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Das Buch

Woher rührt der Hass der Islamisten gegen den Westen? Und was verdrängt der Islam in Wahrheit, wenn er das Weibliche unterdrückt? Slavoj Žižek bietet hierzu gewagte Thesen: Er zeigt, dass der Konflikt zwischen tolerantem Liberalismus und religiösem Fundamentalismus nicht nur dem Gegensatz zwischen westlichem Wohlstand und dem Bedürfnis nach religiöser Transzendenz entspringt, sondern dass der Fundamentalist dabei auch sein Unterlegenheitsgefühl bekämpft sowie seinen eigenen Hedonismus, den er sich nicht zugesteht, während die Islamisten ihr Mantra der religiösen Disziplin durch die Gewaltexzesse konterkarieren, die sie im Namen ihrer Religion begehen. Doch wieso verachtet der Islamismus das liberale Konzept, andere nicht durch Zwang, sondern durch Argumente zu überzeugen? Weil er jede Form der Verführung fürchtet – die geistige wie auch jene durch die Frau, die er unterdrückt und zur Unkenntlichkeit verschleiert. Der Grund dafür geht weit über das Sexuelle hinaus: Die Frau, nicht der Mann, ist im Islam das ursprüngliche Bindeglied zur göttlichen Wahrheit – und kann diese Wahrheit und den ganzen Glauben ins Wanken bringen.

Der Westen muss auf seinen universellen Werten bestehen. Allerdings ist nicht der tolerante, aber kraftlose Liberalismus, sondern die säkulare Linke die einzige Kraft, die wir dem islamistischen Fundamentalismus entgegensetzen können.

Der Autor

Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, ist Philosoph, Kulturkritiker und Theoretiker der Psychoanalyse. Er hat zahlreiche Gastprofessuren im Ausland inne, unter anderem an der Columbia University und in Princeton. Bekannt geworden ist er durch die Weiterentwicklung der Psychoanalyse Lacans ins Feld der Populärkultur und Gesellschaftskritik. Zudem setzt er sich mit Hegel und Marx, Poststrukturalismus, Medientheorie, Feminismus und Cultural Studies auseinander. Er zählt zu den wichtigsten Denkern unserer Zeit.

SLAVOJ ŽIŽEK

BLASPHEMISCHE GEDANKEN

ISLAM UND MODERNE

Aus dem Englischen
von Michael Adrian

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

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Der Originaltitel des Textes lautet Islam and Modernity:
Some Blasphemic Reflexions.


ISBN 978-3-8437-1140-1


© 2015 für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

© 2015 Slavoj Žižek

© 2015 Adriano Salani Editore s. u. r. l. – Milano

Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Umschlagfoto: getty images/Matt Can/Kontribution

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Einleitung

Jetzt, nach dem Schock über das Gemetzel in der Redaktion von Charlie Hebdo, ist der Moment gekommen, um Mut zum Nachdenken zu finden. Jetzt und nicht später, wenn sich die Dinge legen, wie uns die Freunde billiger Weishei­ten zu überzeugen suchen. Die Herausforderung besteht genau darin, den Akt des Denkens mit der Hitze des Augenblicks in Einklang zu bringen. In der Kälte des Danach zu reflektieren führt nicht zu einer ausgewogeneren Wahrheit, sondern normalisiert die Situation und erlaubt uns, der Schneide der Wahrheit auszuweichen.

Denken heißt, über das Pathos der allgemeinen Solida­rität hinauszugehen, das in den Tagen nach den Attentaten explodierte und in dem Spektakel vom 11. Januar 2015 seinen Höhepunkt fand. An jenem Sonntag hielten politische Größen aus der ganzen Welt miteinander Händchen, von David Cameron bis Sergei Lawrow, von Benjamin Netan­jahu bis Mahmud Abbas. Wenn es je ein Bild der Heuchelei gab, dann dieses.

Als die Pariser Prozession unter seinem Fenster vorbeizog, ließ ein unbekannter Bürger Ludwig van Beethovens »Ode an die Freude« aus seinen Lautsprechern erschallen, die inoffizielle Hymne der Europäischen Union, was ein wenig politischen Kitsch über das abstoßende Spektakel goss, Wladimir Putin, Netanjahu & Co beim Turteln zu erleben – genau die Oberhäupter also, die für den Schlamassel verantwortlich sind, in dem wir stecken. Obwohl ich ein ausgemachter Atheist bin, glaube ich, dass das selbst Gott zu viel war und er sich daher genötigt sah, mit einer Obszönität einzugreifen, die Charlie Hebdo alle Ehre gemacht hätte: Als Präsident François Hollande vor den Redaktionsräumen des Magazins den Arzt und Charlie-Kolumnisten Patrick Pelloux umarmte, erleichterte sich ein Vogel auf der präsidialen Schulter, woraufhin einige Redakteure der Zeitschrift Mühe hatten, einen Lachanfall zu unterdrücken – dies war eine wahrhaft göttliche Antwort des Realen auf das abstoßende Ritual. Und tatsächlich hätte die wahre Charlie Hebdo-­Geste in einem Titelbild bestanden, das dieses Ereignis rabiat und geschmacklos verspottet, mit Karikaturen von Netanjahu und Abbas, Lawrow und Cameron sowie weiteren Paaren, die sich leidenschaftlich umarmen und küssen, während sie hinter ihren Rücken die Messer wetzen.

Ein Aspekt der jüngsten Ereignisse in Frankreich blieb bei alldem weitgehend unbemerkt: Nicht nur waren überall Anstecker und Poster mit der Aufschrift »Je suis Charlie« zu sehen, sondern auch welche mit »Je suis flic«! Die nationale Einheit, die auf großen öffentlichen Versammlungen gefeiert und inszeniert wurde, war nicht nur eine Einheit des Volkes, die alle ethnischen Gruppen, Klassen und Religio­nen einbezog, sondern auch (und vielleicht vor allem) die Vereinigung der Menschen mit den Ordnungs- und Kontrollkräften.

Frankreich war (soweit ich weiß) bislang das einzige westliche Land, in dem Polizisten unentwegt als Zielscheibe grober Witze herhalten mussten, in denen sie grundsätzlich als dumm und korrupt dastanden – so wie es früher in den exkommunistischen Ländern gang und gäbe war. Heute, nach den Charlie-Morden, wird die Polizei beklatscht, gepriesen und als beschützende Mutter umarmt – und nicht nur die Polizei, sondern auch die Sondereinsatzkräfte (1968 skandierte man noch »CRS SS«, wenn es um die Compagnies Républicaines de Sécurité ging), die Geheimdienste, der ganze Sicherheitsstaatsapparat. In diesem neuen Universum ist kein Platz für Edward Snowden oder Chelsea Manning – oder, um es mit Jacques-Alain Miller zu sagen: »Das Ressentiment gegen die Polizei ist auch nicht mehr das, was es einmal war, außer unter den armen Jugendlichen arabischer oder afrikanischer Herkunft. So etwas hat man in der Geschichte Frankreichs noch nicht gesehen.« Was man in Frankreich wie auch sonst überall in seltenen, privilegierten Momenten sehen kann, ist die ekstatische »Osmose einer Bevölkerung mit der nationalen Armee, die sie vor äußeren Bedrohungen schützt. Aber Liebe einer Bevölkerung zu den Kräften der inneren Repression?«1

Die terroristische Bedrohung hat also das Unmögliche möglich gemacht: Sie hat eine Versöhnung der revolutionä­ren Achtundsechziger-Generation mit ihrem Erzfeind bewirkt, was einer französischen populären Version des ame­ri­ka­nischen Patriot Act gleicht, die unter öffentlichem Applaus stattfand und bei der sich die Leute selbst der Überwachung an­boten. Wie konnte es so weit kommen?