimmerpreise sich geändert, und Haere fühlte sich jedesmal unbehaglich, wenn er 100 oder 125 oder 150 Dollar pro Nacht für ein Zimmer bezahlte. Aber Haere war einer von denen, die immer noch die Preise von allem und jedem damit verglichen, was sie damals in dem wirtschaftliche Maßstäbe setzenden Jahr 1965 bezahlt hatten – eine törichte Angewohnheit, die er nicht ablegen konnte und oft äußerst deprimierend fand.

Im Brown Palace hatte sogar ein Page Dienst, ein älterer, der Haere in sein Zimmer hinaufbrachte und die fünf Dollar Trinkgeld mit höflichem Dank annahm. Zwanzig Sekunden, nachdem der Page verschwunden war, klingelte das Telefon. Haere wußte, daß es der Kandidat sein mußte. Es konnte niemand sonst sein.

Der Kandidat war de facto der einundvierzig Jahre alte, designierte Gouverneur von Kalifornien, der aus seinem Haus in Santa Monica anrief und sich mit seinen Telefongesprächen nach Westen vorarbeitete. In Washington war es jetzt 2 Uhr morgens, in Denver Mitternacht und in Santa Monica 23 Uhr. Bald blieben dem Kandidaten als Anrufpartner nur noch seine kalifornischen Mitbürger übrig.

Haere dachte an den gerade zum Gouverneur gewählten Mann immer nur als »der Kandidat«, denn sobald er in ein neues Amt gewählt worden war, begann er, nach dem nächsten zu gieren. Er hieß Baldwin Veatch, was sich auf wretch – armer Schlucker – reimte, worauf Haere gern hinwies, und war seit seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr von der verdächtig liberalen Westside in Los Angeles rasch hintereinander in das Abgeordnetenhaus und in den Senat Kaliforniens, dann in das US–Repräsentantenhaus und schließlich zum Gouverneur des bevölkerungsreichsten Staats der Nation gewählt worden. Das Weiße Haus war der einzig denkbare nächste Schritt, und Baldwin Veatch, als designierter Gouverneur noch nicht vereidigt, streckte bereits vorsichtig erste Fühler aus.

Nachdem Haere den Hörer abgenommen und Hallo gesagt hatte, fragte der designierte Gouverneur: »Nun?«

»Sie ist nicht der Meinung, daß er sich bewerben sollte.« »Wirklich?«

»Wirklich.«

Es entstand eine Pause. »Ist sie so klug, wie man ihr nachsagt?«

»Klüger.«

Noch eine Pause. »Nun, das ist einer weniger.«

»Und ungefähr ein halbes Dutzend sind noch übrig«, sagte Haere.

»Replogle holt dich morgen um neun in der Hotelhalle ab«, sagte Veatch. »Er will in sein Jagdhaus in Breckenridge hinauf.« »Okay. Wie klang er?«

»Wie ein Mann, der an Krebs stirbt, und noch dazu an Prostatakrebs, was nicht gerade die angenehmste Art ist abzutreten.«

»Glaubt er immer noch, daß das, was er hat, ... interessant ist?« fragte Haere, der seine zweideutigen Wörter mit Bedacht wählte.

»Er glaubt, daß man sie damit vierundachtzig in die Luft jagen kann«, sagte Veatch.

Draper Haere seufzte. Trotz wiederholter Bemühungen war es ihm nicht gelungen, Baldwin Veatch davon zu überzeugen, daß das Telefon kein Mittel für eine vertrauliche Verständigung war. Veatch liebte es, Leute anzurufen, um Lob, Ermutigung und geschwätzige, erstaunlich vernünftige Ratschläge zu spenden.

Kurz bevor die Herbstkampagne ernsthaft begonnen hatte, hatten er und Haere das Labour-Day-Wochenende in Veatchs Sommerhaus in French Gulch verbracht. Unter den Leuten, die Veatch angerufen und mit denen er (wenn auch nur kurz) gesprochen hatte, waren ein gewisser Schmidt in Deutschland, de la Madrid in Mexiko, Hussein in Jordanien und Rose aus Philadelphia gewesen, der sich in einer Krise befand.

»Baldy«, sagte Haere, »soll ich dir mal was sagen?«

»Was?«

»Du redest zuviel«, sagte Haere und hängte ein. Er wandte sich seiner Reisetasche zu, nahm eine Flasche Scotch heraus und schenkte sich etwas in ein Glas ein, fügte Wasser aus dem Hahn im Badezimmer hinzu, ging zum Fenster hinüber und sah über den Broadway auf das große Bankhaus, das an der Stelle des vor langer Zeit abgerissenen Shirley-Savoy-Hotel stand, ein altes Hotel, in dessen Zimmern Haere mehr als nur ein paar sexuelle und politische Abenteuer erlebt hatte. Aus irgendeinem Grund waren für Haere Sex und Politik immer Hand in Hand aufgetreten.

Er kam zu der Ansicht, daß er in dieser Nacht alte Erinnerungen nicht brauchte oder wünschte, leerte sein Glas, putzte sich die Zähne und legte sich mit seiner illegalen Bettlektüre hin, die ihm durch einen Spezialkurier aus Sacramento per Flugzeug nach New York gebracht worden war.

Es war eine geschmuggelte Sonderkopie, frisch aus dem Kopiergerät, der Stimmergebnisse der gerade abgeschlossenen Wahlen in Kalifornien, nach Stimmkreisen aufgegliedert. Es war auch nichts anderes als eine lange, lange Liste mit Namen und Zahlen, dennoch war es für Draper Haere eine wunderbare Geschichte glorreicher Siege und schmählicher Niederlagen, die er angeregt las, bis er, kurz bevor er Ventura County erreichte, einschlief.

Draper Haere wachte am nächsten Morgen um 6.30 Uhr auf, die Zeit, zu der er immer aufwachte, unabhängig von Jetlags und wechselnden Zeitzonen. Mit zweiundvierzig war Haere ein Mann von trügerischem Aussehen: Er hatte das Gesicht eines Märtyrers und den Körper eines Athleten. Das Gesicht fand er nützlich, aber der Körper war seit langem weitgehend vernachlässigt worden, weil Haere schon früh zu der Erkenntnis gekommen war, daß jeder energische körperliche Einsatz, außer beim Sex, im großen und ganzen Zeitvergeudung wäre. Es war mindestens zwanzig Jahre her, seit er zum letzten Mal ein Gewehr abgefeuert, einen Rasen gemäht, ein Auto gewaschen, eine Wand angestrichen, einen Fisch gefangen oder einen Ball, gleich welcher Art, geschlagen hatte. Allerdings ging Haere viel zu Fuß, häufig zehn oder gar zwölf Kilometer am Tag. Er ging zu Fuß, weil das eine vernünftige Art und Weise war, um irgendwo hinzugelangen, weil es ihm Gelegenheit bot nachzudenken und weil er einer der großen Sonderlinge des Lebens war.

Die traurigen braunen Augen, der müde Mund, die feingeformte Nase und das robuste Kinn waren auf irgendeine Weise zu einer Leidensmiene verschmolzen, die viele für ein Anzeichen durchlittener Tragödien hielten, die aber tatsächlich der Ausdruck chronischer Erbitterung war. Wegen dieses fast an einen Heiligen gemahnenden Äußeren war Haere immer der erste, an den vertrauensselige Fremde sich mit ihren Leidensgeschichten wandten oder mit der Frage, wie man am besten nach Disneyland käme. Haere hätte ein Bauernfänger von Weltklasse sein können. Statt dessen war er in die Politik gegangen, auf die Seite, wo Nägel mit Köpfen gemacht wurden, und nahezu alle stimmten darin überein, daß er der Beste war, den es auf seinem Spezialgebiet gab, nämlich Briefe zu schreiben, um dafür als Antwort Geldüberweisungen zu erhalten.

Als Haere erwachte, fand er, daß es merkwürdig still war, bis er aus dem Fenster sah und feststellte, daß es in der Nacht geschneit hatte – nicht sehr viel, vielleicht knapp fünfzehn Zentimeter, was in Denver kaum etwas bedeutete, weil gewöhnlich die Sonne herauskam und den Schnee bis zur Mitte des Nachmittags schmolz. In New York hätte der Schnee ein Chaos ausgelöst, in Washington Panik und in Los Angeles, also in Los Angeles hätten fünfzehn Zentimeter Schnee auf den Freeways nur den Weltuntergang ankündigen können. In Denver machten die Leute sich nicht einmal die Mühe, Schneeketten anzulegen.

Haere, der noch die Jockeyshorts trug, in denen er geschlafen hatte, nahm den Topf für drei Tassen und den Pulverkaffee aus seinem Gepäck. Der Topf brachte einen Dreiviertelliter Wasser in weniger als sechzig Sekunden zum Kochen. Haere hatte ihn vor fünf Jahren bei Marshall Field’s in Chicago gekauft, nachdem er zum ersten Mal im Ritz-Carlton für zwei Tassen Zimmerservice-Kaffee 12 Dollar plus Trinkgeld bezahlt hatte. Obwohl ihm bewußt war, daß aus solch kleinen Sparmaßnahmen miesepetrige Junggesellen bestehen, begleitete der Topf ihn jetzt überallhin. Er nahm auch seinen eigenen Becher, Löffel und Zucker mit.

Nach dem Kaffee, drei Zigaretten, der Rasur und der Dusche zog Haere das an, was er immer trug, einen dreiteiligen blauen Nadelstreifenanzug, fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter, beglich seine Rechnung, drehte sich um und erlebte seinen ersten Schock dieses Tages: das Dreiviertelprofil von Jack Replogle, der im Foyer stand und das tat, was jeder im Brown Palace tut – er blickte in den strahlenden Lichthof hinauf, um den das Hotel gebaut worden war.

Replogle hatte Gewicht verloren – mindestens zehn Kilo. Er schien sich in seinen Antartex-Mantel hineinzukauern. Er schien auch knapp sieben Zentimeter seiner Größe eingebüßt zu haben, was ihn auf Haeres eigene Größe von einsachtundsiebzig herunterbrachte. Haere erkannte dann, daß Replogle sich vorneigte, zur Seite gebeugt stand und anscheinend nicht aufwärts blicken konnte, indem er den Kopf in den Nacken warf, sondern nur, indem er den Hals verdrehte.

Replogles tiefliegende grüne Augen waren noch tiefer in ihre Höhlen gesunken, und unter ihnen befanden sich zwei dunkle Streifen. Seine Haut schien die Farbe und die Struktur von Zeitungspapier zu haben. Er war offensichtlich ein kranker Mann, deshalb ging Haere zu ihm hin und tippte ihn auf die Schulter. Als Replogle sich umdrehte, sagte Haere: »Du siehst grauenhaft aus.«

Obwohl die Schmerzen ihre Spuren tief in das Gesicht eingegraben hatten, sah Haere, daß Replogles Lächeln unverändert das gleiche geblieben war – das Lächeln eines Mannes, der seit langem ein sehr komisches Geheimnis kennt und sich endlich dazu entschlossen hat, es dir und keinem anderen zu offenbaren.

Replogle musterte Haere sorgfältig von oben bis unten, nickte, als ob er zufriedengestellt wäre oder zumindest eine Bestätigung erhalten hätte und sagte immer noch lächelnd: »Ich brauche dein beschissenes Mitleid nicht.«

»Tut weh, was?«

»Ja, tut weh. Gehen wir.«

Replogle drehte sich um und ging auf den Westausgang des Hotels zu. Haere folgte ihm mit seiner Reisetasche durch die Tür auf die Straße hinaus, wo ein Jeep-Kombi am Straßenrand parkte. Haere sah, daß es ein Modell mit Vierradantrieb war, das, wie er glaubte, Wagoneer hieß.

Replogle setzte sich hinter das Steuer und schnallte den Sicherheitsgurt an. Das tat Haere nicht. Er tat es nie. Und dann tat Replogle etwas, was er jedesmal gemacht hatte, wenn Haere mit ihm gefahren war – und das reichte immerhin schon über dreißig Jahre zurück, als Haere noch ein Kind gewesen war. Mit einer Hand, der rechten, zog Replogle sich langsam eine imaginäre Fliegerbrille aus dem Zweiten Weltkrieg nach unten über die Augen. Selbst nach dreißig Jahren löste das bei Haere noch ein Lächeln aus.

Jack Replogle war in diesem lange vergangenen Krieg ein starker Pilot bei der Navy gewesen. Als der Krieg vorüber war, hatten Haeres Vater und Replogle entdeckt, daß sie einmal auf einer kleinen Insel der Philippinen nur dreihundert Meter voneinander entfernt gewesen waren: Replogle in seiner Hellcat oben in der Luft, Haeres alter Herr unten auf dem Boden. Beide hatten aufeinander geschossen, Replogle aus Versehen, Haeres alter Herr absichtlich. Jack Replogle schwor später, daß das Gewehrfeuer der Infanterie an diesem Tag tatsächlich sein Flugzeug getroffen hätte. Es war eine charmante Lüge, und er hatte sie oft wiederholt, und Haeres alter Herr hatte immer so getan, als ob er sie glaubte, aber es war trotzdem eine Lüge, weil, wie Haere senior später seinem Sohn anvertraute, jeder in der D-Company ein miserabler Schütze gewesen war. Haere war sechs Jahre alt gewesen, als sein Vater schließlich 1946 aus dem Krieg zurückkam, und er erinnerte sich, daß mehrere Jahre vergingen, bis der zu alte ehemalige Gefreite aufhörte, sie die Beschisseneinfanterie zu nennen, nicht in zwei Wörtern geschrieben, sondern in einem, praktisch untrennbar.

Der Morgenverkehr war sehr dicht, aber Replogle fuhr schnell, sehr gekonnt, offensichtlich unbeeindruckt vom Schnee, der sich bereits in Matsch verwandelte. Sie fuhren nach Süden und bogen dann nach Westen in die Sixth Avenue ab, die sie zum Highway 6 bringen würde, der schließlich zum Interstate 70 wurde. Die Sonne war durchgekommen, der Dunst verflogen, und vor sich konnten sie die glitzernden Berge bewundern.

Replogle zündete sich eine Zigarette an, die, wie Haere bemerkte, nach wie vor eine filterlose Lucky Strike war, und sagte: »Daß ich Krebs hatte, wußte ich mindestens schon zwei Monate, bevor sie mich unten in Houston aufgeschnitten haben.«

»Woher?«

»Meine Leitungen waren leicht verstopft. Ich dachte mir, es wäre die Prostata. Als sie reingingen, stellten sie fest, daß sie nicht mehr viel machen konnten, also flickten sie mich wieder irgendwie zusammen, bohrten mich aus, und jetzt komme ich rückwärts.« Er machte eine Pause. »Nur daß ich in letzter Zeit in der Hinsicht nicht mehr viel zu bieten habe, obwohl da diese Hübsche ist, die ich seit Jahren kenne und die eine Freundin hat. Einmal in der Woche oder so treffen wir uns zu dritt und veranstalten ein sanftes Spiel Lincoln Logs. Ein sehr sanftes. Fast altersschwach.«

»Na ja, eine Orgie ist eine Orgie, nehme ich an«, sagte Haere. »Wie geht’s Maureen?« Maureen war seit siebenundzwanzig Jahren Replogles Frau.

»Maureen?« sagte er. »Ich will dir von Thanksgiving erzählen.«

»Von welchem Thanksgiving?«

»Von diesem.«

»Das ist doch erst in zwei Wochen.«

»Nicht bei mir zu Hause. Bei mir zu Hause haben sie letzten Donnerstag Thanksgiving gefeiert, weil sie geglaubt haben, daß ich nicht mehr bis Weihnachten durchhalte, was mir todsicher nicht viel ausmachen würde.«

Replogle machte eine Pause und drückte seine Zigarette im Aschenbecher des Wagens aus. »Nun ja, sie waren alle da, Maureens Familie, um den Tisch versammelt – ihre drei Brüder, schon halb im Tran, mit ihren gräßlichen Frauen, und ein Sortiment von etwa einem halben Dutzend Neffen, alle über eins-neunzig groß und arbeitslos, und Maureens alter Herr, der zweiundneunzig ist und dauernd bellte, er würde keinen Scheißtruthahn essen, weil das, was er wirklich wollte, Salisbury Steak ist. So nennen sie Hamburger in Maureens Familie. Salisbury Steak.«

»Klasse«, sagte Haere.

»Wir sitzen also alle da, der Qualm so dick, daß man ihn in Dosen abfüllen kann, meine Schwäger stinkbesoffen, meine Schwägerinnen streiten sich, welches Fernsehprogramm sie nachher ansehen sollen, Maureens alter Herr mosert rum, weil sein gottverdammtes Salisbury Steak zu blutig ist, und plötzlich verkündet Maureen, wir machten jetzt die Runde um den Tisch und jeder soll sagen, wofür er dankbar sein müßte – angefangen bei mir.«

»Wie bei Norman Rockwell«, sagte Haere.

»Genau. Nun ja, alle sehen mich an, und ich saß einfach da und sagte eine Weile gar nichts. Und dann sagte ich: ›Für was sollte ich dankbar sein, verdammte Scheiße? Ich habe Krebs.‹ Nun, du hättest ihre Gesichter sehen sollen.« Replogle lachte bei der Erinnerung vor sich hin und sagte dann, als ob er eine seiner Lieblingspointen wiederholte: »Für was sollte ich dankbar sein, verdammte Scheiße? Ich habe Krebs.«

Danach begann er laut zu lachen und lachte weiter, bis Draper Haere einstimmte. Aus Notwehr, wie er später einsah.