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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Steffen Burkhardt

2., überarbeitete und ergänzte Auflage

Steffen Burkhardt ist Professor für Medien- und Kulturtheorie,

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2006, 2015 by Herbert von Halem Verlag, Köln

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E-Book (EPUB):

ISBN 978-3-86962-163-0
ISBN 978-3-86962-164-7
ISBN 978-3-86962-165-4

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SATZ: Herbert von Halem Verlag

Steffen Burkhardt

Medienskandale

Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse

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Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Abkürzungen

Vorwort zur zweiten Auflage

TEIL I: DIE SPRENGKRAFT DES SKANDALS

1.EINLEITUNG

2.PROBLEMSTELLUNG UND ZIELSETZUNG

2.1Problemstellung

2.2Relevanz für Theorie und Praxis

2.3Erkenntnistheoretische Bestimmungen

2.4Zielsetzung

2.5Zwischenfazit:
Das Verständnis moralischer Sprengkraft

3.METHODISCHES VORGEHEN

3.1Forschungsfragen

3.2Forschungsdesign

3.3Zwischenfazit:
Methodik der Modellentwicklung

4.ZUSAMMENFASSUNG:
SKANDALE IN DER MEDIENGESELLSCHAFT

TEIL II: VOM SKANDAL ZUM MEDIENSKANDAL

5.AM ANFANG WAR DAS WORT:
ZUR KARRIERE DES SKANDALON

5.1Etymologisches Verständnis

5.1.1Profane Konnotationen

5.1.2Religiöse Konnotationen

5.1.3Moralische Konnotationen

5.2Skandale als Kommunikationsprozesse

5.3Zwischenfazit: Der Dreischritt des Skandals

6.SKANDALE IN DEN MEDIEN:
ZUR GENEALOGIE DER EMPÖRUNG

6.1Die Transformation der Visibilität und
die Anfänge der Skandalberichterstattung

6.2Der Aufstieg medialer Skandalisierung

6.3Die Industrialisierung des Medienskandals

6.4Zwischenfazit:
Imperative medialer Skandalisierung

7.FUNKTIONSKONTEXTE:
EINE SKANDALÖSE GESELLSCHAFT

7.1Journalismus und soziales Kapital

7.2Ebenen der öffentlichen Entrüstung

7.3Nachrichten- und Narrationsfaktoren

7.4Codierung der Moralsphäre

7.5Rückwirkungen der Tabuisierung

7.6Diskursivierung als Distinktionsmechanismus

7.7Symbolische Macht

7.8Zwischenfazit: Skandale als Social Scanning

8.DIE DEUTUNGSKRIEGER UND IHR PUBLIKUM:
ZUR TRIADE DER SKANDALAKTEURE

8.1Skandalproduzenten

8.2Skandalrezipienten

8.3Protagonisten der Skandalisierung

8.4Zwischenfazit:
Das Rollenspiel öffentlicher Entrüstung

9.SKANDAL UND MEDIENSKANDAL
IM VERGLEICH

9.1Publikationsgrad

9.2Transgressionsmodi

9.3Framing: Zeit und Raum

9.4Differenz- und Identitätsmanagement

9.5Präsenz des Image Setting

9.6Zwischenfazit: Medien als Skandalisierer

10.   ZUSAMMENFASSUNG: SKANDALGESCHICHTE ALS
ZIVILISATIONSGESCHICHTE

TEIL III: DIE MECHANISMEN DES MEDIENSKANDALS

11.   DIE BLINDEN FLECKEN DER MACHT:
ZUR ANALYSE DER MEDIALEN SKANDALMECHANISMEN

11.1  Darstellung und Problematisierung der
exemplarischen Analyse

11.2  Diskursanalytischer Fokus

11.3  Methodische Schritte

11.4  Kriterien und Spezifika der Textauswahl

11.5  Zwischenfazit: Zur Rekonstruktion
der Mechanismen des Medienskandals

12.   REKONSTRUKTION I:
DIE FUNKTIONALEN PHASEN DES MEDIENSKANDALS

12.1  Mediale Skandalisierung in Zyklen

12.2  Phasen des Medienskandals

12.2.1 Latenzphase und Schlüsselereignisse

12.2.2 Aufschwungphase

12.2.3 Etablierungsphase und Klimax

12.2.4 Abschwungphase

12.2.5 Rehabilitationsphase

12.3  Zwischenfazit: Die ›Skandaluhr‹ als Phasenmodell
des Medienskandals

13.   REKONSTRUKTION II:
DIE NARRATIVE STRUKTUR DES MEDIENSKANDALS

13.1  Mediale Skandalisierung als Narration

13.2  Episodisierung

13.2.1 Berufliche Episode

13.2.2 Private Episode

13.2.3 Metaphysische Episode

13.3  Zwischenfazit: Medienskandale als soziale
Autobiografien der Mediengesellschaft

14.   REKONSTRUKTION III:
DIE THEMATISIERUNGSSTRATEGIEN DES
MEDIENSKANDALS

14.1  Mediale Skandalisierung als Themenmanagement

14.2  Repräsentations- und Moralisierungsmechanismen:
Implementierung der Moral in den Diskurs

14.2.1 Die Repräsentation religiöser Moral

14.2.2 Repräsentation öffentlicher Moral

14.2.3 Repräsentation der juristischen Moral

14.2.4 Repräsentation der privaten Moral

14.2.5 Repräsentation der politischen Moral

14.3  Politisierungsmechanismen:
Maximierung des Nachrichtenwerts

14.3.1 Politisierung der Skandalereignisse

14.3.2 Konstruktion politischer Relevanz

14.3.3 Konstruktion politischen Handlungsbedarfs

14.3.4 Problematisierung des politischen Systems

14.3.5 Analyse politischer (Dys-)Funktionalität

14.4  Systematisierungsstrategien:
Reduktion der Narrationskomplexität

14.4.1 Die Personifikation des Leitcodes:
Gut und Böse in den Medien

14.4.2 Zuschreibung des Codes der Systemumwelt

14.4.3 Zuschreibung des Leitcodes eines sozialen Systems

14.4.4 Symbolische Binarisierung der Aktanten

14.5  Deeskalationsstrategien:
Die Rolle der Medienjournalisten

14.6  Zwischenfazit:
Die Diskursmacht der Skandalisierer

15.   DISTINKTION ALS AKTUALISIERUNG
VON MACHT

16.   ZUSAMMENFASSUNG:
DIE MECHANISMEN DES MEDIENSKANDALS

TEIL IV: AUF DEM SCHLACHTPLATZ ÖFFENTLICHER MORAL

17.   DER MEDIALE SIEGESZUG DER MORAL

17.1  Folgen für die Akteure

17.2  Folgen für das soziale System

17.3  Individuelle Permanenz versus soziale Ephemerität

18.   VON AUSGEBLIEBENEN MEDIENSKANDALEN –
DIE NIEDERLAGE DER ETHIK

19.   SCHLUSSBETRACHTUNG:
DAS SKANDALON ALS PUBLIZISTISCHER BRANDSATZ

19.1  Zusammenfassung und Fazit

19.2  Ausblick

Literaturverzeichnis

Presse- und Agenturquellen

VERZEICHNIS DER TABELLEN UND ABBILDUNGEN

Abb. 1

Zentrale Transformationen des Skandalkonzepts

Abb. 2

Das Erzählpersonal des Medienskandals

Tab. 1

Skandal und Medienskandal im Vergleich

Abb. 3

Die ›Skandaluhr‹ als Phasenmodell des Medienskandals

Abb. 4

Mediale Skandalisierung als Narration

Abb. 5

Thematisierungsstrategien des Medienskandals

Abb. 6

Die Folgen des Medienskandals

Abb. 7

Medienskandale als Distinktionsprozesse

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN

Abb.

Abbildung

Abs.

Absatz

Anh.

Anhang

Anm.

Anmerkung

ARD

Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland zusammengeschlossenen Sender

Aufl.

Auflage

aus d. Engl.

aus dem Englischen

aus d. Frz.

aus dem Französischen

Ausg.

Ausgabe

ausgew.

ausgewählt

BamS

Bild am Sonntag

Bd./Bde.

Band/Bände

bspw.

beispielsweise

ca.

circa

ders.

derselbe

Diss.

Dissertation

Dok.

Dokument

ebd.

ebenda

erw.

erweitert

et al.

et alii (und andere), et alibi (und anderswo)

etc.

etcetera (und so weiter)

f./ff.

der, die, das folgende/fortfolgende

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FR

Frankfurter Rundschau

hebr.

hebräisch

Herv. i. O.

Hervorhebungen im Original

HR

Hessischer Rundfunk

hrsg. v.

herausgegeben von

Hrsg.

Herausgeber

Jg.

Jahrgang

Jh.

Jahrhundert

m.E.

meines Erachtens

o. A.

ohne Angaben

o. g.

oben genannten

S.

Seite

s.

siehe

s. o.

siehe oben

s. n.

sine nomine

s. u.

siehe unten

Sc.

Science

SZ

Süddeutsche Zeitung

Tab.

Tabelle

taz

Tageszeitung

u. a.

und andere, unter anderem

übers. v. V.

übersetzt vom Verfasser

usw.

und so weiter

v.

von, vor

Verf.

Verfasser

vgl.

vergleiche

WamS

Welt am Sonntag

z. B.

zum Beispiel

zit. n.

zitiert nach

ZDF

Zweites Deutsches Fernsehen

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Skandale erfahren durch die digitalen Kommunikationsdynamiken des Internets einen enormen Popularisierungsschub. Das jahrtausendealte Konzept öffentlicher Empörung hat sich unter dem Einfluss der Digitalisierung weiteren Transformationsprozessen unterzogen, die vor allem durch eine gesteigerte Visibilität des Skandalons und die personelle Erweiterung der am Mediendiskurs Beteiligten gekennzeichnet sind. Neue Formen gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung im Spannungsfeld von professionellen und privaten Diskutanten bilden ein heterogenes Interaktionsfeld für die Aufmerksamkeitsexzesse einer digitalen Community im selbstreferenziellen Empörungsrausch. Die Kommunikationspraxis des Medienskandals ist dabei durch zwei Neuerungen charakterisiert: Erstens ist das Internet ein Themenpool digitaler Kommunikationsinhalte, die Skandalisierer jederzeit abschöpfen können; und zweitens können Skandalisierer ihre Empörung über die digitalen Kommunikationskanäle des Internet in potenziertem Maße verbreiten. Digitale Kommunikation beeinflusst daher sowohl die Inhalte medialer Skandalisierung, als auch die Bekanntheit der skandalisierten Zustände, Ereignisse und Entwicklungen über zeitliche, räumliche und kulturelle Grenzen hinweg. Verändert sich dadurch auch das Wesen des Medienskandals an sich?

Vor allem mit der Verbreitung von Social-Media-Interaktionen gewinnen zunehmend Amateure an Einfluss auf die massenmediale Deutung von behaupteten Normverletzungen. Historisch betrachtet können also erstmals Menschen ohne spezifische Qualifikation direkt zu Menschenmassen sprechen und brandmarken, was sie als skandalös empfinden: vom Motiv auf dem Klebeetikett ihres Lieblingsspülmittels (wie das PR-Debakel um die Marke Pril des Unternehmens Henkel) bis hin zu der Tatsache, dass in Dänemark keine islamische Zensur toleriert wird (wie im Fall der Mohammed-Karikaturen). Erstgenanntes Debakel ist als sogenannter Shitstorm quasi die nutzergenerierte Variante des Medienskandals. An ihm lässt sich sehr gut die mangelnde Relevanz der Laienkommunikation ablesen: Die Empörung verpufft, wenn nicht das große Erzählsystem Journalismus die Empörung anheizt. Ohne die journalistische Berichterstattung in den Fernseh- und Radionachrichten, in Zeitungen, Zeitschriften und Online-News würde sich die Empörung über die vermeintlichen Missstände, die in sozialen Medien angeprangert werden, versenden.

Was nützen die Plagiats-Wikis GuttenPlag und SchavanPlag, die Twitter- und Facebook-Empörung über sexuelle Belästigung durch Politiker oder die von WikiLeaks online publizierten Dokumente, wenn der gesellschaftliche Diskurs darüber ausbleibt? Selbst die Aufklärung durch Whistleblower wie Edward Snowden findet erst durch das journalistische Publizieren des Medienskandals die Beachtung ausreichend weiter Teile der Bevölkerung, wie ich in dieser Neuauflage meiner Grundlagenstudie über Medienskandale darlegen möchte. Die Studie beleuchtet die Kontexte und konstitutiven Merkmale medialer Skandalisierung in der modernen Gesellschaft mit einer Schwerpunktsetzung auf die journalistische Berichterstattung, die aus einem nicht-öffentlichen Normverstoß den öffentlichen Normverstoß macht, der die Lebenswelt der Gesellschaft durchdringt. Es erklärt die sich verändernden Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Skandalkommunikation an Fallbeispielen und erläutert, welche narrativen Strukturen sie prägen, welche funktionalen Phasen und diskursiven Praktiken ihnen zugrunde liegen und wie sie die Machtverhältnisse in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft aktualisieren.

Die Virulenz unkontrollierbarer Medienskandale ist ein auffälliges Phänomen der Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts, wie ich schon in der 2006 erschienenen Erstauflage des Buches konstatiert habe. Ihnen ist eine Kommunikationsdynamik eigen, die sich jeglicher Kontrolle entzieht. Skandale in modernen Medien mit dispersem Publikum gibt es quasi seit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Sie sind von Regierungen und deren Oppositionen in allen Ländern, in allen Jahrhunderten, in unterschiedlichen politischen, religiösen und kulturellen Systemen genutzt worden, um symbolische oder physische (Bürger-)Kriege als Systemumbrüche, Systemerweiterungen oder Systemsicherungen vorzubereiten: durch die mediale Skandalisierung des Anderen.

Durch die Diskreditierung des Anderen im Medienskandal wird das Eigene legitimiert. Sein Differenz- und Identitätsmanagement aktualisiert das Machtgefüge von Gesellschaften. Gesellschaftlichen Umbrüchen geht – historisch betrachtet – daher immer eine Welle von Skandalisierungen voraus. Das lässt sich an dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreichs genauso beobachten wie an dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik. So gesehen könnten die zahlreichen Überwachungs- und Datenskandale, die unser noch junges Jahrhundert bereits prägen, als Vorboten eines radikalen Transformationsprozesses westlicher Demokratien interpretiert werden, die begleitet werden von der Skandalisierung des politischen Personals und einen Vertrauensverlust in die sozialen Institutionen nach sich ziehen. Auch der moderne Terrorismus arbeitet mit der pauschalen Skandalisierung von Gesellschaften. Diese Propagandatechnik führen uns beispielsweise islamistische Hassprediger auf Video-Plattformen wie Youtube vor Augen, die den angeblichen Hass des Westens auf Menschen muslimischen Glaubens skandalisieren und damit erfolgreich Täter für Gewaltverbrechen rekrutieren.

Der Terrorismus habe sich geschickt an die Kriegsführung des heutigen Medienzeitalters angepasst, konstatierte schon 2006 Donald Rumsfeld, der als US-Verteidigungsminister die entscheidende Umbauphase der National Security Agency (NSA) zum totalen Überwachungsapparat einleitete. Die ihm untergeordnete Behörde bekam den Auftrag, jegliche weltweite Telekommunikation zu überwachen, relevante Informationen zu identifizieren, zu aggregieren und zu analysieren. Ausgestattet mit digitaler Spitzentechnologie folgt das Überwachungssystem der nationalen Sicherheitsagentur seitdem der Logik von Rumsfeld, der die Unterwanderung der öffentlichen Meinung als wichtige Regierungsaufgabe im Kampf gegen den Terrorismus definiert hat. Er stattete die NSA mit der politischen Rückendeckung, den rechtlichen Befugnissen und den finanziellen Mitteln für die totalitäre Ausweitung der Geheimdienstaktivitäten aus.

In seinem 2006 publizierten Essay The Media War on Terror1 begründete Rumsfeld die strategische Bedeutung der Steuerung der öffentlichen Meinung damit, dass auch die Terroristen über eigene »Komitees für Medienbeziehungen« verfügen, die darauf abzielen, die Meinungsbildung der Eliten zu manipulieren: »Sie planen und konzipieren schlagzeilenträchtige Angriffe und nutzen dabei alle Mittel der Kommunikation.« Damit stehen die neuen Feinde der USA dem Pentagon in nichts nach, wie in Rumsfelds Beitrag deutlich wird, der nur eine Wahrheit kennt: »Wir führen einen Krieg, bei dem es um das Überleben unserer Lebensweise geht: […] Es ist ein Test des Willens, und er wird auf dem Feld der weltweiten öffentlichen Meinung gewonnen oder verloren. Zwar ist der Feind geschickt darin, die Medien zu manipulieren und die Hilfsmittel der Kommunikation zu seinem Vorteil zu nutzen, aber auch wir haben einen Vorteil: Die Wahrheit ist auf unserer Seite, und letztlich siegt die Wahrheit.« Wer die öffentliche Meinung mit »seiner Wahrheit« kontrollieren will, braucht Informationen wie jene Daten, die von der NSA über Internetnutzer und ihr Kommunikationsverhalten auf Vorrat gespeichert werden. Die Informationen werden, wie wir durch die Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden wissen, auch instrumentalisiert, um politische Gegner mit Wissen über ihre Privat- und Intimsphäre zu erpressen, zu skandalisieren und zu desavouieren.

Die Ära Rumsfeld mit dem gigantischen Ausbau des Geheimdienstwesens durch die Nutzung digital verfügbarer Daten markiert eine neue Phase globaler Propaganda: Das Zeitalter digitaler Kommunikation bringt eine Verschiebung der Machtverhältnisse durch das Sammeln, Nutzen und Verbreiten von Informationen mit sich. Die Informationspolitik rückt zunehmend in das Zentrum politischen Handelns. Das damit einhergehende moralische Erpressungspotenzial der Skandalisierung betrifft uns alle. Das Zeitalter des globalen Kriegs ist ein Zeitalter der Deutungskämpfe, das den Medienskandal systematisch als Waffe einsetzt und in dem durch mediale Operationen jene Feindbilder konstruiert werden, die es später zu vernichten gilt: ›die Ungläubigen‹ oder ›die Islamisten‹, ›den Iran‹ oder ›die Amerikaner‹, ›die Israelis‹ oder ›die Hisbollah‹ – die Welt als fragiles Konstrukt aus sich verfeindeten Lagern.

Die Dimensionen medialer Skandalisierung beschreibt Rumsfeld präzise am Beispiel von Terroristen: »Sie wissen, dass Kommunikation Grenzen überschreitet und dass eine einzige Nachrichtenmeldung, geschickt gehandhabt, unserer Sache genauso sehr schaden – und ihrer nutzen – kann wie jeder militärische Angriff. Und sie sind in der Lage, mit im Vergleich zu den enormen, kostspieligen Verwaltungsapparaten demokratischer Regierungen relativ wenigen Leuten und relativ bescheidenen Ressourcen schnell zu handeln.« Als Beispiel führt er die von Newsweek am 9. Mai 2005 angeblich auf Basis von Lügen konstruierte Skandalgeschichte über die Entweihungen eines Korans im Verhörlager Guantanamo an: Die Meldung des Nachrichtenmagazins war tagelang auf Websites einsehbar, wurde per E-Mail verschickt und über Satellitenfernsehen und Radiosender verbreitet und löste tödliche Ausschreitungen in Afghanistan und Pakistan aus. Doch Rumsfeld verschweigt in seinem Beitrag über Kriegs-PR, dass dem Pentagon der Newsweek-Beitrag vor seiner Publikation vorgelegt worden war und es an der ursprünglichen Version nichts auszusetzen hatte. Ebenfalls unterschlägt er die zentrale Information, dass das Pentagon im Sommer 2005 nach der von ihm betriebenen Newsweek-Skandalisierung offiziell Koran-Schändungen in fünf Fällen einräumen musste.2

Die Verbreitung von Skandalmeldungen durch politische Führer, seien sie Verteidigungsminister oder Terroristen, bleibt auch im digitalen Zeitalter in keinem Kriegslager aus. Die Entwicklung neuer technischer Kanäle ermöglicht dabei die zunehmende Umgehung des Gatekeeper Journalismus. »Wir führen heute den ersten Krieg im Zeitalter von E-Mail, Blogs, Blackberry, Instant Messaging, Digitalkameras, Internet, Mobiltelefonen, Radio-sendungen mit Zuhörerbeteiligung und Nachrichten rund um die Uhr«, beschreibt Rumsfeld den Siegeszug der elektronischen Datenvermittlung im medialen Krieg: »In Tunesien hat die größte Tageszeitung eine Auflage von etwa 50.000 Exemplaren – in einem Land von 10 Millionen Einwohnern. Aber selbst in den ärmsten Wohnvierteln finden Sie Satellitenschüsseln auf nahezu jedem Balkon oder Dach.« Diese Satellitenschüsseln lassen sich von ihm ebenso wenig kontrollieren wie die Empfänger in anderen arabischen Ländern: »Vor einigen Jahren – unter Saddam Hussein – konnte einem Iraker die Zunge abgeschnitten werden, wenn er eine Satellitenschüssel besaß oder ohne staatliche Genehmigung das Internet nutzte. Heute sind Satellitenschüsseln auch im Irak allgegenwärtig. Leider sind viele der Nachrichtensender, die über diese Schüsseln empfangen werden, dem Westen gegenüber feindlich eingestellt.« Ähnliches lässt sich umgekehrt über viele Medien in den USA sagen: CNN wies seine Redakteure für die Berichterstattung über die Afghanistan-Invasion an, bei jeder Meldung über afghanische Opfer immer auch auf die Opfer des 11. September hinzuweisen und so den Einsatz moralisch zu legitimieren.

Liberale Feministinnen wie Barbara Ehrenreich, Alice Walker und Susan Sontag, die sich öffentlich gegen die militärischen Einsätze aussprachen, wurden skandalisiert, als ›typisch weiblich‹ ignoriert oder – so ein Kolumnentitel – unter »Idiotieverdacht« gestellt. Und selbst die New York Times schürte über dem Foto einer großen Antikriegsdemonstration in Washington DC die öffentliche Empörung mit den Worten »Protestierende wollen Frieden mit den Terroristen«.

Die Skandalisierung des Gegners ist notwendig, um ihn symbolisch durch öffentliche Isolation zu töten. Von der symbolischen zur physischen Tötung ist es jedoch nur ein kleiner Schritt. Daher wohnt allen Medienskandalen eine zerstörerische Tendenz inne: »Der seelische Widerstand moderner Völker gegen den Krieg ist dermaßen entwickelt, dass jeder Krieg als Abwehrkampf gegen einen drohenden, mordgierigen Angreifer hingestellt werden muss. […] Auf neue und subtile Weise müssen heute Abertausende und sogar Millionen von Menschen zu einer Masse aus Hass, Wille und Hoffnung verschmolzen werden. Die neue Schmiede des sozialen Zusammenhalts heißt Propaganda. Die Debatte muss an die Stelle des bloßen Drills treten; das gedruckte Wort muss die Aktion ergänzen. Eigentliche Kriegstänze gibt es bloß noch im Roman und an den Rändern der modernen Welt; aber ihr Ersatz, die Kriegspropaganda, atmet und gedeiht mitten in den Städten und Ländern dieser Erde«, schrieb der US-amerikanische Pionier der empirischen Kommunikationsforschung, Harold Lasswell, 1927 in seiner Analyse der Propagandatechniken des Ersten Weltkrieges.3 Seit der Gründung des Committee on Public Information (CPI) 1917 als zentraler Propagandastelle im Ersten Weltkrieg haben die USA in Sachen Manufaktur von Konsens (Noam Chomsky) ausgiebige Studien an der heimatlichen Kriegsfront betrieben – lange vor ihren Feinden in der arabischen Welt.

Doch die Inszenierung des Medienskandals wurde nicht erst in der Propaganda-Maschinerie der USA zum Bündnispartner der Politik. Seit der Adaption des Skandals durch das Mediensystem in der frühen Neuzeit schafft er das moralische Klima, in dem politische Transformationsprozesse gedeihen können: Bereits im Vorfeld der Französischen Revolution wurden ab den 1770er-Jahren durch Schmäh- und Skandalblätter, den chroniques scandaleuses, die verschwenderische und korrupte Lebensweise der Königsfamilie und ihrer adligen Verwandtschaft skandalisiert. Die jahrelange Skandalisierung bildete die Voraussetzung für die Politisierung jener Öffentlichkeit, die sich durch die desaströse Finanzpolitik des Hofes emanzipierte und mit dem Sturm auf die Bastille im Juni 1789 an der Monarchie rächte.

Mit dem neuen bürgerlichen Gesellschaftsmodell der Franzosen wird auch der französische Begriff scandale zum europäischen Lehnwort und zum Informationsvirus mit revolutionärer Sprengkraft. Damit gelangt das Skandalkonzept der Antike, für das der Soziologe Sighard Neckel den Begriff vom Stellhölzchen der Macht geprägt hat, in die Medienlandschaften der Moderne. Medienskandale enthüllen seitdem in regelmäßigen Abständen vermeintliche Missstände hinter den öffentlichen Fassaden der Macht und aktualisieren das soziale Selbstverständnis. In ihnen offenbaren sich die komplexen Deutungskämpfe innerhalb und zwischen Gesellschaften, denn auf dem Schlachtplatz öffentlicher Moral streiten Interessengruppen um symbolische Autorität, politischen Einfluss und ökonomische Herrschaft.

Wie kommen Skandale in den Medien zustande? Wie lassen sie sich steuern? Und wie verhindern? Die Sprengkraft von Medienskandalen wie denen des globalen Zeitalters in Vorbereitung seiner Schlachten um das Gute und das Böse lässt sich nur entschärfen, wenn man ihren Zündmechanismus entschlüsselt. Daher steht die Entwicklung einer Theorie medialer Skandalisierung im Zentrum dieses Buches, das hier als Modell des Medienskandals in Abgrenzung zu nicht-medialen Skandalen vorgestellt wird. Die Kokain- und Prostituiertenaffäre um den prominenten deutschen Juden Dr. Michel Friedman im Jahr 2003 ist der Fall, mit dem ich mich vor allem für die diskursanalytische Rekonstruktion der Mechanismen und Folgen des Medienskandals in diesem Buch exemplarisch beschäftigt habe. Bereits in diesem Skandal sind die Folgen des digitalen Kommunikationswandels gut erkennbar. Für die Rekonstruktion wurde bewusst ein Medienskandal gewählt, dessen Komplexität im Gegensatz zu internationalen Fällen im globalen Medienkrieg wie dem Folterskandal in Abu Ghraib oder dem Skandal um die Koran-Schändung in Guantanamo überschaubar ist und der sich für eine Grundlagenstudie besser eignet. In ihm verbergen sich jedoch dieselben effektiven Mechanismen des sozialen Systems wie in anderen Medienskandalen, die ihre Sprengkraft erst durch die öffentliche Inszenierung von Moral entwickeln – jenem Präferenzcode des sozialen Systems, der »auf polemogenem Terrain« wächst und gedeiht, wie Niklas Luhmann in seiner berühmten Rede Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989 es treffend beschrieben hat: »Sie neigt zur Überhitzung. Sie erleichtert das Töten. Sie kann sich ruinös auswirken auf jeden, der seine Selbstachtung an diese oder jene Bedingungen bindet und das publik macht.«

Die Moral ist der Schlüssel zum Verständnis des Medienskandals. Und ihre ethische Reflexion in der Medienöffentlichkeit ist der Schlüssel zu seiner Deeskalation. Das Instrument zur Entschärfung der sozialen Sprengkraft globaler Deutungskämpfe an den Heimatfronten hält daher das Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungssystem der Gesellschaft in der Hand: der Journalismus mit seiner medialen Diskursmacht. Der Erhalt des Journalismus und seine Ausstattung mit Ressourcen, die seine mediale Diskursmacht stützen, muss daher ein zentrales Anliegen jeder demokratischen Gesellschaft sein.

Ein Journalismus, der seine mediale Diskursmacht in den Arenen der digitalen Kommunikation verloren hat, wäre der Vorbote eines politischen Systems, das ohne die Legitimation des Demos als souveränem Träger der Staatsgewalt operiert.

Hamburg, im November 2014/August 2006

1Der Medienkrieg gegen den Terror von Rumsfeld ist in deutscher Übersetzung von Jan Neumann unter www.project-syndicate.org/commentary/rumsfeld3/German abrufbar [10.08.2006].

2Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 28.5.2005, S.1.

3LASWELL, H.: Propaganda Technique in the World War. Cambridge 1971 [1927].

TEIL I: DIE SPRENGKRAFT DES SKANDALS

1.EINLEITUNG

Mit der Erfindung der Massenmedien haben sich Skandale zur gefährlichen Waffe politischer Einflussnahme entwickelt: als Informationsvirus mit revolutionärer Sprengkraft. Auch demokratische Volksvertreter wie die US-Regierung machen sich den publizistischen Brandsatz zunutze. Zur Vorbereitung ihres zweiten Golfkriegs beauftragte sie PR-Agenturen mit einem Feldzug der besonderen Art: der moralischen Skandalisierung des Iraks. Der Hass der Öffentlichkeit sollte in einem medialen Präventivkrieg an der Heimatfront geschürt werden, um das Töten am Golf zu rechtfertigen.

Unter den PR-Sprengmeistern war auch die Agentur Hill & Knowlton. Sie hat hervorragende Kontakte zum Bush-Clan und gehört zu einem der größten Propagandakonzerne weltweit, WPP, der in einem Multimilliardengeschäft für Regierungschefs und Wirtschaftsmogule durch die Regulierung des öffentlichen Emotionshaushalts den Absatz steigert: Politische Entscheidungen wie die Anweisung von militärischen Invasionen, Entführungen von Staatsbürgern oder Folter als Verhörmethode werden dabei als Produkt begriffen, das vermarktet werden muss. »Wir verkaufen ein Produkt«, beschreibt Ex-Verteidigungsminister Colin Powell das Werben für den Krieg. Eines der wirkungsstärksten Vermarktungsinstrumente der Propaganda sind Medienskandale und Hill & Knowlton weiß, wie man sie inszeniert: Im Oktober 1990 organisierten die PR-Profis den Auftritt der kuwaitischen Krankenschwester Nayirah vor Kongressabgeordneten, in dem die 15-Jährige tränenreich schilderte, »wie irakische Soldaten in kuwaitischen Krankenhäusern Babys aus Brutkästen gerissen und zu Boden geworfen hatten« (KLAWITTER 2006: 74). Der öffentliche Skandal war groß, als fast alle US-Fernsehstationen die schrecklichen Schilderungen ausstrahlten, die von einem Kamerateam der PR-Agentur mitgeschnitten und anschließend an die TV-Redaktionen versandt worden waren. Der damalige US-Präsident George Bush nutzte die öffentlich erzeugte Empörung, um das Fass zum Überlaufen zu bringen und den amerikanischen Krieg am Golf moralisch zu legitimieren.

Die PR-Profis hatten im Auftrag der Regierung Bush sen. ihren Job erfolgreich ausgeführt. Mit einem Haken: Knappe anderthalb Jahre später, im Januar 1992, stellte sich heraus, dass alles an diesem medial inszenierten Skandal gefakt war: Die Story von den zerschmetterten Babys war ebenso erfunden wie die Krankenschwester. Nayirah hieß eigentlich Nijirah al-Sabah und war die Tochter des kuwaitischen Botschafters in Washington, die mit einer Hill & Knowlton-Managerin ihre Heulattacke auf die öffentliche Moral minutiös einstudiert hatte. Die Empörung nach dieser Enthüllung war für ein paar Tage groß, aber das Ziel der Manipulation der öffentlichen Meinung längst erreicht: Kurz nach dem inszenierten Skandal war Amerika in den Krieg gezogen, um der ›Unmenschlichkeit am Golf‹ ein Ende zu bereiten. Die Sprengkraft des Skandals war in Form von Bombenkratern sichtbar.

Von dem Ideal der Staatsräson ist das 21. Jahrhundert mit seiner Wiederbelebung der Moral zur Legitimation politischen Handelns weit entfernt. Wo Babys aus Brutkästen fallen gelassen werden, um Menschen zum Töten zu bringen, regiert die Aufklärung ebenso wenig wie in Staaten, die mit Karikaturen wie denen der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten ihre Bevölkerung in den Krieg hetzen.

Von der symbolischen Tötung in medial inszenierten Skandalen zur physischen ist es nur ein kleiner Schritt. Dennoch brauchen soziale Systeme die Sprengkraft des Medienskandals, wie ich in diesem Buch anhand eines Modells herausarbeiten werde, das das komplexe Zusammenspiel zwischen öffentlicher Moral, medialer Inszenierung, Gesellschaft und Politik erklärt. Ziel des Theory Grounding ist nicht die Ausarbeitung eines phänomenologischen Rhetorikkonzepts des Skandals, das für eine sozialwissenschaftliche Analyse ungeeignet ist, sondern die Klärung der wissenssoziologischen Fragen nach der Bedeutung des Medienskandals für das Identitäts- und Differenzmanagement der Gesellschaft.

Doch was unterscheidet Medienskandale, also medial produzierte Skandale, von nichtmedialen Skandalen? Begreift man Medienskandale als Skandale, über die nicht nur in Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendern oder im Internet berichtet wird und die unabhängig vom Mediensystem existieren, so steht man bei der Entwicklung eines Modells vor der Aufgabe, nicht nur die skandalisierenden Anklageinhalte in der Medienöffentlichkeit zu identifizieren, sondern vor allem auch die normativen, strukturellen, funktionalen und professionellen Produktionsbedingungen, die diese diskursive Praxis ermöglichen. Medienskandale wie der Brutkasten-Skandal, Watergate oder die Profumo-Affäre sind Skandale, die vom Medienssystem mit spezifischen Produktionsmechanismen produziert worden sind. Sie unterscheiden sich nur durch die Qualität ihrer Quellen. Im Brutkasten-Skandal von 1990/92 waren sie erfunden, in den anderen beiden Skandalen nicht.

Trotzdem haben diese Medienskandale eine konstitutive Gemeinsamkeit: Ohne die Medien hätten wir von den Ereignissen, die diesen Skandalen angeblich zugrunde liegen, nicht erfahren. Die Medien haben sie als Skandale in unser soziales Gedächtnis eingespeist. Daher spreche ich von Medienskandalen als eigenständiger kommunikativer Praxis moderner Gesellschaften und nicht lediglich von mediatisierten Skandalen. Mediatisierte Skandale (wie zum Beispiel die deutsche Berichterstattung über die Skandalisierung von Saad Eddin Ibrahim in Ägypten) sind lediglich Skandale, über die Medien berichten, ohne die spezifische Erzählstrategie zu verwenden, die bei der Mediatisierung von Ereignissen einen Medienskandal konstruiert.

Dieses Buch legt eine umfassende und fundierte Theorie des Medienskandals vor, die erstmals die Forschungsresultate unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen synthetisiert und durch diskursanalytische Untersuchungsstrategien komplettiert. Medienskandale werden dabei nicht lediglich als Verweissysteme aufeinander bezogener Signifikanten und deren Signifikate verstanden, die sich nur in Aussagen manifestieren. Sie nur als solche zu analysieren, hieße, die historischen, sozialen, politischen, kommerziellen und kulturellen Strukturen weitestgehend zu ignorieren, als deren narrative Paradigmen sich Medienskandale etablieren. Medienskandale werden hier als diskursive Praxis in sozialen Systemen verstanden, denen eine wichtige Rolle für den Erhalt der Gesellschaft zukommt.

Im ersten Teil dieses Buchs Zur Sprengkraft des Skandals werden nach diesem Einleitungskapitel zunächst Problemstellung und Zielsetzung (Kapitel 2) und das methodische Vorgehen des Theory Grounding (Kapitel 3) erklärt, um in Anschluss an John B. Thompsons wichtigem Grundlagenwerk zum Political Scandal ein erstes Verständnis für die soziale Relevanz der Skandale in der Mediengesellschaft zu gewinnen (Kapitel 4).

Im zweiten Buchteil, der die geschichtlichen Entwicklungen vom Skandal zum Medienskandal analysiert, soll die Karriere des Skandalons aus den frühen Zivilisationen des Altertums in die Neuzeit mit ihren medialen Innovationen und deren Bedeutung für die großen soziopolitischen Transformationsprozesse nachgezeichnet werden (Kapitel 5-10). Dabei wird im Sinne Foucaults (1974, 1981) auf eine rein linguistische oder semiotische Diskursbetrachtung verzichtet und ein Modell des Medienskandals unter Berücksichtigung des diskursstrukturierenden Regelsystems ›Journalismus‹ geformt. Der Aufbau dieses Buchteils orientiert sich an der Entstehungsgeschichte der Medien und insbesondere der Professionalisierung des Journalismus. Denn Medienskandale sind in erster Linie Konstrukte, die dem professionellen Arbeitsprogramm des Journalismus folgen. Das Grounding eines Modells des Medienskandals aus einem spezifischen, historisch bedingten Kontext erfolgt daher im zweiten Buchteil systematisch nach dem von Weischenberg (vgl. z. B. 1992: 68) etablierten Zwiebelmodell des Journalismus, das Mediensysteme, Medieninstitutionen, Medienaussagen und Medienakteure – vom Allgemeinen der Normen bis hin zum individuellen Rollenzusammenhang (und umgekehrt) – hierarchisiert. Zur Veranschaulichung der Elemente des Systems Journalismus greift Weischenberg dabei auf einen Vergleich mit einer Zwiebel zurück, deren Schalen für die jeweiligen Faktoren der Aussagenentstehung und deren Hierarchie stehen und auf deren symbolischen Ebenen der Medienskandal in den unterschiedlichen Kontexten, die seine Genese begünstigt und mitunter bedingt haben, modelliert werden kann. Die Kontexte, in denen sich Skandale zu Medienskandalen entwickelt haben sind (1) der Normenzusammenhang, (2) der Strukturzusammenhang, (3) der Funktionszusammenhang und (4) der Rollenzusammenhang.

(1) Die äußere Schale des Zwiebelmodells, das die Ausgangsbasis für die Modellierung des Medienskandals bildet (Kapitel 5), steht für den Normenzusammenhang, der zur Entwicklung des Mediensystems geführt hat und seine spezifische Ausprägung in unterschiedlichen Gesellschaften vorantreibt. Auf dieser Ebene des Journalismusmodells können die Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der historischen und rechtlichen Grundlagen, der Kommunikationspolitik sowie der professionellen und ethischen Standards nachgezeichnet werden, die vom Skandal zum medialen Skandal geführt haben. Zur Kontextualisierung der Normenzusammenhänge erfolgt daher eine begriffliche Differenzierung des Skandalbegriffs in seinen über die Jahrhunderte vollzogenen Bedeutungsverschiebungen, denn zum Verständnis des Medienskandals ist die Definition des Skandals elementar. Dieser Arbeitsprozess beinhaltet die etymologische Eingrenzung, die gleichzeitig eine Zusammenstellung seiner ontologischen Definitionsversuche in den vergangenen Jahrhunderten darstellt, genauso wie eine erste Annäherung an den Skandalbegriff aus kommunikationstheoretischer Perspektive und generiert einen ersten Arbeitsbegriff von Skandalen in den Medien.

(2) Der Ebene des Normenzusammenhangs untergeordnet ist die des Strukturzusammenhangs: die ökonomischen, politischen, organisatorischen und technologischen Imperative, von denen in den Medieninstitutionen die Transformation des Skandals zum Medienskandal ausgeht. Diese Imperative werden genealogisch rekonstruiert (Kapitel 6). Der spezifische Fokus dieser Genealogie des Medienskandals liegt auf den konstitutiven strukturellen Voraussetzungen der Entwicklung des Medienskandals und dessen kommunikativen Regelsystems. Für die Entstehungsgeschichte des Medienskandals müssen vor allem die Normen- und Strukturzusammenhänge der Mediengeschichte und Professionalisierung des Journalismus seit der Erfindung der Buchdruckkunst im 15. Jahrhundert skizziert werden, die sich in drei Hauptphasen einteilen lassen: Die Anfangsphase der Skandalberichterstattung vom 15. bis 18. Jahrhundert, die durch Transformationsprozesse in der öffentlichen Sichtbarkeit politischer Führer gekennzeichnet ist, den Aufstieg medialer Skandalisierung im Zuge der Ausdifferenzierung des Mediensystems im 19. Jahrhundert und die Industrialisierung des Medienskandals seit dem frühen 20. Jahrhundert. In diesen Phasen wird die Adaption des Skandals durch den Journalismus und dessen Etablierung als Medienskandal analysiert.

(3) Unter der Ebene des Strukturzusammenhangs verbirgt sich die der Medienaussagen und ihres Funktionszusammenhangs (Kapitel 7), der für die Erforschung von medialen Diskursen und deren Narrationsschemata von zentraler Bedeutung ist. Der Funktionskontext des Medienskandals beinhaltet, neben Informationsquellen und Referenzgruppen, Berichterstattungsmustern und Darstellungsformen, die für ihn konstitutiven Konstruktionsmuster von Wirklichkeit, Wirkungen und Rückwirkungen. Zu den einflussreichsten Informationsquellen und damit ›Beeinflussern‹ von Journalisten und deren Erzählungen von Wirklichkeit zählt Weischenberg (1995; vgl. auch SCHOLL/WEISCHENBERG 1998) Nachrichtenagenturen, Mediendienste und im engeren Sinne auch andere journalistisch produzierte Diskursfragmente, die in Medienskandalen einen großen Einfluss auf die Streuwirkung der Skandalgeschichte haben. Daneben lässt sich auch das System der Public Relations bzw. Öffentlichkeitsarbeit und deren Aktanten als Informationslieferant des Journalismus identifizieren (vgl. WEISCHENBERG 1995: 93-372), darunter auch die Impression Manager und Spin Doctors der öffentlichen Elite und Prominenz, die in die Skandalagenden eingreifen. Die funktionale Ausdifferenzierung medialer Skandalisierung wird hier in einem spezifischen Spannungsfeld aus Geschichten und Diskursen erklärt, die im Sinne von Siegfried J. Schmidt (2003: 41) als Selektionsfahrplan für anstehende Selektionen begriffen werden.

Dieses komplexe Spannungsfeld der Funktionen, das sich aus der Schnittstellenfunktion der Kommunikationsplattformen der Medieninstitutionen und insbesondere aus der Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungsfunktion des Journalismus für die unterschiedlichen Teilsysteme von Gesellschaft ergibt, wird in Hinblick auf die für Medienskandale relevanten Konstruktionsmuster von Wirklichkeit analysiert. Dabei wird Journalismus insbesondere betrachtet als Konstrukteur oder Destrukteur von sozialem Kapital in der Medienöffentlichkeit sowie von vermeintlichen Enthüllungen und Tabubrüchen, die spezifische Rückwirkungen haben können; als Mediations- und Generierungsinstrument von öffentlicher Moral; als Diskursivierungssystem mit der Funktion von Distinktionsproduktion, das einem Regelwerk aus Nachrichtenfaktoren (die im Medienskandal zugleich Narrationsfaktoren sind) und Thematisierungsstrategien folgt; als Maximierer oder Minimierer von symbolischer Macht in der Medienöffentlichkeit; schließlich als Regulationssystem von inszenierter Staatlichkeit und als Repräsentationssystem institutionalisierter Macht. Die Betrachtung des funktionalen Kontexts des Medienskandals zeigt auf, wie der Journalismus durch die Konstruktion von Medienskandalen für den sozialen Systemerhalt relevante Funktionen ausübt.

(4) Innerhalb der drei äußeren Schalen des Zwiebelmodells lokalisiert Weischenberg (1992) eine vierte Schale, die schließlich von allen anderen umschlossen wird und in der er die Rollenzusammenhänge (Kapitel 8) der professionellen Medienakteure subsumiert. Sie sind die Skandalisierer und einflussreichsten Protagonisten im Deutungskrieg des Medienskandals. Die demografischen Merkmale der Journalistinnen und Journalisten, ihre sozialen und politischen Einstellungen, ihr Rollenselbstverständnis und das Image, das sie beim Publikum haben, haben dabei ebenso Einfluss auf die Skandalisierung wie die Professionalisierungs- und Sozialisationsstandards des Journalismus selbst. Mithilfe erzähltheoretischer Konzepte werden in diesem Kapitel die narrativen Sprechpositionen unterschiedlicher Ordnung innerhalb und außerhalb der Diskurse dekliniert.

Diese erste Deklination von erzähltheoretischen Sprecherpositionen und Erzählperspektiven erfolgt zunächst nur schattenbildartig, da sich die Forschung bislang kaum mit den spezifischen Rollenzusammenhängen von Medienskandalen auseinander gesetzt hat und kaum Befunde vorliegen – sieht man von den wenigen komplexen und repräsentativen Journalismus-Studien ab, die Rückschlüsse auf die Aktanten des Medienskandals zulassen und in diesem Arbeitsschritt das Grundverständnis der Aktantentriade prägen und die Basis für die Identifikation der Aktanten bilden. Im dritten Buchteil zu den Mechanismen des Medienskandals werden diese Schattenbilder der Aktanten des Medienskandals anhand einer diskursanalytischen Rekonstruktion zu einer komplexeren Rollen- und Sprecherstruktur ausgearbeitet. Die Systematisierung der Rollenzusammenhänge modelliert ein Grundverständnis des professionellen Beziehungsgeflechts des Medienskandals auf Akteursebene.

Mit der Analyse des Medienskandals in den Normen-, Struktur-, Funktions- und Rollenzusammenhängen des Journalismus ist die Entwicklung einer ersten Modellskizze des Medienskandals abgeschlossen. Diese Skizze wird in dem folgenden Abschnitt über Skandal und Medienskandal im Vergleich (Kapitel 9) dem Konzept des nichtmediatisierten (d. h. eines nicht von Redaktionen für ein disperses Publikum produzierten) Skandals gegenübergestellt, indem die verschiedenen Kommunikationsinstrumente, technischen Dispositive, sozial-systemischen Ordnungen dieser Dispositive sowie die Skandaldiskurse integriert werden, die aus dem Zusammenspiel der in den vorherigen Abschnitten skizzierten Kontexte resultieren. Dabei werden insbesondere die unterschiedlichen Ebenen von Öffentlichkeit thematisiert, in denen lokale Skandale und Medienskandale konstruiert werden. Einen weiteren Abgrenzungskomplex zwischen den beiden Modellen bilden die unterschiedlichen Grade an Grenzüberschreitungen, die in der Skandalisierung inszeniert werden. Dem folgen die Differenzierung der unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Zeit und Raum und von Differenz und Identität im Kommunikationsprozess zwischen Sender und Empfänger der Skandalisierung.

Entscheidend bei diesem Vergleich sind nicht nur die Fokussierung der Wirkungen dieser Setzungen, sondern auch ihre Rückwirkungen im Sinne einer Betrachtung der Setzungen als Voraussetzungen für den Verlauf der Prozesse, die hier als theoretisches Konstrukt des Medienskandals subsumiert werden. Kurz, in diesem Arbeitsschritt wird nicht nur nach den Unterschieden gefragt, sondern in Hinblick auf die Thesenbildung und die Ausarbeitung des Modells im dritten Buchteil die Wechselbeziehung der Geschichte des Skandals und der Geschichte der Zivilisation (Kapitel 10) reflektiert. Nach der Betrachtung der unterschiedlichen Phänomenbereiche und Kontexte des Medienskandals soll abschließend die zentrale Frage diskutiert werden, inwiefern es sich bei Medienskandalen lediglich um eine modifizierte Variante nichtmediatisierter Skandale handelt und inwiefern sie eigenständige Kommunikationsprogramme des Mediensystems darstellen.

Im dritten Buchteil über die Mechanismen des Medienskandals wird das Modell des Medienskandals durch eine diskursanalytische Rekonstruktion am konkreten Fallbeispiel des deutschen Medienskandals um den Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde und TVGrounded TheoryKapitel 1116