Lutz Münzer • Hg.

Vom Drachen
zur RegioTram

Eisenbahngeschichte in der Region Kassel

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Eine Veröffentlichung in der Reihe

Die Region trifft sich – die Region erinnert sich

der Kasseler Sparkasse

Herausgegeben von Lutz Münzer

Titelbild: S. Bendt: Henschel-Lokomotive („Drache“) aus einem Tunnel kommend (gespiegelt abgebildet), Stadtmuseum Kassel, Inv.-Nr. M 0429

Abbildung Umschlagrückseite: Jörg Lantelmé

Vorsatz/​Nachsatz: Zeichnung Lutz Münzer

Grafische Gestaltung: atelier grotesk, Kassel

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Gesamtherstellung: euregioverlag, Kassel

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen und sonstige elektronische Medien, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© 2014 euregioverlag

D-34127 Kassel, Naumburger Str. 40

www.euregioverlag.de

ISBN 978-3-933617-57-6

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Ingo Buchholz

Das Eisenbahnsystem in der Region bis 1945

Lutz Münzer

Das Eisenbahnsystem in der Region seit 1945

Lutz Münzer

Die RegioTram: Ein wegweisendes neues Verkehrssystem im öffentlichen Personennahverkehr Nordhessens

Rainer Meyfarth

Kassels Fernbahnhof im Stadtgefüge – unbekannte Planungen des 20. Jahrhunderts

Folckert Lüken-Isberner

Der lange Sprung nach vorn – wie der Schnellverkehr nach Kassel kam

Günter Klotz

„Das war eine böse Rackerei“ – zum Arbeitsalltag der Eisenbahner in der Dampflokzeit

Volker Knöppel

Schienenfahrzeugbau in Kassel

Peter Zander

Guntershausen – vom ,Bahnhof der tausend Türen‘ und seinem Dorf

Klaus-Peter Lorenz

Erlebbare Kleinbahn im Museumszug HESSENCOURRIER

Klaus Schulte

Anhang

Glossar

Abkürzungsverzeichnis

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Autoreninformationen

Klappentext

Vorwort

Mobilität ist ein Stichwort, das die Menschen unserer Region gleich in mehrfachem Sinne bewegt: Sie ist nicht nur Voraussetzung für eine stabile Wirtschaftsstruktur, sondern zugleich auch Ziel und Ergebnis von Produkten und Dienstleistungen. Diese liefern leistungsfähige und international anerkannte Unternehmen der Mobilitätswirtschaft, die wir zu Recht als Kompetenzfeld unserer Region verstehen.

Neben Logistik und Automobilbau ist die Bahntechnik von großer Bedeutung für den Industriestandort Region Kassel. Hier werden Schienenfahrzeuge konstruiert, gebaut und in alle Erdteile geliefert. Das ist ein Erfolg der unternehmerischen und ingenieurtechnischen Leistungen und des täglichen Einsatzes Tausender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Für die lange und faszinierende Entwicklung der Eisenbahn in der Region war das Jahr 1848 von entscheidender Bedeutung. Kassel und – als erste im heutigen Landkreis Kassel – die Städte Grebenstein und Bad Karlshafen erhielten Bahnanschlüsse. Und im gleichen Jahr lieferte die Kasseler Firma Henschel & Sohn ihre erste Dampflokomotive aus.

Bereits acht Jahre später war Kassel der große Knoten des stetig wachsenden Eisenbahnnetzes im mittleren Deutschland zwischen Hannover im Norden, Frankfurt im Süden sowie Dortmund im Westen und Leipzig im Osten. Mit Ausnahme der Jahrzehnte der Teilung, die Nordhessen in eine Randlage an der deutsch-deutschen Grenze verbannte, hat sich an dieser zentralen Stellung der Kasseler Region im deutschen Eisenbahnnetz nichts geändert.

Das alles ist Grund genug, sich mit der Bedeutung der Eisenbahn für die Wirtschaft und die Gesellschaft in unserer Region zu beschäftigen. Wir widmen diesem Thema den vorliegenden Sammelband.

Er enthält Beiträge zur Geschichte des Eisenbahnsystems, des Schienenfahrzeugbaus und des Arbeitsalltags der Eisenbahner, zum Bau der Schnellbahnstrecke, die Kassel eine hervorragende Verkehrslage gebracht hat, und zur RegioTram, dem wegweisenden neuen Nahverkehrssystem in Nordhessen.

Wir danken dem Herausgeber Dr. Lutz Münzer und den Autoren, dass sie uns die Geschichte der Eisenbahn in der Region nahebringen und einem breiten Publikum und der Fachwelt viele neue Einsichten vermitteln.

Mit dem 36. Band unserer Reihe „Die Region trifft sich – Die Region erinnert sich“ laden wir Sie ein zu einer kleinen Zeitreise durch die Eisenbahnregion Kassel. Oder wollen Sie das Gefühl, mit einer „alten Dampfeisenbahn“ zu fahren, selbst erleben? Dann nehmen Sie den historischen Zug „Hessencourrier“, der von seinem eigenen Bahnhof südlich des Bahnhofs Wilhelmshöhe durch den Naturpark Habichtswald in Richtung Naumburg fährt. Natürlich ist auch diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet.

Ingo Buchholz 

Vorstandsvorsitzender der Kasseler Sparkasse 

Das Eisenbahnsystem der Region bis 1945

Lutz Münzer

1. Innovation Eisenbahn

Die Innovation „Eisenbahn“ avancierte in den Jahren nach den Freiheitskriegen rasch zu einem zentralen Thema im Kontext mit der nun mit voller Intensität v. a. in Mittel- und Westeuropa einsetzenden industriellen Revolution. Als erste öffentliche Eisenbahn der Welt wurde die unter der Leitung von George Stephenson angelegte Strecke von Stockton nach Darlington am 27. September 1825 eingeweiht. Der erfolgreiche Betrieb auf dieser Linie löste bald eine Vielzahl von Streckenplanungen und Bauten nicht nur in Großbritannien, sondern auch in zahlreichen anderen Ländern Europas und in Nordamerika aus.

Zwar behinderte die territoriale Zersplitterung Deutschlands – der 1815 gegründete Deutsche Bund zählte anfangs 41 Mitglieder, darunter vier Städte – die Planung und Anlage von Eisenbahnen erheblich und trug schließlich auch dazu bei, dass aus heutiger Sicht diverse, später nur schwer zu korrigierende Pannen bei der Netzentwicklung eintraten. Dennoch kam es auch im deutschen Raum rasch zu konkreten Bauprojekten, im Dezember 1835 wurde die erste Eisenbahn – zwischen Nürnberg und Fürth – eröffnet, nur vier Jahre später folgte mit der Linie Leipzig – Dresden die erste Fernstrecke. Der Bahnbau und die fertigen Eisenbahnen stellten in vieler Hinsicht etwas völlig Neues dar – sei es hinsichtlich der Arbeitswelt, sei es hinsichtlich Architektur und Konstruktion der Bauten und sei es nicht zuletzt hinsichtlich des Fahrzeugmaterials.1 Die zentrale Bedeutung der Eisenbahnen für die wirtschaftliche Entwicklung gerade in der Blütezeit der Industrialisierung wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts ein Viertel aller Investitionen in der deutschen Volkswirtschaft in die Bahnen flossen.2

2. Der lange Weg zu den ersten Bahnen im Kurfürstentum Hessen

2. 1. Präliminarien

Das Kurfürstentum Hessen zählte zu den Mittelstaaten im Deutschen Bund. 1864, kurz vor der Annexion durch Preußen, lebten in dem 9.580 km2 großen Land 745.000 Menschen.3 Die innenpolitischen Verhältnisse gestalteten sich hier schwierig, nicht zuletzt dank des reaktionär-autokratischen Landesherrn Friedrich Wilhelm II., Regent seit 1830 und Kurfürst seit 1847.4

Einer ersten Anregung Carl Anton Henschels, einem der Hauptakteure für den wirtschaftlich/​technischen Fortschritt in Hessen-Kassel, im Jahr 1822 zugunsten einer mit Pferden betriebenen Eisenbahn von Frankfurt über Kassel nach Bremen blieb nennenswerte Resonanz versagt.5 Anders zehn Jahre später: Der Architekt Hartdegen unterbreitete der Ständeversammlung eine Eingabe, in der er unter Hinweis auf die günstigen ersten Erfahrungen mit Eisenbahnen in Großbritannien die Gründung einer Aktiengesellschaft zur Anlage von Strecken anregte. Resultat dieser Aktion bildete schließlich die Gründung eines „Aktienvereins zur Errichtung einer von den Hansestädten beginnenden, durch den Norden Deutschlands über Hannover’sch – Minden nach den süddeutschen Städten führenden Eisenbahn“, dem neben diversen Kaufleuten und Fabrikanten auch zahlreiche Beamte angehörten. Der Regent billigte prinzipiell die Bestrebungen des Vereines und dieser entfaltete in den folgenden Jahren eine rege Planungs- und Propagandatätigkeit. Nach Zusammenschluss mit einer konkurrierenden Organisation führte er die Bezeichnung „Verein für Eisenwegebau zu Kassel“ mit Persönlichkeiten aus Verwaltung, Wirtschaft und Bürgertum als führenden Mitgliedern.6

1: Beachtlich sind die Distanzen zwischen Kassel und Städten vergleichbarer oder größerer Bedeutung; Zeichnung Lutz Münzer

Klar erkannt bei Regierung und Verein war bereits damals die Notwendigkeit der Abstimmung mit den Nachbarstaaten. Man machte sich Hoffnungen darauf, Kassel zu einem zentralen Bahnknoten in Deutschland zu entwickeln – durchaus realistisch, da Kassel damals, wie auch noch heute, inmitten eines Gebietes mit einem Durchmesser von ca. 300 Kilometern die bedeutendste Stadt war. Es ging darum, dafür zu sorgen, dass eine von Frankfurt zu den Nordseehäfen führende Nord-Süd-Strecke in Kassel von einer Ost-West-Verbindung gekreuzt wurde. Eine solche Verbindung lag vor allem in Interesse Preußens. Dieser Staat strebte von Beginn der eigenen Eisenbahnplanungen an danach, die durch andere Staaten des Deutschen Bundes voneinander getrennten Ost- und Westprovinzen miteinander zu verbinden. Die preußische Regierung zeigte daher Interesse an einer Strecke von Halle über Mühlhausen, Kassel nach Lippstadt, hatte jedoch stets auch die topographisch günstigere Linienführung zwischen beiden Reichsteilen durch das Königreich Hannover über dessen Hauptstadt Hannover durch das norddeutsche Tiefland im Auge.7 Das Interesse des Königreiches Hannover, dem nördlichen Nachbarn von Kurhessen, an einer Bahnverbindung zwischen Kassel und der Stadt Hannover ließ zunächst zu wünschen übrig. Immerhin gewann 1840 in Hannover ein staatliches Eisenbahnbauprogramm Konturen, und der Bau erster Bahnen, darunter einer Strecke von der Landeshauptstadt nach Hann. Münden, wurde beschlossen.8 Um den Verlauf der Strecke von Kassel nach Frankfurt entbrannte in Hessen bald ein heftiger Streit: Wurde zunächst der Verlauf über Fulda priorisiert, so regte sich hiergegen heftiger Widerstand in Oberhessen, namentlich in Marburg, wo gleichfalls ein Eisenbahnverein entstanden war. Topographische Gründe, das Interesse von Hessen-Darmstadt an der Anbindung seiner Provinzhauptstadt Gießen an das Eisenbahnnetz und auch preußische Vorstellungen – es ging um die in preußischem Besitz befindliche Stadt Wetzlar – führten die Entscheidung zugunsten der Trasse Kassel – Frankfurt durch Westhessen herbei.9

2. 2. Mühsame Entscheidungsfindung

Als sich abzeichnete, dass grundsätzliche Entscheidungen über die Linienführung der Strecken und konkrete Verhandlungen mit den Nachbarstaaten anstanden, wurde der Kasseler Eisenbahnverein am 24. Oktober 1838 angewiesen, seine Tätigkeit einzustellen. Verschiedene Umstände sorgten über Jahre hinweg für Verzögerungen der Eisenbahnplanungen und erst am 20. Dezember 1841 gelang die vertragliche Einigung mit Preußen dahingehend, dass tatsächlich eine West-Ost-Verbindung zwischen den preußischen Landesteilen über Kassel angelegt werden sollte. Im Unterschied zu den Planungen der 30er Jahre war aber nun eine Führung durch die thüringischen Staaten, von Halle über Erfurt und Eisenach nach Kassel, vorgesehen. Lippstadt als westlicher Endpunkt blieb. Zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses war noch vorgesehen, die zweite Ost-West-Verbindung (über Hannover) von dieser Stadt ausgehen zu lassen.10 1845 kam Kurhessen endlich zu einer Einigung auch mit Hessen-Darmstadt und Frankfurt über den Bau einer Eisenbahn nach Frankfurt, und zwar als gemeinschaftlich zu bauender und betreibender Staatsbahn.

Damals konnte davon ausgegangen werden, dass man in absehbarer Zukunft auch zu einer Einigung mit Hannover über die Verbindung zwischen Hann. Münden und Kassel gelangen würde.11

Die schon seitens der Zeitgenossen monierte allzu lange Zeit bis zu den Entscheidungen für den Bahnbau wurde zur Schaffung rechtlicher Voraussetzungen, zu intensiver Gewinnung von Informationen über das neue Verkehrsmittel und auch zur Einholung von Fachgutachten genutzt. Kein geringerer als Robert Stephenson, Sohn von George Stephenson, einem der Hauptbegründer des Eisenbahnwesens, und selbst einer der bedeutendsten Eisenbahnfachmänner seiner Zeit, hielt sich im dritten Quartal 1843 als Gutachter zu den kurhessischen Bahnprojekten im Land auf.12

Die vorgesehenen Streckenverläufe in der Region Kassel unterlagen im Zuge des langen Planungsprozesses wesentlichen Veränderungen: Im März 1840, als man noch von der Streckenführung ostwärts über Eschwege – Mühlhausen nach Halle ausging, sollte, auf der Südseite des Lossetales, allmählich an Höhe gewinnend, gebaut und erst jenseits der Kreisgrenze, bei Fürstenhagen, das Tal gequert werden. Südwärts war beabsichtigt, das Fuldatal schon bei Niederzwehren zu verlassen, nahe Hertingshausen die Bauna zu queren und bei Felsberg ins Edertal zu gelangen. Westwärts gab es den Vorschlag einer Führung am Ostrand des Parkes Wilhelmshöhe vorbei über Harleshausen, Weimar, Fürstenwald, Meinbrexen, Westuffeln, Niedermeiser, Zwergen nach Liebenau und dann dem Diemeltal zu folgen. Alternativ war angedacht diese Trasse bei Weimar zu verlassen und über Wilhelmsthal, Frankenhausen sowie Grebenstein nach Hofgeismar zu bauen, um von da ins Diemeltal zu gelangen.

2: Netz 1914: Neben den damals vorhandenen Reisezugstationen sind Orte, die bei den frühen Trassendiskussionen eine Rolle spielten, eingetragen; Zeichnung Lutz Münzer

Sobald feststand, dass von Osten her die Strecke von Eisenach herangeführt würde, ist recht bald die Entscheidung zugunsten des Verlaufes durch das Fuldatal mit Guntershausen als vorgelagertem Trennungsbahnhof für die Strecken nach Frankfurt und nach Eisenach über Bebra gefallen. Hinsichtlich des Verlaufes der Strecke nach Westfalen gaben der Wunsch nach gleichzeitigem Bahnbau zum einzigen Weserhafen Kurhessens in Karlshafen13 sowie die Geländeverhältnisse den Ausschlag dafür, den weiten Bogen über Hümme einzuschlagen, dort mit der Hauptstrecke das Diemeltal zu erreichen und andererseits hier eine von vornherein als untergeordnete Strecke angesehene Stichbahn nach Karlshafen abzweigen zu lassen. Die Entscheidung über die definitive Trassenwahl hat sich lange hingezogen. Bezeichnend dafür ist Folgendes: Für die Anlage der Ost-West-Strecke auf hessischem Gebiet war eine Privatbahn vorgesehen, die Kurfürst-Friedrich-Wilhelms Nordbahn (KFWN). In ihrem Statut, welches am 2. Oktober 1844 der Landesherr genehmigte, findet sich die Bestimmung (§ 1, Absatz 2): „Die Gesellschaft übernimmt die Verpflichtung, auf Verlangen der Kurfürstlichen Regierung, eine Pferde-Zweigbahn von Cassel nach Carlshafen herzustellen.“ Die Linie nach Karlshafen wurde also zu diesem Zeitpunkt noch als eigenständige, von Kassel ausgehende Bahn aufgefasst.14

Für intensive Diskussionen sorgte die Frage der Lage des Bahnhofes in Kassel. Solange noch davon ausgegangen werden musste, dass die Ost-West-Linie in Kassel von Osten her aus dem Eichsfeld einmünden würde, wurden in erster Linie Standorte in der Fuldaaue in Betracht gezogen, die freilich vor allem in zweierlei Hinsicht zu Bedenken Anlass gaben – einerseits wegen der Hochwassergefährdung in der Talaue und andererseits wegen der Schwierigkeiten, mit akzeptablen Neigungsverhältnissen die Kassel umgebenden Höhenzüge zu bewältigen. Schon Anfang der 40er Jahre war ein gemeinsamer Bahnhof für alle in Kassel einmündenden Strecken vorgesehen und bereits 1842 fand für diesen Bahnhof die Bezeichnung ‚Hauptbahnhof‘ Verwendung.15 Erst als bereits der Bau der Bahnen begonnen hatte und die ungelöste Frage des Bahnhofsstandortes eine Verzögerung der Fertigstellung erster Streckenabschnitte befürchten ließ, erfolgte 1846 auf Drängen der Ingenieure, die den Bahnbau leiteten, die Entscheidung zugunsten des heutigen Standortes. Dieser bot den Vorteil einer stadtkernnahen und hochwasserfreien Lage und gestattete gleichzeitig mit seiner Höhenlage die Einhaltung des Wertes von 1 : 100 als maximaler Streckenneigung.16

2. 3. Die ersten Strecken, Bau und Anlagen

Die ersten Strecken, die von Kassel ausgingen, errichteten zwei verschiedene Institutionen: Die Linie nach Frankfurt, programmatisch als „Main-Weser-Bahn“ (MWB) bezeichnet, entstand als Staatsbahn im Eigentum der drei Staaten, durch deren Territorium sie verlief: Kurfürstentum Hessen (Kurhessen), Großherzogtum Hessen (Hessen-Darmstadt) und Freie Stadt Frankfurt. Es handelte sich um ein „Kondominium“. Die Gewinne wurden nach dem Verhältnis des eingebrachten Kapitals verteilt, jeder Staat baute grundsätzlich den auf seinem Gebiet gelegenen Streckenabschnitt.17 Zwei Angehörige der sechsköpfigen Direktion ernannte die kurhessische Regierung.18

Anders die Ost-West-Strecke: Ihre Anlage blieb, wie bereits erwähnt, einer privaten Gesellschaft überlassen, der KFWN, getragen wesentlich von je einem Bankhaus in Frankfurt und Hanau. Allerdings nahm der hessische Staat erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft, beteiligte sich auch am Kapital und per Statut stellte die Regierung drei der zwölf Mitglieder des Aufsichtsrates.19

1845 begann der Bau der Strecken, und zwar bei beiden Bahnunternehmen in Kurhessen unter der Leitung des belgischen Ingenieurs Splingard, der allerdings der deutschen Sprache nicht mächtig war. Da es zunächst an höher qualifizierten Fachkräften für den Bau und Betrieb von Bahnen in Kurhessen haperte, waren auf der Führungsebene der Bahnen mehrere Ausländer, überwiegend Belgier, tätig, die im Laufe der Jahre durch einheimisches Personal ersetzt werden konnten.20 Grundsätzlich galt für den Bau die Maßgabe, möglichst einheimische Arbeitskräfte einzusetzen und bei den Materiallieferungen die heimische Wirtschaft zu berücksichtigen – vor allem letzteres ließ sich angesichts dessen, dass es sich bei Eisenbahnen um etwas völlig Neues handelte, vielfach nicht verwirklichen.21

3: Einer von mehreren Entwürfen aus dem Jahr 1840 zur Anlage des Bahnhofes in Kassel beim Wesertor; HStAM

Trotz des gebirgigen Terrains hielt sich der Aufwand für große Kunstbauten in Grenzen. In der Region Kassel bedurfte es nur der Anlage eines Tunnels, und zwar an der als „Carlsbahn“ bezeichneten Stichstrecke nach Karlshafen. Der 202 Meter lange Tunnel war erforderlich, um einen Bergvorsprung ‚abzuschneiden‘. Landschaftsprägend wurde der Viadukt, der unmittelbar südlich von Guntershausen für die Strecke Richtung Bebra über das Fuldatal anzulegen war. 13 Bögen von je 16,50 Meter Spannweite zählte er, insgesamt betrug die Länge 314 Meter. Um im Flussbett keine größeren Widerstände aufzubauen, wurden die Pfeiler mit 3,30 Meter Fußbreite recht schmal gehalten. Das verhalf dem steinernen Bauwerk zu einem filigranen Aussehen. Beginnend im September 1848 zeigten sich an den Pfeilern Schäden, die unter anderem auf unzulängliche Druckfestigkeit der aus heimischen Brüchen verwandten Steine zurückgeführt wurden. Nachträglich eingeführte eiserne Verankerungen und andere Ausbesserungen vermochten Abhilfe zu schaffen, aber die Fertigstellung des betreffenden Streckenabschnittes erfuhr dadurch eine Verzögerung.22

4: Die landschaftsprägende Brücke über die Fulda bei Guntershausen bildete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch ein beliebtes Motiv für Landschaftsmaler; DGEG-Archiv

Den Abschnitt Kassel – Guntershausen bauten und betrieben beide Bahngesellschaften gemeinschaftlich. Jeweils ein Gleis befand sich im Eigentum einer Gesellschaft, wurde aber von den Zügen beider genutzt. Gemäß einem Vertrag vom 31. Dezember 1861 ging dieser Abschnitt vollständig in das Eigentum der MWB über, die KFWN besaß danach ein Mitbenutzungsrecht bis maximal zur Hälfte der Streckenleistungsfähigkeit.23

Die Strecken beider Unternehmen wurden abschnittsweise eröffnet (Tab. 1), als erster der Abschnitt von Grebenstein über Hümme bis Karlshafen am 30. März 1848. Dies war schon deshalb sinnvoll, weil ein Teil des für die Bahnen benötigten Materials auf der Weser per Schiff importiert wurde. In Gerstungen bestand vom Tag der Eröffnung an Anschluss bis Halle.

Zwischen Haueda an der Landesgrenze nach Westfalen und dem fünf Kilometer entfernten Warburg gehörte der am 18. März 1851 eröffnete Abschnitt der Westfälischen Eisenbahn, die sich im Eigentum des preußischen Staates befand. Aber diese kurze Teilstrecke wurde von der KFWN gepachtet und betrieben. Mit der Vollendung des Abschnittes Warburg – Paderborn am 22. Juli 1853 stand zwischen Kassel und Hamm in Westfalen eine durchgehende Bahnverbindung zur Verfügung.

1850 fiel beim Nachbarn Hannover endlich die Entscheidung zugunsten des Baus der sogenannten Hannoverschen Südbahn, einer Staatsbahn. Um die Berührung von hessischem Territorium zu vermeiden, führte die Strecke zwischen Göttingen und Hann. Münden über die Dransfelder Hochfläche. Das bedingte einen baulich aufwendigen Abschnitt, der auch betrieblich wegen starker Steigungen Schwierigkeiten bereiten sollte. Noch während des Baues dieser Linie kamen Kurhessen und Hannover 1852 zu einer Einigung über den Bahnbau zwischen Kassel und Hann. Münden. Die Strecke der Hannoverschen Südbahn wurde bis Kassel verlängert und dort in den Hauptbahnhof eingeführt. Am 23. September 1856 fand die Eröffnung dieser vierten von Kassel ausgehenden Strecke statt. Als bedeutendes Bauwerk wies sie bei Kassel die Talbrücke über die Fulda unmittelbar vor der schon mit Eröffnung der Bahn in Betrieb genommenen Station Ihringshausen auf.25

a) Kurfürst-Friedrich-Wilhelms Nordbahn

Karlshafen – Grebenstein 30. März 1848
Grebenstein – Kassel 20. August 1848
Bebra – Guxhagen 18. September 1848
Guxhagen – Guntershausen 29. August 1849
Hümme – Haueda 15. September 1849
Gerstungen – Bebra 25. September 1849

b) Main-Weser-Bahn

Kassel – Guntershausen 29. August 1849
Guntershausen – Wabern 19. Dezember 1849
Wabern – Treysa 2. Januar 1850
Treysa – Kirchhain 4. März 1850
Frankfurt – Friedberg 10. März 1850
Kirchhain – Marburg 3. April 1850
Marburg – Lollar 25. Juli 1850
Lollar – Gießen 15. August 1850
Friedberg – Butzbach 1. Dezember 1850
Butzbach – Langgöns 1. Mai 1851
Langgöns – Gießen 15. Mai 1852

Tab. 1: Eröffnungsdaten Kurfürst-Friedrich-Wilhelms Nordbahn und Main-Weser-Bahn24

Alle von Kassel ausstrahlenden Strecken waren zwar mit Unterbau für zweigleisigen Betrieb versehen, besaßen aber zunächst nur ein Gleis. Eine Ausnahme bildete, wie bereits erwähnt, der Abschnitt von Kassel nach Guntershausen. Nur eingleisig trassiert war in der Region Kassel lediglich die auch ansonsten mit bescheidenerem baulichen Standard wie etwa engeren Gleisradien (200 Meter) angelegte Stichstrecke nach Karlshafen.

Stationen hatten in der Region – außer Kassel – an den Hauptstrecken lediglich die Städte Grebenstein, Hofgeismar und Liebenau sowie die Dörfer Guntershausen, Mönchehof, Hümme und Ihringshausen bekommen, außerdem wurde ein Bahnhof „Wilhelmshöhe“ errichtet. Der Grund hierfür war in erster Linie das gleichnamige Schloss. Nutzer des Bahnhofes waren in hohem Maße die Bewohner des Dorfes Wehlheiden. An der Carlsbahn gab es Zwischenbahnhöfe in Trendelburg und Helmarshausen, außerdem hatte es das Gut Wülmersen vermocht, eine „Anhaltestelle“ durchzusetzen, die sich aber in den Fahrplänen nicht wiederfindet und schon in der ersten Hälfte der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts geschlossen wurde!26

Mit der Fertigstellung der Strecke Richtung Hannover gelangte auch die Einrichtung des Kasseler Bahnhofes weitgehend zu einem Abschluss – die Arbeiten an den Hochbauten zogen sich noch bis 1859 hin. Anfangs hatte man sich mit Blick auf den nicht feststehenden Zeitpunkt und die Art der Einführung der Strecke von Hannover mit provisorischen Bauten, u. a. mit einem vorläufigen Empfangsgebäude, begnügt. Der Kasseler Bahnhof, später als Kassel Oberstadt und schließlich auch offiziell (vgl. Anm. 15, S. 58) als Kassel Hauptbahnhof bezeichnet, war ein recht ausgedehnter Anlagenkomplex mit klarer funktionaler Dreiteilung: Im Osten das Empfangsgebäude mit den Bahnsteigen, im Süden ein ausgedehnter Werkstättenkomplex für die KFWN und die MWB sowie im Norden vornehmlich dem Güterverkehr dienende Bereiche. Als Architekt des Empfangsgebäudes gilt der Hofbaumeister Gottlob Engelhardt. Es handelte sich um ein Bauwerk in historisierendem Rundbogenstil mit Formelementen aus Romanik, Gotik und Renaissance. Für die übrigen Anlagenelemente dürfte Splingard maßgeblich gewesen sein. Es hat wohl eine stattliche Halle über dem Bahnsteigbereich gegeben. Zum Zeitpunkt der Erbauung war der breite, mittig gelegene Bahnsteig für ankommende Züge vorgesehen, während die beiden an den Flügeln gelegenen Bahnsteige abfahrenden Zügen dienten. Sobald Züge von einer auf die andere Strecke übergingen, dürfte von dieser Form der Bahnsteignutzung abgewichen worden sein. Zwei der an den beiden sehr schmalen Zungenbahnsteigen liegenden Gleise wurden allenfalls als Reserve für Züge genutzt und fungierten ansonsten zur Wagenaufstellung, die anderen beiden Gleise an diesen Bahnsteigen waren für den Lokomotivverkehr bestimmt.27

5: Kassels Bahnhof, etwa zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung; Hacault, Edmund: Der Eisenbahn-Hochbau, dargestellt in einer Sammlung ausgeführter Entwürfe von Bahnhöfen und den dazu gehörigen Baulichkeiten. Erste Abtheilung. Kurfürst-Friedrich-Wilhelms-Nordbahn, Main-Weser-Bahn. Berlin 1855 – Tafel 9, „Situationsplan des Haupt Bahnhofs zu Cassel“

Größere Stationsanlagen gab es weiterhin in Guntershausen und Hümme. In beiden Stationen befand sich das Empfangsgebäude mittig zwischen den Gleisen, es handelte sich also um Inselbahnhöfe. Die Station in Guntershausen wurde im ‚Richtungsbetrieb‘ betrieben, auf der Ostseite verkehrten die nordwärts fahrenden Züge, auf der Westseite die südwärts fahrenden. Die Trennung beider Strecken voneinander erfolgte südlich des Empfangsgebäudes. In Hümme konnten die Züge der Carlsbahn nur die Ostseite des Bahnhofes nutzen, während für die Züge der Hauptbahn beide Bahnhofsseiten zur Verfügung standen. Das Empfangsgebäude war hier nicht in der ursprünglich vorgesehenen Größe gebaut worden, da sich noch während des Baues die Einsicht durchgesetzt hatte, dass es sich mit seiner Lage zwischen den Gleisen kaum als Wohngebäude für Familien mit Kindern eigne. So entfiel das dafür ursprünglich vorgesehene Obergeschoss weitgehend. Mit Blick auf die nahe Wasserscheide Richtung Kassel, deren Bewältigung bei schweren Zügen Vorspann- oder Schiebelokomotiven erforderte, bekam Hümme eine Lokomotivstation mit zweigleisigem Lokschuppen. Eine Lokstation, hier für die Maschinen der Carlsbahn, erhielt auch der Bahnhof Karlshafen. Dieser Bahnhof war zwar kleiner als der in Hümme angelegt, wies aber, mit Blick auf den erwarteten Übergangsverkehr zur Weserschifffahrt, doch eine für die kleine Stadt beachtliche Ausdehnung auf. Ein Gleis führte vom Bahnhof zur Weser. Dort waren die zur Be- oder Entladung bestimmten Wagen mit Drehscheiben auf Gleise, die sich parallel zum Kai befanden, umzustellen. Schon zur Eröffnung waren die in den zuletzt genannten drei Bahnhöfen vorhandenen Wagenschuppen wegen Fortschritten in der Wagenbautechnik eigentlich überflüssig und wurden daher bald zu anderen Zwecken, etwa als Wohnungen, genutzt.28

Durchweg bescheidene Anlagen erhielten die Zwischenstationen, die Größe der Hochbauten variierte in Abhängigkeit von den Verkehrserwartungen. Gemeinsam ist den Empfangsgebäuden die Verwendung von unverputztem Ziegelmauerwerk. Auch besaßen sie einen kleinen, unterschiedlich angeordneten Turm, der die weithin sichtbare Stationsuhr aufnahm. Wieweit von diesen Türmen Signalgebungen zu den Zügen erfolgten, muss dahingestellt bleiben – dagegen spricht die Bedachung der Türme und die nicht immer in beide Fahrtrichtungen gegebene unbehinderte Sicht zu den Gleisen. Außerdem gemeinsam ist fast allen Empfangsgebäuden ein Raum für ‚hohe Personen‘, teilweise auch direkt als Raum für den Kurfürsten tituliert.29 Fürstenzimmer auf größeren Stationen waren damals zwar allgemein üblich, hier überrascht die Häufigkeit.

Ein stilistisches Unikat bildete das Empfangsgebäude in Wilhelmshöhe, indem hier zu den sonstigen typischen Gestaltmerkmalen ein gleisseitig angeordneter Balkon in der ersten Etage der zurückspringenden Mittelfront hinzugefügt wurde – wohl als Anpassung an das an Schloss- und Parkanlagen reiche Umfeld.30

6: Die Strecken wurden anfangs kreuzungsfrei nebeneinander in Kassels Bahnhof eingeführt; Zeichnung Lutz Münzer

7: Wesentlich schlichter gehalten als die Empfangsgebäude waren die übrigen Hochbauten wie dieses „Bahnwarts- und Waschhaus“ in Karlshafen; Hacault, Edmund: Der Eisenbahn-Hochbau, dargestellt in einer Sammlung ausgeführter Entwürfe von Bahnhöfen und den dazu gehörigen Baulichkeiten. Erste Abtheilung. Kurfürst-Friedrich-Wilhelms-Nordbahn, Main-Weser-Bahn. Berlin 1855 – Tafel 4, „Station Carlshafen“

An örtlichem Personal stand auf den Stationen neben den Vorstehern eine je nach Größe erheblich variierende Anzahl weiterer Arbeitskräfte zur Verfügung. So gab es 1853 bei der KFWN an Personal, welches den Verkehrs- und Betriebsdienst auf den Bahnhöfen wahrnahm, neben 20 Stationsvorständen 34 Weichensteller, 14 Nachtwächter, vier Portiers- und Zimmerwärter, zwei Perronwärter, einen Telegraphisten. Deutlich größer war die Anzahl derjenigen, die im Fahrdienst tätig waren mit über 60 Personen. Die zahlenmäßig größte Gruppe der Festangestellten bildeten die 215 Bahnwärter, denen neben der Sicherung der Bahnübergänge auch die Signalisierung für die Züge oblag.31

Abb. 8: Um Wagen zum Be- und Entladen an den Weserkai in Karlshafen zu stellen, bedurfte es der Benutzung von Drehscheiben; Slg. Lutz Münzer

3. Bescheidene erste Jahre

Die frühen Fahrpläne weisen aus heutiger Sicht bescheidene Bedienungshäufigkeiten auf: Zwei bzw. drei Zugpaare rollten 1850 über die ersten Streckenabschnitte. Genau drei Stunden betrug die Fahrzeit von Gerstungen nach Kassel, entsprechend einer Reisegeschwindigkeit von 26 km/​h – aus heutiger Sicht langsam, aber gegenüber den Geschwindigkeiten der Postkutschenkurse, die zwischen 6 und bestenfalls 10 km/​h lagen, ein enormer Fortschritt. Zugfrequenz und Fahrpreise standen einer Nutzung der Bahnen im Nahverkehr grundsätzlich entgegen, sie dienten in erster Linie dem Regional- und Fernverkehr.32 Dieser entwickelte sich zunächst schleppend: In den Jahren 1853 bis 1856 stagnierte die Beförderungsleistung bei der KFWN im Personenverkehr, um sich dann bis 1864 auf 280 Personen pro Kilometer und Tag zu verdoppeln. Anders beim Güterverkehr: Zwar hatte es hier 1853 sogar noch einen Einbruch gegeben, aber bis 1864 trat eine Verzehnfachung der Beförderungsleistung auf 565 Tonnen pro Kilometer und Tag ein.33 Beim Güterverkehr brachte offenbar die Vollendung der Strecke der Westfälischen Eisenbahn Richtung Ruhrgebiet den Durchbruch. Vier Zugpaare zwischen Kassel und Warburg sowie fünf zwischen Gerstungen und Kassel, darunter jeweils ein Schnell- und ein Güterzugpaar – wobei letzteres auch Reisende beförderte – enthielt der Fahrplan des Jahres 1856. Auf der Carlsbahn verkehrten im Winter zwei, im Sommer drei Zugpaare. Ungenügende Auslastung des im Sommer fahrenden Zugpaares – 15 Reisende pro Fahrt – gab Anlass dazu, im Sommer 1858 diesen Zug zu streichen.34 Insgesamt war man enttäuscht von der Entwicklung auf der Carlsbahn. Der Anschluss Hannovers an den Deutschen Zollverein hatte 1851 die Zollgrenze zwischen diesem Land und Kurhessen beseitigt, sodass der Weserhafen Hann. Münden für Hessen an Bedeutung gewann, umso mehr nach Fertigstellung der Bahnverbindung nach Kassel.35

Da vor allem der Güterverkehr zunahm, beschränkte sich die Beschaffung neuen, zusätzlichen Rollmaterials in den Jahren bis 1866 bei der FWNB auf Lokomotiven und Güterwagen. Die Zahl ersterer stieg von 18 im Jahr 1849 auf 40 im Jahr 1866. Der Bestand an Güterwagen nahm von 207 im Jahr 1851 auf 337 im Jahr 1866 zu.

Ähnlich dürfte die Entwicklung bei der MWB gewesen sein, wobei hier sich der Güterverkehr eher schwächer entwickelte. Die Rentabilität beider Bahnunternehmen ließ anfangs zu wünschen übrig – die Verzinsung des Anlagekapitals betrug 1853 nur 1,62 % bei der KFWN bzw. 3,39 % bei der MWB. Zum Vergleich: Die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn erreichte im gleichen Jahr den Spitzenwert von 12,88 %36. Die unzulängliche Rentabilität wog umso schwerer, weil die Anlage der Bahnen in Kurhessen reichlich Kapital band. So betrug das Anlagekapital der KFWN Ende der 50er Jahre 34 Mio. Taler, während sich für die Jahre 1858 bis 1860 die Staatseinnahmen und -ausgaben Kurhessens auf je ca. 15 Mio. Taler beliefen.37

Größere bauliche Veränderungen an den Bahnen unterblieben, jedoch erhielt die MWB in der ersten Hälfte der 60er Jahre auf ganzer Länge ein zweites Gleis.

Bei der Lokomotivbeschaffung kam die Firma Henschel gut ins Geschäft: Die erste Lokomotive überhaupt, der „Drache“, wurde 1848 an die KFWN geliefert.38 Der Mut der Bahn, dem Neuling im Lokbau zu vertrauen, hat sich offenbar bewährt: 1853 stammten bereits acht der damals 26 Lokomotiven von Henschel, die übrigen von verschiedenen Herstellern, darunter vier von Stephenson. 1868 waren 23 der nun 38 Lokomotiven Henschelfabrikate.39 Auch bei der MWB vermochte Henschel zu überzeugen: Schon 1853 stammten neun der 20 Lokomotiven von hier, in den nächsten Jahren folgten weitere Lieferungen.40

4. Neue Strecken, große Ausbauten, gewandelte Strukturen: 1866 bis 1881

4. 1. Die direkte Verbindung Halle – Kassel kommt

Als Folge des ‚Deutschen Krieges‘ von 1866 annektierte Preußen die Staaten Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt. Der Fortfall der Landesgrenzen hatte unmittelbar Konsequenzen: Seit den 50er Jahren waren, ausgehend u. a. von den Städten des Eichsfeldes, Bestrebungen im Gange, doch eine Bahn von Halle nach Kassel durch diesen Landstrich anzulegen. 1857 begannen Verhandlungen zwischen der Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn und dem preußischen Staat über den Bau der Strecke. 1862 kam es zu einer vertraglichen Regelung – der preußische Staat hatte angesichts der ungewissen Rentabilität des Vorhabens eine Zinsgarantie für das Baukapital geben müssen. Drei Jahre später wurde vertraglich zwischen der Eisenbahngesellschaft und Kurhessen der Streckenbau auf kurhessischem Territorium ermöglicht. Um eine Berührung von hannoverschem Gebiet zu vermeiden, war auf hessischer Seite die topographisch anspruchsvolle und betrieblich problematische Linienführung über Witzenhausen durch den Meißner ins Lossetal nach Kassel vorgesehen. Schon am 8. September 1866 – der offizielle Anschluss Kurhessens an Preußen war noch nicht erfolgt – beantragte die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn beim preußischen Staat, von dieser Linienführung Abstand nehmen zu dürfen zugunsten einer Trassierung ab Witzenhausen im Werratal bis Hann. Münden mit Anschluss an die Strecke von Hannover. Am 24. Mai 1869 wurde die Konzession für diese Linienführung erteilt, 1872 ist die Strecke vollendet worden.41

9: 1870 war mit der Bahn vom Eichsfeld nach Kassel noch über Göttingen zu fahren; Zeichnung Lutz Münzer

Damals stand bereits seit fast fünf Jahren eine durchgehende Bahnverbindung zwischen Halle und Kassel durch das Eichsfeld zur Verfügung: Die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn hatte den Bahnbau Richtung Kassel von Halle ausgehend vorangetrieben. 1863 war es zu einer Einigung zwischen Hannover und Preußen über den Bau einer Strecke von Göttingen über Friedland nach Arenshausen, einem zukünftigen Stationsort an der Bahn Halle – Kassel gekommen. Diese kurze Verbindungsstrecke wurde am 1. August 1867 vollendet. Da bereits seit dem 9. Juli 1867 von Halle bis Arenshausen gefahren werden konnte, stand nun eine durchgehende Eisenbahnverbindung zwischen Halle und Kassel, jedoch mit Fahrtrichtungswechsel in Göttingen, zur Verfügung. Sie stellte mehr als nur ein Provisorium dar. Es hat Fahrplanabstimmungen im Bahnhof Göttingen im Interesse einer Verbesserung der Verbindung Kassel – Halle gegeben, und im Deutsch-Französischen Krieg war gerade der Abschnitt Arenshausen – Göttingen – Kassel durch Militärtransporte derart hoch belastet, dass die Wiederaufnahme des zivilen Verkehrs hier länger auf sich warten ließ als auf manchen anderen Strecken der Hannoverschen Staatsbahn.42

Zurück zur direkten Strecke Halle – Kassel: 1866 waren die Planungen für die neue Strecke im Stadtgebiet von Kassel nicht abgeschlossen. Mit der Genehmigung der Anbindung in Hann. Münden an die Strecke Kassel – Hannover waren folgende Auflagen für die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahngesellschaft verbunden:

• Verlegung des zweiten Streckengleises auf ihre Kosten auf der hannoverschen Südbahn zwischen Hann. Münden und Kassel,

• Anlage eines eigenen Güterbahnhofes in der Kasseler Unterstadt,

• Anlage einer Zweigbahn von dem zukünftigen Bahnhof in der Unterstadt nach Helsa.

Den ersten beiden Verpflichtungen kam die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahngesellschaft bis zur Fertigstellung der durchgehenden, direkten Strecke Halle – Kassel mit der Eröffnung des Abschnittes Arenshausen – Eichenberg – Hann. Münden am 13. März 1872 nach. Anfangs verkehrten zwei durchgehende Zugpaare zwischen Kassel und Halle zuzüglich weiterer lediglich auf Teilstrecken eingesetzter Kurse. Etwa 6 1/​2 Stunden betrug die Fahrzeit für die 217 Kilometer lange Verbindung, entsprechend einer Reisegeschwindigkeit von 33 km/​h.43 Die kurze Stichbahn zum Güterbahnhof Kassel Unterstadt wurde am 24. April 1872 eröffnet. Von der Firma Henschel führte zeitgleich oder zumindest zeitnah ein Anschlussgleis zu diesem Bahnhof, sodass die zuvor nötigen beschwerlichen und auch gefährlichen Transporte neuer Lokomotiven auf von Pferden gezogenen Transportwagen zum Hauptbahnhof entfielen. Andere Firmen folgten mit der Anlage eigener Anschlüsse zu der Strecke in die Unterstadt.44

4. 2. Die Waldkappeler Bahn

Am 30. November 1872, acht Monate nach der Vollendung der Strecke Halle – Kassel, legte die preußische Staatsregierung dem Landtag den Entwurf eines Gesetzes vor, in dem u. a. die Bereitstellung der Baumittel für eine Bahn von Berlin nach Wetzlar beantragt wurde. Begründet wurde die Vorlage damit, dass die einzelnen, zum Teil nur wenige Strecken umfassenden Eisenbahnnetzelemente des Staates im Osten und im Westen bisher durch Privatbahnen miteinander verknüpft seien. Nun sollten sie durch eine staatseigene Bahn miteinander verbunden werden, diese neue Linie würde Abkürzungen gegenüber vorhandenen Verbindungen ermöglichen und ließe erhebliches eigenes Aufkommen erwarten. Schließlich gab es, was angesichts der mittlerweile großen Bedeutung der Eisenbahn für die Kriegführung nicht überraschen konnte, nachvollziehbare militärische Gründe für den Bau. Da diese neue Strecke die beiden Endpunkte möglichst direkt miteinander verbinden sollte, kam eine Führung über Kassel nicht in Frage. Stattdessen sollte zwischen Leinefelde im Eichsfeld und Treysa an der MWB der Weg über Eschwege – Niederhone – Waldkappel – Burghofen – Malsfeld – Homberg (Efze) eingeschlagen werden. Die Gesetzesvorlage fand im folgenden Jahr die Zustimmung des Parlamentes.

10: Zuerst war die Waldkappeler Bahn als Zubringer zur Strecke Leinefelde – Treysa konzipiert; Zeichnung Lutz Münzer

Das Projekt der Berlin-Wetzlarer Bahn löste zahlreiche Eingaben aus, welche auf die Modifizierung der Linienführung im Interesse nahe gelegener Orte abzielten. So petitionierten die Städte Hessisch Lichtenau und Großalmerode bei der Regierung dahingehend, die neue Linie über Hessisch Lichtenau zu führen oder wenigstens, wenn schon das nicht in Betracht käme, Sorge dafür zu tragen, dass das Projekt Kassel – Helsa der Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn vorankäme. Die Gesellschaft hatte sich zwar 1870 des Projektes angenommen, verzögernd wirkte aber die voraussichtlich unzulängliche Rentabilität des Bahnbaus. Hinzu kam, dass die Wirtschaftlichkeit der Gesamtstrecke Halle – Kassel zu wünschen übrig ließ. Der preußische Staat war bereits für die erwähnte Zinsgarantie (vgl. S. 17) finanziell in Anspruch genommen worden. Unter diesen Umständen wies die Regierung die staatseigene Eisenbahnverwaltung an, eine Verbindungsstrecke zwischen dem an der zukünftigen Berlin-Wetzlarer Bahn gelegenen Ort Waldkappel und Kassel über Hess. Lichtenau und Helsa zu planen. Damit erübrigte sich das Vorhaben einer Nebenbahn von Kassel Unterstadt nach Helsa. Stattdessen kam es im Frühjahr 1874zur Bewilligung des Baues einer Strecke von Waldkappel nach Kassel, anzulegen als Bahn mit zweigleisigem Unterbau, aber zunächst nur einem Streckengleis. Begründet wurden die Aufwendungen dafür mit der Verpflichtung des Staates, für die wenige Jahre zuvor versprochene Bahnanbindung von Helsa zu sorgen und mit der Notwendigkeit einer Zubringerlinie für die Berlin – Wetzlarer Bahn als Teil einer neuen durchgehenden Verbindung Berlin – Kassel. Verwiesen wurde in der Gesetzesbegründung auch auf „lokale Interessen“, auf umfangreiche Holzbestände sowie große Basalt- und Sandsteinlager, deren Ausbeutung durch die neue Bahn erleichtert würde. Vorgesehen war die Führung der Bahn in weitem Bogen um Kassel herum mit einer Station östlich des Bahnhofes Kassel-Wilhelmshöhe und der Einführung in den Hauptbahnhof. Die maximalen Neigungen sollten 1 : 90 betragen.45 In der am 17. Juni 1874 bewilligten Form ist die Strecke, später als ‚Waldkappeler Bahn‘ bezeichnet, nicht gebaut worden, genauso wenig wie die Berlin-Wetzlarer Bahn. Bei einzelnen Abschnitten dieser hatte der Bau schon begonnen, als sich der preußische Staat dazu entschloss, zum Staatsbahnsystem überzugehen, d. h. unter Rückgriff auf einen entsprechenden Paragraphen im preußischen Eisenbahngesetz von 1838 die Privatbahngesellschaften aufzukaufen.46

Eines der ersten ‚Opfer‘ dieser neuen Politik bildete die Magdeburg-Cöthen-Halle-Leipziger Eisenbahn. Am 25. März 1876 legte die preußische Regierung dem Landtag den Entwurf eines Gesetzes vor, welches u. a. die Übernahme der Strecke Halle – Nordhausen – Kassel durch den Staat vorsah. Begründet wurde das damit, dass so ein Verbindungsglied zwischen den östlichen und westlichen Netzteilen der Staatseisenbahnverwaltung in die Hände des Staates gelange. Die ursprünglich auf längeren Abschnitten östlich von Leinefelde vorgesehene parallele Führung einer privaten und einer staatseigenen Strecke (der Berlin-Wetzlarer Bahn) erübrige sich dadurch. Das sei umso mehr im staatlichen Interesse, weil der Staat für seine Zinsgarantie für das Kapital der privaten Strecke schon mehrfach in Anspruch genommen worden war. Das Vorhaben erhielt am 7. Juni 1876 Gesetzeskraft. Nun zeichnete sich doch ab, dass der Fernverkehr auch zukünftig von Halle über Kassel geführt würde. Die im Bau begriffene Strecke Leinefelde – Waldkappel – Treysa büßte an Verkehrswert ein und damit auch die als Zubringerstrecke vorgesehene, zwar genehmigte, aber noch nicht gebaute Strecke von Waldkappel nach Kassel. Sie wurde in abgespeckter Form mit Neigungen von 1 : 60 und minimalen Radien von 300 m gebaut. Von Anfang an fanden die 1878 erlassenen Bestimmungen für den Nebenbahnbetrieb auf sie Anwendung. Angebunden an das Streckennetz wurde die neue Linie im Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Im Sommer 1880 verkehrten auf der Nebenbahn drei Reisezugpaare, davon eines nur zwischen Kassel und Hess. Lichtenau. Reine Güterzüge wird es vermutlich noch nicht gegeben haben.47 Die Hochbauten dieser neuen Strecke unterschieden sich markant von denen der bisher gebauten: Schmuckloses, mit Ziegeln ausgemauertes Fachwerk war für die Empfangsgebäude und Güterschuppen typisch, Dienstwohngebäude wurden, gleichfalls schmucklos, als Ziegelbauwerke ausgeführt.48

4. 3. Unverwirklichte Ausbauplanungen im Norden der Region

Als Folge der Annexion Kurhessens und der Freien Stadt Frankfurt wurde Preußen 1866 Eigentümer von deren Anteilen an der MWB. Auf die KFWN nahmen die neuen Landesherren Einfluss, indem sie hier in einer Generalversammlung der Aktionäre am 27. Dezember 1866 folgende Beschlüsse durchsetzten:

• Die Gesellschaft änderte ihren Namen in „Hessische Nordbahn“.

• Vorbehaltlich der Unterstützung seitens der lippischen Landesregierung sollte die Bahn den Bau einer Strecke von Karlshafen über Detmold – Herford nach Lemförde anstreben. In Lemförde hätte Anschluss an die in der Planung befindliche Strecke Osnabrück – Bremen – Hamburg der Köln-Mindener Eisenbahn bestanden, sodass eine einigermaßen direkte Nord-Süd-Verbindung zwischen Nordhessen und Bremen entstanden wäre.

• Das Direktorium wurde ermächtigt, die Verwaltung und den Betrieb der preußischen Regierung zu übertragen.

11: Bahnstrecken und bei Streckenplanungen wichtige Orte nördlich von Kassel im Jahr 1870; Zeichnung Lutz Münzer

Nach Fremdling, Federspiel und Kunz, Eisenbahnstatistik (wie Anm. 2