Elke Garbe

Das kindliche
Entwicklungstrauma

Verstehen und bewältigen

Mit einem Vorwort von Karl Heinz Brisch

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94879-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10779-1

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Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2015 der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort von Karl Heinz Brisch

A. THEORETISCHER TEIL

1. Einführung

2. Das Entstehen kindlicher Entwicklungstraumatisierungen

Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Symptome einer PTBS

Diagnose einer PTBS

Die Traumatypen I und II

Traumatyp I – Monotraumatisierungen

Traumatyp II – Komplextraumatisierungen

Das Traumatisierungsmilieu in der kindlichen Entwicklung und seine Folgen

Kriterien für traumatisierende Entwicklungsbedingungen

Folgen traumatisierender Entwicklungsbedingungen

Formen kindlicher Traumatisierungen

Misshandlungen

Sexueller Missbrauch

Vernachlässigung

Häufige Bindungsabbrüche

Migration und Flucht

Bewältigungsmöglichkeiten von Entwicklungstraumatisierungen

Resilienz und Bewältigung

Ressourcen

Risikofaktoren

3. Neurobiologische Prozesse – das Gehirn als Überlebenswächter

Das Gedächtnis

Das menschliche Gehirn und Traumabewältigung

Das Stammhirn (Medulla oblongata)

Das Limbische System

Die Bedeutung von Transmittern und Hormonen bei normaler und traumatischer Reizverarbeitung

Der Kortex (Großhirn)

Die Amygdala (Mandelkern)

4. Die Entwicklung des Selbst – Traumatisierung und Dissoziation

Das Selbst nach Heinz Kohut

Das Selbst – Entwicklung unter normalen Bedingungen

Frühe Entwicklung (1  3 Jahre)

Vorschulentwicklung (4  6 Jahre)

Latenzphase

Pubertät und Adoleszenz

Das Selbst – Entwicklung unter traumatisierenden Bedingungen

Entwicklungsreaktionen traumatisierter Kinder, die Bildung traumaassoziierter Selbstanteile

Der Panische

Der Wütende

Der Anpasser

Der Widersprecher

Der Schuldige

Der Beobachter

Der Wissende

Der Fühlende

Der Sehnsüchtige

Der Beschützer

Der Gute

Der Bewältiger

Bewältigungsstrategien

Defensive Reaktivität

Selbstverletzung

Überlebensstrategien nach Ende der Traumatisierung

Das traumatisierte, fragmentierte Selbst

5. Dissoziation

Dissoziation als Ichstärke

Dissoziation als Bewältigungsmechanismus – Die peritraumatische Reaktion

Erklärungsansätze zum Vorgang der Dissoziation

Der Begriff der Dissoziation

Die Ego-State-Therapie

Anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil (ANP) und Emotionaler Persönlichkeitsanteil (EP)

Folgen der Dissoziation

Täterintrojekte oder täterimitierende Anteile

Reviktimisierung

Reinszenierung

Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen

Projektionen, projektive Identifikation

B. PRAKTISCHER TEIL

6. Institutionelle Hilfen und Kooperation

Jugendhilfe – Die wichtigsten Hilfsformen

Ambulante Hilfen

Erziehungsberatung

Teilstationäre Hilfen, Tagesbetreuungen

Der Schutzauftrag der Jugendhilfe

Pflegefamilien

Stationäre Hilfen und Gewaltenschutzgesetz

Inobhutnahme

»Sichere Orte« bereitstellen

Jugendhilfe – Wichtige rechtliche Grundlagen

Das Grundgesetz

Bürgerliches Gesetzbuch

Das Sozialgesetzbuch

Das Kinderschutzgesetz

Umsetzungsgebot

Notwendige fachliche Ergänzungen und Kooperationen in der Arbeit mit traumatisierten Kindern

Kooperation und Netzwerkarbeit

Die Schweigepflicht

Traumapädagogik

Psychotherapie

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Traumatherapie

Psychiatrie

7. Das Gemeinsame von Sozialpädagogen und Psychotherapeuten

Aspekte der traumafokussierten sozialpädagogischen und therapeutischen Arbeit

Das Besondere pädagogischer Traumahilfe

Die gemeinsamen Arbeitsbereiche von Traumapädagogen und Traumatherapeuten

Das Besondere traumafokussierter Psychotherapie

8. Praxis der Traumatherapie und Traumapädagogik

Der erste Schritt: Äußere Sicherheit herstellen

Äußere Sicherheit – Die Trennung vom Täter

Unterstützende Bezugspersonen

Die Bedeutung von Gerichtsprozessen

Rechtslage und Aufenthaltsstatus

Finanzierung

Der zweite Schritt: Innere Sicherheit aufbauen

Was ist innere Sicherheit?

Voraussetzungen für das Entstehen innerer Sicherheit

Arbeitskontrakt

Psychoedukation

Der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung

Stabilisierungsmethoden und -übungen

Imagination und Erinnern

Der gute innere Begleiter

Den inneren sicheren Ort aufbauen

Ressourcen reaktivieren und aktivieren

Integratives Arbeiten mit Selbstanteilen

Affektregulation entwickeln

Zusammenfassung

Der dritte Schritt: Traumaintegration aus psychotherapeutischer, tiefenpsychologisch-orientierter Sicht

Voraussetzungen und wichtige Prinzipien

Wichtige Arbeitsinstrumente für die Traumaintegration

Kindheitserinnerungen als Ausdruck des kindlichen Selbst von damals

Die Methode der »Integration traumaassoziierter Selbstanteile« in zwölf Schritten

Einführung

Vorbereitung

1. Schritt: Das Ich-Selbst im Hier und Jetzt

2. Schritt: Das Ich-Selbst im Hier und Jetzt und das biosoziale Netzwerk

3. Schritt: Das Ich-Selbst im Hier und Jetzt und die inneren Ressourcen

4. Schritt: Das Ich-Selbst und Schwierigkeiten im Hier und Jetzt

5. Schritt: Das Ich-Selbst und die Zukunftsvision

6. Schritt: Die Anerkennung von Zeiträumen

7. Schritt: Das Ich-Selbst im Dort und Damals

8. Schritt: Das Ich-Selbst im Dort und Damals und die inneren Ressourcen

9. Schritt: Das Ich-Selbst im Dort und Damals und die äußeren Ressourcen

10. Schritt: Das Ich-Selbst und die traumatische Situation im Dort und Damals

11. Schritt: Täterintrojekte und täteridentifizierte Selbstanteile in ihrer Überlebensleistung verstehen und würdigen

12. Schritt: Das Bearbeiten traumaassoziierter und traumaverarbeitender Gefühle

Besonderheiten in der traumatherapeutischen Arbeit mit jüngeren Kindern

Entwicklungsentsprechende Ausdrucksformen

Sprache und Gefühle

Körperkontakt

Zeitabstand

Angst, Vermeidung und Kontrolle

Bindungsverhalten

Die Bindungspersonen

Psychoedukation

Posttraumatisches Spiel

Interventionen

Vier Fallberichte: Traumatherapie mit jüngeren Kindern

Mussa (5 Jahre)

Nelli (7 Jahre)

Anna (6 Jahre)

Jasmin (6 Jahre)

9. Schlussbetrachtung

Verarbeitung und Integration

Was ist Traumaintegration und was nimmt der Klient mit?

Abschied und Trennung

Glossar

Diagnosematerialien

Literatur

Dank

Vorwort von Karl Heinz Brisch

Seit vielen Jahren kenne ich die wunderbare Art des psychotherapeutischen Zugangs von Elke Garbe, die sich einen besonderen Verdienst erworben hat, mit schwerst und früh entwicklungstraumatisierten Kindern eine eigene Methode der erfolgreichen Arbeit zu entwickeln. Sie hat hierbei ein bemerkenswertes Therapiemodell aus ihren praktischen Erfahrungen aufgebaut, das für diese Kinder ausgesprochen hilfreich ist, wie ich selbst in ihren Workshops erfahren und kennenlernen konnte.

Ich freue mich sehr, dass Elke Garbe dem Wunsch vieler Kolleginnen und Kollegen entsprochen hat, ihre jahrzehntelangen Erfahrungen nun in einem umfassenden Werk vorzulegen. Es spiegelt ihr tiefes Wissen und ihre höchst kompetente Art wider, mit diesen schwer traumatisierten Kindern überhaupt in Kontakt zu kommen, eine sichere Bindung aufzubauen und therapeutische Entwicklungsprozesse auf den Weg zu bringen. Diesen Wissensschatz hat sie für alle Leserinnen und Leser verständlich lesbar und nachvollziehbar in ihrem Buch aufbereitet und zur Verfügung gestellt, was ich selbst als ein Geschenk erlebe. Nur selten können wir so differenziert an und von dem Erfahrungsschatz einer geschätzten Kollegin lernen.

Der theoretische Teil des Buches ist eine ausgesprochen gut verständlich zu lesende Darstellung der Entstehungsbedingungen kindlicher Entwicklungstraumatisierungen. Hier wird selbst für den bereits kundigen Leser nochmals zusammengefasst und überschaubar erläutert, wie traumatische Prozesse entstehen, welche verschiedenen Formen es gibt, welche psychischen und biologischen Prozesse hierdurch beeinträchtigt werden und wie auf der Grundlage dieser neurobiologischen Veränderungen die gesamte Entwicklung des Kindes durch frühe Traumatisierungen gefährdet ist. Ein besonderer Schwerpunkt der theoretischen Ausführungen liegt auf der Entwicklung des Selbst, das durch traumatische Erfahrungen geschädigt, verzerrt oder in pathologische Entwicklungsprozesse gedrängt wird. Es wird sehr gut nachvollziehbar, wie das Selbst aufgrund von traumatischen Entwicklungsbedingungen dissoziative Bewältigungsmuster herausbilden muss. Dies macht auch die verschiedenen Symptomentwicklungen verständlich. Insofern bietet das Buch eine hervorragende und theoretisch neu konzipierte Darstellung einer traumatischen Selbstentwicklung, wie sie nach meiner Kenntnis bisher in dieser Form noch nicht beschrieben wurde.

Diese Darstellung ist bestens geeignet, um in dem zweiten, umfassenden praktischen Teil dieses Buches die therapeutischen Interventionen von Elke Garbe nachvollziehbar werden zu lassen. An vielen Praxisbeispielen erläutert sie, wie sie mit den schwer traumatisierten Kindern eine Beziehung aufbaut, vom Erstkontakt bis hin zur therapeutischen Bearbeitung traumatischer Inhalte. Dabei spielt immer die emotionale Sicherheit und der Zugang zum verletzten inneren Kern des Selbst eine große Rolle. Symbolgegenstände helfen dabei, auf einer vorsprachlichen Ebene einen Zugang zu den verletzten Selbstanteilen zu finden und diese auf einer symbolischen Behandlungsebene – zunächst im äußeren Raum, dann aber auch im inneren Raum – durch Identifikation und Reidentifikation zu entwickeln, sodass Heilungsprozesse in Gang gesetzt werden.

Die Kooperation und Zusammenarbeit mit anderen Institutionen im Sinne der Herstellung von äußerer Sicherheit und die Wertschätzung für die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – etwa beim Jugendamt und in den Jugendhilfeeinrichtungen – ist für Elke Garbe genauso selbstverständlich wie die Arbeit auf der inneren Bühne des kindlichen Selbst. Somit kommt es zu einem Dialog und – wenn es gut geht – auch zu einer Integration von »äußerer« Real-Raum-Ebene und »innerer« psychischer Ebene. Elke Garbe hat auf dem Boden ihrer eigenen beruflichen Erfahrung sehr viel auch aus dem Bereich der Sozialarbeit integriert, weil sie eine der wenigen ist, die aufgrund ihrer beruflichen Ausbildung die Welten von Sozialarbeit, Psychologie, Traumatherapie und Traumapädagogik gleichermaßen im Blick haben und miteinander in Dialog bringen kann.

Das vorgelegte Buch ist daher auch für Traumapädagogen und solche, die sich darin weiter- und fortbilden möchten, eine ausgezeichnete Grundlage. Gerade im Praxisteil werden die verschiedenen Schritte der Therapie von der äußeren zur inneren Sicherheit und der traumatischen Verarbeitung bis hin zur Traumaintegration so verständlich dargestellt, wie ich dies bisher selten in einem Buch für Kinder- und Jugendlichenbehandlungen verfolgen konnte.

Es ist Elke Garbe hervorragend gelungen, die von ihr entwickelte, lebendige und höchst feine Art der Behandlung von traumatisierten Kindern hier in Buchform vorzulegen und damit einem großen Leserkreis zugänglich zu machen. Ich danke ihr für diese lehrreiche Arbeit von ganzem Herzen und wünsche diesem Buch eine große Verbreitung bei Beratern, Pädagogen, Psychotherapeuten, genauso wie bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Jugendhilfe und der Sozialarbeit. Alle diese Berufsgruppen können von diesem Buch nur profitieren und mit den gewonnenen Erkenntnissen traumatisierte Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg in eine gesündere Entwicklung besser begleiten.

Karl Heinz Brisch, München im Januar 2015

A.
Theoretischer Teil

KAPITEL 1
Einführung

Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach.

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, getan? –

Kennst du es wohl?

Dahin, dahin

Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!

(Johann Wolfgang von Goethe)

Kindheit ist die Entwicklungsphase zwischen Geburt und Vollendung des 14. Lebensjahres. Wenn wir von Kindheit sprechen, differenzieren wir nicht, welche Phase der Kindheit wir eigentlich meinen. »Kindheit« beschreibt etwas Dynamisches, Komplexes, sich ständig in Entwicklung Befindliches, sich in verschiedenen gesellschaftlichen sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebenswelten Abspielendes. Kindheit kann als kontinuierlicher Entwicklungspfad verstanden werden, der aus der anfangs totalen Abhängigkeit von der Bindungsperson in die zunehmende Selbständigkeit und Unabhängigkeit führen soll. Bindungen verändern sich im Laufe der Entwicklung. Während der Säugling ganz auf die Fürsorge der Bindungsperson angewiesen ist, brauchen 14-jährige Kinder diese oft nur noch als Rückenstütze, als Absicherung und Begleitung bei ihren zunehmend selbständiger werdenden Schritten. Neue Formen von Bindungen und Beziehungen kommen hinzu und müssen geregelt werden. Kinder bilden im Laufe ihres Lebens aus internalisierten Erfahrungen mit Bindungspersonen »innere Arbeitsmodelle« und wenden sie zur Regulierung von Beziehungen an. Diese können sehr verschieden sein, je nachdem, welche Erfahrungen sie mit der Welt und ihren Bindungspersonen gemacht haben. Wir wissen, dass sozioökonomisch schwierige Lebensbedingungen einen negativen Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern haben. Die Chancen, sich in das gesellschaftliche Leben zu integrieren und an den gesellschaftlichen Ressourcen teilzuhaben, werden stark beeinflusst durch die jeweilige sozioökonomische Schichtzugehörigkeit (vgl. 14. Kinder- und Jugendbericht des BMFSFJ 2013).

Gerade Traumatisierungen in der Kindheit, oft verursacht durch Bindungspersonen, können dafür verantwortlich sein, dass weitere Schritte durch das Leben nicht oder nur mühsam gelingen. Je früher sie geschehen, desto tiefgreifender beeinflussen sie das Wachstum des neuronalen Systems. Die kindliche Widerstandskraft reicht nicht aus, um sie allein zu bewältigen, weshalb rechtzeitig fachgerechte Hilfen zur Verfügung stehen müssen. Traumatisierungen durch Bindungspersonen sind besonders schwer zu bewältigen, stellen diese doch in der Kindheit den »sicheren Hafen« bereit, wenn Gefahr droht. Finden Kinder keine Zuflucht bei ihren Bezugspersonen, müssen sie auf andere Notlösungen zurückgreifen.

In meinen Versuchen, Menschen mit Entwicklungstraumatisierungen zu helfen, kristallisierte sich folgende Frage heraus: »Wie hast Du das überlebt?« Wie schaffen es Menschen, sich aus einer Kindheit, die geprägt ist von körperlicher und seelischer Gewalt, Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch, Bindungsabbrüchen und Zwangsmigration ins Erwachsenenalter durchzuarbeiten? Was hilft ihnen? Wie können sich sogenannte »Bewältigungsstrategien« schließlich umwandeln in Lebensstrategien? Der Begriff Bewältigungsstrategie geht auf Richard Lazarus zurück. Er benutzte ihn in seinem Coping-Modell zur Bewältigung von Stress (Lazarus 1999). Lazarus ging davon aus, dass Stressfaktoren neu bewertet werden müssen, damit sie neutralisiert werden können. Die Bedeutung des Begriffes geht aber darüber hinaus: In einer traumatischen Situation ist es nicht nur eine kognitive Leistung, sondern es ist das Zusammenspiel vieler Faktoren des Organismus »Mensch« mit dem Ziel, das Überleben zu sichern. Im Begriff »Bewältigungsstrategie« ist das Wort »Gewalt« verborgen. Es geht also vorrangig um die Bewältigung von Gewalterfahrungen.

Eine traumatische Erfahrung ist ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauernde Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.« (Fischer/Riedesser 1999, S. 83)

»Trauma« wird heute als mögliche Folge von Gewalterfahrung verstanden und Präventionen sollen erreichen, dass es gar nicht zu Gewalthandlungen kommt. Dennoch wachsen viele Kinder immer noch unter bedrohlichen Lebensverhältnissen auf, sie werden geschlagen, vernachlässigt und sexuell missbraucht. Sie sind Objekte der Befriedigung, der Affektregulierung für Erwachsene. Diese Tatsache wird nicht selten verschwiegen und bagatellisiert. Folgen von Gewalt und Traumatisierungen werden transgenerativ weitergegeben, ohne dass sie rechtzeitig verarbeitet werden konnten (Baer/Frick-Baer 2013). Gefahrensituationen werden oft nicht erkannt und Hilfen sind oft nicht ausreichend, um Kinder in Sicherheit aufwachsen zu lassen. So sehr wir wollen, dass Ersatzfamilien, Jugendhilfeeinrichtungen, Psychiatrien, Psychotherapien »sichere Orte« sind (Kühn 2008), können sie es eben nicht immer ausreichend sein. Gerade die aktuellen Ergebnisse der Begleitforschung des Runden Tisches Sexueller Missbrauch der Bundesregierung machen das deutlich (Fegert et al. 2013).

Dieses Buch soll vor allem Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Sozialpädagogen, Lehrer, Erzieher, Kinder- und Jugendlichenpsychiater, Jugendliche und Erwachsene mit entwicklungstraumatischen Erfahrungen und ihre Angehörige ansprechen. Mein Anliegen ist, sie zu unterstützen und zu ermutigen, nach Wegen zu suchen, wie der Entwicklungsfaden wieder aufgenommen werden kann. Dabei werden Forschungsergebnisse bezüglich der Auswirkungen von Gewalt und ihrer Bewältigung berücksichtigt. Es soll die verschiedenen Fachkräfte dazu ermutigen, enger und mit multiperspektivischem Blick zusammenzuarbeiten. Um erfolgreich zu sein, müssen Traumapädagogen, -therapeuten und Psychiater voneinander wissen, um im Hier und Jetzt die traumatischen Entwicklungsbedingungen des Dort und Damals aufarbeiten und bewältigen zu können.

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Abb. 1:  Die Arbeitsbeziehung zwischen dem Klienten und seinen Helfern im Hier und Jetzt

In diesem Buch wird besonders die Notwendigkeit der zeitnahen Hilfe nach kindlichen Traumatisierungen hervorgehoben. Zunehmend setzt sich auch die Überzeugung durch, dass nicht verarbeitete kindliche Traumatisierungen ein ganzes Leben lang zu bewältigen sind. Oft sind im Laufe des Lebens mehrere Traumatherapien notwendig, weil zu bestimmten Phasen des Lebens durch die Bewältigung anstehender Lebensaufgaben das Trauma erneut aktiviert wird. Es besteht zudem immer wieder die Chance, die Richtung der weiteren Entwicklung zu modifizieren. Manchmal wird dafür Hilfe von Freunden oder Professionellen benötigt, manchmal führen besondere Erfahrungen zu der Erkenntnis und dem Mut etwas zu verändern. Entwicklung geschieht ein Leben lang, bis zum Tod. Bis dahin kann die Richtung mitbestimmt werden.

KAPITEL 2
Das Entstehen kindlicher Entwicklungstraumatisierungen

Gewalt ist immer bedrohlich, aber wir wissen, dass nicht jede Gewalterfahrung zu Schädigungen in der weiteren Entwicklung führen muss. Akuttraumatische Reaktionen können sich zurückentwickeln, wenn zeitnah ein unterstützendes Milieu und ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen.

Die Folgen von Gewalteinwirkung im Menschen ergeben sich aus dem Zusammenprallen von »bedrohlichen Situationsfaktoren« (Fischer/Riedesser 1999, S. 83) mit der jeweils individuellen Reaktion des Menschen. Diese wird beeinflusst durch seine Widerstandskraft (Resilienz), seine Ressourcen, seine traumatischen Vorerfahrungen (Viktimisierung) und seine individuellen Bewältigungsstrategien. Es spielt eine große Rolle, wie danach mit dem Betroffenen umgegangen wird, ob ihm zeitnah fachkompetente Hilfe zukommt und ob er in einem sozialen Netzwerk Schutz und Sicherheit findet.

Traumafolgestörungen und ihre Diagnosen sind heute benannt, wenn auch differenzierungsbedürftig. Symptome sind beschrieben und es gibt verschiedene Diagnostikmanuale, die diese erfassen können (Dilling et al., ICD-10 1993). Wir wissen, dass Menschen leicht erregbar und unruhig sind. Wir wissen auch, dass sie sich bereits durch geringe Einflüsse an die traumatische Erfahrung erinnern können und wieder mit Panik, Flucht- und Verteidigungstendenzen reagieren. Sie versuchen deshalb, alles zu vermeiden, was sie an das traumatische Geschehen erinnern könnte. Für Traumatisierte ist die Zeit nach dem Geschehen stehen geblieben und es fällt ihnen schwer, mit der realen Zeit mitzugehen.

Nicht verstehbares, schnell wechselndes und nicht altersgerechtes Verhalten sind sehr oft Folgen von kindlichen Entwicklungstraumatisierungen. Das macht den Umgang mit Betroffenen oft schwer. Es ist bekannt, dass das Verhalten mit dem Phänomen der Dissoziation zu tun hat. Entstanden während der traumatischen Erfahrung als Überlebenssicherung, beinhalten Dissoziationen Informationen über Gewalterfahrungen, die nicht verarbeitet sind. Traumatische Erfahrungen werden fragmentiert und – gekoppelt an den Wahrnehmungsfunktionen – neuronal gespeichert. Sie können später ebenso fragmentiert als »Puzzleteil« einer traumatischen Situation abgerufen werden, ohne dass dieses bewusst steuerbar ist. Dissoziationen führen so ungesteuert zu traumatischen Reaktionen aus längst vergangenen Zeiten. Gleichzeitig war die Dissoziation jedoch auch positiv daran beteiligt zu überleben. Als erfolgreiche Bewältigungsstrategie hat sie sich über die Zeit selbständig gemacht. Ihre Aufrechterhaltung gestaltet im Hier und Jetzt aber den Umgang mit sich selbst und mit den Anderen schwierig.

Ein Jugendlicher (16 Jahre) wird von seinem Bezugserzieher mit vorwurfsvoller, etwas lauter Stimme darauf hingewiesen, dass er seinen Wochendienst in der Wohngruppe immer noch nicht gemacht hat. Er geht sofort in Verteidigungsposition, hebt die Fäuste und sagt: »Willst Du mich angreifen, oder was?«

Nach einer Supervision versteht der Erzieher, dass seine laute, vorwurfsvolle Stimme im Jugendlichen die früheren, gespeicherten Erfahrungen mit dem Geschrei, den Vorwürfen und den Schlägen seines Vaters aktiviert haben muss. Dies löste in der Reaktion des Jugendlichen ungesteuert den Verteidigungsreflex aus. Der Erzieher nimmt sich vor, in einer ähnlichen Situation freundlich im Kontakt den Jugendlichen an seinen Dienst zu erinnern.

Als das klappt, ist er selbst erstaunt. Der Jugendliche bemerkt die Veränderung und sagt: »Siehst Du, man muss mit mir nur respektvoll umgehen.« Beide lachen.

Traumatische Erfahrungen können ein Leben völlig verändern, nichts ist mehr so wie vorher. Wenn der Betroffene Glück hat, gibt es einen Anfang und ein Ende. Also ein Leben vor dem Trauma und eines danach. Die Erfahrung der Sicherheit konnte vorher gemacht werden. Als Ressource hilft sie, das Trauma zu überleben und ermöglicht im Idealfall nach Beruhigung wieder ein sich neu eröffnendes sicheres Leben schrittweise anzunehmen.

Die traumatischen Erfahrungen von Kindern bezeichne ich in diesem Buch als Entwicklungstraumatisierungen (Streeck-Fischer 2006; Sachsse 2004; Heller/Lapierre 2013), weil traumatische Belastung oft über längere Zeit während einer Phase geschehen, in der grundlegende Entwicklungsschritte bewältigt werden müssen, die für die Gestaltung des weiteren Lebens prägend sind. Oft geschehen diese Traumatisierungen durch Bindungspersonen, auf die ein Kind existentiell angewiesen ist. Kinder sind immer abhängige Wesen, die sich allein nur bedingt selbst vertreten können. Dies sind wesentliche Unterschiede zu späteren Phasen des menschlichen Lebens.

Gerade in ihrem Entwicklungsumfeld erfahren traumatisierte Kinder oft schon sehr früh, dass die Bindungsperson kein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln kann. Angst, Schmerz und Einsamkeit werden so schnell als Normalzustand wahrgenommen. Erst wenn sie mit anderen Lebenswelten – z. B. der Besuch bei der Oma, der Nachbarin, im Kindergarten, in der Schule – in Berührung kommen und älter geworden sind, fangen sie an zu vergleichen, zu hinterfragen. Die Kinder beginnen, die eigenen bedrohlichen Erfahrungen anders einzuordnen als die beobachteten, wohligen Erfahrungen anderer Kinder. Aber das Gehirn speichert alles, was an Reizen stark genug ist, um wahrgenommen zu werden. Schon vorgeburtlich und danach werden diese Erfahrungen durch den Aufbau basaler neuronaler Verknüpfungen im Gehirn verankert (Hüther 2002). Sie werden im Laufe des Lebens durch sich wiederholende Erfahrungen bestätigt und immer wieder verstärkt. Gerade die frühen Erfahrungen mit Bindungspersonen beeinflussen die natürliche Aufgabe des Organismus, ein Urvertrauen in die Welt zu entwickeln und zu lernen, vom Zustand der Erregung und Spannung in den Zustand der Entspannung und Ruhe zu kommen. Traumatische Erfahrungen mit Bindungspersonen werden kognitiv durch verzerrte Erklärungsmuster umgedeutet. Dies geschieht, um Bindungen zu Tätern aus dem nahen Umfeld aufrechterhalten zu können, da sie überlebensnotwendig sind. Schuld und Schamgefühle finden hier ihre Erklärung.

Für betroffene Kinder wurde ein breites Spektrum an Behandlungsmethoden entwickelt. Es gibt Beratungsstellen, psychotherapeutische Praxen, Kliniken und Jugendhilfeeinrichtungen, die wissen, was traumatisierte Kinder brauchen. Polizei und Richter sind sensibler geworden, es existieren Opferschutzgesetze. Und doch sind immer noch viele Kinder in ihrem Zuhause, Ersatzfamilien, Wohngruppen, Heimen nicht sicher aufgehoben. In vier von fünf Heimen wurde in den letzten Jahren dem Verdacht des sexuellen Missbrauches nachgegangen (Fegert et al. 2013). Manche Klienten äußern nach einer Traumabehandlung, dass sie nicht ausreichend profitieren konnten. Es gibt Missbrauch in der Therapie. Um dies zu ändern, bedarf es für eine Weiterentwicklung der Hilfemöglichkeiten der Zusammenarbeit in Netzwerken. Betroffene, Angehörige, Praktiker, Wissenschaftler und Politiker sollten weiter gemeinsam an Runden Tischen erarbeiten, wie noch sicherer erreicht werden kann, dass Kinder geschützt aufwachsen können.

Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

  • Es liegt eine lebensbedrohliche Gewalterfahrung vor, die Gefühle der Ohnmacht, Hilflosigkeit, Todesangst auslösen.
  • Es geschieht der Zusammenbruch von Bewältigungsmöglichkeiten.
  • Flucht und Verteidigung sind nicht möglich, in einem Schockzustand wird der Totstellreflex aktiviert, es kommt zur Erstarrung, Übererregung, Gefühllosigkeit.
  • Die Verstehensmöglichkeiten des Geschehens brechen zusammen.
  • Das Grundvertrauen in die Welt wird erschüttert.

Abb. 2:  Die Posttraumatische Belastungsstörung (nach Van der Kolk, 2000)

Der erste Schockzustand, den wir auch als »peritraumatische Reaktion« verstehen können, entspricht bereits einem dissoziativen Zustand. Der Mensch ist in einem hoch erregten Zustand, er ist nicht voll hier und jetzt orientiert, er schaltet ab, betäubt sich, geht innerlich weg. Es ist die einzige Möglichkeit des Überlebens in einer nicht aushaltbaren und verstehbaren Situation. Dieser Zustand kann unterschiedlich lange im Organismus auch nach Beendigung des traumatischen Geschehens aufrechterhalten werden. Er dient dem Überleben in einer nicht aushaltbaren Situation. Genau genommen können wir inzwischen sagen, dass Traumafolgestörungen deshalb bestehen, weil das traumatische Geschehen innerlich noch nicht beendet werden konnte und mit einem Teil der Organismus aufrechterhalten werden muss (Levine 1998). Dissoziative Zustände dienen dazu, nicht aushaltbare traumatische Erfahrungen haltbar und somit aushaltbar zu machen.

Symptome einer PTBS

Überregung ist die Folge von Überausschüttung der Stresshormone während der Traumatisierung und danach. Der Mensch kommt nicht zur Ruhe, eine innere Getriebenheit bestimmt ihn, die ihn auch nachts nicht schlafen lässt. Konzentration ist oft unmöglich, ständige Anspannung, Nervosität und innere Unruhe sind die Folgen. Kinder kommen in der Schule nicht mit, Erwachsene schaffen es nicht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren; sie verspüren Ungeduld, Körperverspannungen und Erschöpfung. Bei kleinsten unangenehmen Reizen kann es zu Affektdurchbrüchen kommen.

Intrusion ist das erneute Eindringen von traumatischen Erfahrungen in das Erleben. Es ist gebunden an die Wahrnehmungskanäle. Über Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Ertasten wird ein traumaassoziierter Reiz wahrgenommen und darauf erneut mit Panik reagiert. Diese Auslösesituationen bezeichnen wir als Trigger. Damit ist gemeint, dass kleine äußere Reize, die an das traumatische Erleben erinnern, diese Intrusion auslösen können. Aber auch innere Reize können Trigger sein. Bestimmte Gefühle, Gedanken, Körperreaktionen, die an die Reaktion während der Traumatisierung erinnern, können Flucht-, Verteidigungs- oder Totstellreflexe auslösen. Der Mensch reagiert dann so wie damals, er ist in Panik, fühlt sich ohnmächtig und ausgeliefert. Ein Flashback bedeutet, dass das Wiedereindringen der Traumaerfahrung die ganze Person umfasst, sie erlebt sich als Ganzes, so wie sie sich damals erlebt hat. Es gibt in diesem Moment keine Distanz zu dem Erleben. Eine solche Situation ist eine Retraumatisierung und verstärkt die traumaassoziierten Erinnerungsspuren im Gehirn. Häufig sind Trigger, die die psychische Reaktion auslösen, nicht bewusst. Erst in Beratung oder Therapie können sie erarbeitet werden.

Vermeidung ist das dritte wichtige Symptom. Der Mensch neigt dazu, möglichst alle Triggersituation in seinem Leben zu vermeiden. Dazu gehören Orte, Personen des traumatischen Geschehens, auch Gerüche, Geräusche, Farben und vieles mehr. Natürlich gehören dazu auch die Vermeidung von Nähe und Bindung zu Menschen, die Vermeidung von Sexualität, von Auseinandersetzung ebenso wie auch die Vermeidung von bestimmten inneren Zuständen. Damit soll das Wiedereindringen von Intrusionen verhindert werden. Wird die Vermeidung aufrechterhalten, wird das Leben eng und leer.

Das posttraumatische Spiel Kinder bis zum zehnten Lebensjahr benutzen diese Verarbeitungsmöglichkeit. Es ist der Versuch, spielerisch das erfahrene Trauma dadurch zu bewältigen, dass es immer wieder in Szene gesetzt wird. Dabei spielen die Guten und die Bösen eine Rolle, der Täter und das Opfer. Das Spiel allein kann aber nicht zur Bewältigung einer traumatischen Erfahrung führen. In der Therapie fügt der Therapeut ein drittes, helfendes Element hinzu, damit es zu einer Weiterentwicklung kommen kann.

Diagnose einer PTBS

Die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTBS) kann vergeben werden, wenn laut der Internationalen statistischen Klassifikation für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme (ICD) zusätzlich zu den beschriebenen Symptomen ein traumatisches Ereignis, eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung nachweisbar ist und mindestens sechs Monate zurückliegt. Dies lässt sich relativ leicht diagnostizieren, wenn es sich um eine Monotraumatisierung handelt und das traumatische Ereignis bekannt ist. Bei kindlichen, sich wiederholenden Traumatisierungen kann ein einziges Ereignis für die vorhandenen Symptome nicht verantwortlich gemacht werden, da das gesamte Lebensmilieu des Kindes oft traumatisierend wirkte. Außerdem haben sich über längere Zeit verschiedene weitere Symptome entwickelt, die auf mögliche traumatische Erfahrungen hindeuten können, aber auch andere Diagnosen rechtfertigen könnten. Dann besteht die Gefahr, dass Symptome falsch interpretiert werden. Häufig ist es so, dass wir nur Symptome finden, die traumatischen Ereignisse selbst sind jedoch nicht verifizierbar. Ein entsprechendes traumatisches Ereignis als erstes Kriterium für die Diagnose ist deshalb oft nicht nachweisbar. Dies kann verschiedene Gründe haben:

Die Diagnosekriterien lassen sich oft angemessen auf Menschen mit Monotraumatisierungen, die ansonsten in einem hinlänglich normalen Milieu leben, anwenden. Schwierig ist die Feststellung der Diagnose also, wenn während der frühen Kindheit über lange Zeit Gewalt stattgefunden hat. Die Diagnose »PTBS« im ICD wird mit ihrer Forderung nach einem nachweisbaren traumatischen Ereignis, ihrem Zeitfenster von einem halben Jahr (Auftreten der Symptome) und ihrem eingegrenzten Symptomkatalog der psychischen Realität entwicklungstraumatisierter Kinder nicht gerecht. Sie umfasst nicht das typische Traumatisierungsmilieu und die Entwicklungsfolgen dieser Kinder. Sie beinhaltet auch nicht die besondere Reaktionsweise eines Kindes. Diese agieren ihre Symptome im Verhalten, im Spiel, in Imaginationen aus. Sie reinszenieren, erfinden Geschichten, verlieren Fähigkeiten, die sie schon konnten, werden extrem klammernd, das Bindungssystem (Brisch 1999) wird aktiviert. Sie entwickeln Bewältigungsmechanismen, die sie in ihren Alltag einbauen und aus denen heraus sie bei Belastung reagieren. Sie haben aggressive Ausbrüche, können sich in der Schule nicht konzentrieren, stören oder isolieren sich.

In der Erziehungsberatung wird der 8-jährige Helmut mit einer ausgeprägten Enkopresis (Einkoten) von seiner Mutter vorgestellt. Er hat eine fünf Jahre ältere Schwester. Der Vater ist Fernfahrer, die Mutter Hausfrau. Aus der Anamneseerhebung und der Diagnostik ergibt sich das Bild einer scheinbar normalen Familie. Die beginnende, verhaltenstherapeutisch orientierte Therapie bringt keine Erfolge. Nachdem eine leidlich tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut werden konnte, berichtet Helmut, dass er regelmäßig mit dem Vater am Wochenende auf Fernfahrt geht und auch mit ihm im Laster übernachtet. Während er das berichtet, wirkt er bedrückt und verschlossen. Weitere Fragen lässt er nicht zu. In der Therapeutin entsteht der Verdacht des sexuellen Missbrauchs. Die Therapeutin sagt: »Da ist etwas, was Du noch nicht preisgeben kannst, ich respektiere das.« Helmut schweigt. In dieser Therapie gelingt es nicht, den Verdacht zu erhärten.

Viele Jahre später erscheint die inzwischen jugendliche Schwester und sucht Hilfe wegen einer Depression. Sie berichtet unter anderem, dass sie unter Schuldgefühlen leide, weil sie damals ihrem Bruder nicht geholfen habe. Der Vater habe ihn während der Fahrten mit dem Laster regelmäßig anal vergewaltigt. Das habe er ihr damals erzählt.

Die Reaktionsweisen von Kindern nach Entwicklungstraumatisierungen finden wenig Berücksichtigung im ICD. Hier ist Nachbesserung notwendig, wie bereits erkannt und diskutiert wurde (Herpertz, Dahlmann et al. 2003; Streeck-Fischer 2012). Die Autoren schlagen die Einführung der Diagnose »Entwicklungstraumastörung« und deren Übernahme in das ICD vor. Von anderen Fachleuten wurden andere Begriffe in die Diskussion eingebracht. So stellt Brisch bei den umfassenden Folgen von traumatischen Erfahrungen während der frühen Phase der Entwicklung die Bindungsqualität besonders in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Er betont, dass die Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, bei denen frühe Störungen der Entwicklung – etwa durch Traumatisierungen in den ersten Lebensjahren – vorliegen, den Therapeuten vor große Herausforderungen stellt (Brisch, 2011). Diese Problematik betont auch Wöller, wenn er von »Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen« spricht und die Zusammenhänge zwischen frühen traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und der späteren Herausbildung von Persönlichkeitsstörungen wissenschaftlich belegt. Er zeigt Wege der Behandlung von persönlichkeitsgestörten Patienten mit frühen Traumatisierungserfahrungen auf (Wöller 2009). Schellong schlägt in diesem Zusammenhang eine Klassifizierung der Diagnosen vor, die die unterschiedlichen Folgen von traumatischen Erfahrungen berücksichtigen sollen (Schellong 2013).

Entwicklungstraumastörungen lassen sich nach Abb. 3 unter Typ II, aber vor allem auch unter Typ III und IV finden. Um die komplexen Folgen kindlicher traumatischer Entwicklungswege ausreichend zu respektieren, müssen sie deshalb als eine Unterkategorie der komplexen Traumafolgestörung verstanden werden. Forschungsergebnisse weisen eindeutig in die Richtung, dass die Folgen früher lang anhaltender Traumatisierungen vor allem durch Bindungspersonen komplexer und tiefer in die Persönlichkeit eingegraben sind als jene komplexen Traumatisierungen, die während einer späteren Lebensphase geschehen.

Sollte der Begriff der komplexen Traumafolgestörung im nächsten ICD als Diagnose übernommen werden, wäre dies ein Schritt in die richtige Richtung.

Typ I

einfache PTBS

Intrusionen, Vermeidung,

Hyperarousel, ohne Komorbidität

Typ II

PTBS plus traumakompensatorische Symptomatik

plus Komorbidität, z. B.

Angst, Depression, Somatisierung,

Abhängigkeitserkrankungen,

Depersonalisation, Derealisation,

sonstige kompensatorische Symptome

Typ III

PTBS plus persönlichkeitsprägende Symptomatik

plus schwere emotionale Instabilität

dissoziative Symptomatik,

Bindungs- und Beziehungsstörungen,

verändertes Selbst- und Weltbild

Typ IV

PTBS plus komplexe dissoziative Symptomatik

plus Amnesien, Teilidentitätsstörungen,

Identitätswechsel

Abb. 3:  Diagnostik und Symptomatik von Traumafolgestörungen (nach Schellong 2013)

Die Traumatypen I und II

Traumatyp I – Monotraumatisierungen

Es gibt unterschiedliche Traumatisierungshintergründe. Bereits Judith Herman (1993) entwickelte deshalb die Aufteilung in Traumatyp I (Monotraumatisierung) und Traumatyp II (Komplextraumatisierung). Unter Traumatyp I werden seitdem Folgen von Traumatisierungen verstanden, die einmal geschehen und einen Anfang und ein Ende haben innerhalb eines sonst relativ normal verlaufenden Lebens. Dazu gehören z. B. Unfälle, Operationen, Naturkatastrophen, einmalige Misshandlungen, Überfälle, Vergewaltigungen. Das Fallbeispiel Marie soll verdeutlichen, wie eine Monotraumatisierung das bisherige Gefühl von Sicherheit abrupt unterbrechen kann und wie es sich aber bei guten inneren und äußeren Ressourcen in einer möglichst schnell einsetzenden Therapie wieder herstellen lässt. Dabei wurde die Methode des Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) eingesetzt (Shapiro 1998 a/b).

Die Mutter sagt zu Marie (4 Jahre): »Die Straße ist frei, lauf rüber, da ist Papa, der wartet auf Dich.« Marie läuft los. Unvorhersehbar kommt ein Auto um die Ecke, erfasst Marie, schleudert sie über die Windschutzscheibe. Sie kommt mit einem Schock und einem gebrochenen Bein mehrere Wochen ins Krankenhaus. Nach der Behandlung wieder zu Hause verweigert Marie das Laufen. Sie will nur auf den Arm von Papa und Mama.

In der ersten Therapiestunde wird Folgendes deutlich:

Marie will nicht mehr über den Unfall sprechen, sie will auch nicht, dass die Eltern darüber sprechen, »weil das doof ist«. Damit meint sie, dass die Gespräche das innere traumatische Geschehen immer wieder aktivieren (Trigger) und sie sich belastet fühlt.

Marie versucht, die schockartig unterbrochene gute Bindung zu den Eltern wieder zu reparieren, indem sie sich anklammert und bereits gelernte Autonomieschritte aufgibt.

Indem die Therapeutin diese Erkenntnis in einer Familientherapiesitzung vermittelte und Marie sich schließlich im Arm der Mutter einkuscheln kann, lässt Marie sich darauf ein, dass die Therapeutin den Unfall vorspielt. Während dies geschieht, korrigiert sie und greift schließlich in das Spiel ein. Dann sagt sie: »Das Schlimmste war das Krankenhaus, Mama. Du warst nicht da, der Doktor kam mit der großen Spritze!« Die Therapeutin bestätigt, dass es schlimm war, dann erzählt Marie weiter: »Ich war so allein, da war die Tigerente auf dem Bett, das war gut.« Marie weint. Die Therapeutin leitet die Mutter an, sie zu halten und zu trösten. Beide weinen.

In zwei weiteren Sitzungen wiederholt sich das Geschehen. Jeweils differenzierter berichtet Marie nun ihre Erinnerungen, erzählt von ihrer Angst, ihren Schmerzen, ihrer Sehnsucht und äußert ihre Wut auf die Eltern, dass die nicht verhindert haben, dass der Unfall passierte. Die Therapeutin begleitet den Prozess verbal bestätigend und zusätzlich mit wechselseitigen Stimulierungen der Fußsohle (EMDR). Damit soll die neuronale Verarbeitung der traumatischen Erfahrung intensiviert werden. In der vierten Sitzung bringt Marie eine Stoffblume mit. »Die ist für Dich«, sie kommt selbständig gehend in den Therapieraum. Die Eltern berichten, dass Marie nun wieder laufen kann. Ein letztes Elterngespräch nach zwei Monaten ergibt, dass Marie symptomfrei ist.

Traumatyp II – Komplextraumatisierungen

Menschen mit Komplextraumatisierungen haben eine Reihe von traumatischen Erfahrungen, oft verschiedenster Art hinter sich. Es gibt oft keinen eindeutigen Anfang und kein wirkliches Ende. Das Leben ist Trauma und etwas anderes ist kaum vorstellbar. Traumatisierende Entwicklungsbedingungen in der Kindheit wie körperliche und seelische Misshandlungen, Vernachlässigungen, sexueller Missbrauch, häufige Wechsel der Beziehungspersonen und der Lebensmittelpunkte, überleben mit sich misshandelnden Eltern, mit chronisch kranken Eltern, Flucht und Vertreibung aus Heimatländern sind deshalb Teile von Komplextraumatisierungen. Gerade jene frühen traumatischen Erfahrungen beeinträchtigen die Entwicklung erheblich und bestimmen über den Erfolg oder Misserfolg bei der Bewältigung weiterer Entwicklungsaufgaben und Belastungen. Sie führen oft zu unspezifischen Störungen, die es erschweren, sie als Folge von kindlichen Entwicklungstraumatisierungen zu verstehen (Streeck-Fischer 2012). Während der Begriff der Komplextraumatisierung alle Formen multipler Traumatisierung umfasst, kann kindliche Entwicklungstraumatisierung als eine wichtige Unterkategorie davon verstanden werden, sie hebt deren frühe Verursachung durch verschiedene Formen der Gewalterfahrung durch Bindungspersonen oder den Verlust derselben hervor. Die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf die sich entwickelnde Persönlichkeit ist entscheidend davon abhängig, ob es möglich war, vor Beginn der traumatischen Erfahrungen gute Bindungs- und Bewältigungserfahrungen internalisiert zu haben. Dies bestimmt die Qualität ihrer Bewältigung oder Nichtbewältigung und beeinflusst häufig, ob weitere Traumatisierungen folgen werden oder sich schwere komplexe Traumafolgestörungen entwickeln.

In Abb. 4 soll beispielhaft der Verlauf einer Entwicklungstraumatisierung im Kontext-Kontinuum-Schema veranschaulicht werden. Dabei wird zwischen traumatischen Belastungen und äußeren Ressourcen unterschieden. Die Altersskala zeigt das jeweilige Entwicklungsalter an, das zu den jeweils zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben in Beziehung gesetzt werden kann. Der Kontext meint das jeweilige Lebensumfeld des Kindes, es unterscheidet sich nach der jeweiligen emotionalen Bedeutung für das Kind. Die dunkelgrauen Bögen zwischen den traumatischen Ereignissen bezeichnen belastende »Affektketten« (Huber 2011). Die hellgrauen Bögen zeigen unterstützende Affektketten an. Dieses Schema ist hilfreich, um anamnestische und diagnostische Erkenntnisse zu dokumentieren und kann entsprechend weiterer Erkenntnisse fortgeschrieben werden. Gleichzeitig kann das Schema Grundlage für eine ressourcenorientierte Traumabearbeitung sein, bei der unterstützende Affektketten zur Stabilisierung aktiviert werden.

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Abb. 4:  Schema Kontext-Kontinuum und Entwicklung

Das Traumatisierungsmilieu in der kindlichen Entwicklung und seine Folgen

Kindheit ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass wichtige, basale Entwicklungsschritte bewältigt werden müssen. Ihre Speicherung geschieht in einem Gehirn, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefestigt ist. Erste neuronale Verbindungen werden durch traumatische Erfahrung basal geprägt und bestimmen die weitere Entwicklung des Gehirns (Hüther et al. 2010). Deshalb wirken sich Traumatisierungen, die in dieser Zeit geschehen, besonders tief auf die psychische Struktur und damit auf alle weiteren Entwicklungsschritte aus. Vor allem, wenn sie über lange Zeit geschehen und Kinder in einem Traumatisierungsmilieu aufwachsen müssen.

Kriterien für traumatisierende Entwicklungsbedingungen

Wichtige Formen früher Traumatisierung sind sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, häufige Bindungsabbrüche, frühe Migration.

Symptome von Kindern und Jugendlichen sind oft so unspezifisch, dass sie nicht als Anpassungsleistungen an ihre Traumatisierungswelt verstanden werden können. Streeck-Fischer (2012) benennt sieben Kriterien, die auf traumatisierende Entwicklungsbedingungen hinweisen, sie sollen im Folgenden verkürzt wiedergegeben werden.