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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Die Erstausgabe erschien 2004

Umschlagmotiv: shutterstock.com/M.E. Mulder;

iStockphoto.com/Marta Jonina

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-86358-357-6

Kulinarischer Kriminalroman

Neuausgabe

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Für meinen Sohn Frederick

 

»Das Erste, was man bei
einer Abmagerungskur verliert,
ist die gute Laune.«

Gert Fröbe

1. Kapitel

… überaus gehaltvoll …

(Weinbeschreibung aus dem Gault Millau WeinGuide)

Julius konnte es nicht fassen. Er wollte den Blick abwenden, aber es gelang ihm nicht. Der Anblick übte eine merkwürdige Faszination aus. Trotz aller Abscheu, die er fühlte, trotz aller Wut, trotz aller Fassungslosigkeit. Wie konnte so etwas passieren? Wer ließ so etwas zu?

Julius ging im Kopf die letzten Tage und Wochen durch, um die Momente herauszufiltern, die zu dem geführt hatten, was er nun erblicken musste. Hatte er Warnungen nicht wahrgenommen? Hatte er dies vielleicht selbst zu verantworten?

Er stand da, den Kopf gesenkt, die Augen glasig, die Lippen verbittert zusammengepresst. Der Tag hatte so gut gerochen, als er die Fensterläden vor wenigen Minuten weit aufgedrückt hatte. Gestern war Pfingsten gewesen, das Fest des Heiligen Geistes. Schon einen Tag später war dieser nicht mehr zu finden. Nicht in diesem Raum.

Gestern erst war Julius spät in der Nacht aus dem jahrelang geplanten Urlaub zurückgekommen, auf dem er den Spuren seines dichtenden Vorfahren, Joseph Freiherr von Eichendorff, gefolgt war, hatte sich noch vor wenigen Stunden auf ein paar ruhige Tage zu Hause gefreut, da das Restaurant noch wegen Betriebsferien geschlossen war.

Er blickte durch das kleine Sichtfenster. Doch dahinter bewegte sich nichts mehr.

Die Wahrheit war nicht zu verleugnen, und Julius wusste, dass sie ihn als Täter nannte. Er konnte die Schuld auf niemand anderen schieben. Dieses Verbrechen hatte langen Vorlauf gehabt, viele Tage der Planung und Vorbereitung. Er musste sich eingestehen, dass er es gern getan, ja geradezu genossen hatte. Es half nichts, dass im Urlaub andere Regeln herrschten. Die Zeche musste er trotzdem zahlen.

Was war nur aus ihm geworden? Seit zwei Jahren klärte er nun nebenberuflich Verbrechen auf, wie konnte es passieren, dass er für dieses Grauen federführend verantwortlich war?

Für jedes einzelne Kilo.

Julius stieg wie in Trance von der Waage. Herr Bimmel, sein schwarzweißer Kater, kam ins Badezimmer getrottet und blickte ihn hungrig an. Die unheilvolle Veranlagung zum Schlemmen lag wohl in der Familie. Und doch, resümierte Julius, als er in den Spiegel blickte und sich die Wangen mit einer exakt in der Handinnenfläche abgemessenen Menge Rasierschaum einrieb, gab es Mittäter. Viele davon waren zu Freunden geworden. Es waren die Köche, bei denen er auf seiner Reise eingekehrt war. Die ihm noch dieses Gericht präsentieren und ihn von jenem wenigstens einen Happen probieren lassen wollten. Da er ein höflicher Mensch war, erklärte Julius sich das Unerklärbare nun, hatte er mehr als nur einen Happen probiert. Wie hätte das denn ausgesehen, den Rest immer stehen zu lassen? Da hieß es, feinfühlig zu sein. Wenn nötig, sogar Nachschlag zu verlangen, um den Gastgeber nicht zu vergrämen! Auch wenn dies auf Kosten der eigenen Gesundheit ging. Man musste Opfer bringen. Löffel für Löffel. Gabel für Gabel. Nachschlag für Nachschlag.

Herr Bimmel hatte begonnen, an Julius’ Morgenschluffen zu knabbern. Wozu einen der Hunger treiben konnte. Wo der Kater doch sowieso …

Julius kam eine Idee.

Der Kater blickte ihn ängstlich an.

Julius lächelte.

Herr Bimmel machte einen Buckel.

Doch das nützte nichts mehr. Er wurde hochgehoben, Julius stieg gemeinsam mit ihm auf die Waage und blickte durch das Sichtfenster zu seinen Füßen.

Zu viel!

Die Entscheidung war gefallen, das angenehme Katerleben beendet. Herr Bimmel traute sich kaum, in das Gesicht des weiß eingeschäumten Julius zu blicken, in dessen Augen furchtbare Entschlossenheit stand.

»Wir zwei diäten!«

Herr Bimmel maunzte und wand sich wie ein Fisch im Netz, um aus der fürchterlichen Umarmung zu entrinnen.

Doch es war zu spät.

Das Schicksal seines Speckes war besiegelt.

Nach beendeter Morgentoilette und Ankleide ging Julius zu Fuß zu seinem Restaurant. Dass dieses nur wenige Meter entfernt lag, änderte nichts an seiner Entschlossenheit, sie sportiven Ganges hinter sich zu bringen. Diese paar Schritte bei blendendem Wetter, das die Rebstöcke anregte, Wasser aus dem Boden in die Trauben zu pumpen, das den Cabriofahrern Gelegenheit gab, ihre Kopfhaut zu lüften, waren die ersten in ein leichteres Leben.

Es wurde durch die Briefe, die er im Restaurant-Briefkasten fand, jedoch gleich wieder erschwert. Die Firmennamen auf den Umschlägen stammten von seinen neuen Gläubigern. Bevor er zahlte, wollte Julius jedoch sehen, wofür.

Es kam ihm vor, als würde der Schlüssel geschmeidiger ins Schloss der »Alten Eiche« gleiten, als würde sich die Tür majestätischer öffnen. Julius wusste natürlich, dass im Eingangsbereich nichts geändert worden war, dass die Verwandlung im Inneren, im Herzen des Restaurants, stattgefunden hatte. Er blieb stehen und genoss die Vorfreude. Lange vor seinem Urlaub hatte er Pläne gezeichnet, hatte an jedem Detail getüftelt wie ein Uhrmacher an Pendel und Unruh. Palisanderholz, klare Linien, in die Decke eingelassene quadratische Leuchten. Ein wenig Art déco, ohne wirklich Art déco zu sein – aber nichts sollte die Konzentration vom Essen abziehen! Formen, Farben, Licht, alles wolle Julius zum leichtfüßigen Tanzen bringen, hatte der Innenarchitekt gescherzt. »Aber im Walzertakt«, hatte Julius geantwortet. Gleich würde er seinen Traum erstmalig betreten. Er sog die Luft ein, die noch nach frischer Farbe roch, und hielt den Rücken gerade.

Ein kleiner Schritt für Julius Eichendorff, ein großer für die schlemmende Menschheit.

Gleich …

»Herr Eichendorff! Gut, dass Sie da sind!«

Julius wandte sich um. Und blinzelte. Plateauschuhe, Schlaghosen, dunkle Korkenzieherlocken und Wangenknochen, die fast parallel zu den mandelförmigen Augen lagen. In der Eingangstür stand, von der Sonne rücklings wie auf einer Showbühne ins Licht gestellt: ein Rockstar.

»Cher?«

»Was haben Sie gesagt?«

Wenn dies Cher war, wo war Sonny? Und warum sprach Cher deutsch?

Sie trat aus dem Gegenlicht. Und plötzlich war Cher verschwunden. Die Frau vor ihm sah aus, als hätte sich noch kein Schönheitschirurg an ihr eine goldene Nase verdient. Sie hätte Chers jüngste Tochter sein können. Chers sympathische jüngste Tochter.

»Guten Tag, Herr Eichendorff. Entschuldigung, aber ich habe gerade nicht verstanden, was Sie gesagt haben.«

»Entschuldigung akzeptiert.«

Sie sah ihn fragend an. Ihre Augen strahlten Intelligenz aus.

»Oh, Sie wollen wissen, was ich … Sagen wir, ich habe Sie für eine alte Bekannte gehalten.«

Sie schüttelte den Kopf, als belästige sie eine Fliege. »Ist auch egal. Sie müssen mir helfen. Sofort!«

»Wir haben Betriebsferien, und ich koche zurzeit nicht. Ich muss ja auch mal Urlaub machen. Kommen Sie in einer Woche, dann öffnet die ›Alte Eiche‹ wieder.«

Julius drehte sich um, eine Melodie der amerikanischen Popdiva im Kopf. Bang, bang, my baby shot me down …

»Ich brauche keinen Koch. Ich brauche einen Detektiv

Auch das noch! Darauf hatte er ja nur gewartet, dass irgendwann jemand kommen und ihn bitten würde, den Ehemann zu observieren, ob der Gute wirklich nur zu Hause aß oder sich außerhalb mehr als Appetit holte. Das hatte er jetzt von der Aufklärung zweier Mordserien im Ahrtal. Und er hatte die Presse so gebeten, seinen Namen beim letzten Mal rauszuhalten, aber diesen schmackhaften Bissen hatte die Meute sich nicht nehmen lassen. Eine Mörderjagd im tiefsten Winter durch Heppingen, ein Spitzenkoch in Lebensgefahr. Bitte recht freundlich! Und so war aus ihm, dem Koch und Eigentümer des Gourmetrestaurants »Zur Alten Eiche« in Heppingen, der kulinarische Detektiv geworden.

»Hören Sie, suchen Sie sich einen echten Privatdetektiv. In Köln oder Bonn gibt’s bestimmt welche. Ich bin Koch. Sonst nichts. Und ehrlich gesagt denke ich, das ist mehr als genug.«

So, jetzt umdrehen und ins Restaurant gehen. Endlich die neuen Lampen sehen. Würden sie mit der passend dazu gewählten Wandfarbe harmonieren? Und wie wirkte die überhaupt auf großer Fläche?

»Es geht um Leben und Tod!«

Okay, dachte Julius. Der begehbare Traum musste warten, der Alptraum ging weiter. Immerhin sah er nett aus.

»Natürlich, geht es ja immer. Ihr Mann oder Ihr Freund, von mir aus auch Ihr Lebensgefährte – nein, nicht Ihr Lebensgefährte, das klingt furchtbar –, also wer auch immer betrügt Sie. Oder Sie glauben zumindest, dass dem so ist. Dann schleichen Sie ihm am besten selbst hinterher. Ich kann Ihnen da nicht helfen. Ich könnte Ihnen höchstens bei Gelegenheit ein gehaltvolles Süppchen kochen, damit Sie fürs lange Beschatten Kraft bekommen.«

In den dunkelbraunen Augen erschienen Tränen. Die junge Frau verbarg sie nicht. Sie stand einfach da und weinte.

Das hier würde länger dauern.

»Du setzt dich besser hin, Mädchen«, sagte Julius, stellte ihr einen der Stühle hin und reichte ein Taschentuch. »Möchtest du vielleicht eine Praline?«

Seine Notfallpralinen führten immer dazu, dass die Stimmung sich änderte. So auch diesmal: Sein Gegenüber war verdutzt.

»Sie bieten mir eine Praline an? Jetzt?«

»Ja, ich hab immer welche dabei.« Ihr Blick verriet, dass man Julius dies ansah. »Nebenbei gefragt: Glaubst du, dass ich zu viel auf den Rippen habe?«

»Ich glaube, Sie müssen ein hervorragender Koch sein. Wenn das Ihre Frage beantwortet. – Aber warum duzen Sie mich plötzlich?«

»Wer bei mir im Haus weint, wird geduzt. Alte Familientradition.«

Es war kein richtiges Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht zeigte, aber die Mundwinkel verließen die Vertikale doch kurzzeitig Richtung Wangenknochen. »Dann duze ich Sie … dich … aber auch. Du bist ein komischer Kauz.«

»Unter anderem.« Julius lehnte sich gegen die Wand und schwang lässig ein Bein über das andere. Komischer Kauz, na prima, so einer war mindestens hundertzwanzig Jahre alt und lebte in einem hohlen Baum. Da musste er wenigstens eine coole Position einnehmen. »Und jetzt raus damit. Worum geht’s?«

»Jemand will mich umbringen.« Sie sagte es ohne Pause zwischen den Wörtern, ohne Luftholen, ohne Zögern und ohne Stottern. Vielleicht klang es deshalb so wahr.

»Wer?«, fragte Julius. »Und warum?«

Sie schüttelte den Kopf. »Dafür brauch ich dich ja.« Sie musste lächeln, als sie Julius duzte.

»Warum bist du dir denn so sicher, dass es jemand auf dich abgesehen hat?«, fragte Julius. Als sie nicht direkt antwortete, stellte er noch eine Frage, die schon die ganze Zeit ungeduldig darauf gewartet hatte, ihre Arbeit aufzunehmen: »Und mit wem habe ich überhaupt die Ehre?«

Die junge Frau wischte sich die Tränen am Ärmel ab. »Zuerst die einfache Antwort. Du hast die Ehre mit der gestern frisch gekrönten Gebietsweinkönigin der Ahr, Constanze Dezaley. Sehr erfreut.«

»Hoheit!« Julius deutete eine Verbeugung an. Es musste doch ein richtiges Lächeln aus diesem Mädchen rauszuholen sein!

Es gelang nicht.

»Als ich heute Morgen in meinen Wagen gestiegen bin, fand sich dort eine Kreuzotter.« Constanze Dezaley sah Julius herausfordernd an. »Eine ausgewachsene Kreuzotter.«

»So was kommt hier im Tal vor, das müsstest du doch wissen. Die Biester schlängeln sich überall rein.«

»In einen abgeschlossenen Wagen?«

»Vielleicht stand eins der Fenster ja einen Spalt offen.«

»Aber nur einen klitzekleinen! Wie soll die Schlange bitte schön das Auto hochgeschlängelt sein? Das geht doch gar nicht!« Constanze Dezaley biss sich auf die Unterlippe.

»Vielleicht hat sie einer in hohem Bogen aus seinem Garten rausgeworfen, sie ist auf deinem Dach gelandet und von da aus reingekommen. Denkbar ist vieles. Wenn das alles ist, brauchst du gar nicht zur Polizei zu gehen.«

»Das haben die mir auch gesagt. Deshalb bin ich hier. Du musst mir helfen, bitte!«

»Sagen wir, es hätte dir tatsächlich jemand eine Kreuzotter in den Wagen gelegt – übrigens eine sehr unsichere Art, jemanden umzubringen. Dann stellen sich die Fragen, wer und warum. Da braucht jemand einen triftigen Grund.«

Constanze Dezaley schwieg. Dann stand sie auf. »Mir fällt kein Grund ein.«

Die Geschichte war abenteuerlich, aber die junge Frau schien fest davon überzeugt. Julius war es nicht. Constanze Dezaleys Verzweiflung stand allerdings außer Frage. Also würde er sehen, was er tun konnte. Und wenn es nur war, ihr die Hirngespinste auszureden. Doch dafür musste er sich alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

»Okay. Du hast gewonnen. Aber heute habe ich keine Zeit. Wir treffen uns morgen, sagen wir, gegen Mittag. Komm wieder ins Restaurant, und ich mach uns einen kleinen Imbiss. Dann reden wir und schauen, was wir machen können. Ich habe ganz gute Verbindungen zur Polizei, vielleicht kann ich sie vom Ernst der Lage überzeugen. Aber heute ist wirklich nichts zu machen. In Ordnung?«

Constanze Dezaley stellte den Stuhl wieder an seinen Platz und ging zur hölzernen Eingangstür. Sie blieb kurz davor stehen und drehte sich um. »Wenn du Todesangst hättest, würdest du auch keinen Tag warten wollen.«

»Wenn ich Angst hätte, ermordet zu werden, würde ich zu Freunden fahren, die weit weg wohnen und ein Haus mit perfekter Sicherungsanlage haben.«

»Hab ich nicht. Bis morgen.«

»Bis morgen. Wir kriegen das schon hin!«

»Natürlich.«

Als sie weg war, drehte Julius sich langsam um und ging genießerisch in den renovierten Prachtsaal.

Er war genau so, wie er ihn sich immer erträumt hatte.

Auf den ersten Blick.

Die gesamte Kraft und Ruhe, die Julius in seinem Urlaub getankt hatte, war bereits vor dem Zwölf-Uhr-Läuten verbraucht. Nach Besichtigung der Renovierungsarbeiten und der damit verbundenen Registrierung einiger Schlampigkeiten trat Julius in den kleinen Garten hinter dem Restaurant und setzte sich in den weißen Holzpavillon, im Blick den vor dem Urlaub noch englischen Rasen. Constanze Dezaley ging ihm nicht aus dem Kopf. Ihre Verzweiflung. Ihre Angst vor einer potenziell tödlichen Gefahr.

Julius hielt eine Gefahr persönlicher Natur in Händen. In Briefform. Noch ungeöffnet. Er hatte sie eben bei der Post gefunden. Julius wusste, dass es unvermeidlich war, und er wusste, dass es schmerzen würde. Und trotzdem blieb die Hoffnung, es doch irgendwie umgehen zu können. Julius versuchte es mittels Nicht-Öffnung des Briefkuverts.

Eine Ablenkung kam ihm da genau recht. Diese machte das kleine Tor zum Garten auf und kam freudig ein Plastiktütchen schwenkend auf Julius zu. Der blonde Hüne war sehnig, ein typischer Langstreckenläufer, einmal hatte er es sogar zur deutschen Meisterschaft auf der Zehntausend-Meter-Strecke gebracht. Aber gekleidet war er wie ein Atomkraftgegner.

Er würde bestimmt ausdauernd davonlaufen können, falls mal ein Atommeiler in die Luft ging.

Julius musste schmunzeln bei dem absurden Gedanken.

»Wieso lächelst du so? Ist mein Anblick so erheiternd?«

»O nein. Beim ›Retter des alten Gemüses‹ packt mich nichts als blanke Ehrfurcht!« Julius stand auf und schüttelte Christoph Auggen freundschaftlich die Hand. »Ich war mit meinen Gedanken woanders. Schön, dich zu sehen. Bringst mich auf andere Ideen.«

»Ich frag jetzt lieber nicht, was bei dir los ist. Gleich muss ich nämlich wieder weg. Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dich nach deinem Urlaub bestens erholt vorzufinden.«

Julius räusperte sich nur.

»Nichts gesagt ist auch gesprochen, Julius. Also, auf andere Ideen bring ich dich gern, hab dir nämlich was ganz Feines mitgebracht – aber mach ruhig erst deinen Brief da auf.«

Jetzt musste Julius wieder lachen. »Gib mir lieber das Tütchen!«

Er wusste bereits, was darin war. Historische Samen. Denn Christoph Auggen arbeitete in Samen, dachte in Samen, ja lebte in Samen. Schließlich sammelte er sie für das »Gemüsesortenprojekt Rheinland (+) Pfalz«. Julius kannte den Sinziger Biologen schon lange, der sich zum Ziel gesetzt hatte, verloren geglaubte Obst- und Gemüsesorten wieder heimisch zu machen. Von Anfang an war er mit dabei gewesen. Julius schätzte Auggens detektivischen Eifer, mit dem er altes Saatgut aufspürte, glich dieser doch seinem eigenen auf der Suche nach alten Rezepten. Rund zweihundert Sorten, so wusste Julius aus vielen Gesprächen, warteten bei Auggen auf ihre »Wiedergeburt«. Diese geschah unter anderem durch Hobby-Gärtner, die Paten beim Gemüsesortenprojekt wurden – genau wie Julius. Denn die Pflanzen konnten nur überleben, indem sie angepflanzt und vermehrt wurden und so stets keimfähige Samen vorhanden waren. Dabei konnte jedes alte Samenpäckchen aus dem Keller wertvolles genetisches Gut enthalten. Julius hatte einen entsprechenden Zeitungsausschnitt im Eingangsbereich seines Restaurants aufgehängt, um die Gäste zum Mitmachen zu animieren. Vielleicht hatte der ein oder andere ja Lust, gemüsehistorisch tätig zu werden.

»Hast du denn besondere Wünsche, was im Tütchen drin sein sollte?«, fragte Auggen.

»Was Kalorienarmes!«

»Ist das jetzt der neue Trend in der Spitzengastronomie?«

»Nur, wenn meine private Bratpfanne Trendsetter ist.«

Auggen setzte sich zu Julius und kniff ihm freundschaftlich in die Wange. »So wie du muss ein Koch einfach aussehen!«

»Danke, charmant gesagt. Hab ich heute schon mal gehört. Gut, dass man Freunde wie dich hat. Was die Samen angeht, ich hätte gern welche für blaue Kartoffeln. Da hatte ich dich beim letzten Mal ja schon drum gebeten.«

»Mist! Ich wusste, dass ich irgendwas vergessen habe.«

»Dann halt nächstes Mal.« Julius nahm Auggen das Tütchen aus der Hand. »Könnten mal Erbsen werden, wenn sie groß sind«, tippte er.

»Hast ein scharfes Auge. Aber es sind Bohnensamen. Da können wir gar nicht genug Paten für haben. Bohnen verändern sich durch die menschliche Kultivierung sehr schnell, und deshalb haben sich in den vergangenen Generationen unzählige regionale Sorten ausgebildet, perfekt angepasst an Klima, Boden und Regenmenge. Hochwertvolle Pflanzenkulturen!«

Julius war eine Idee gekommen. Er stand verschmitzt lächelnd auf und legte freundschaftlich den Arm um Auggen, der unwillkürlich zusammenzuckte. »Lieber Christoph, hier ein lukrativer Vorschlag: Ich besorge dir zehn neue Paten, und du joggst mit mir einen Monat lang jeden Morgen ein halbes Stündchen an der Ahr.«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«

»Haben wir einen Deal?«

»Ich bin Biologe und kein Fitnesstrainer.«

»Zehn neue eifrige Paten.«

»Jeden Morgen, auch am Wochenende?«

»Vorzugsweise Paten mit großem Garten.«

Nun war es Auggen, der Julius einen Arm um die Schulter legte. »Fünfzig!«

Julius zog seinen wieder zurück. »Jetzt mal nicht größenwahnsinnig werden, Herr Schrebergärtner!«

»Wir müssten schon mindestens eine Stunde joggen, sonst bringt das nichts. Wir reden hier also über rund dreißig Stunden Arbeit, und dafür zehn läppische Paten. Bin ich so wenig wert?«

»Zwanzig.«

»Dreißig.«

»Zwanzig. Und die hast du bis Ende des Monats, wenn alle Gemüsepaten ganz offiziell ihre Samen bekommen. Und dann geht’s los in Sachen Körperertüchtigung.«

Auggen lächelte und tätschelte Julius den Bauch. »Einverstanden – vielleicht wirst du den Kugelfisch ja doch noch los, der sich in deinem Bauch breit gemacht hat.«

»So sei es. Jetzt erklär mir schnell noch, was in dem Tütchen genau drin ist, und dann mach dich auf die Socken, damit ich mich gleich auf Patensuche machen kann.«

»Der unscheinbare Samen im Tütchen stammt von der Sojabohne ›Schwarze Poppelsdorfer‹. Die haben wir aus der Genbank in St. Petersburg zurückgeholt. Und jetzt ist sie hier, in deinem Garten. Ein weiterer Erfolg für die –«

»Sag nicht wieder das böse Wort mit B!«

»Bio-di-ver-si-tät!«

»Genau das! Ihr Wissenschaftler könnt es nicht lassen, oder? Bekommt ihr eine Zulage für Fremdworte in euren Vorträgen?«

»Gute Idee!« Auggen holte einen Block hervor und kritzelte »Zu-la-ge« hinein, dann blickte er auf und lachte. »Nur Spaß! – Du weißt Bescheid wegen der Poppelsdorfer: Über jedes Blütli ein Verhüterli, damit sich die Pflanze nicht kreuzt. Neunzig Prozent der Ernte fließen zurück an mich. Mit zehn Prozent kannst du kochen, die Bohne weitervermehren oder die Samen über den Gartenzaun verschenken.«

»Wenn die Bohne auch nur die Bohne schmeckt, werde ich eine Plantage anlegen.«

»Dicke Menschen sind doch immer am witzigsten!«

Julius erhob sich, die Fäuste geballt. Auggen wich zurück. »Und ihr versteht Späße auch am allerbesten! Ich wäre ja auch gern etwas vollschlanker.« Er wich weiter zurück.

»Bist du noch nicht raus, du dünner Hering!«

»Einen schönen Tag noch, Julius.«

»Dir auch, du Taugenichts.« Witz hatte er ja, der Gemüsemann. Witz und schnelle Beine.

Jetzt hielt Julius leider nichts mehr davon ab, das Briefkuvert zu öffnen. Entgegen seinem Ordnungssinn riss er den mit einer spanischen Briefmarke versehenen Umschlag unordentlich mit dem Zeigefinger auf.

Im Inneren steckte eine Postkarte, auf der Vorderseite ein Foto von irgendeiner Kirche.

Sohn,

wir werden Sonntag nach Pfingsten, Punkt zwölf Uhr, bei dir eintreffen. Bereite alles entsprechend vor. Bitte sorge dafür, dass wir endlich einmal ein ordentliches Hotelzimmer haben. Sag der Verwandtschaft diesmal nichts von unserem Aufenthalt, wir wollen in der Zeit unsere Ruhe haben. Deine Mutter möchte nicht, dass du ihr wieder neuartige »Kreationen« vorsetzt. Du weißt, dass sie und ich die klassische französische Hochküche schätzen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob du zu dieser fähig bist. Wenn du bei unserem Besuch immer noch keine Frau an deiner Seite vorweisen kannst, mach dich auf einiges gefasst. Deine Mutter möchte dich daran erinnern, wie schmerzhaft deine Geburt gewesen ist. Vierzehn Stunden im Kreißsaal. Auch ich kann dich nicht verstehen. Von mir hast du das nicht.

Wir sehen uns

Dein Vater

Da konnte einem richtig warm ums Herz werden, dachte Julius. Beim letzten Besuch hatte er ihnen ein Zimmer im besten Haus des Tals reserviert und so aufgetischt, wie es eigentlich keine geistig gesunde Kostenkalkulation zuließ. Nur das Beste. Von der Verwandtschaft hatte sich nur die Schwester seines Vaters blicken lassen. Und dies auch nur, weil sie Julius’ Eltern zufällig in der Stadt getroffen und sich selbst eingeladen hatte.

Aber es war wie immer. Was Julius machte, machte er falsch. Der Stern, den er sich erkocht hatte, auch für seinen feinschmeckenden Vater, hatte Letzteren überhaupt nicht beeindruckt. »Einen«, hatte er gesagt, »hat heute ja schon jede Gyrosbude.«

Ach, wie er sich freute, die beiden wiederzusehen.

Ob er es bedaure, dass seine Eltern nach Spanien ausgewandert waren, fragten ihn Freunde regelmäßig. Und bekamen regelmäßig keine Antwort. Gab es eigentlich Eltern, die das Nervenkostüm ihres Nachwuchses nicht zerfetzten? Und wenn ja, wo konnte er sie bestellen?

Platz eins auf Julius’ Hitliste des Unangenehmen: Hunger. Der trieb ihn nun in die Küche, weg von dem papiernen Grauen, das er im Pavillon liegen ließ. Damit hatten ihn seine Füße, ohne dass ihm dies bewusst gewesen wäre, an den einen Ort gebracht, an dem er nicht sein durfte. Denn die Küche war die Verheißung selbst, hier fanden sich alle Ingredienzien dafür, das Gewicht um weitere Kilo zu erhöhen.

Julius redete sich ein, die Küche nur begutachten zu wollen. Dem Hunger würde er einfach widerstehen. Die Hände auf dem Rücken, inspizierte er wie ein Feldwebel die Truppe. War alles korrekt und sauber? Oder waren die Rekruten etwa verwahrlost? Die perfekt aufgeräumte und penibel saubere Küche befriedigte seinen Ordnungssinn. Er hasste es, aus dem Urlaub in eine unaufgeräumte Wohnung, ein unordentliches Restaurant oder einen ungepflegten Garten zu kommen. Deswegen waren vor Urlaubsbeginn Großputz und Großgärtnerei angesagt. Der eingeplante Nebeneffekt: Falls ihm etwas zustoßen sollte, wäre zu Hause wenigstens alles blitzblank. Julius wollte sich in diesem Bereich nichts nachsagen lassen. Was sollten die Leute von ihm denken? Allerdings wagte eine kleine Stimme im Hinterkopf in solchen Momenten anzumerken: Interessiert dich das dann überhaupt noch?

Im Augenblick war allerdings kein Platz für derartig tiefsinniges Gedankengut, denn in Wahrheit prüfte Julius gar nicht das ordnungsgemäße Glänzen des Edelstahls. Sein Unterbewusstsein war auf der Pirsch, es suchte Fleisch, Gemüse oder Obst, das es erlegen und in die Pfanne befördern konnte, um ihm einen schnellen, heißen Tod zu bereiten.

Julius’ Vorhaben, dem Hunger zu widerstehen, war vergessen.

Er wollte kochen!

Zwei Wochen ohne eigenen Herd, nur ab und an die Chance – ohne allzu aufdringlich zu sein –, das Reich des Kollegen, dessen Gast er gerade war, nutzen zu können, das hatte zu aufgestauter kulinarischer Energie geführt, die sich in Hacken, Schneiden, Einköcheln und Garen entladen wollte. Das Problem: Die Speisekammer war bis auf besonders haltbare Lebensmittel leer, schließlich hatte die »Alte Eiche« noch eine weitere Woche geschlossen.

Julius spürte nichtsdestoweniger genau, was er suchte, wonach Herz und Magen verlangten. Er wollte sein Heimweh, das ihn die ganze Reise begleitet hatte und immer noch in den Knochen steckte, einfach aufessen. Julius wollte drei Pfund Kartoffeln, zwei Eier, eine Zwiebel und ein halbes Pfund durchwachsenen Bauchspeck finden. War das denn zu viel verlangt? Konnte die Welt so grausam sein, ihm dies zu verweigern? Er schlich sich an den Kühlraum, öffnete ihn überraschend und sprang überfallartig hinein.

In die gähnende Leere.

Er würde nicht bekommen, wonach sein Körper dürstete.

Kein Döppekuchen heute. Die »Gans der armen Leute« hatte seine Großmutter das Gericht genannt – und Julius hatte in kindlichem Unwissen gern arm sein wollen. Am besten jeden Tag morgens, mittags und abends. Und am liebsten so arm, dass er doppelt bekam.

Julius trat wieder aus dem Kühlraum und zog die Tür frustriert hinter sich zu. Sein Hirn begann durchzuspielen, was passiert wäre, wenn die Küche prall gefüllt gewesen wäre. Ein wunderbarer Tagtraum, in dem er sich sah, wie er Kartoffeln schälte, sie gemeinsam mit Zwiebeln zerrieb, den Speck würfelte, ihn in einer Pfanne knusprig anbriet, alles gemeinsam mit den Eiern, gut gesalzen, mit ein wenig Muskatnuss und Pfeffer in eine eingeölte Auflaufform gab und für anderthalb Stunden bei zweihundert Grad in den vorgeheizten Backofen schob. Er konnte natürlich auch geräucherte Mettwürstchen statt des Specks nehmen. Oder besser: beides! Er konnte auch, wie seine Großmutter es immer gemacht hatte, noch ein in Milch eingeweichtes Brötchen in den Teig einkneten. Oder Haferflocken?

Wie auch immer. Es wäre würzig, zupackend, ohne subtile Geschmacksnoten, ohne Anbiederungen an die Haute Cuisine, ohne Verfeinerungen, die doch nur von der Kraft des Eigentlichen ablenken würden. Kein Bärlauch, kein Zitronengras, kein begleitendes Gläschen lauwarmer Spargelsaft. Nein, dies war ein Gericht, das nicht in die Annalen der Küchenkultur eingehen, sondern einfach nur den Hunger stillen wollte.

Julius würde dabei zusehen, wie sich im Ofen eine krosse Kruste bildete. Und wenn sie kross genug wäre, raus damit, eine große Portion auf einen Teller, dazu Apfelmus und Schwarzbrot, die Gabel in der Hand, etwas vom dampfenden Döppekuchen darauf, den Weg zum Mund einschlagen und dann …

»Hallo, Maestro.«

… dann würde FX hereinkommen und den Traum zerstören. Dabei war Julius so nah dran gewesen, seinen Hunger kalorienarm zu befriedigen. Der Maître d’Hôtel der »Alten Eiche« und zugleich bester Freund des Hausherrn – trotz seiner Wiener Herkunft, wie Julius gern spöttelte – stand lustlos in der Tür zum Hof. Julius ging auf ihn zu und nahm ihn herzlich in die Arme, was FX, der eigentlich Franz-Xaver hieß, mit einem lauwarmem Klopfen auf den Rücken quittierte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass man eine solche Gurke wie dich so vermissen kann! Schön, dass du reinschaust.«

»Der Herr hat mich doch höchstselbst herbestellt«, sagte FX dröge, ohne Anstalten zu machen, die freundschaftliche Beleidigung zu kontern.

»Ja, stimmt, hab ich, trotzdem schön. Wie ist es dir ohne mich ergangen? Hätte nicht erwartet, dich überhaupt lebend wieder zu sehen.«

»Des ist sehr witzig, wirklich ausgesprochen witzig. Mir geht’s blendendst, könnt net besser sein.«

Julius schaute etwas verdutzt ob der lahmen Antwort, aber hielt sich nicht lange damit auf, denn der Hunger hatte einen Gang zugelegt. Das musste aufhören! Auf einer Nudelstange hingen verloren noch ein paar hauchdünne Steinpilz-Tagliatelle. Dazu einen Spritzer Öl, etwas frisch geriebenen Pecorino Romano und ein paar zerkleinerte und klassisch italienisch gewürzte Tomaten, das sollte passen. Er entflammte fasziniert den Gasherd wie ein Pyromane das alte Rom und setzte einen Topf Wasser auf. Gleich würden Blasen die leicht schwankende Oberfläche durchbrechen, und Dampf würde den Moment verkünden, wenn die Nudeln ihr erstes und zugleich letztes Bad nahmen.

»Hast du ein Auge auf die Renovierung gehabt?«, fragte er FX.

»Hab die Hunde regelmäßig angeschissen, schneller und besser zu arbeiten. Könnt ich –«

»Aber perfekt ist das nicht, da müssen wir in dieser Woche noch was ausbessern lassen.«

»Da hat der Österreicher also net entsprechend der Vorstellung des Maestros aufgepasst. Auch gut. Des sollten wir dann schnellstmöglichst ändern lassen. Könnt ich –«

»Kann es sein, dass dir eine Laus über die Leber gelaufen ist?«

»Nein, alles bestens, hab ich doch schon gesagt. Hörst mir eigentlich net zu?«

Julius blickte vom Wasser auf, das seinen Blick gefangen hatte. »Du scheinst dich aber überhaupt nicht zu freuen, dass ich wieder da bin!«

»Ich hab noch einen Termin und muss rasch weg. Schon zweimal hab ich versucht, dir des zu sagen, aber du fährst mir ja immer über die Goschn.«

»Was denn für einen Termin?« Julius gab Salz ins brodelnde Wasser.

»Geht dich einen feuchten Kehricht an!« FX sah Julius nicht in die Augen, er stierte grummelnd aus dem Fenster.

»Jetzt mach aber mal halblang! Es gibt keinen Grund, bei einer harmlosen Frage so hochzugehen. Lass deine miese Laune nicht an mir aus. Da komm ich aus dem Urlaub zurück, und du fragst mich noch nicht mal, wie meine Eichendorff-Wallfahrt war oder meine Heimreise oder wie mir die Neugestaltung gefällt. Genau so hab ich mir das vorgestellt.«

»Des is mir absolut wurscht, wie der Herr sich des vorgestellt hat. Und ich muss hier net den Begrüßungskasper spielen!«

»Sag mal, hast du sie noch alle!«

Die Tür ging auf. François, der südafrikanische Sommelier, ein Ausbund an Selbstbewusstsein und Weltgewandtheit, stand ebenso blond wie hoch gewachsen im Raum und lächelte nonchalant, während er seine perfekt sitzende Föhnfrisur richtete.

»Guten Tag, zusammen. Ich sehe, hier hat sich nichts verändert. Immer noch das gleiche prickelnde Arbeitsklima. Hallo, Chef.« Er drückte Julius freundschaftlich die Hand und nickte FX zu: »Maître.«

»Weinkeller gepflegt und gut bestückt?«, fragte Julius automatisch, obwohl mit Gedanken noch bei FX.

»Besser denn je, was auch sonst. Ich hab einige phantastische neue Weine aus dem Roussillon ordern können, unter anderem Gauby und Sarda Mallet, und konnte bei Christmann ein paar Flaschen des Chardonnays ergattern – der steht bei denen nicht auf der normalen Preisliste. Wie war denn die Reise zum Grab des Vorfahren?«

»Siehst du, so hatte ich mir das gewünscht!«, sagte Julius zu FX, der nichts darauf erwiderte. Was war nur mit ihm los? Sonst sprühte er vor guter Laune, selbst im Streit behielt er immer seinen wienerischen Schmäh, den Julius mit den Jahren zu schätzen gelernt hatte. Sein Verhalten war unerklärlich. Sie waren schließlich Freunde, sprachen sogar über Dinge, die sonst nur der Beichtvater zu hören bekam. Die Nudeln! Er hatte vergessen, die Nudeln ins Wasser zu geben, obwohl es schon seit einiger Zeit kochte. Rein damit.

»Hallo, Chef? Wie war die Reise?«, fragte François.

»Ach so, ja, gut, gut. Ich hab alles gesehen. Schloss Lubowitz in der Nähe von Ratibor, wo er geboren wurde, Breslau, wo er aufs katholische Gymnasiums ging, Kaliningrad, das früher Königsberg hieß, Eichendorff war da Oberpräsidialrat, in Halle war ich natürlich auch, da hat er Jura studiert, danach kamen Heidelberg, Berlin und Wien.« Julius bemerkte, dass François in den Kochtopf schaute und FX auf den Boden. »Sagt mal, hört ihr mir überhaupt zu?«

»Hochinteressant! Ich sehe die Landkarte vor mir!«, sagte François spöttelnd, den Blick von den Nudeln lösend.

»Kann ich jetzt gehen, oder war’s des noch net?«, fragte FX.

»Ach, leckt mich doch alle am … Götz und lasst mich in Ruhe meine Nudeln kochen! Die sind jetzt eh gleich fertig.« Er probierte eine, die er sich mit den Fingerspitzen von der Oberfläche fischte. Seine Hände waren nach all den Jahren des Kochens abgehärtet. FX nannte sie oft scherzhaft die »Teflon-Tatzen«. Heute würde so etwas nicht über seine Lippen kommen.

»Ich werde kurz in den Weinkeller gehen, ich muss noch eine fruchtige Hermannshöhle von Dönnhoff verkosten, bevor ich den Wein bei der prachtvollen Wiedereröffnung nächste Woche auf die offene Karte setzen kann.« François drehte sich mit elegantem Schwung um und verschwand Richtung Untergeschoss.

»FX, wir müssen reden«, sagte Julius. Die Sache musste aus der Welt.

»Andermal«, sagte FX.

Und weg war er.

Dafür tauchte François wieder auf. »Hätte ich fast vergessen«, sagte er, eine Dekantierkaraffe in der Hand haltend. »Ich habe etwas von meinem Kurz-Urlaub mitgebracht. Ich verrate dir aber nicht, wo ich war. Probier den Wein und sag es mir. Du kennst das Spiel.«

François spielte es nach jedem seiner Urlaube. Er präsentierte Julius blind einen Wein. Manchmal war es Supermarktware, manchmal stammte der Tropfen von unbekannten Newcomern, es waren aber auch Legenden darunter. Der Sommelier setzte sein Pokerface auf und goss den Wein mit großer Geste ein. In ein Glas für Chianti Classico, wie Julius bemerkte.

Das musste nichts bedeuten.

François war ein hinterhältiger Vertreter seines Berufsstandes.

Julius hielt das Glas hoch, er konnte nicht durch die Flüssigkeit sehen. Tiefrot und konzentriert lag der Wein im Glas, kein jugendlicher Purpurton mehr, aber auch keine braunen Ränder, die man mit älterem Rotwein assoziierte. Er schloss die Augen und näherte sich mit der Nase dem Glas. Viel dunkle Beerenfrucht kam ihm entgegen, Schwarze Johannisbeeren vor allem, aber es gab auch noch andere, faszinierendere Töne, wie einen satten Erdgeruch, der sich zu Gewürz- und Trüffelaromen entwickelte.

François beobachtete ihn mit überheblicher Grimasse.

Die dunkle Farbe und das Bouquet sagten eigentlich nur aus, dass es kein Spätburgunder oder Chianti war – trotz des dazu passenden Glases. Und eines war Julius jetzt schon klar: Das, was er im Glas hatte, war ein Wahnsinnstropfen.

Julius nahm einen kleinen Schluck und schlürfte etwas Luft mit ein. Verdammt, das war ein widersprüchlicher Bursche! Zwar war alles wunderbar weich und rund, zwar war da wieder diese traumhafte Beerenfrucht, aber es gab auch eine Mineralität, komplexe Tannine – und eine sagenhafte Konzentration.

Genug Eindrücke gesammelt. Julius schaltete seine Kombinationsgabe ein.

Ein Rioja? Nein. Weil: Farbe zu dunkel, nicht genügend Holzaromen.

Ein Barolo? Nein. Weil: zu leicht und zu elegant.

Julius schlussfolgerte: dunkle Farbe, Konzentration, Beerenfrucht, dabei deutliche, gut entwickelte und vielschichtige Tannine = ein sehr guter, gereifter Cabernet Sauvignon.

Im Mund weich und fleischig = Es musste mindestens eine weitere Rebsorte im Wein geben, am ehesten Merlot.

Ergebnis: Es war ein Bordeaux-Cuvée.

Nur kamen die mittlerweile aus der ganzen Welt.

Julius nahm wieder einen Schluck. Ja, keine Frage, er musste richtig liegen.

Woher kam der Tropfen? Aus der Neuen Welt, also aus Amerika, Südafrika oder Australien? Nein, dafür war die Frucht des Weines nicht extrem genug, und die erdigen, mineralischen Töne wollten auch nicht so recht darauf hindeuten. Außerdem war der Abgang fest und knochentrocken, bei einem Wein aus der Neuen Welt erwartete Julius mehr Süße.

François begann zu pfeifen, er hatte ein geradezu widerliches Vergnügen an der harten Nuss, die er Julius vorgesetzt hatte.

Der Wein im Glas wurde immer besser. Julius entschied sich. Die Kombination von Kraft, Struktur und Finesse war Europa. Dies war ein Bordeaux-Cuvée aus Bordeaux.

Doch das würde François nicht reichen.

Und Julius auch nicht.

Wieder rein mit der Nase. François schüttelte den Kopf und blickte vorwurfsvoll auf seine Uhr.

Jetzt hatte sich auch noch eine deutliche Note von Veilchen entwickelt! Wo gab es eine Ecke, die einen so eleganten und zugleich so konzentrierten und haltbaren Wein hervorbringen konnte? Dazu in dieser Qualität?

Vor Jahren war Julius vor Ort gewesen. Und er erinnerte sich: Nicht weit vom Flussufer entfernt, fast in Sichtweite der Geburtsstätte von wuchtigen Pauillac-Weinen wie Château Latour, gab es eine kleine Ebene, die durch sehr hellen, fast weißen Boden gekennzeichnet war, von vielen kleinen Kieselsteinen durchsetzt. Berühmt war sie für elegante und doch körperreiche Weine. Diese Ebene lag in der Appellation Margaux, und das beste Stück dieser hellen Erde gehörte dem Ersten Gewächs. Sein Name: Château Margaux.

Bei diesem Gedanken erlaubte sich Julius einen weiteren Schluck.

Es konnte gar nicht anders sein.

François hatte sich selbst ein Glas des Weines eingeschenkt, begonnen daran zu nippen und verächtliche Lacher von sich zu geben. Er schlug Julius mitleidig auf den Rücken.

Der sagte nichts. Die Rache war sein. Er würde auch noch das Sahnehäubchen draufsetzen. Den Jahrgang.

Julius durfte nicht vorschnell bei dessen Schätzung sein. Es gab riesige Variationen der Jahrgänge. Der Cabernet Sauvignon reifte spät und brachte nur in einem perfekten Sommer große Weine hervor. Ein solcher musste es gewesen sein, als die Trauben für diesen Wein gereift waren. Die Tannine waren rund, der leichte Trüffelduft deutete auf fortgeschrittenes Alter, der Wein musste ungefähr zwanzig Jahre alt sein. Als Spitzenjahrgang kam da nur der 82er in Frage.

So musste es sein.

Julius nahm noch einen prüfenden Schluck.

Die Geschmacksknospen im Mund schüttelten sich die Hand mit den kleinen grauen Zellen im Hirn, und ein zufriedenes Lächeln erschien auf Julius’ Gesicht.

»Und, was meinst du?«, fragte François.

»Schwer«, sagte Julius.

»Ach komm. Du hast doch bestimmt schon eine Idee.«

»Als Erstes ist mir das Glas aufgefallen«, sagte Julius. François lächelte zufrieden. »Eins für Chianti Classico, nicht wahr?«

»So ist es, du hast ein scharfes Auge.«

»Deshalb war ich mir direkt sicher, dass es keiner ist.«

François’ Lippen zuckten unmerklich. »Bist du dir sicher

»François, mein Lieblings-Sommelier, du hast es mir nicht leicht gemacht. Hast mir extra einen Wein eingeschenkt, den viele Leute als schlecht bezeichnen würden.« François’ Miene erhellte sich wieder. »Weil sie noch nie so etwas Gutes getrunken haben.« Er schien wieder enttäuscht. »Für Cabernet-Sauvignon-Freunde ist der Wein natürlich nichts.« François schien wieder besserer Laune. »Denn dafür ist die Cuvée zu ausgewogen, auch der Merlot spricht hier ein gewichtiges Wörtchen mit.«

François hatte es satt. »Du weißt, was es ist, oder? Du weißt es schon wieder? Aber ich möchte es genau wissen. Mit einer Region kommst du mir nicht davon.«

»Es ist ein Bordeaux«, sagte Julius. »Vom linken Ufer.«

»Das hätte sogar meine Großmutter herausgefunden.«

»Wir reden von Margaux, und wir reden von Château Margaux.« Julius war sich absolut sicher.

François sagte nichts.

»Und ich will dir sogar den Jahrgang verraten.«

»Jeder blamiert sich, so gut er kann.« François setzte wieder ein Lächeln auf.

»1982.«

François schlug mit der Faust auf die Arbeitsplatte. »Ich hasse dich, Julius, ich hasse dich aus ganzem Herzen. Deine Nase ist so gut, ich würde sie dir am liebsten abschneiden! Wann kommt endlich der erste Wein, mit dem ich dich aufs Kreuz legen kann? Ich zahle jeden Preis, versprochen!«

»Irgendwo da draußen, in einem kleinen, vergessenen Bergdorf, wird ein Wein gekeltert, den ich nicht erraten könnte. Und wenn ihn jemand finden kann, dann du. Übrigens: Danke für den grandiosen Wein. Und jetzt trinken wir endlich was von dem Wahnsinnsgesöff!«

Anna wohnte nicht mehr – sie lebte schon. Fast alles in ihrer Altbauwohnung im Koblenzer Stadtteil Lützel stammte aus dem Katalog des skandinavischen Möbelhauses, das ein großes Herz für Selbstschrauber hatte.

Julius hatte unten geklingelt und die Wohnungstür angelehnt gefunden. Das Dave Brubeck Quartett spielte in der Küche »Blue Rondo a la Turk«. Anna hatte sich angewöhnt, Musik aufzulegen, die eine Brücke zwischen ihrer Jazz- und Julius’ Klassikleidenschaft schlug. Die Küche war offenbar auch der Ort, an dem er Anna finden würde, denn es drangen Kochgeräusche von dort, synkopisches Klappern und Brutzeln.

Die Schmetterlinge im Bauch waren noch da, und sie flatterten immer heftiger, je weiter Julius sich dem Raum näherte, vorsichtig über das abgenutzte Parkett gehend.

Vor einigen Monaten war das noch ganz anders gewesen. Da hatte sich allein beim Gedanken an diese Frau sein Magen zusammengekrampft. War sie es doch gewesen, Anna von Reuschenberg, Kommissarin im Fachkommissariat Kapitaldelikte, dem K11, die ihn in Mordverdacht gehabt hatte, als er der »Roten Bestie« auf der Spur gewesen war. Aber es war gut ausgegangen. Und bei der nächsten Mordserie hatten sie bereits Hand in Hand gearbeitet. Und nun waren sie ein glückliches Paar mit unglücklichen Terminschwierigkeiten. Er hatte sie gewarnt. Köche lebten in einer anderen Zeitzone.

Wie in ihrem Büro fanden sich auch in Annas Wohnung überall Pflanzen, und keine wies welke Blätter auf, keine ließ den Kopf hängen. Alpenveilchen, Birkenfeige, Drachenbaum, Elefantenfuß, Fensterblatt, Gummibaum, Hibiskus, Orchidee, Tigeraloe – das ABC der Pflanzenwelt stand irgendwo in der mit großzügigen Fenstern versehenen Wohnung und machte es sich bequem. Julius wäre nicht überrascht gewesen, wenn sich plötzlich ein Affe von Deckenlampe zu Deckenlampe geschwungen hätte.

In der Küche waren überall kleine Terrakotta-Töpfe mit Küchenkräutern, mittendrin Anna, ihm den Rücken zukehrend, leise die Melodie des Jazzstückes mitsummend und, wie Julius sofort erkannte, einen Grießstrudel aufschneidend, der gerade dampfend aus dem Ofen gekommen war. Auf der Küchenzeile lagen und standen ein Milchkarton, eine halb leer gekratzte Butterpackung, eine offene Flasche Rum, zwei ungleichmäßig abgeriebene Zitronen, Eierschalen, eine Vanillestange, dazu benutzte Gabeln, Messer, Löffel – kreuz und quer, nichts weggeräumt. Ein explodierter Kühlschrank hätte nicht mehr Chaos anrichten können. Dafür hätte Julius jeden Küchenazubi ausgepeitscht. Ganz ruhig, nicht aufregen! Lächeln, immer nur lächeln! Sie kann nichts dafür.

Julius klopfte an den Türrahmen. Anna reagierte nicht, schnitt ein weiteres Stück heißen Strudel ab.

»Da bin ich wieder!«, sagte Julius und ging auf sie zu, doch bevor er sie erreichen konnte, passierte sie ihn seitlich mit zwei Tellern Strudel samt Mohneis.

Julius folgte ihr ins Wohnzimmer an den Tisch »Stensund« mit zwei schwarzen Kerzenleuchtern »Fjärran« (inklusive Kerzen »Vardag«), wo sie sich auf den Stuhl »Bror« setzte und er es ihr gleichtat.

Sie stellte eine Portion Strudel mit Mohneis vor ihm auf den silbernen Platzteller.

»Schön, dich zu sehen«, sagte sie, ohne ihn anzuschauen, dann: »Guten Appetit.« Sie begann zu essen, und Julius wollte genau dies nicht tun. Ein fetter Strudelteig mit Mohneis, das so cremig aussah, als stecke die Jahres-Sahne-Produktion einer mittelständischen Molkerei darin. Das war keine diätische Ernährung. Das würde alles wieder kaputtmachen, was er sich eben abgenudelt hatte. Das würde ihm seine zutiefst hinterfotzige Körperfettwaage mit Hundert-Gramm-Einteilung morgen früh so was von exakt vorhalten. Und zu Recht.

Aber der Empfang war ausnehmend kühl gewesen. Anna musste offenbar besänftigt werden. Am besten mit einer großen Gabel Strudel und einem begeisterten Kompliment … Meine Güte, hatte sie viel Rum für den Strudel genommen! Der schmeckte ja nach nichts anderem!

Dafür schmeckte das Mohneis nur nach Zitrone und war ungleichmäßig gefroren.

»Also, da kommt man gern in die Heimat zurück, wenn es so was Tolles zu essen gibt!«

»Ich hätte überhaupt nichts machen sollen«, erwiderte Anna.

»Du bist also immer noch sauer, dass ich nach meiner Ankunft nicht direkt zu dir gekommen bin. Aber wir hatten doch am Telefon drüber gesprochen, als ich in Wien war.«

»Ja, als du in Wien alle berühmten Torten der Stadt durchprobiert hast. Vierzehn waren es, glaube ich, in drei Tagen. Ohne mich – obwohl ich das auch gern gemacht hätte. Schon allein dafür hast du eine Szene verdient, das ist das gute Recht aller Strohwitwen.«

»Du hast gesagt, es wäre okay, dass ich mir erst mein renoviertes Restaurant anschaue und dass du sowieso viel zu tun hättest.«

»Du hättest wenigstens sagen können, dass du gern direkt zu mir gekommen wärst. Das hätte mich gefreut. Wenn du nicht langsam anfängst zu lernen, dass Frauen beizeiten kunstvoll angelogen werden möchten, dann steht dir noch einiges bevor, mein Lieber. – Schmeckt dir der Grießstrudel mit Mohneis? Du magst doch so gern Desserts, und ich wollte dir unbedingt was kochen. Du hast das natürlich überhaupt nicht verdient.«

Das stimmt, dachte Julius, das hatte er wirklich nicht verdient.

Anna schien es zu schmecken. »Ich hatte Muffensausen, für einen Profikoch wie dich zu kochen, aber ich glaube, es ist mir sehr gut gelungen.«

»Ausgezeichnet, hätte ich nicht besser machen können. Eine phantastische Kombination!«

»Ja? Finde ich auch. Ich hab jetzt leider vergessen, einen Wein aufzumachen, aber das kann ich gern noch nachholen.«

»Lieber danach.« Für Julius waren Eis und Wein Todfeinde. Zu Eis gingen höchstens Muskat-Schaumweine. Anna würde so etwas bestimmt nicht vorrätig haben. Außerdem war Wein schlecht bei einer Diät. Er würde seinen Abnehm-Kummer also nicht einmal ordentlich wegspülen dürfen.

»Gut, dann danach. Ich bin übrigens immer noch säuerlich, falls es dir entgangen sein sollte.«

Aber Gott sei Dank nicht halb so säuerlich wie das Mohneis, dachte Julius, der beschloss, zu Kreuze zu kriechen. »Es tut mir Leid, und es wird nie wieder vorkommen. Ich bereue es jetzt schon.«

»Dann ist ja gut.« Sie lächelte und holte sich in der Küche eine neue Portion.

»War das gerade unser erster Streit?«, fragte Julius, als sie wieder am Tisch saß.

»Also, wenn du das für einen Streit hältst, dann warten noch einige Überraschungen auf dich.«

Julius zwängte sich eine weitere Gabel Dessert hinein. »Ich finde, wir klangen gerade fast schon wie ein altes Ehepaar – und das nach wenigen Monaten. Wenn das keine Leistung ist!«

»Wie ist die neue ›Alte Eiche‹ denn geworden?«

»Wie soll ich sagen … wie ein perfekt gereifter Käse mit kleinen Spuren unerwünschten Schimmels. Manch einer könnte es für gewollt halten.«

»Bis er reinbeißt …«

Julius musste lachen und war froh, dass er vorher den Kampf gegen seine angeborenen Reflexe gewonnen und geschluckt hatte. »Das werden wir in der nächsten Woche beheben. Es gibt natürlich keinen Schimmel, das war nur bildlich gesprochen, es sind ein paar Kleinigkeiten, bei denen geschlampt worden ist.«

»Wärst besser direkt zu mir gekommen, statt dich zu ärgern. Selber schuld.«

Die Sache war also noch nicht gegessen. »Warum sind heute eigentlich alle schlecht auf mich zu sprechen? FX benimmt sich, als hätte ich ihn gefeuert. François hat nichts außer seinen Weinen im Kopf, und du zeigst mir die kalte Schulter, weil ich mich nicht ordnungsgemäß bei dir zurückgemeldet habe. Die neue Weinkönigin des Tals habe ich dabei noch gar nicht mitgerechnet, mit deren Horrorstory fing der Tag schon gleich gut an.«

»Die frisch gekürte Ahrweinkönigin? Constanze Dezaley?«, fragte Anna überrascht.

»Genau die. Aber seit wann kennst du jemanden der örtlichen Prominenz?«

»Kennen wäre zu viel gesagt.«

»Das heißt?«

»Ich hab sie nur tot zu Gesicht bekommen.«

2. Kapitel

… erinnert an frisch getoastetes Röstbrot …

(Gault Millau WeinGuide)

Auf dem grünen Pfeil, der an einem schmalen Birkenstamm angebracht war, stand »Zu den Ausgrabungen«. Tau lag auf den Gewächsen rundherum, ließ den Wald wirken, als sei er gerade aus den Wassern emporgestiegen.

Julius trottete hinter Anna her. Die Fahrt war ihm lang vorgekommen, auf Straßen ohne Mittelstreifen, links und rechts Fetzen von Wiese, dahinter Bäume hinter Bäumen. Ab und an ein Hof oder eine grüne Streusandbox. Dies war irgendwo im Nirgendwo.

Und genau hier stand eine römische Fabrik.

Und genau hier war der Mord geschehen.