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Sie alle umhüllt und behandschuht; warum hat mir das keiner gesagt?

Sylvia Plath,

Das Bienenmeeting

An eine Lärche denken

… hat, angesichts des tagvollen Kopfes, der Fülle, die mich direkt betrifft – die Diskussion, zum Beispiel, um das Paradoxon Geistiges Eigentum oder die Frage, ob das Urheberrecht abgeschafft werden muss oder das Netz den Menschen revolutionieren oder nur die Pfründe verschieben wird –, etwas Eigennütziges. Die Lärche weckt ja allenfalls Erinnerungen. Meine Erinnerungen, die vorläufig niemandem als mir etwas bringen sollen: Sie sind voll von der Farbe, dem Duft, der Textur und dem Licht der Monate, von einem Nadelteppich, von dem es nicht weit ist bis zum Nadelkissen: langes Fädchen, faules Mädchen. Und schon bin ich beim Ruhekissen und beim Schlaf. Und träume von früher. Als die Zeit noch eine Figur war, die eine Rolle spielte. Damals dachte ich, dass, wenn bei uns Tag war, wir die Nacht auf der anderen, der unteren Seite der Welt bewachten. Bis mir klar wurde, dass wir ihren Schlaf nicht bewachten, sondern sie im Schlaf ausraubten. Dann bin ich aufgewacht.

Für Lärche bietet das Netz heute 1 360 000 Ergebnisse. Ich könnte mich durchklicken, hinterherdenken, könnte später nachdenken über das Richtige und das Falsche.

Eigennützig aber träume ich einen Wachtraum vom Träumen – dem unverzichtbaren, dem unbezahlbaren Modus des Dunkels. Uns eingeschrieben in homöopathischen Dosen: als Lidschlag unserer ununterbrochen blickend-blinzelnden Augen: laut world wide web etwa 18 320 Mal in vierundzwanzig Stunden, abzüglich der Minuten, in denen sie uns vor Erschöpfung zufallen.

Von den Tieren im Notieren

Im Grunde genommen besteht meine Wohnung aus lauter Arbeitsplätzen in verschiedenen Zimmern. Einer davon ist der hölzerne Sekretär neben der Tür zum Balkon. Im Rücken die Bücherregale und ein Porträt von Kleist. Feste Arbeitszeiten kenne ich nicht, peile sie unentwegt an. Ich beginne morgens, mal um sieben, mal um neun, arbeite bis zur »Mittagspause«, die zwischen ein und drei Uhr stattfindet und etwa anderthalb Stunden dauert. Dann weiter bis zum Abend, der manchmal um fünf beginnt, manchmal um neun. Mitunter nachts. Mein Arbeiten richtet sich nicht nach der Zeit. Ich richte die Zeit nach meiner Arbeit ein. Wenn ich nicht am Sekretär arbeite, sitze ich im Zimmer nebenan. Dort gibt es einen größeren, mit Papieren überladenen Tisch. Hat sich zu viel angehäuft, fliehe ich in die Küche. Oder ins Atelier. Seltener ins Schlafzimmer.

Jeder Raum ist möglicher Arbeitsraum. Wenn ich nicht weiterkomme mit einem Text, stecken bleibe in einem Satz, wechsle ich als Erstes den Raum.

Das Wichtigste beim Arbeiten ist die Ruhe. Ich muss allein sein. Hund und Katzen, ja, die dürfen sein. Sonst niemand. Während der Arbeit muss ich mit meinen Gedanken und mit meiner Sprache allein sein. Tiere stören nicht. Als typische Vertreterin des modernen Abendlandes, bin ich es gewohnt, das Tier als das schlechthin Andere zu begreifen. Das, was nicht ich bin. Es zieht mich zu sich. Neugierig auf jenen Spiegel, aus dem nicht wie gewohnt mein Abbild zurückblickt. Eher das, was ich nicht bin.

Es ist der Versuch, mich mit all meinen Unterschieden dem Fremden einzuverleiben – so wie sich Nietzsche einen Gedanken einzuverleiben versucht, um ihn zu verstehen, nur eben in verkehrter Richtung. Durchaus im Hinblick auf mich selbst oder einen Teil von mir, den ich sonst nie zu Gesicht bekäme.

Das Tier also als eine Art Spiegel, in dem nicht ich erscheine, sondern die Differenz zu mir, die dann, als negative space gedacht, auch wieder eine Art Selbstbild ergeben kann. Doch kommt mir dieses subtrahierende Sehen, wenn ich am Schreibtisch sitze, nicht in die Quere. Die Tiere in meinem Zimmer befinden sich stets in ihrer eigenen Welt und kommunizieren über eigene Sprachen.

Vielleicht stören sie nicht, weil sie mich nicht zu Papier bringen können? Auch wenn ich dazu neige, meine Haustiere mitunter als Personen anzusprechen, sie zu vermenschlichen, indem ich sie beispielsweise für höflich erkläre, wenn sie sich wohnzimmermäßig sanft verhalten: höfliche Tiere, die die Höflichkeit im Umgang, die ich ihnen andichte, natürlich auch von mir erwarten. Doch kaum sehe ich sie jagen, spielen oder fressen, weiß ich, wie falsch diese Vorstellung ist. Und doch blitzt sie, wie viele ähnliche, längst als Interpretationen enttarnte Wahrnehmungen, immer wieder auf. So teilen wir einen im Großen und Ganzen unproblematischen und spannenden Alltag miteinander.

Manchmal, vor allem im Winter, dann, wenn selbst die Katzen eindeutig Körperkontakt suchen, bringe ich sie hinaus. Die schlafende Hündin bleibt auf dem Teppich liegen. Sie zuckt im Traum, ihre Pfoten zucken, ihre Lefzen, sie atmet heftig – sie wird regelrecht durchgerüttelt von ihrem Traum – oder ist es der Inhalt des Traums, der sie malträtiert? Turbulenzen, die ich nie kennen werde. Wie und von was träumt sie, wenn sie im Schlaf zittert und japst – muss sie Pferdehufen und Kutschrädern ausweichen oder sind es Autos und U-Bahnen? Träumt sie sich auf zwei Beinen? Träumt sie den Abstand zwischen Mensch und Tier? Wolf und Hund?

Tiere finden sich immer wieder in meinen Texten und übernehmen oft wichtige Rollen. In Am Anfang war die Nacht Musik ist es der Hund, der am Ende nochmal alles auf den Punkt bringt. Es fiel mir leicht, ihn zu schreiben. Der Hund brauchte weder ein historisches Kostüm noch irgendeine andere für die Zeit typische Maske oder Geste. Ich konnte ihn einfach aus dem 18. Jahrhundert in meinen Text transferieren. Dass der Hund im Roman die einzige so direkt übernommene historische Figur ist, wurde in keiner Kritik erwähnt.

Die Tiere, die sich in meinen Notizbüchern befinden, verdanken sich dem Versuch, beim Notieren die Hand nie stillstehen zu lassen. Der Fluss soll nicht abbrechen. Es geht um die ununterbrochene, alles aus mir herausziehende und mich gleichermaßen mit der Welt verbindende Linie. Umgeben von schlafenden Tieren ist sie mir das Nächstliegende. Der Weg über sie führt in den Text.

Die andauernden Linien in den andauernden Notizbüchern sind so lange nötig, bis ich sie in den Computer übertragen habe. Dann dreht sich alles nur noch um das, was vor mir auf dem Bildschirm steht. Der ausgeklappte Sekretär bietet keine allzu große Arbeitsfläche, gerade groß genug für ein Notebook, und ich neige dazu, viel zu viel anzuhäufen. Vor allem in der Anfangsphase eines Textes kommt mir eine übervolle Umgebung entgegen, die Furcht, meine Vorstellungskraft könne mich verlassen, ist ständige Begleiterin. Je mehr Zeichen im Kasten, desto weniger brauche ich um mich herum. Am Ende darf der Raum leer sein, ordentlich leer.

Dieses Zimmer mit Sekretär und Bücherregalen dürfen Gäste betreten. Das Nebenzimmer ist tabu. Dort ist nichts überschaubar, und nur ich weiß, wo, auf welchem Stapel welche Notiz zu finden ist oder zu finden war: die von den Tieren im Notieren.

Was genommen wurde

(zu Am Anfang war die Nacht Musik)

Wer einen Text zu schreiben beginnt, denkt nach vorn, vorwärts, so als denke er auf ein Ziel hin. Mitunter ohne es zu kennen. Nun, mit dem fertigen Buch in der Hand, denke ich rückwärts. Und erinnere: die vielen Momente der letzten drei Jahre, oder waren es vier? Oder wann genau begann das, was hier gedruckt vor mir liegt?

Einmal, noch erfüllt von der Lektüre Ioan Culianus, Eros und Magie in der Renaissance, blätterte ich, wie so oft, durch meinen Zettelkasten: dieses Zuhause für alles, woran ich je hängen geblieben bin. Kleine und größere Blitze. Überbelichtetes und Unterbelichtetes. Wörter, Sätze, Bilder, flüchtig notiert, irgendwann irgendwo herausgerissen, sich allen kausalen Ordnungsmustern widersetzend. Also voller Überraschungen. Der Zettelkasten ist mir wichtig wie mein Computer. Nein, wichtiger. Eine Art Dschungel. Aus kürzesten, eiligsten Momenten Zusammengerettetes. Was beim Durchstreifen angezettelt wird, ist Kondensation des Glücks, Wolkenbildung und Erinnerungsregen. Und es bewahrt mich vor dem, was ich schwer ertrage: der Leere.

Auf einem Zettel stand: Mesmer. Dahinter in Klammern: (der Magier und das Mädchen) Ein Paar? Weibliches Genie? Darunter deuteten ein paar Linien eine Perücke an. Zwei Hände in der Luft. Weitere Linien eine Vibration.

Das war der Moment. Unzählige Begegnungen stellten sich ein. Begegnungen mit Ärzten. Mit mir selbst. Mit Musik. Dem vorgeburtlich ewigen Klavier im Wohnzimmer meiner Eltern. Dem zweiten Klavier, das auf der Suche nach einer festen Bleibe von Zimmer zu Zimmer wanderte. Kindheitserfahrung. Klavierlehrer. Vierhändige Schwesternpaare. Singen und Gesangslehrerinnen. Sonaten und Fugen.

Iznang, dieses Dorf am Bodensee. Mein Klassenkamerad, der da auf der Höri wohnte, wo das Geburtshaus Mesmers noch steht. Und dann, später, in Brooklyn, NY, wo ich Malerei studierte. Mein von cockroaches bewohntes Klavier. Der Afroamerikaner namens Hayden, der es reparierte. Und Mesmer, der als Wort wiederauftauchte. Als mein Lehrer eines meiner Bilder als mesmerizing bezeichnete. Ein Wort, das sofort die Runde machte unter den Studenten. Jeder wollte etwas schaffen, das mesmerizing war. Mesmerizing galt für eine kurze Saison als Maßstab. Klar, es ging ja auch um Malerei, und das Magische erschien einigen von uns ebenso naheliegend wie unangreifbar. Das über allem Stehende. Wie das Sublime, auf das mein Lehrer abzielte. Und neben Caspar David Friedrich und Mark Rothko schauten wir nun eben auch auf Mesmer. Dem ich mich in Brooklyn plötzlich näher fühlte als je zuvor. Wir haben dann versucht, seine Zeichnungen in ihrer Unverständlichkeit zu verstehen.

Wenn es in meinen ersten beiden Prosabüchern um ganz klare Fälle von männlich-weiblichen Beziehungen geht, so zieht sich das auch durch dieses Buch. Aber natürlich auf anderer Ebene: auf eher »feinstofflicher« Ebene.

Zwei Menschen begegnen sich. Arzt und Patientin. Nebst vielen Unterschieden gibt es auch Verbindendes: Die Musik ist ihnen das Höchste. Und: von beiden verlangt man Erklärungen. Mesmer muss erklären, was er mit den Händen tue. Das Fräulein, das blinde, musikalische, was mit ihr, in ihr vor sich gehe.

Gewissermaßen, merke ich jetzt, ist das auch die Situation der Schriftstellerin, die, immer wieder danach gefragt, sich schließlich selbst fragt, wie sie denn dazu komme, jenes oder ebendieses Buch zu schreiben. Das Motiv verschwindet hinter der Motivation. Als könne die Antwort der Autorin ein Geheimnis lüften, das den Text legitimiert. Als genügte sein bloßes Sein nicht. Seine Existenz, die bestimmt unzählige Gründe hat, soll aufgerollt und auf den Punkt gebracht werden, um seinen Nutzen zu behaupten. Publikum liebt Einblick in Romanfabrik. Als Publikum spricht mir das aus dem Herzen. Im Sichtbaren das Unsichtbare entdecken, um es in sich selbst zu finden. Das Unfassbare anfassen, um sich selbst zu begreifen. Alle jagen eine flüchtige Trophäe, um sie in sich selbst zu erwischen, diese flüchtige Trophäe namens mesmerizing moment.

Auch die mögliche Enttäuschung kenne ich, die dem Blick durchs Schlüsselloch oft folgt. Denn zu sehen sind ja nur chaotische Zettel, verschmierte Schnipsel. Sätze wie Ich muss von mir schreiben, und gleichzeitig nicht von mir schreiben. Ich muss ungefähr die Mitte finden. und Ist das meine Mitte? oder Mein Interesse an der Medizingeschichte: Da wird ja sehr klar, warum unser System auf dem Stand der Systematisierung gelandet ist, anstatt beim Menschen. Oder nur Wörter. Notierte Momente, Ideen … Der Versuch, Einblick zu gewähren, endet also bestenfalls in einer Art Mosaik unzusammenhängender Schnipsel. Da wollte man einen mesmerizing moment bescheren, und dann das.

Aber so schnell gibt man ja nicht auf.

Also noch einmal: Ich erzähle eine vor-romantische Geschichte, auch wenn meine beiden Protagonisten, ohne es zu wissen, bereits der Romantik entgegenfühlen, der Romantik, in der Sprache auch irrational sein darf. Und was bedeutet das für die beiden, gesellschaftlich gesehen?

Mir geht es nicht darum, ob Mesmers Methode funktioniert hat oder nicht. Auch nicht darum, ob er die Pianistin Paradis je geheilt hat oder nicht. Oder ob sie blind besser Klavier spielen konnte als sehend, wenn sie denn gesehen hat, wovon ich ausgehe.

Mir geht es um die Begegnung der beiden. Und mir geht es darum, ob und wie sie einen Ausdruck für ihr Tun finden. Der Arzt und die Patientin treten quasi mit derselben gesellschaftlichen Behinderung auf. Ich muss es so nennen, weil es sich in ihren Leben ausgewirkt hat wie eine Behinderung. Es gelingt ihnen nicht, die als Passion empfundene Innerlichkeit zu verbalisieren – für ihre Umwelt aufzuklären. Sie können sie nur materialisieren. Sie können tun, und das mit Erfolg. Und leiden doch am Unvermögen, die Gedanken, Empfindungen, den Willen etc. auszudrücken.

In meinem Buch geht es um das, was nie übersetzt werden konnte. Deshalb zwar nicht verschwunden ist, aber mehr oder weniger verschüttet und immer mal wieder ausgegraben wurde. Das Stumme. Das Stumme, das gezwungen wird, sich in der Sprache der Akademien zu behaupten oder aber zu verschwinden. Und es geht um das Scheitern des Gefühls am System des Verstands.

Die Sicht auf die heutige Welt ist erfüllt von allem, was ihr je gegeben wurde. Mich reizte der Blick auf das, was ihr genommen wurde. Das Stumme, das Blinde und alles, was nicht zu erklären ist.

Über mein Schreiben

Schreibend stelle ich mir Fragen, die über meine persönlichen Grenzen hinausreichen. Ohne eine Antwort zu sein, bietet mir mein Text, wenn ich Glück habe, mehr vom Anderen als mein Alltag. Zum Beispiel ein Ich in ferner Vergangenheit.

Vom klassischen Schriftsteller (und deshalb kann die männliche Form hier stehen bleiben) wurden Antworten erwartet oder sogar verlangt. Und ER war, aus welchem Grund auch immer, bereit, sie zu geben.

Aber ich denke, die Zeit, da der Autor Stellvertreter des Wissens oder Unwissens, der Weisheit oder Dummheit aller seiner Figuren sein konnte oder auch wollte, ist vorbei. Der für mich wirkliche Leser verwechselt mich nicht mit meinen Figuren. Wenn ich aber etwas vertreten kann, ist es vielleicht die Gestalt, die sich zwischen ihnen, den Figuren meiner Geschichten, formuliert. Ich spreche und erzähle von Distanzen, von Differenzen, von Distanzlosigkeiten, von Entgrenzungen und Missverständnissen, wie sie in der von den Menschen distanzierten, differenzierten, entgrenzten Landschaft, Wirtschaft, Kultur und Liebe gelebt werden.

Unser Begriff von Grenzen ist begrenzt, das heißt eingeengt, weil dieser Begriff nicht aus einer Erfahrung mit dem Weg, sondern vom Ziel und den Rückprojektionen des Wünschens hergeleitet ist. Auf das Ziel bezogen sind mir Grenzen Behinderung und Verlust. Verlust von Zeit, Geld, Kraft. Auf den Weg – den des Lesens – bezogen, sind sie die sicher viel zu selten genutzten Chancen der Wahrnehmung; sie sind die Übersetzung des Ichs in das Andere.

In meinen Geschichten ist das Andere meist das andere Geschlecht oder die andere Generation oder die andere Vorstellung vom anderen. Global ist das Andere zum Beispiel der Wille des anderen, und eine täglich erfahrbare Form des Anderen ist die andere Sprache.

Die vielleicht hundert verschiedenen Sprachen, in denen das wirtschaftlich nach innen vereinigte Europa miteinander spricht und schreibt, nehme ich als einen Weg wahr. Die Sprache ist solcherart nicht das Ziel. Aber Sprechen ist Weg.

Unsere Art, miteinander zu sprechen und uns (während der andere spricht) schweigend selbstwahrzunehmen, ist, und erst recht im geordneten Rahmen des literarischen Textes, Übersetzungsarbeit.

Wir haben eine lange und gute, wenn auch immer mal wieder grauenhaft unterbrochene oder pervertierte Tradition der Übersetzung anderer Kulturen und Literaturen ins Deutsche. Und obwohl es seit Längerem Versuche gibt, Prosa aus ökonomischen Gründen von Computerprogrammen übersetzen zu lassen, glaube ich, dass eine innereuropäische Kultur der Übersetzung erstens der tatsächlichen Vereinigung nicht im Weg steht, sondern, im Gegenteil, diese befördert, und zweitens, dass Langsamkeit, Vorsicht, Bewahrung in dieser Sphäre dagegenstehen sollten, weil, wie ich einem in Deutschland in englischer Sprache ausgestrahlten Radiobeitrag von BBC London entnahm, jährlich weltweit sechzig kleine Sprachen, oder waren es sechshundert, aussterben.

Todesrhizom

Kein Wunder, dass es meiner Freundin zu viel wurde mit mir: Ich war krank. Lag im Bett und dämmerte vor mich hin. Ich fühlte mich schwach und verzweifelt. Mit knapp vierzig Fieber klammerte ich mich an meinen Laptop. So verfing ich mich im Netz. Mich zogen die Stimmen der Verzweifelten an, von denen es dort wimmelt.

In unzähligen Foren fand ich Erfahrungstexte: Symptome, Krankheiten, Prognosen, Ärzte und Praxen, Medikamente und Nebenwirkungen, Alternativstrategien, Untersuchungswerte. Tabellen, Tests und Verweise auf Links der Hoffnung.

Ich suchte nach Fällen wie mir, nach meinem Fall. Nach jenem, dem geholfen worden war. Ich fand nur ähnliche Fälle, bei denen jede Hilfe zu spät gekommen war.

Ich las: »Finde dich damit ab.«

Las: »Es ist nicht heilbar.«

Lateinische Begriffe türmten sich vor mir auf, und mit dem Latein, das mir aus meiner Schulzeit geblieben ist, versuchte ich, sie so weit zu übersetzen, dass ich verstehen konnte, worum es ging.

Ich sog alles Negative in mich auf. Ich war krank. Schwach. Unfähig zur Gegenwehr. Aus jedem Tipp las ich das eigene Sterben heraus, schlimmer, das Siechtum, gefolgt von einem gnadenlosen Tod. Das wühlte mich auf, und ich konnte nicht anders: Ich rief meine Freundin an, um ihr alles zu erzählen.

Sie blieb ruhig. Deutete mein Verhalten als Angstreaktion auf Angst. Sie widersprach nicht. Sie hörte meinen Phantasien eine Weile zu.

Sie sagte: »Angst macht Angst.«

Sie glaubte, ich sei in die Fänge der an nichts als Profit interessierten Pharmaindustrie geraten. Die fischen längst schon im Netz, sagte sie. Eine bereits etablierte Form des Marketings.

Dann gab sie mir einen Rat: »Schreib’s auf.«

Schreib’s auf, sagte ich, sei das Perfideste, das sie je gesagt habe. Und dass hinter den Stimmen und Nicknames der Icons im Netz die Pharmaindustrie stecke, sei reine Fiktion, ebenso die kleinen grünen Männlein und Weiblein, die angeblich in den Kellergeschossen säßen, als Vorhut der Forschung sozusagen, um den usern das loosen zuzuschreiben und den Machern die Macht.

»Fakt ist«, sagte sie, »dass das Nichts, um Realität zu werden, nichts braucht, als einen handfesten Namen«.