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Carola Clasen
Nirgendwo in der Eifel

Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« ist Mitglied im Syndikat, lebt und arbeitet in Hürth.

Carola Clasen

Nirgendwo
in der Eifel

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Originalausgabe
© 2012 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlagillustration: Ralf Kramp
unter Verwendung von: © lassedesignen - www.fotolia.de
Print-ISBN 978-3-942446-74-7
E-Book-ISBN 978-3-95441-251-8

»Wir befinden uns im Jahre 50 v. Chr.
Ganz Gallien ist von den Römern besetzt … Ganz Gallien?
Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.«

(aus der Einleitung zu allen Asterix-Heften)

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Danken möchte ich:

1. Kapitel

Magnus Faber hatte Eva Zimmermann in der Mittagspause zu einem Picknick eingeladen. Sie saßen unter einer Linde, auf einer karierten Wolldecke, umgeben von einem Meer von Narzissen, und froren. Es war viel zu kalt für ein Picknick, es waren die Iden des März, der erste der vier Tage, und im Rasen schimmerte silbern der Tau.

Eva musste ahnen, dass es einen besonderen Anlass gab, denn für gewöhnlich verließ Magnus seine Buchhandlung auf der Burgstraße nur, um in sein Hinterzimmer hinein oder die Treppe hinauf in seine dunkle Wohnung oder einmal am Tag bis zum gegenüberliegenden Haus zu gehen, um von dort den Eindruck zu überprüfen, den die Schaufenster auf Vorübergehende machen mussten.

Magnus wusste nicht, wie er es Eva sagen sollte. Es war ein schwieriges Thema, und er fürchtete ganz besonders ihren vorwurfsvollen Blick. Ihre Augen waren von einem irritierenden Blau. Er wusste nicht, wo er beginnen sollte. Aber als plötzlich ein Wind aufkam und alles so ins Wehen und Wanken geriet, flossen die Sätze, die er eigentlich zu einem späteren Zeitpunkt und in einer anderen Reihenfolge hatte sagen wollen, förmlich aus ihm heraus: »Unsere Wege müssen sich trennen. Ich kann mir dein Gehalt nicht mehr leisten. Ich zahle dir einen vollen Monatslohn als Abfindung.«

Kaum war die letzte Silbe verklungen, warf Magnus sich drei der kleinen Kirschtomaten hintereinander in den Mund – wie ein Jongleur – und beobachtete angestrengt das Narzissenmeer. Blumenköpfe wiegten sich im Wind. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Eva ihre dunkelbraunen Haare, die sie wie eine Löwenmähne trug, schüttelte. Sie wehrte sich, damit hatte er gerechnet.

»Was soll dann aus mir werden?«, rief sie aufgebracht.

»Es tut mir leid, aber es geht nicht anders«, antwortete er mit vollem Mund, ohne sie anzusehen.

»Doch, wenn Sie mich heiraten würden, Herr Faber!«

Magnus sprang auf, als hätte ihn ein Blitz getroffen, und griff sich an die Kehle. Als er die Tomaten endlich in die Wiese spucken konnte, fühlte er sich nicht besser. Noch nie in der Weltgeschichte hatte eine Heirat jemanden vor irgendetwas bewahrt. Eva verkannte den Ernst der Lage.

Sie war Magnus’ einzige Angestellte, ging ihm auch privat zur Hand, kaufte für ihn auf dem Wochenmarkt ein und brachte seine Wäsche in die Wäscherei, damit er das Haus nicht verlassen musste. Sie würde ihm fehlen. Sie war Anfang dreißig und bekam für ihre Tätigkeit 100 Euro pro Woche. Das war mehr Geld, als er in letzter Zeit für sich selbst hatte.

Mit einem Ruck zog Magnus die karierte Wolldecke unter Eva und dem Picknick hervor, rollte sie unter seinem Arm zusammen und stapfte davon.

»Herr Faber«, rief sie ihm nach. »Warum eigentlich nicht?«

Er mochte ihr mit seinen 37 Jahren als ein idealer Mann zum Heiraten erscheinen. Aber das war ein Irrtum – obwohl er ledig und alleinstehend war und auch kein Scheidungsopfer. Aber Eva hatte keine Ahnung, wie es um ihn stand. Von seinem Kredit wusste sie nichts. Außerdem war sie fast einen Kopf größer als er.

»Aber zusammen und mit vereinten Kräften könnten wir Ihr Geschäft retten«, hörte er sie rufen. »Herr Faber! Wir müssten es nur renovieren und vor allem endlich K…«

Magnus hielt sich die Ohren zu, er wollte nichts mehr hören. Nicht schon wieder hören, was sie aus der Buchhandlung machen wollte, da sie doch gut war, wie sie war. Vor allem nicht hören, wenn sie dieses unaussprechliche Genre aussprach, obwohl sie genau wusste, was er davon hielt. Pro Kapitel zwei Tote und drei Vergewaltigungen und zwei Tüten Drogen. Das wusste er, ohne jemals so ein Buch gelesen zu haben. Besonders brutal mussten die amerikanischen Werke sein.

Ein letztes Mal blickte er sich nach Eva um. Wie wild trommelte sie auf ihre Oberschenkel. Sie musste den Verstand verloren haben.

Magnus sah zu, dass er in sein Geschäft kam, verbrachte den Rest des Tages hinter seiner Kasse und sehnte mit geschlossenen Augen den Ladenschluss herbei. Nie war er glücklicher über den Mangel an Kunden als heute.

Um 18.30 Uhr verriegelte er die Türe, löschte das Licht, kniete in seinem Hinterzimmer vor der bunten Dreibeinliege nieder und zog einen kleinen Koffer hervor, einen rissigen Lederkoffer mit verbeulten, rostigen Metallbeschlägen. Er ließ die Schlösser aufschnappen, schob den Deckel auf und atmete den aufsteigenden Duft ein. Sogleich wurde ihm wohler.

Da lag es, schillernd wie Seetang. Mutters grünes Kleid. Magnus liebte es, wie es bei jeder Berührung knisterte und kleine Funken schlug in der Dunkelheit. Das Kleid war knitterarm und bis zu einem gewissen Grad dehnbar, wie die sich darunter schlängelnde Stola, deren Maschen mit den Jahren weit geworden waren. Das Rosa der Stola erinnerte Magnus an zartes Krabbenfleisch. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf die Liege fallen, knetete Kleid und Stola in seinem Schoß und sah zur Zimmerdecke, wo sich ein Schimmelfleck ausbreitete wie das zerklüftete Ufer einer Insel im Meer. Von dort wanderte sein Blick zu dem alten Ölgemälde an der Wand.

Die Staumauer der Olef bei Mitteldorf

Ein friedliches Bild. Staumauer, Wasser, Wald, ein wolkenloser Himmel, und am linken Bildrand hatte sich ein kleines, verwinkeltes Dorf eingenistet. Inmitten all der roten Hausdächer, aus denen kleine Schornsteine wuchsen, ragte ein Denkmal in Form eines Obelisken empor. Am rechten Bildrand erhob sich ein Hügel, auf dem ein Kreuz und eine Kirche mit einem eckigen Turm vor einem hellblauen Himmel standen. Das Zifferblatt war aus purem Gold.

Das Gemälde war ein Prunkstück, etwa einen Meter breit und 80 Zentimeter hoch, und steckte in einem barocken Rahmen. Magnus kannte jeden Pinselstrich auf der Leinwand, jede Welle auf dem See, jeden Pfeiler der mächtigen Staumauer, jeden Baum des dunklen, undurchdringlichen Waldes. Der Name des Malers, der sein Werk am unteren Bildrand signiert hatte, setzte sich aus einer Fülle von Haken zusammen. Magnus kannte ihn nicht, genauso wenig wie er die Olef und erst recht nicht Mitteldorf kannte. Er wusste nur, dass beides in der Eifel lag. Weit weg.

Er hatte das Rheinland und die Stadt Brühl nie verlassen müssen. Aber er hatte eine klare bildliche Vorstellung von der Eifel, denn seine Mutter hatte ihm viel von ihrer Heimat erzählt. Eines Tages wäre sie sicher dorthin zurückgekehrt, mit Mann und Sohn, wenn sie nicht vorher gestorben wäre. An ihrer Krankheit.

Drei Jahre lang hatte sein Vater nach ihrem Tod ausgehalten, bevor auch er starb, erschöpft von der Trauer um seine Frau, und seinem Sohn Magnus alles vererbte, was er besaß. Außer Faber, einer schlecht gehenden Buchhandlung mit einem Sortiment, das zwar alt und staubig war, aber nicht alt genug, um ein Antiquariat zu sein, erbte Magnus einen schwarzen Opel Rekord, Baujahr 1957, Eva Zimmermann, Schulden in Höhe von rund 25.000 Euro und 155,97 Euro in der antiquierten Kasse.

Magnus Faber liebte Bücher, Erstausgaben, signierte Werke, vergriffene Exemplare, antiquierte Einzelstücke, ihm war fast jedes Genre recht. Bücher waren sein einziger Lebensinhalt.

Einen Führerschein besaß Magnus nicht, und von Frauen hatte er überhaupt keine Ahnung. Wenn er an gewisse Teile ihres Körpers dachte, wurde er nervös, sie schienen ihm problematisch.

Auch von Geld verstand er nichts, ahnte aber, dass er auch ohne die Schulden mit 155,97 Euro nicht weit kommen konnte.

Ein Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf und konnte von seiner Dreibeinliege aus über den geraden, dunklen Gang hinweg sehen, wie am Telefon ein rotes Licht bei jedem Ton aufflackerte. Telefon nach Ladenschluss? Das konnte nur Eva sein. Magnus ließ es klingeln. Sie wollte weiter diskutieren. Er nicht. Aber aus der Art, wie es hartnäckig weiter klingelte, konnte er annehmen, dass sie sich entschuldigen wollte. Vielleicht wollte sie das Entsetzliche zurücknehmen, das sie vorgeschlagen hatte, sein Angebot annehmen, den letzten Monatslohn kassieren und friedlich von dannen ziehen.

Zögernd erhob Magnus sich, warf Kleid und Stola zurück in den Koffer und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er konnte immer noch den Hörer auflegen, wenn es ihm zu bunt wurde. Auf halbem Wege von seinem Hinterzimmer über den dunklen Gang zur Kasse hörte es allerdings auf zu klingeln.

Kaum lag er wieder, hämmerte jemand gegen die Ladentür.

»Herr Faber?«

Das war nicht Evas Stimme.

Er war zwei Köpfe größer als Magnus, der Mann, der im schwarzen Anzug vor ihm stand. Er war hager und trug sein rötliches Haar im akkuraten Herrenschnitt.

»Sind Sie Magnus Bernhard Theodor Faber?«, fragte er, blickte auf Magnus herab und zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Ja?«

»Mein Name ist Oskar Pesch.«

Als Magnus nach dem Tod seines Vaters den Kredit von 50.000 Euro bei Pesch & Söhne aufnahm, um die alten Schulden von 25.000 Euro zu bezahlen und mit dem Rest zu überleben, hatte er Oskar Pesch nur am Telefon gesprochen. Später hatte er ihn ein einziges Mal vor seiner Ladentür angetroffen. Dunkelheit und Regen und Aufregung hatten nur eine sehr vage Erinnerung an ihn zurückgelassen.

»Heute ist der 15. März«, sagte Pesch.

»Ich weiß«, sagte Magnus. Niemand wusste das besser als er. Nicht zufällig hatte er sich als Rückzahlungsdatum den ersten Tag der Iden des März ausgesucht.

»Die drei Jahre sind vorbei«, behauptete Pesch.

»O nein«, widersprach Magnus mutig. »Sie kommen ein ganzes Jahr zu früh, Herr Pesch.«

»Nein, heute ist es soweit«, beharrte Pesch.

»Sie irren.« Magnus war ganz sicher, dass ihm noch ein Jahr blieb. Hatte er nicht heute Eva entlassen, um ab sofort und für ein Jahr lang ihr Gehalt einzusparen? Es mussten Schriftstücke existieren. Irgendwo.

»Heute«, wiederholte Pesch unerbittlich und zwängte sich in den Laden hinein.

Magnus knipste das trübe Licht an der Ladentheke an. Pesch schritt bis zur Ladentheke vor. Magnus stellte sich breitbeinig vor den Durchgang. Wenn Pesch ins Hinterzimmer ging und den offenstehenden Koffer bemerkte, würde er das Falsche denken. Diensteifrig lenkte Magnus ihn ab, durchwühlte Schubladen und Fächer der Thekenkommode, ohne sich zu erinnern, wohin er den Kreditvertrag gelegt hatte. Ihm schwante nichts Gutes.

Da schob Pesch ein Blatt auf die Ladentheke und zeigte mit einem seiner manikürten Finger auf ein Datum. Magnus beugte sich darüber. Da stand es. Schwarz auf Weiß. Rückzahlungsdatum war der 15. März 2012.

»Das ist heute«, betonte Pesch.

Er hatte recht, das war heute. Magnus wurde schwindlig, er hielt sich an der Ladentheke fest und schloss kurz die Augen.

Pesch räusperte sich und vermeldete: »Aber wir sind keine Unmenschen. Wir räumen Ihnen ein Ultimatum von 24 Stunden ein, Faber, innerhalb welchem Sie uns die Kreditsumme von 50.000 Euro plus Zinsen in Höhe von 25.253 Euro und 42 Cent zurückzahlen müssen. Sonst sprengen wir diesen seltsamen Laden hier mitsamt Inventar in die Luft.«

Magnus fiel die Kinnlade herunter. Er erstarrte. Seine Buchhandlung war alles, was er hatte, alles, was er war. Damit rissen sie ihm das Herz aus der Brust. Schwankend stützte er sich an der Ladentheke ab. Ohne sie könnte er genauso gut tot sein. Er sah, wie Pesch redete, wie seine Lippen sich bewegten, aber seine Worte drangen nicht bis zu ihm vor.

»Ich habe das Geld nicht«, sagte er nach einer Weile.

»Besorgen Sie es sich.«

Magnus versuchte zu nicken.

»Aber machen Sie sich keine Illusionen, Faber«, fuhr Pesch fort. »Wenn Sie unseren Forderungen nicht nachkommen, müssen Sie mit Konsequenzen rechnen, wobei wir uns nicht scheuen werden, zur ultima ratio zu greifen.«

Magnus schluckte, obwohl sein Mund ausgetrocknet war.

»Und denken Sie nicht einmal an Flucht. Wir werden Sie überall finden. Wohin Sie auch gehen. Wir haben dafür unsere Leute.«

Magnus griff sich an die Kehle.

»Wie viel Uhr haben Sie?«, fragte Pesch und kontrollierte seine Armbanduhr.

»19 Uhr und 12 Minuten«, antwortete Magnus und wies zur Pendeluhr, die neben der Kasse hing.

»Ich auch«, sagte Pesch.

Magnus’ Blick folgte dem Schwung des Pendels, nicht ohne Stolz darauf, wie genau die Uhr ging, obwohl sie älter als hundert Jahre war und er sie selbst repariert hatte. Das Hin und Her des Pendels versetzte ihn in eine kurze Trance, aus der er jedoch mit einem plötzlichen Krach herausgerissen wurde.

Die Ladentür war hinter Pesch ins Schloss gefallen und eine Skulptur durch die Erschütterung aus dem Regalschrank auf den Steinboden gefallen. Die Replik einer Bronzefigur, das Original stammte von Max Ernst, dem wohl berühmtesten Sohn der Stadt Brühl. Die Skulptur hieß Der Fisch, obwohl sie nicht so aussah.

Unfähig, die Skulptur aufzuheben und an ihren angestammten Platz zurückzustellen, schlurfte Magnus wie betäubt in sein Hinterzimmer, schob den Koffer unter die Dreibeinliege und warf sich mit einem Stoßseufzer darauf.

Nichts war mehr wie zuvor. Wozu sollte er weiterleben? Ohne Buchhandlung war sein Leben nichts mehr wert und der Tod die einzige Lösung. Sein Tod. Aber klar war ihm auch, dass der Tod ihn nicht von selbst ereilen würde. Er war noch jung und kerngesund, wenn auch etwas mager. Auf Pesch und das Ende des Ultimatums warten und von ihren Händen sterben, glaubte er nicht aushalten zu können.

Nein, er würde selbst Hand anlegen müssen. Einige Methoden schieden nach kurzer Überlegung aus. Keinesfalls wollte er sich in seiner Buchhandlung erhängen. Auch von einem Ertrinken in der Erft nahm er Abstand, sie war zu flach. An Gift zu sterben, kam für ihn nicht infrage, er hatte einen empfindlichen Magen. Sich vor einen Zug zu werfen, fand er rücksichtslos, der Fahrplan geriete durcheinander, der Fahrer erlitte einen Schock, es gäbe Verletzte, unter Umständen weitere Tote. Er konnte auch nicht einfach den schwarzen Opel gegen die Wand oder einen Brückenpfeiler setzen, er würde das Ziel verfehlen, er besaß keinen Führerschein.

Unruhig tastete er nach der Uhr an seinem Handgelenk.

20 Uhr und 32 Minuten. Nur noch 22 Stunden und 30 Minuten. Die Zeit verging schneller, als ihm lieb war. Seine Blicke wanderten ruhelos im Hinterzimmer umher. Als sie bei dem Ölgemälde Die Staumauer der Olef bei Mitteldorf landeten, hatte er die rettende Idee.

Magnus sprang auf und lief in den Laden, stieg mit großem Schritt über die Skulptur und trat an eines seiner Bücherregale. Seinem vergilbten Kartenmaterial und einem alten Reiseführer entnahm er im Verlauf der nächsten Stunde, dass es für einen Fußgänger von Brühl aus eine ziemlich weite Strecke an die Staumauer der Olef war.

Bus oder Bahn? Obwohl er keinen Führerschein besaß und der Opel seit Vaters Tod stillgestanden hatte, schien ihm ein Auto das kleinere Übel im Kreise aller möglichen Transportmittel. Es versprach zumindest das Alleinsein. Den Ort Mitteldorf selbst fand er in seinen Unterlagen nicht, aber das beunruhigte Magnus nicht weiter, sondern gab ihm die Gewissheit, dass Pesch ihn nicht auf Anhieb finden würde.

Die einzige Stadt in der Nähe der Talsperre, die er nach einigem Suchen in einer der Karten entdeckte, nannte sich Hellenthal.

Magnus notierte alle Städte und Orte und Weiler, die er auf dem Weg dorthin passieren musste, auf einer Liste und informierte sich in seiner Enzyklopädie kurz über ihren geschichtlichen Hintergrund. Die Römer mussten seinerzeit mehr oder weniger die gleiche Reise gemacht haben, sie hatten viele Überbleibsel, vor allem eine Wasserleitung, hinterlassen.

Allein wie lange die Reise mit einem Auto dauern sollte, konnte Magnus sich schwer vorstellen. Er wanderte die Strecke mit dem Zirkel ab und kam auf etwa 100 Kilometer. Wie viele Kilometer schaffte ein Opel in der Stunde? Zeit spielte plötzlich in seinem Leben eine große Rolle. Eigentlich die einzige.

Anstatt seine Buchhandlung wie gewöhnlich um 9 Uhr zu öffnen, legte Magnus Faber am 16. März, dem zweiten Tag der Iden des März, gegen 8 Uhr Evas Monatslohn auf die Ladentheke und warf sich seinen alten Wollmantel über das Tweedsakko. Er hatte kein Gepäck, nur die Liste der Orte, die er unterwegs passieren musste, und das Ölgemälde, mit dessen Hilfe er den Ort Mitteldorf sicher zu finden hoffte. An seiner Stelle hing im Hinterzimmer nun ein größeres Bild aus seinem Bestand, das die Schatten an der Tapete verbarg. Eine Radierung. Daun im Jahre 1889. Sie hing ein wenig schief am Nagel, aber Magnus gelang es nicht, sie auszurichten.

Ein letztes Mal stieg er über die Skulptur und setzte Hugh, den dicken, alten Kater, den Eva aus Mitleid eines Tages angeschleppt hatte, behutsam vor die Tür, schloss den Laden ab und ließ den Schlüssel stecken. Pesch & Söhne sollten keine Veranlassung haben, die schöne Eichentür aus dem 18. Jahrhundert einzutreten.

In der Holzgarage knipste er das Licht an. Es roch muffig. Zwischen allerlei schummrigem Gerümpel entdeckte er einen verbeulten Benzinkanister, in dem es gluckerte, als er ihn schüttelte. Magnus öffnete den Tankdeckel und ließ die stinkende Flüssigkeit in den Tank laufen. Es war nicht viel, aber es musste bis zur nächsten Tankstelle reichen. Mit einem Handfeger wischte er den Staub von den Scheiben und Scheinwerfern des schwarzen Opel und pustete über das Dach, das früher weiß gewesen war.

Dann bestieg er das Auto und überredete es anzuspringen, löste die Handbremse und rollte rückwärts aus der Garage auf die Straße. Es fanden sich Schalthebel, Kupplung, Gas und Bremse fast wie von selbst, und bald ruckelte der Opel knapp am Straßenrand entlang schlingernd über die Burgstraße.

Stolz beobachtete Magnus im Rückspiegel, an dem der heilige Christophorus baumelte, wie seine Buchhandlung mitsamt Bürgersteig, Straße, Bäumen und Häusern in einer Postkartenidylle hinter pechschwarzen Rauchwolken, die dem knatternden Auspuff entstiegen, verschwand.

Das Herz wurde ihm schwer. Wenn er wenigstens … Entsetzt trat er auf die Bremse, wendete umständlich und hielt vor seinem Laden. Niemand wunderte sich über die Kürze seines Ausflugs, Brühl schlief noch.

Ein weiteres Mal stieg Magnus über die Skulptur, stürzte in sein Hinterzimmer, zog den Koffer hervor und presste ihn an sich. Wie konnte er ihn vergessen!

Er balancierte um die Skulptur am Boden herum und verließ zum zweiten Mal seine Heimatstadt. Die Schaufenster seiner Buchhandlung kamen ihm bereits abweisend vor, Hugh war schon auf und davon, so schnell konnte es gehen.

Auf der Römerstraße fand Magnus eine Tankstelle, die geöffnet hatte. Das Tanken verlangte ihm viel Geschick ab. Er ahmte die Handreichungen eines anderen Kunden nach, vom Einhängen des Benzinstutzens bis hin zum Abzählen der Münzen auf dem Kassentisch. Er machte seine Sache gut, er fiel nicht auf.

Von dort aus erreichte er die Euskirchener Straße, die ihn aus Brühl hinaus über kurz oder lang nach Weilerswist bringen musste, den Ort, der zuoberst auf seiner langen Liste stand. Wie leicht es war, seine Heimatstadt zu verlassen, dachte Magnus. Und war es nicht ein kleines Wunder, dass es Weilerswist wirklich gab?

Auf dem Weg zur nächsten Station seiner Reise drückte Magnus erleichtert aufs Gas. Bald war er bei 30 Kilometern pro Stunde. Wenn das so weiterging, konnte er in gut drei Stunden an seinem Ziel sein, schätzte er. Die freie Strecke ließ ihm Zeit, sich mit der Landschaft zu beschäftigen, die an den Fenstern vorbeizog. Flaches Wiesen- und Weideland, Hecken und einzelne Bäume, Weiler und Aussiedlerhöfe, eine Bahnlinie folgte ihm zu seiner Linken.

Von Ferne drang ein Hupen an sein Ohr. Als es nicht aufhören wollte, blickte Magnus in den Rückspiegel. Eine kleine Autoschlange hatte sich hinter ihm gebildet. Hinter den Scheiben konnte er kein Gesicht erkennen. Auch nicht, als ihn die Autos überholten und die Fahrer aufgebracht gestikulierten. Aber keiner versuchte, ihn abzudrängen und zum Anhalten zu bewegen, sie gaben Gas und verschwanden bald aus seinem Blickfeld.

Die Stadt Euskirchen war die nächste große Herausforderung für Magnus Faber. Das Gewirr an Straßen und Geschäften, Autos und Bussen, Menschen und Ampeln machte ihn nervös. Und er war froh, als er das Hinweisschild Wißkirchen entdeckte, dem dritten Ort auf seiner Liste, die sich auf wunderbare Weise erfüllte wie das Horoskop einer Wahrsagerin.

Auf Wißkirchen folgte Kommern, auf Kommern Mechernich, und der schwarze Opel zockelte wie selbstverständlich durch eine karge Märzlandschaft, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan. Je mehr Magnus Herr über alles wurde, den Opel, die Liste, die Orte und die Straßenschilder, je kühner wurde er. Ab und zu fuhr er sogar einhändig und probierte die wenigen Knöpfe und Schalter und Hebel am Armaturenbrett oder dem Lenkrad aus. Einmal blickte er sich sogar nach seinem Gemälde um. Es ging ihm gut, obwohl es bei letzten Bremsen vom Rücksitz auf den Boden gerutscht war.

Nach dem Ort Wallenthal musste er achtgeben, damit er nicht den Abzweig nach Kall verpasste. Er verließ die B 266 und enterte die Kölner Straße, die ihn mitten durch die Stadt führte, wo das Leben allmählich erwachte. Dem Straßenschild folgend bog Magnus auf die Aachener Straße ab, passierte – wie erwartet – die Orte Golbach und Broich, ehe er, nachdem die Straße einen Haken geschlagen hatte, endlich die Stadt Schleiden erreichte, wo er die Gleise einer Schmalspurbahn überqueren musste.

Er musste sich nicht in das Getümmel der Innenstadt stürzen, sondern konnte am Stadteingang links abbiegen und sich durch ein langgestrecktes Tal Kilometer für Kilometer seinem Ziel nähern, das den Opel magisch anzog.

2. Kapitel

Bring mir den Mann und das Geld!«, schnaubte Herrmann Pesch seinen Sohn Oskar in einem Ton an, der Widerspruch nicht kannte.

Herrmann Pesch, Senior von Pesch & Söhne, legte eine Hand auf die Bettdecke, unter der seine Frau steif und regungslos lag. Hervor schauten nur Arme, Hals und Kopf. Die Augen waren geschlossen, in Mund und Nase steckten Schläuche, Kabel führten vom Kopf und den Handgelenken zu Überwachungsgeräten, auf deren Monitore Kurven in verschiedenen Farben und Verläufen zu sehen waren. Töne piepsten in diversen Höhenlagen und Rhythmen. Frau Marianne Pesch war nach einem Reitunfall ins Koma gefallen.

»Wenn sie stirbt …«, sagte er und seine Stimme brach. Er räusperte sich.

»Sie wird nicht sterben.« Oskar legte eine Hand auf die Schulter seines Vaters und drückte sie leicht.

»Und was ist, wenn sie nie wieder so sein wird wie früher? Ohne sie …« Erneut versagte ihm die Stimme ihren Dienst.

»Die Medizin wirkt heutzutage Wunder«, meinte Oskar und beobachtete die Monitore, als sich die Tür öffnete.

»So ist es«, sagte der junge Arzt, der, bei diesen Worten, das Zimmer betrat. Er trug seinen weißen Kittel offen, ein Stethoskop baumelte um den Hals. In seinem Kielwasser schwamm eine noch jüngere Krankenschwester. »Wir tun alles, was in unseren Kräften steht. Ich bin Professor Mavromatis. Guten Tag.«

Der alte Pesch brummte Unverständliches und nahm die angebotene Hand nicht an.

Oskar ergriff sie an seiner Stelle und lächelte der Krankenschwester zu. »Davon sind wir überzeugt«, sagte er. »Wie sieht es aus, Herr Professor?«

»Schwester Hatice?« Dr. Mavromatis ließ sich von ihr die Krankenakte reichen und fuhr mit dem Zeigefinger über die Seiten. Schwungvoll klappte er die Mappe auf und zu und sagte mit einem gewissen Stolz in der Stimme: »Unverändert.«

»Sag ich doch«, knurrte der alte Pesch. »Über zwölf Stunden liegt meine Frau nun einfach nur so da und ist immer noch …«

»… am Leben!«, rief Professor Mavromatis fröhlich aus.

»Pah!«, machte Pesch. »Ist das ein Grund zur Freude? Sie kann nicht sprechen.«

»Dann sprechen Sie mit ihr. Sie kann Sie hören.«

»Ich will, dass sie auf der Stelle in ein anderes Krankenhaus verlegt wird.«

»Das geht nicht in ihrem jetzigen Zustand. Das wäre unverantwortlich.«

»Raus!«, schrie Herrmann Pesch.

»Sie müssen ein wenig Geduld haben«, bat Professor Mavromatis.

»Ich muss nichts. Ich will niemanden mehr sehen. Raus, habe ich gesagt! Und zwar alle!«

Professor Mavromatis und Schwester Hatice sahen zu, dass sie das Zimmer verließen. Als Oskar ihnen folgen wollte, kommandierte Pesch: »Du bleibst hier!«

Oskar hielt inne, sah betreten zu, wie die Tür vor seiner Nase geschlossen wurde, und drehte sich zu seinem Vater um.

»Du bringst mir den Mann und das Geld, Oskar! Sonst bist du die längste Zeit mein Sohn gewesen.«

»Aber, Vater!«

»Jetzt geh endlich und finde ihn und beeile dich gefälligst!«

Oskar hatte die Hand in der Klinke, als sein Vater ihn mit einem Kopfnicken zurückwinkte.

»Ich werde dich enterben«, drohte er.

»Das kannst du nicht machen!«

»Und ob ich das kann. Aber wenn du es schaffst, darfst du vorübergehend das Geschäft ganz allein führen, während ich mich um Mutter kümmere.«

»Sie könnte sich auf dem Gestüt erholen«, schlug Oskar eilig vor.

Der alte Pesch nickte. Seit Generationen besaß die Familie Pesch in der Nähe von Metternich ein Gestüt, wo Marianne Pesch eine Reitschule betrieb und die bekannten Aegidienberger züchtete. »Also?« Herrmann schien das Misstrauen seines Sohnes zu spüren und streckte ihm die Hand entgegen. »Du hast mein Wort.«

Oskar schlug ein und sagte ohne große Überzeugung: »Okay, ich werde tun, was ich kann.«

Mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis, in der eindeutig Letzteres überwog, lenkte Oskar Pesch seinen silbernen Mercedes in die Burgstraße und hielt vor der Buchhandlung Faber. Als er auf die Ladentür zuging, öffnete sie sich, und ein Mann lief ihm in die Arme. Er trug einen zerknautschten Trenchcoat und einen dunklen Lockenkopf, legte seinen Kopf schief und kniff ein Auge zu. Er hielt Oskar die Türe auf und sagte: »Bitte sehr, der Herr!«

»Vielen Dank, Inspektor Columbo«, sagte Oskar und trat ein.

3. Kapitel

Bernd Zimmermann lächelte zufrieden vor sich hin. Er mochte es, wenn man ihn Columbo nannte. Normalerweise tat das nur seine Schwester Eva mit spöttischem Blick und manchmal Tilly in besonders zärtlichen Momenten. Diesen Namen hatte er nicht nur seinem Trenchcoat zu verdanken, der schon ein paar Jahre auf den Buckel hatte, aber bis auf ein paar Flecken und ein kleines Loch in der rechten Tasche noch gut in Schuss war. Zimmermann hatte ihn auf einem Flohmarkt erstanden. Es wäre Columbos Mantel, hatte der Verkäufer – ein Mann mit unübersehbarem Migrationshintergrund – dreist behauptet. Daher der Preis. Dass er damit einen Nerv bei Zimmermann traf, konnte er nicht wissen.

Zimmermann probierte ihn noch am Marktstand an. Und Ungewöhnliches geschah. Er hatte das Gefühl zu wachsen, seine Schultern verbreiterten sich, es war, als ob ungeahnte Kräfte ihn von Kopf bis Fuß durchströmten, seine Muskeln sich anspannten, sein Gehirn von Gedankenblitzen durchflutet wurde. Verwegen und tollkühn kam er sich darin vor. Einfach unbesiegbar. Einfach wie Columbo.

Natürlich hatte er den Trench gekauft und sofort anbehalten, diesen Mantel für jede Jahreszeit, bei dem man das karierte Wollfutter herausknöpfen konnte, und in dessen vielen Taschen man seinen halben Haushalt verschwinden lassen konnte. Zu einem Preis, der sich in der Mitte zwischen der Forderung des Händlers und dem Angebot des einzigen Interessenten ansiedelte. 50 Euro. Und seitdem trug er ihn. Täglich. Immer. Jederzeit. Manchmal behielt er ihn sogar im Bett an, wenn Tilly ihn darum bat.

Aber das würde sie nach gestern Nacht nie wieder tun.

Aber auch sonst, auch ohne Mantel, verband Zimmermann – wie er fand – eine gewisse Ähnlichkeit mit Columbo. Nicht dessen überragende Intelligenz, die ihm in seiner Tätigkeit als freier Journalist hätte zugute kommen können, sondern das Augenproblem. Zimmermanns rechtes Auge (das kein Glasauge war) litt an einer chronischen Bindehautentzündung und ließ sich nur zur Hälfte öffnen. Zimmermann hatte sich einen dunklen Wuschelkopf wachsen lassen und angewöhnt, den Kopf immer leicht schief zu neigen. Und als er dann eines Tages auf einer Baustelle zwischen einem Berg Bauschutt eine Waffe fand, kam ihm dieser Fund vor wie ein Wink des Himmels. Die Rolle seines Lebens war auf einmal zum Greifen nah.

Und als seine Schwester ihn heute Morgen anrief und ihn als Erstes fragte: »Hast du deinen Trench noch?«, wusste er, dass sein Leben eine Wendung nehmen würde. Natürlich hatte er sofort zugesagt, ihr bei der Suche nach ihrem Chef zu helfen. Er hatte sowieso nichts Besseres zu tun.

Zimmermann blieb neben der Buchhandlung stehen und fragte sich, wer dieser Mann war, der ihn Columbo genannt hatte. Er sah nicht aus wie jemand, der ein Buch kaufen wollte. Zimmermann entdeckte durch die Schaufenster nichts Auffälliges, blieb aber wachsam in der Nähe.

Er konnte die Not seiner Schwester nachvollziehen. Ihre Existenz stand auf dem Spiel. Ihm war nicht entgangen, dass ihr Chef in großen finanziellen Schwierigkeiten steckte. Gestern die fristlose Kündigung, seit heute Morgen schien er vom Erdboden verschluckt. Eva war felsenfest davon überzeugt, dass er geflohen war, ordnungsliebend wie er war, nicht einmal Zeit gehabt hatte, seine geliebte Skulptur Der Fisch vom Boden aufzuheben und zurückzustellen, oder irgendetwas anderes mitzunehmen, außer dem kleinen Lederkoffer und dem großen Ölgemälde, auf dem die Staumauer der Olef abgebildet war.

Eva fürchtete, dass er sich etwas antun könnte, er schien ein melancholischer Typ zu sein. Und nicht nur das, er hatte seine Buchhandlung noch nie verlassen und die Stadt Brühl erst recht nicht.

Als sie auf die absurde Idee kam, dass Magnus Faber vielleicht an den Ort, der auf dem Bild dargestellt war, geflohen sei, da hatte Zimmermann kurz gedacht, die Fantasie sei mit ihr durchgegangen. Wie verzweifelt musste sie sein! Ihm selbst schien es plausibler, dass Magnus Faber noch in Brühl umherirrte.

Nach einem Blick auf die Uhr, 11.30 Uhr, beschloss Zimmermann, in der Nähe des silbernen Mercedes, dem der auffallend große, schlanke und elegant gekleidete Mann entstiegen war, zu warten. Auf die Buchhandlung folgte ein Kiosk, auf den Kiosk die kleine Kneipe Im Schlösschen. Zimmermann stellte sich vor den Kiosk, studierte die Auslagen und dachte dabei an Tilly.

Tilly Hut, Redakteurin in einem Brühler Käseblatt, 32 Jahre alt, eine resolute, kleine, ungeschminkte Frau mit kurzen Haaren, erwiderte seit vier Jahren Zimmermanns Liebe. Sie hatten sich auf der Straße kennengelernt, wo sie ihn unverblümt um ein Interview gebeten hatte, weil er aussah wie Columbo. Zimmermann war geschmeichelt, sie hatte einen knackigen Po und blonde, lange Haare. Und er verliebte sich auf der Stelle in sie, als sie sich in einem Café bei einem Espresso und einem Glas Wasser gegenübersaßen, und sie sich auf die Zungenspitze biss und eifrig wie eine Schülerin Notizen machte – mit ihrer linken Hand. Zimmermann hatte eine Rechts-Links-Schwäche.

Es wurde ein langes Interview, und nicht einmal ein Viertel davon stand am nächsten Tag in Tillys Käseblatt. Den Rest hatte sie im Laufe der Nacht wohl vergessen.

Tilly hatte neben vielen liebenswerten Eigenschaften eine richtig üble. Sie verwahrte sich Diskussionen über Gott und die Welt, ihre beiden Zeitungsredaktionen und ihre Beziehung liebend gern für den Abend auf. Wenn sie abends nichts anderes vorhatten, so kam es Zimmermann vor, dienten sie als Unterhaltungsprogramm, so wie andere ins Kino oder ins Theater gingen. Bis zum gemeinsamen Abendessen, das meist sie in ihrer Wohnung zubereitete, war alles eitel Sonnenschein, es wurde gelacht und geflirtet, aber sobald der Tisch abgeräumt war und sie bei einem Glas Wein beisammensaßen, wartete sie mit irgendeinem kleinen Problemchen auf, das sich in Windeseile zu einer Katastrophe entwickelte. Diese Diskussionen konnten die halbe Nacht dauern und wurden bei Bedarf, wenn die Beteiligten so müde wurden, dass sie von ihren Stühlen zu fallen drohten, ins Bett verlegt. Bei einem beruflichen Problem konnte Zimmermann ihr oft helfen, das tat er gerne und genoss es sogar ein wenig, bei Beziehungsgesprächen aber fühlte er sich machtlos. Gestern Nacht war es so gewesen.

Als er heute Morgen kurz nach 9 Uhr von seiner Schwester Eva in die Buchhandlung Faber gerufen wurde, hatte er noch in Tillys Bett gelegen, aber nicht etwa tief und fest geschlafen, sondern wurde mitten aus einem Streit herausgerissen. Das Schlimmste war, dass er nicht mehr wusste, worum es eigentlich gegangen war. Er hatte überhaupt keine Ahnung. Was hatte er verbrochen?

Zimmermann hypnotisierte die Ladentür der Buchhandlung und fluchte leise vor sich hin. Wieso blieb der Mann nur so lange? Wer war er? Was trieb er dort? Bald 14 Uhr. Zimmermann lief ungeduldig vor dem Kiosk auf und ab, kaufte sich schließlich eine Dose Cola und nuckelte daran herum. Als sie leer war, drückte er sie zu einem Blechklumpen zusammen und warf sie in den Abfallkorb von Langnese, der vor dem Kiosk stand.

Es tat sich nichts. Gar nichts. Rein gar nichts.

Genervt kramte Zimmermann sein Handy aus der Manteltasche und wählte Tillys Mobilnummer. Sie ging nicht dran, die Mailbox war ausgeschaltet. Er wählte ihre Festnetznummer. Sie ging nicht dran, der AB war ausgeschaltet. Er wählte ihre Büronummer. Eine Kollegin nahm ab und behauptete, Tilly Hut habe einen Außentermin. Auf die Bitte, ihr eine Nachricht hinterlassen zu dürfen, meinte die abweisende Stimme, dass Privatgespräche im Dienst nicht erwünscht seien.

»Sie können mich mal!«, brüllte Zimmermann ins Telefon.

Eine Passantin blieb entsetzt stehen und lief dann davon, als sei der Teufel hinter ihr her. Zimmermann mochte es, wenn man bei seinem Auftauchen ein schlechtes Gewissen bekam.

4. Kapitel

Was kann ich für Sie tun?«, fragte Eva Zimmermann den Mann in dem schmal geschnittenen, dunklen Anzug, der die Buchhandlung betrat, kaum dass ihr Bruder Bernd sie verlassen hatte. Bis auf eine rotblonde Haartolle, die ihm in die Stirn fiel, war sein Haar raspelkurz geschnitten. Er sah aus, als hätte er Geld genug, um die halbe Buchhandlung leer zu kaufen.

»Wer sind Sie denn?«, fragte er und sah auf sie herab.

Sie zog ihr Sweatshirt glatt und antwortete nicht.

Er lächelte. »Nun?«, fragte er etwas freundlicher nach.

»Eva Zimmermann.«

»Und was machen Sie hier?«

»Ich bin die Assistentin. Und Sie?«

»Pesch«, antwortete er und drückte die Ladentür zu, drehte den Schlüssel herum, zog ihn heraus und spielte kurz damit, ehe er ihn einsteckte.

»Kein Bedarf, Pech haben wir schon genug«, sagte Eva.

»Sehr witzig! Ich bin Oskar Pesch. Von der Firma Pesch & Söhne

»Na und?«

»Sie wissen also nicht, wer ich bin?«