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Leichter Wind im Paradies - Carmen-Francesca Banciu

Carmen-Francesca Banciu

Leichter Wind im Paradies

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

(Print) ISBN: 978-3-941524-60-6

(E-Book) ISBN: 978-3-941524-62-0

Erste Auflage, März 2015

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Carmen-Francesca Banciu

PalmArtPress, Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin

www.palmartpress.com

Fotos: Carmen-Francesca Banciu

Herausgeberin: Catharine J. Nicely

Hergestellt in Deutschland

Für Dieter Ohlhaver und Germa von Heydebreck-Ohlhaver

Vorwort

„Dreizehn Arten, den Regen zu beschreiben“ - und tausendundeine die Sonne, sinkend oder aufsteigend im Spiegel des Meeres.

Trotz all der Tragödien um die von der Autorin „Orestes“ oder „Clytemnestra“ getauften Heuschrecken, trotz all der Insekten-Satyrspiele um Arachnes Netze, Ariadnes Fäden, um Liebes-Labyrinthe und Todesorgien in der Terrassen-Arena der Miniatur-Mi- notauren, im polyphonen Gezirp der Zykaden eines griechischen Sommers: mit der Autorin allein auf der Terrasse, mit ihr unter Menschen im Auto, im Kafenion, im Meer wird beim Lesen - jetzt, im Schmelzen des Berliner Schnees - Gramm um Gramm das Gewicht der Welt leichter und Stufe um Stufe das Auge lichter ...

So bescheiden wie klug knüpft Carmen-Francesca Banciu an die Wurzel aller von Griechenland beseelten Dichtung an: Hymne zu sein ans Licht. Und am Ende steht Anfang:

Ich spüre das Herz, wie es sich zusammenzieht. / Und verglüht, wie der tägliche Tod der Sonne. / Ich weiß es. / Es gibt keinen Anfang. / Und es gibt kein Ende. / Ich weiß es. / Nichts geht verloren. / Nichts stirbt. / Es verwandelt sich nur. / Ich weiß es. / Und vergesse es immer wieder.

Werner Fritsch, Januar 2015

Hearing many words is not listening. It's like a noise among the leaves. The quality of listening is attention. Sagt Yddu Krishnamurti.

Watching many things is not seeing. The quality of seeing is awareness. Füge ich hinzu.

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Kareliagold

Nein, ich fange nicht wieder an.

Ich habe nie aufgehört. Mit dem Rauchen.

Ich rauche nur noch ein paarmal im Jahr. Vielleicht zehnmal. Aber heute habe ich Lust darauf. Auf eine George Karelia. Ich habe sie hier in Griechenland das erste Mal probiert. Damals vor 15 Jahren. Und es gibt sie heute noch.

Vieles hat sich in den 15 Jahren hier verändert. Vieles ist in den 15 Jahren verschwunden. Die Karelias sind immer noch da. A blend of the finest. Un mélange ... Immer noch in der flachen, gelben Packung. Die Packung mit goldenen Lettern. Die man wie eine Pralinenschachtel öffnet. George Karelias and Sons. Smoother taste. Virginia. Alles wie vor Jahren. Nur dass heutzutage ein weißes Etikett mit tiefschwarzer Schrift die elegante Schachtel verunstaltet. Bedrohlich anmutend klebt es auf der Vorderseite. Und wiederholt sich auf der Rückseite. Ein Vor-Aufscheinen der künftigen Todesanzeige für den Raucher.

Der süßlich-würzig-weiche Geruch lässt auf sich warten. Bis ich die Schachtel weit aufgemacht habe. Aber ich lasse mir Zeit. Und studiere mit Geduld erst den Aufdruck im Inneren des Deckels. Ich kann mich nicht erinnern, diese Nachricht von George A. Karelias jemals gelesen zu haben. Habe ich damals seiner Botschaft keine Aufmerksamkeit geschenkt?

Damals jedenfalls hat George A. Karelias zu mir nicht gesprochen.

Oder handelt es sich jetzt vielleicht um eine neue Botschaft.

For over a century successive generations of our family have worked to refine our products. From this rich heritage and tradition we bring to you a distinctive cigarette of superior quality.

George hat selbst in Gold unterschrieben. Ein regelmäßiger, ausgeglichener, eleganter Schriftzug. Ein Mann im Gleichgewicht. Kein Liebhaber wilder Exzesse.

Ist das wahr?

Wenn man die Schachtel öffnet, bekommt man eine leise Ahnung von dem, was Mr. George meint. Aber erst muss man das elegante Papier bewundern. Bemustert mit den winzigen Karelia-Zeichen. Unzählige Goldwappen auf weißem Papier. Wenn man den Papierschutz aufschlägt, erstrahlt die innere Seite ganz in Gold. In diesem leuchtenden Bett liegen die Zigaretten untereinander in zwei Reihen. Mit langen orangenen, gelb gesprenkelten Filtern. Jede einzelne trägt in Gold den Namen Karelia.

Weißer Lederhandschuh-Milch-Vanille-Honig-Duft. Und der Duft nach Tabak. Aus der Schachtel steigt er sanft empor. Un mélange des meilleurs tabacs choisis pour qualité ...

Ich atme den feinen Duft ein. Leicht und reich. Seine betörende Süße entspannt mich. Der griechische Sommerabend ist vollkommener mit ihm. Ich bin aus Berlin fort. Bin geflüchtet. Meinem Leben bin ich entkommen für diesen Sommer. Um in ein anderes zu schlüpfen. In das Leben auf einer Terrasse mit Blick über das Meer.

Ich bin aus Berlin fort, um alles Schwere, alles Ungelöste hinter mir zu lassen. Mindestens das alte Leben zu unterbrechen. Oder es gar zu ändern. Mich von der Schwere zu befreien. Mich neu zu gebären. Durch einen anderen Blick. Durch eine andere Haltung. Durch Achtsamkeit. Durch Aufmerksamkeit. Ich bin gekommen, um das Leben selbst zu berühren. Um mich neu zu gebären. Und das Gebären in Worte zu fassen.

Kareliaglück

Ich wohne in einem einsamen Haus. Am Rande eines Dorfes in der Mani.

Es ist nicht mein Haus. Es ist das Haus Lübecker Freunde. Und ich darf diesen Sommer hier verbringen. Erst vor kurzem angekommen, tauche ich in die samtene Luft ein.

Um mich der laue Sommerabend.

Der neue Mond. Zierlich. Eine Arabeske.

Kareliagold.

Der neue Mond hängt über dem Meer.

Ich sitze auf der Terrasse. Eine Terrasse am Hang. Und so wie ich sitze, sieht es aus, als wäre die Terrasse eine Brücke. Vom Garten zum Meer.

Ich wähle eine Zigarette. Die dritte in der Reihe. Als hätte das eine Bedeutung. Es hat eine Bedeutung. Es ist die dritte Zigarette aus der oberen Reihe.

Und weil sie die dritte ist, schmeckt sie anders als die zweite. Oder die zehnte. Oder die siebzehnte aus der zweiten Reihe.

Weil sie mehr Feuchtigkeit.

Weil sie mehr Luft.

Weil sie mehr Licht abbekommt.

Weil ich sie ausgewählt habe.

Weil nichts sich selbst gleich ist. Und alles immer neu und unbekannt.

Ich kann mich vom Duft nicht trennen und klemme die Karelia zwischen Oberlippe und Nase. Ich schaue aufs Meer. Und zum Mond hinauf. Und zu dem Gewimmel fliegender Falter um die Hängelampe auf der Terrasse.

Die Karelia zwischen Oberlippe und Nase. Ich stelle mir vor, wie das aussieht. Und muss lachen. Und die Zigarette fällt auf den Boden. Ich hebe sie auf. Es ist die dritte Zigarette aus der oberen Reihe. Und doch, sie ist etwas oder jemand anderes geworden. Von jetzt an ist sie die dritte Zigarette aus der oberen Reihe, die auf den Boden gefallen ist.

Die-dritte-Zigarette-aus-der-oberen-Reihe-die-auf- den-Boden-gefallen-ist hat jetzt eine Geschichte. Die hatte sie schon davor. Ich kannte sie nur nicht. Ich hatte nicht einmal daran gedacht. Nun gab es sie, weil ich sie wahrgenommen habe.

An der Schachtel schnuppert eine Heuschrecke. Sie ist ockerfarbig. Mit bräunlichen Mustern und grünen Verzierungen. Auch sie passt zum Gold der Schachtel.

Ich halte meine Zigarette unter die Nase und atme den Duft ein. Der Duft macht mich glücklich. Kann mich das Rauchen noch glücklicher machen?

Eine Heuschrecke mit nur einem Fühler will zum Geruch. In die Schachtel. Ich schließe die Schachtel. Erschrecke die Schrecke. Ohne Absicht. Sie bleibt auf dem Tisch. Erstarrt. Dann taut sie wieder auf. Tastet sich mit ihrem Fühler immer näher an die Schachtel heran. Sie muss eine Raucherin sein. An addicted smoker.

Mich macht der Duft glücklich. Der Duft von twenty luxury cigarettes.

Zwanzigmal kann ich mich darüber freuen. Wenn ich den Duft des Tabaks, nachts auf der Terrasse sitzend - umgeben von singenden Zikaden, von zirpenden Grillen und Grashüpfern, von neugierigen Heuschrecken, von orange- und rosafarbenen Faltern, von kleinen zitronengelben, winzigen Insekten - mit tiefem Zug einatme.

Zwanzigmal kann ich mich darüber freuen. Und noch öfter. Wenn ich sie nicht anzünde. Am Fuß des Berges flimmern die Lichter der Stadt. Die Lichter von Stoupa. Und hinter den Lichtern breitet sich aus ein Meer von Dunkelheit. Hinter den Lichtern liegt dunkel das Meer.

Ich, hoch oben auf einem griechischen Berg, könnte jetzt die feinste Zigarette rauchen. More than a century hat man sich darum bemüht. Damit ich sie heute und jetzt genießen kann.

Seit Jahren habe ich mir keine eigenen Zigaretten gekauft. Nur manchmal bei anderen Rauchern geschnorrt. Ich habe gar kein Feuerzeug. In meiner überraschungsreichen Tasche. Eigentlich ein Stadtrucksack. Finde ich eine schmale Streichholzschachtel. Auf der Schachtel steht Hotel Remarque. Diese Schachtel ist mit mir viel gereist. Durch die halbe Welt. Ohne einen Grund. Weil sie einfach da war. Und kein Grund da war, sie rauszuholen.

Hotel Remarque in Osnabrück. Das ist lange her. Aus Osnabrück kommt eine Freundin. Auch sie habe ich in Griechenland kennengelernt.

Nein. Ich habe sie nicht geraucht. Die Karelia. Ich habe sie zurückgelegt. Und bin mit dem Duft eingeschlafen.

Augen hinter den Augen der Augen

Alles hier im Dorf wacht früher auf als ich. Es ist erst kurz nach fünf.

Wie früh muss ich aufstehen, damit ich die erste bin? Damit ich alles mitbekomme. Damit ich alles wahrnehme. Damit mir nichts entgleitet. Entgeht. Damit ich meine Spuren in das Geschehen einflechte. Damit ich Teil des Ganzen bin. Und gleichzeitig den überblick behalte.

Alles möchte ich sehen. Und doch übersehe ich das meiste. Ich brauche Zeit, um die Dinge wahrzunehmen. Denn die Dinge verstecken sich vor mir. Sie verstecken sich vor dem Auge des Fremden. Sie verstecken sich vor dem Auge des Ungeübten. Des Eiligen. Des Eindringlings.

Ich übe, die Landschaft wahrzunehmen. Und jeden Tag vertraut sich mir die Landschaft ein Stück mehr an. Wie eine gefüllte Rose öffnet sie sich mir. Meine Augen sehen immer weiträumiger. Umfassender. Immer tiefer. Augen hinter den Augen der Augen öffnen sich.

Am Anfang sehe ich das, was ich weiß. Was ich kenne. Jeden Tag übe ich. Jeden Tag lerne ich. Jeden Tag sehe ich über die Grenzen meiner Welt hinaus. Meine Augen ernähren sich aus der Welt. Aus meiner täglich wachsenden Welt. Und aus der Welt der anderen. Mein Blick. Mein Wesen. Sie erweitern sich.

In den ersten Tagen sehe ich nur das, was ich bereits kenne. Was ich erwarte.

Erst heute entdecke ich von der Terrasse aus eine Weggabelung. Und die abfallende Kurve. War sie immer da?

In der Kurve tauchen zwei Backpacker auf. Wie aus dem Nichts. Wie aus einer anderen Welt. Aus einer anderen Dimension. Als hätten sie die Kurve mitgebracht.

Die Backpacker lassen die Kurve hinter sich. Sie steigen in den Fluss der Straße, die nach unten rauscht.

Zwei Backpacker auf dem Weg nach Stoupa. Der Morgen ist erst angebrochen. Noch ist das Gepäck leicht. Ihr Schritt federnd. Der Körper entspannt. Der Atem von der Frische des Morgens erfüllt. Im Gaumen die Erinnerung des Sommerfrühstücks.

Zwei muntere Backpacker. Sie trampen nicht. Sie wollen laufen. Ihre Kräfte ausprobieren. Oder wollen sie sich im Sehen üben. Im Sehen der Dinge, die sie nicht kennen. Nicht ahnen. Nicht erwarten.

Sie erwarten mich nicht auf der Terrasse.

Sie sehen mich nicht.

Homesick

Ich habe vergessen, die Klappe des Mülleimers über Nacht zu schließen. Die Ameisen sind vor mir aufgestanden.

Sie haben eine Ameisenstraße gebildet. Steigen in einer schmalen Reihe nach oben zum Müll.

Noch keine Straße nach unten.

Ich schließe den Deckel und unterbreche die Straße. Einige Ameisen bleiben drinnen eingeschlossen. Sie werden zum Müllplatz kommen. Auf die andere Seite des Dorfes. Dort, wo die Müllcontainer stehen.

Weit weg von hier.

Werden sie ihren Weg zurück nach Hause finden?

Werden sie sich ein anderes Zuhause schaffen?

Werden sie von anderen Ameisen aufgenommen? Angenommen?

Oder werden sie verloren gehen in der Fremde?

Ich lasse den Deckel geschlossen.

Morgenstimmung

Der Gesang der Zikaden lässt die Landschaft vibrieren. Die Luft steht. Das Meer wacht langsam auf. Die Berge auf Koruni treten aus dem Dunst.

Das Meer ist verschleiert. Unter dem Schleier bewegt sich das Wasser in Quadrillionen von zitternden Unebenheiten.

Diese Bewegungen will ich erfassen.

Beschreiben.

Benennen.

Die Abstraktion der Bewegung erreichen.

Für sie einen Ausdruck finden. Alles in Worte fassen.

Ich suche.

Quadrillionen von Versuchen müsste ich wagen. Schon nach dem ersten erkenne ich meine Grenzen. Bevor ich mich weiter wage, hat sich die Bewegung des Meeres verändert. Der Schleier ist durchsichtiger geworden. Das Licht verwandelt sich ununterbrochen. Wie soll ich es einfangen mit meinen Worten. Sobald ich einen Zustand wahrnehme und in Worten festhalten will, verfälsche ich das, was ist.

Das, was ist, ändert sich. Ununterbrochen.

Es ändert sich mit einer nicht nennbaren Geschwindigkeit. So, dass nie etwas ist.

Also, wann ist etwas?

Ich erkenne meine Grenzen. Und will darüber hinaus. Außerhalb von mir ist die Welt grenzenlos.

Meer(es)durst