Thomas Wolfe


Schau heimwärts, Engel!


Eine Geschichte vom begrabenen Leben

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-076-6


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Vierzigstes Kapitel

Der Stadtplatz lag im hellsten Mondlicht. Der Springbrunnen pulsierte stät, keine Brise verwehte die Sprühfahne, und die fallende Wassersäule plantschte pünktlich auf den kleinen Teich. Niemand kam.

Die Uhr am Bankgebäude schlug ein Viertel nach Drei, als Eugen um die Nordecke aus der Academy Street einbog.

Er ging langsam an der Feuerwehrhalle und dem Rathaus vorbei. An Gants Ecke war der Platz abgerandet, denn von dort schoß die Straße steil bergab zur Niggerstadt hinunter.

Im Mondlicht sah Eugen seines Vaters Namen halbverwischt auf der Backsteinfassade. Oberhalb des Bürgersteigs, am Eisengeländer der Steinterrasse, lehnte ein Mann. Er stand da und rauchte. Verwirrt und ein wenig bang ging Eugen auf ihn zu. Langsam stieg er die breiten, hölzernen Treppenstufen hinauf und sah dem Mann vorsichtig in das vom Schatten halbverdunkelte Gesicht.

"Ist da jemand?" fragte Eugen.

Niemand antwortete.

Als Eugen oben auf der Terrasse ankam, sah er, es war Ben.

Ben starrte ihn einen Augenblick an ohne zu sprechen. Eugen konnte die Stirn im Schatten des grauen Filzhuts nicht genau sehen, er wußte aber, die Braue war grimmig gerückt.

"Ben?" sagte Eugen. Er schwankte ein wenig auf der obersten Stufe. "Bist Du's, Ben?"

"Ja", sprach Ben. Und dann, einen Augenblick später sagte er in einem Gewißheit verbürgenden Ton: "Hast Du vielleicht geglaubt, dass es sonst wer wäre, kleiner Blödel?"

"Ich war meiner Sache nicht sicher", sagte Eugen verschüchtert. "Ich konnte Dein Gesicht nicht sehen."

Sie schwiegen eine kleine Weile. Eugen räusperte sich vor Verlegenheit und sagte:

"Ich dachte Du seist tot, Ben."

"Aha!" sagte Ben geringschätzig. Er schnickte den Kopf nach oben. "Nun hör Dir das an, bitte!"

Er zog an seiner Zigarette, tat einen tiefen Lungenzug, der krause Rauch schlängelte heraus und zerging in der mondhellen Stille.

"Nein", sagte er alsdann ruhig. "Nein, ich bin nicht tot."

Eugen trat auf die Terrasse und setzte sich auf einen hochkant gestellten Kalksteinsockel. Ben wandte sich um, hockte sich aufs Eisengeländer, bequem vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt.

Eugen fummelte in seinen Taschen nach einer Zigarette; seine Finger waren steif und zitterten. Er war sprachlos vor Verwunderung und einer mächtigen Wißbegier. Er fürchtete sich nicht, aber ihm bangte davor, dass er sich mit seinen Gedanken lächerlich mache. Er zündete eine Zigarette an. Alsdann fragte er, gleichsam im Ton um Entschuldigung bittend, die peinliche Frage:

"Ben, bist Du ein Gespenst?"

Ben antwortete ganz ohne Spott.

"Nein", sagte er, "ich bin kein Gespenst."

Es wurde wieder still, während Eugen schüchtern nach Worten suchte.

"Ich hoffe also", begann er mit einem leisen, geborstnen Lachen, "ich hoffe also und nehme an, dass das nicht bedeutet, dass ich verrückt bin."

"Warum nicht?" sagte Ben mit einem schnellen, flackernden Grinsen. "Natürlich bist Du verrückt!"

"Dann", sagte Eugen langsam, "bilde ich mir das alles wohl nur ein, ja?"

"Um Himmels willen!" fuhr ihn Ben gereizt an, "wie soll ich das wissen? Was heißt das überhaupt: ... ich bilde mir das alles wohl nur ein ...?"

"Was ich meine", erklärte Eugen, "ist: Sprechen wir hier miteinander oder nicht?"

"Frag mich nicht!" sagte Ben. "Wie soll ich das wissen?"

Mit hartem Marmorrauschen und einem kalten Trübsalseufzer lupfte der Engel, der Eugen am nächsten stand, den Fuß und hob seinen Arm ein wenig höher; der schmale Lilienstengel zitterte steif in den feingeformten, kalten Fingern.

"Hast Du das gesehen?" rief Eugen aufgeregt.

"Ob ich was gesehen habe?" knurrte Ben.

"De-de-den Engel da!" plapperte Eugen. Er deutete mit bebendem Finger hin. "Hast Du gesehen, wie er sich bewegt hat? Er hat seinen Arm hochgehoben."

"Was ist denn dabei?" fragte Ben gereizt. "Das ist doch sein gutes Recht. Du weißt doch", bemerkte er mit sarkastischer Bissigkeit, "es besteht kein Gesetz, das einem Engel verwehrt, seinen Arm zu bewegen, wenn's ihm paßt."

"Allerdings nicht", pflichtete Eugen nach kurzer Überlegung bei. "Immerhin, ich habe stets sagen hören ..."

"Narr!" schrie Ben wütend. "Glaubst Du alles, was Du hörst?" Er zog an seiner Zigarette. Dann, ruhiger, sagte er: "Es stünde schlecht um Dich, wenn dem so wäre."

Abermals wurde es still. Sie rauchten. Dann fragte Ben:

"Wann fährst Du weg, Eugen?"

"Morgen", antwortete er.

"Weißt Du, warum Du weggehst, oder fährst Du nur ein bisschen mit der Eisenbahn spazieren?"

"Ja, das weiß ich! Freilich weiß ich, warum ich weggeh!" sagte Eugen aufgebracht. Plötzlich hielt er bestürzt inne. Er besann sich. Ben starrte ihn unentwegt an, die Braue finster gerückt. Dann, ganz gefaßt und voll Demut erklärte Eugen:

"Nein, Ben, ich weiß nicht, warum ich weggeh. Vielleicht hast Du recht. Vielleicht fahr ich wirklich bloß ein bisschen mit der Bahn spazieren."

"Wann kommst Du zurück, Eugen?" fragte Ben.

"Wie meinst Du das?" antwortete Eugen. "Wenn mein Studienjahr 'rum ist, nehme ich an."

"Nein, nein", sagte Ben, "das wirst Du nicht tun."

"Was soll das heißen, Ben?" fragte Eugen erregt.

"Daß Du nicht zurückkommen wirst, Eugen", sagte Ben leis. "Weißt Du das?"

Sie schwiegen eine kleine Weile.

"Ja", sagte Eugen dann, "ich weiß es."

"Und warum kommst Du nicht zurück?" fragte Ben.

Eugen zerrte mit gekrallter Hand heftig am Halsband seines Hemdkragens.

"Ich will weg! Hörst Du?!" schrie er.

"Ja", sagte Ben. "Das wollte ich auch. Und warum, Eugen, willst Du weg?"

"Ich hab hier nichts zu suchen", murmelte Eugen.

"Seit wann hast Du das gemerkt?" fragte Ben.

"Immer schon", sagte Eugen. "Seit ich denken kann. Aber ich wußte es nicht, bis Du ...", er stockte.

"Bis ich ... was?" fragte Ben.

Eine Pause trat ein.

"Du bist tot, Ben", murmelte Eugen. "Du mußt tot sein. Ich war dabei, als Du starbst, Ben!" Seine Stimme wurde schrill. "Ich sag Dir, ich selber hab es gesehen, wie Du starbst! Erinnerst Du Dich nicht? Das Vorderzimmer im ersten Stock, das die Zahnarztsgattin jetzt hat! Erinnerst Du Dich nicht? Coker, Helene, Bessie Gant, die Dich pflegte, und Mistress Pert. Der Sauerstofftank? Ich versuchte Deine Hände festzuhalten!" Er kreischte. "Erinnerst Du Dich nicht? Du bist tot, Ben, tot!"

"Narr!" sagte Ben wild. "Ich bin nicht tot."

Stille.

"Dann sag mir doch", begann Eugen wieder, "wer von uns beiden ist das Gespenst?"

Ben antwortete nicht.

"Ist das der Stadtplatz, Ben? Bist Du's, mit dem ich rede? Bin ich wirklich hier oder bin ich nicht hier? Und ist das der Mond, der hier auf den Platz scheint? Stimmt das alles?"

"Wie soll ich das wissen?!" sagte Ben wiederum.

Aus Gants Werkstatt kam das schwere Getrappel marmorner Füße. Eugen sprang auf und lugte durch die schmutzige Scheibe von Jannadeaus Lädchen. Auf dem Tisch blitzten in tausend winzigen Pünktchen bläulichen Lichts die Teilchen einer auseinandergenommenen Uhr. Und jenseits der Uhrmacherwerkstatt, dort wo das Mondlicht durch die hohen Seitenfenster in den Lagerschuppen strömte, schritten die Engel hin und her wie aufgezogne Spielzeugpuppen aus Stein. Die langen, kalten Faltengewänder klangen sprödklirrend aneinander, die vollen, keuschen Brüste wogten in steinernen Rhythmen. Und im Mondlicht, mit den Flügeln schmetternd, flogen die marmornen Cherubim rundum. Steif, kaltblökend nach dem Mutterschaf, grasten die ausgehaunen Lämmlein auf dem mondgetränkten Gang zwischen den Steinklötzen.

"Siehst Du das?" schrie Eugen. "Siehst Du das, Ben?"

"Ja", sagte Ben. "Was ist denn dabei? Es ist doch ihr gutes Recht, nicht wahr?"

"Nein! Nein! Nein! Nicht hier!" sagte Eugen leidenschaftlich. "Hier ist es nicht recht!" Er dachte nach ... "Mein Gott, das ist doch der Stadtplatz, und dort ist der Springbrunnen, und dort steht das Rathaus, und da drüben ist das griechische Restaurant!"

Die Uhr von der Bank schlug die halbe Stunde.

"Und dort ist die Bank!" schrie er.

"Das macht nicht den geringsten Unterschied", erklärte Ben bündig.

"Doch! Doch!" behauptete Eugen. "Hier gibt's das nicht, nein, nein, nicht hier!"

"Wo denn sonst?" fragte Ben verdrossen.

"In Babylon. In Theben. An allen andern Orten ... Aber nicht hier!" antwortete Eugen. Er wurde noch leidenschaftlicher. "Alles was geschieht, geschieht an seinem rechten Ort. Und hier ist er nicht, nein, nein, nicht hier, Ben."

Meine Götter mit Vogelgeschrei in der Sonne hangen im Himmel.

"Nicht hier, Ben. Es ist nicht recht hier!" versicherte Eugen nochmals.

Die Götter mannigfalt zu Babylon.

Eugen starrte die dunkle Gestalt auf dem Geländer einen Augenblick an und murmelte in ungläubigem Protest:

"Gespenst! Gespenst!"

"Narr!" sagte Ben. "Wenn ich Dir's doch sage: ich bin kein Gespenst."

"Was sonst kannst Du sein?" fragte Eugen heftig erregt. "Du bist doch tot, Ben!"

Nach einer Weile, etwas beruhigt, fügte er hinzu:

"Menschen sterben nämlich, oder nicht?"

"Wie soll ich das wissen?" sagte Ben gleichmütig.

"Sie sagen, dass der Papa bald stirbt. Wußtest Du das, Ben?" fragte Eugen.

"Ja" sagte Ben.

"Sie haben das Anwesen hier gekauft, wollen das Haus einreißen und einen Wolkenkratzer hinbauen."

"Ja, ich weiß", sagte Ben.

Wir werden nicht wiederkommen, wir werden nie wieder zurückkommen.

"Alles vergeht. Alles wandelt sich und geht vorüber. Morgen werde ich weggehen und dies ..." Eugen hielt inne.

"Na, und dies ...?" forschte Ben.

"Und dies wird auch vergangen sein, oder – – – O Gott! Geschieht es denn wirklich?" schrie Eugen auf.

"Narr! Wie soll ich das wissen?!" sagte Ben ärgerlich.

"Was geschieht denn überhaupt? Was geschieht wirklich?" fragte Eugen. "Ben, kannst Du Dich an ein paar von denselben Dingen erinnern, an die ich mich erinnere? Ich habe die alten Gesichter vergessen. Wo sind sie, Ben? Wie hießen sie? Ich vergesse die Namen von Leuten, die ich jahrelang gekannt habe. Ich verwechsle ihre Gesichter. Es kommt vor, dass ich die Köpfe der einen auf die Körper der andern setze. Ich bilde mir ein, jemand hätte was gesagt, das ein andrer gesagt hat. Und ich vergesse, vergesse. Es gibt etwas, das ich verloren und vergessen hab. Ich kann mich nicht erinnern, Ben."

"Woran möchtest Du Dich denn erinnern", fragte Ben.

Ein Stein, ein Blatt, eine ungefundne Tür. Und die vergessenen Gesichter.

"Ich hab Namen vergessen. Ich hab Gesichter vergessen. Und ich erinnere mich an Kleinigkeiten", sagte Eugen. "Ich erinnere mich an die Fliege auf dem Pfirsich, die ich mitschluckte, an die kleinen Buben auf den Dreirädern in St. Louis und an das Muttermal an Grovers Hals und an den Güterwagen 'Lackawanna' auf dem Rangiergeleis bei Gulfport. Und einmal in Norfolk hat mich ein australischer Soldat aus einem Truppentransport nach Frankreich nach dem Weg zu einem Schiff gefragt: ich erinnere mich genau an sein Gesicht."

Er starrte antwortheischend in Bens verschattetes Gesicht. Und dann wandte er seine mondhellen Augen auf den Stadtplatz.

Und im Augenblick war der Silberraum erfüllt mit tausend Formen Eugens und Bens. Dort, von der Academy Street her, beobachtete Eugen sich selbst, wie er näherkam; dort vor dem Rathausplatz schlenkerte er stelzend vorüber; hier, zwischen dem Rinnstein und den Treppenstufen stand er und bevölkerte die Nacht mit der, großen, verlornen Legion seines Ichs: – den tausend Formen, die kamen und vorübergingen, sich in endlosem Wechsel verwoben und verwandelten, und die unabänderlich Er selbst waren.

Und über den Platz, sich zurückwindend aus verlorener Zeit, auf dem todlosen Webstuhl spinnend, tobte die grimmig-helle Horde der Benformen aus und ein. Ben in tausend Augenblicken ging über den Platz; der Ben der verlornen Jahre; der vergessenen Tage, der unerinnerten Stunden. Vor mondhellen Häuserfronten schlich er entlang, verschwand, erschien wieder, verließ sich und begab sich zu sich zurück, war einer und war viele: – der todlose Ben auf der Suche nach den verlornen, toten Lüsten, dem vollkommnen Unternehmen, der ungefundenen Tür: der unwandelbare Ben, der sich in Formen vervielfachte vor all den Backsteinbauten, wo er aus- und einging.

Und als Eugen das Heer aus sich selbst und Ben beobachtete, wohlwissend, dass das keine Gespenster, aber Verlorene wären, da sah er sich selbst – seinen Sohn, seinen Bub, sein verlorenes, unberührtes Fleisch – über den Stadtplatz kommen, am Springbrunnen vorbei. Vom Gewicht der vollgepfropften Leinwandtasche gekrümmt, humpelte er hurtig an Gants Werkstatt vorbei zur Niggerstadt hinunter im jungen noch ungebornen Tag. Und als er vor der Terrasse, wo Eugen ihn beobachtete, vorüberging, sah dieser unter der schmutzigen, zerrißnen Kappe sein verlorenes, vom Zauber ungehörter Musik trunknes Kindergesicht, das dem Hornklang aus fernen Forsten, das auf das sprachlose, fast vernommene Einlaßwort lauschte. Geschwind falteten die Hände des Buben die frischgedruckte Zeitung ... und in seine Bezauberung vertieft ging er vorüber.

Eugen sprang ans Geländer.

"Du! Du! Mein Sohn! Mein Kind! Komm zurück! Komm zurück!"

Es schnürte ihm die Kehle. Der Bub war vorübergegangen, entschwunden, und nur die Erinnerung an sein bezaubertes, verwunschnes, der verborgnen Welt lauschend zugewandtes Antlitz blieb. O verloren.

Nun war der Stadtplatz überfüllt mit ihren hellen, verlornen Gestalten, und alle Minuten der verlornen Zeit sammelten sich und standen still. Dann, jählings, schoß der Platz von ihnen fort, schrumpfte zusammen auf den Geleisen des Geschicks und schwand dahin vor seinen Augen mit allen erledigten Dingen, mit allen vergessenen Formen Eugens und Bens.

Und in seiner Vision schaute Eugen die fabulösen, die verlornen, die im Treibsand verschütteten Städte: – das siebentorige Theben und all die Tempel der daulischen und phokischen Lande und das ganze Oenotria bis hinauf zum tyrrhenischen Golf. Versunken in die Graburne des Erdreichs sah er die entschwundnen Kulturen: – die fremde, ursprungslose Blüte der Inkas; die Bruchstücke verlorener Epen auf den Scherben zerbrochener, gnossischer Töpfereien; die verschütteten Königsgrüfte von Memphis und den Staub der Pharaonen, umwunden mit Gold und linnenen Binden, deren Faser zerfiel ... tot mitsamt ihren tausend bestialischen Gottheiten, ihren stummen, unerwachten Uschtaben, in ihren vollendeten Ewigkeiten.

Er sah die Billion der auf Erden Lebenden und die tausend Billionen der Toten; ausgetrocknete Meere, überflutete Wüsten, ertrunkne Gebirge; und Götter und Dämonen kamen aus dem Süden, herrschten über das kleine Raketengeleucht von Jahrhunderten und sanken dahin – kamen zu ihrem Todesnordlicht, dem murmelnden, todflackernden Dämmer der vollendeten Götter.

Die Rassen taumelten dahin auf ihrem Marsch zum Untergang, die riesenhaften Rhythmen der Erde aber blieben. Die Jahreszeiten zogen auf in majestätischer Prozession, und immer wieder kam der keimkräftige Frühling – neue Saaten, neue Menschen, neue Ernten, neue Götter.

Und dann die Reise, das Fahren und Fahnden nach dem glückseligen Land. In diesem Augenblick seiner furchtbaren Vision sah Eugen im qualhaften Getrieb von tausend fremden Orten seine verwickelte Suche nach seinem Selbst gespiegelt. Und sein heimgesuchtes Gesicht war besessen von jenem dunklen und leidenschaftlichen Hunger, der im Weberschiffchen übers Meer gefahren kam und am Schicksalswocken unter den Pennsylvania-Deutschen den Faden weiterspann, jenem Hunger, der seines Vaters Augen verdunkelt hatte mit dem unfaßbaren Verlangen, Engelshäupter aus Steinklötzen zu hauen. Und er, Eugen, der im Gebirge Gehörne, er, dessen Erdenschau vom Wall der Bergwände umstellt war, er sah die goldnen Städte vor seinen Augen zerfallen, sah wie der üppigdunkle Glanz einer schmutzig-grauen Trübe anheimfiel. Sein Hirn war krank von der Million der Bücher, seine Augen waren krank von der Million der Bilder, sein Leib war siech von hundert fürstlichen Weinen.

Als er sich aus seiner Vision hochriß, schrie er: "Ich bin nicht dort in den Städten. Ich habe auf der Million der Straßen gesucht, bis der Bocksruf in meiner Kehle erstarb, und ich habe keine Stadt gefunden, wo ich war, keine Tür gefunden, wo ich eintrat, keine Stätte gefunden, wo ich stand."

Vom Rand der mondhellen Stille erwiderte Ben: "Narr! Warum suchst Du auf Straßen?"

Dann sagte Eugen: "Gegessen und getrunken hab ich die Erde, ich bin verloren gegangen und geschlagen worden, und nun will ich nicht weitergehn."

"Narr!" sagte Ben. "Was willst Du denn finden?"

"Mich selbst und ein Ende des Hungers und das glückselige Land", antwortete er. "Denn ich glaube schließlich an Häfen. O Ben, Brüder und Gespenst und Fremdling, Du, der Du nie sprechen konntest, steh mir nun Antwort!"

Da dachte er, dass Ben sage: "Das glückselige Land gibt es nicht. Und ein Ende des Hungers gibt es nicht."

"Und ein Stein, ein Blatt, eine Tür? Ben?" ... sprach er, fuhr er sprachlos sprechend fort. "Die sind, die nie waren, Ben, Erscheinungen meines Hirns, so wie ich Erscheinung Deines Hirns bin, mein Gespenst, mein Fremdling, der Du gestorben bist, und der Du nie lebtest wie ich?' Aber, falls Du hättest, was ich nicht habe. Du verlorene Erscheinung meines träumenden Hirns, falls Du eine Antwort hättest– eine Antwort!"

Die Stille sprach. ("Ich kann nicht von Reisen reden, ich gehör' hierher, ich bin nie von hier weggekommen", sagte Ben.)

"Und dann –: Wie steht es um mein Ich, die Erscheinung Deines Hirns, Ben? Dein Fleisch ist tot und in diesen Bergen begraben worden. Und meine uneingesperrte Seele jagt durch die Million der Straßen, auf denen das Leben treibt, und lebt sein Nachtmahrdasein von Hunger und Gier. Wo, Ben, wo ist die Welt?"

"Nirgends", sagte Ben. "Du bist Deine Welt."

Unvermeidliche Katharsis durch die Verstrickung ans Chaos. Unfehlbare Pünktlichkeit des Geschicks. Summierung des Erledigten aus den billionenfachen Toden, die die Möglichkeit stirbt.

" Ein Land werde ich unbesucht lassen", erklärte er. "Et ego in Arcadia."

Als er dies sprach, sah er, dass er die Million der Stadtskelette und die Million der versträhnten Straßen verlassen hatte. Er war allein mit Ben, sie standen mit den Füßen auf der Dunkelheit, ihre Gesichter waren erhellt vom kalten, hohen Terror der Sterne.

Am Rand der Dunkelheit stand er und besaß nur noch den Traum von allem: – der Traum der Städte, der Million der Bücher, der schemenhaften Menschengebilde, die ihn geliebt hatten, die er gekannt und verloren hatte. Sie werden nicht wiederkommen, sie werden nie wieder zurückkommen.

Mit den Füßen auf der Felsklippe der Dunkelheit stehend, spähte er aus und sah keiner Städte Licht. Das wäre, dachte er, des Todes gute, starke Medizin.

"Ist dies das Ende?" fragte er. "Habe ich Leben verzehrt und ihn nicht gefunden? Dann will ich nicht länger reisen."

"Narr", sagte Ben. " Dies ist das Leben. Du bist im Nirgends gewesen."

"Aber in den Städten?"

"Es gibt keine. Es gibt nur die eine Reise, die erste, die letzte, die einzige Reise."

"An Küsten fremder als Cipango, an Orten ferner als Fez werde ich ihn jagen, den Geist und Heimsucher meiner selbst. Ich hab das Blut, das mich nährte, verloren, ich starb die hundert Tode, die zum Leben führen. Mit dem langsamen Donner von Pauken, am Ausflackern sterbender Städte vorbei, bin ich an diesen dunklen Ort gekommen. Und dies ist die wahre Reise, ist die gute, die beste Reise. Und nun bereite Dich, meine Seele, denn die Jagd beginnt. Ich werde Meere befahren, fremder noch als das Meer, das der Albatros heimsuchte."

Er stand nackt und allein in der Dunkelheit, fern von der verlornen Welt der Straßen und Gesichter; er stand auf dem Bollwerk seiner Seele, vor dem verlornen Land seiner selbst; er hörte den Murmellaut der im Binnenland verlornen Meere und der Hörner ferne, innere Musik. Die letzte Reise, die längste, die beste.

"O Du jäher, unfaßbarer, in den Dickichten meines Ichs verlorener Faun, ich werde Dich jagen, bis Du aufhören wirst, meine Augen mit Hunger zu peinigen. Ich hörte Deiner Tritte Hall in der Wüste; ich sah Deinen Schatten in alten, begrabenen Städten; ich hörte Dein Lachen schallen auf der Straßen Million. Aber dort fand ich Dich nicht. Und im Wald hängt kein Blatt für mich, auf den Bergen werde ich keinen Stein aufheben, in keiner Stadt werde ich die Tür finden. Aber in der Stadt meiner selbst, auf dem Kontinent meiner Seele werde ich die vergessene Welt finden, eine Tür, wo ich eintreten darf, und seltsamere Musik hören als je erklang. Und Dich werde ich heimsuchen, Gespenst, auf den labyrinthischen Wegen bis ... bis? O Ben, mein Gespenst, eine Antwort?"

Aber während er sprach, verschnörkelte sich die Schau der phantomischen Jahre; nur Bens Augen noch – antwortlos – brannten furchtbar und stät in der Dunkelheit.

Und es tagte; Vögel erwachten; der Stadtplatz lag gebadet im jungen Perlglast des Morgens. Ein leichter Wind flatterte über den Platz, und Eugen sah, wie Ben wie eine Rauchwolke im Frühlicht zerschmolz.

Und die Engel auf Gants Terrasse standen erfroren und starr und marmorstill, und in der Nachbarschaft erwachte das Leben mit hartem Rädergerassel und dem Klapperklang eisenbeschlagener Hufe. Und Eugen hörte den langen, klagenden Pfiff eines Zugs drunten am Fluß.

Jedoch, als er da zum letzten mal neben den Engeln auf seines Vaters Terrasse stand, schien es ihm, als sei der Stadtplatz bereits fern und verloren; oder, würde ich sagen: er war wie ein Mann, der auf dem Berg steht über einer Stadt, die er verlassen hat, jedoch nicht sagt "Die Stadt ist nah", sondern seine Augen auf die fernen, schwingenden Bergketten richtet.

 

 

Inhalt



Erstes Buch


Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel

Zweites Buch


Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechszehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigtes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel

Drittes Buch


Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel
Vierzigstes Kapitel

 

 

 




Erstes Buch



... ein Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür; von einem Stein, einem Blatt, einer Tür. Und von all den vergessenen Gesichtern.
Nackt und allein gerieten wir in Verbannung. Im Dunkel ihres Schoßes kannten wir unsrer Mutter Angesicht nicht. Aus dem Gefängnis ihres Fleischs sind wir ins deutungslose Gefängnis dieser Erde geraten.
Wer unter uns hat seinen Bruder gekannt? Wer unter uns hat in seines Vaters Herz gesehen? Wer unter uns ist nicht immer unterm Druck des Kerkers geblieben? Wer unter uns ist nicht immer ein Fremdling und allein?
O Öde aus Verlust: in heißen Wirrsälen verloren; unter hellen Sternen auf dieser müden, lichtlosen Schlacke verloren. Verloren! Uns wortlos erinnernd suchen wir die große vergessene Sprache, das verlorene End eines Feldwegs in den Himmel, einen Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür. Wo? Wann?
O verlorenes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!


Erstes Kapitel



Ein Schicksal, das Engländer und Pennsylvania-Deutsche zusammenbringt, ist schon sonderbar genug. Eines aber, das von Epsom in den Quäkerstaat, und von dort – am sanften Lächeln eines Engels aus Stein vorbei, in das Gebirge führt, das Altamont über dem stolzen, korallenroten Hahnenschrei umragt, dunkelt vom Wunder jenes Waltens, das die staubige Welt neu verzaubert.

Jeder von uns stellt alle Stimmen dar, die er nicht zusammengezählt hat. Versetze uns in Nacht und Nacktheit zurück, und Du wirst erkennen, dass die Liebe, die gestern in Texas endete, vor viertausend Jahren auf Kreta begann.

Der Same unseres Verfalls wird in der Wüste blühen, am Fels wächst das Heilkraut, und unsre Leben werden von einer Schlampe aus Georgia heimgesucht, weil ein Beutelabschneider in London ungehenkt blieb. Jeder Augenblick ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die Tage, an Minuten ermessen, sind Fliegen, die sich totsummen. Jeder Augenblick ist ein Fenster, das auf alle Zeit hinausweist.

Hier ist so ein Augenblick:

Ein Engländer namens Gilbert Gaunt (was er später in Gant änderte, vermutlich ein Zugeständnis an die Aussprache der Yankees) war im Jahre 1837 auf einem Segler von Bristol nach Baltimore gekommen. Den Wert eines Gasthauses, das er sich gekauft hatte, ließ er seine unfürsorgliche Kehle hinunterrollen. Dann wanderte er westwärts nach Pennsylvanien. Sein karges Brot erwarb er auf gefährliche Weise. Er reiste mit Zuchthähnen, die er auf den Höfen gegen die Champions der Ortschaften kämpfen ließ. Oft entkam er nur nach einer im Dorfgefängnis verbrachten Nacht, seinen Hahn tot auf dem Felde zurücklassend, ohne einen klingenden Heller in der Tasche; manchmal trug er die Spuren einer derben Farmerfaust im verwegenen Gesicht. Stets aber entkam er. Er gelangte schließlich unter die Pennsylvania-Deutschen. Es war Erntezeit. Die Fülle des Landes tat es ihm so sehr an, dass er dort vor Anker ging. Im Lauf eines Jahres heiratete er eine handfeste Witwe mit einer sauberen Farm. Das Air des Vielgereisten, das ihn umgab, seine grandiose Art zu reden, besonders wenn er Hamlet in der Manier des großen Edmund Kean vorspielte, gefiel allen Frauen dort sehr. Er hätte Schauspieler werden müssen, sagten die Leute.

Der Engländer zeugte Kinder – eine Tochter und vier Söhne –, lebte angenehm und ohne Sorgen und ertrug das barsche, aber gerechtfertigte Gekeif seiner Frau mit Geduld. Jahre vergingen. Der Engländer ging mit dem Schlürfschritt des Gichtkranken; seine starren Augen wurden trüb und versackten. Eines Morgens, als seine Frau ihn aus dem Bett herausschelten wollte, fand sie ihn tot, vom Herzschlag gerührt. Er hinterließ fünf Kinder, eine Hypothek und – in seinen seltsamen dunklen Augen, die nun glasig starrten, etwas, das nicht mit ihm gestorben war: einen obskuren, leidenschaftlichen Hunger nach Reisen.

Mit diesem Vermächtnis verlassen wir diesen Engländer und beschäftigen uns von jetzt ab mit dem Erben, dem er es hinterließ, seinem zweitgeborenen Sohn, einem Burschen namens Oliver. Dieser Bursch stand an der Landstraße, als staubbedeckt die Truppen der Aufständischen auf dem Marsch nach Gettysburg in der Nähe der Farm vorüberzogen. Wenn er den großen Namen Virginia hörte, wurden seine Augen dunkler. Als der Bürgerkrieg endete, war er fünfzehn.

Eine längere Geschichte ist, wie er einmal in Baltimore eine Gasse entlang ging und in einer kleinen Werkstatt polierte granitne Grabmale sah, Lämmer und Cherubim, und auf kalten, abgezehrten Füßen schwebend einen Engel mit dem Lächeln sanfter Blödheit aus Stein. Die kalten, seichten Augen des Burschen wurden dann dunkler von dem obskuren, leidenschaftlichen Hunger, der in den Augen eines Toten gelebt hatte. Als Oliver den großen Engel mit der Lilie anschaute, überkam ihn eisig eine namenlose Erregung. Die langen Finger seiner großen Hände schlossen sich fest zusammen. Er spürte auf einmal, was er wolle. Mehr als alles in der Welt wollte er mit gelenkem Meißel in Stein schneiden, wollte er etwas Dunkles, Unsägliches aus dem kalten Block herausholen, wollte er das Haupt eines Engels aushauen.

Oliver Gant trat in die Werkstatt ein und fragte den stämmigen, vollbärtigen Mann mit dem Holzhammer um Arbeit. Er wurde Steinmetzlehrling. Fünf Jahre Arbeit, dann war er Steinmetz. Als seine Gesellenzeit um war, war er ein Mann.

Er erreichte es nie. Er lernte nie, das Haupt eines Engels aus Stein zu hauen. Taube, Lamm, gefaltete Totenhände, schöne feine Buchstaben, das lernte er. Aber den Engel nicht. Diese Jahre der Arbeit und wüsten Trunks hatten eine verheerende Nachwirkung auf den Steinhauer. Dazu kam der Einfluß des Theaters von Booth und Salvini, denn er lernte den hochtrabenden Schwulst, den er dort hörte, bis auf den Akzent auswendig. Murmelnd, mit großen ausdrucksvollen Händen gestikulierend, schritt er durch die Straßen. So tappen und tasten wir blind in unsrer Verbannung, so zeigt sich der Hunger, wenn wir, uns wortlos erinnernd, die große vergessene Sprache suchen, das verlorene End eines Feldwegs in den Himmel, einen Stein, ein Blatt, eine Tür. Wo? Wann?

Er erreichte es nie. Er fuhr über den Kontinent in die Südstaaten der Wiederaufbaujahre: ein sonderbarer wilder Kerl, sechs Fuß vier Zoll hoch, mit alten unbehaglichen Augen, einer großzinkigen Nase. Sein Redestrom rollte hochstaplerisch und verrückt, formvollendet wie klassische Zitate. Trotz des leichten Grinsens um die Winkel seines dünnlippigen, kläglichen Mundes nahm er diese pathetische Ausdrucksweise völlig ernst.

In Sidney, der Hauptstadt eines der mittleren Südstaaten, machte er ein Geschäft auf. Er lebte nüchtern und fleißig unter den aufmerksamen Augen der Bevölkerung, die noch vom verlornen Krieg und von Feindseligkeit wund war. Er machte sich einen guten Namen, fand Zutritt, heiratete eine hagere, lungensüchtige, auf die Ehe erpichte Jungfer. Cynthia war zehn jähre älter als er; sie hatte etwas Geld. Achtzehn Monate Ehestand verwandelten ihn wieder in einen tobsüchtigen Trinker. Sein Geschäft ging in die Brüche, während er sich in den Schenken räkelte. Cynthia, deren Leben er, so meinten die Mitbürger, nicht verlängern half, starb plötzlich nachts an einem Blutsturz.

So war wieder alles dahin: Cynthia, die Werkstatt, die schwer erkämpfte Nüchternheit, das Haupt des Engels. Er strich nachts durch die Straßen und verfluchte die Südstaaten und ihre Trägheit in gellen, pathetischen Flüchen. Angekränkelt von Angst, vom Verlust, von Reue, zermürbt von den tadelnden Blicken der feindseligen Stadt, fiel er vom Fleisch; und war überzeugt, dass Cynthias Geißel ihn strafend heimsuchte.

Er war erst knapp über dreißig, sah aber viel älter aus. Sein Gesicht war gelb und hohl. Seine großzinkige, wächserne Nase wirkte wie ein Vogelschnabel. Sein langer, brauner Schnurrbart hing traurig herab. Das wüste Trinken hatte seine Gesundheit untergraben. Er war spindeldürr geworden und hustete ständig. Er war einsam, er dachte an Cynthia. Ihm wurde angst. Er glaubte, er sei schwindsüchtig und müsse bald sterben.

Allein und abermals verloren, da er nirgends in der Welt Ordnung und Bleibe gefunden hatte, da ihm der Boden unter den Füßen entzogen war, nahm er sein zielloses Streunerleben wieder auf. Er wandte sich westwärts gegen das große Gebirge, denn er wußte, dass jenseits der Berge sein übler Ruf unbekannt war. In den Bergen hoffte er Einsamkeit, neues Leben und seine Gesundheit wieder zu finden.

Seine Augen wurden wieder dunkler. Wie in seiner Jugend.

Den ganzen Tag unter einem verregneten grauen Oktoberhimmel fuhr Oliver westwärts durch den großen Staat Catawba. Er blickte traurig zum Fenster hinaus auf das riesige, ungeordnete Land. Die paar armseligen Farmen schienen ihm vergeblich in diese Wildnis gepflanzt. Sein Herz wurde kalt und wie Blei. Er dachte an die mächtigen Scheuern Pennsylvaniens, an das goldne, reife, geneigte Korn, an die Fülle, die Ordentlichkeit, das reinliche Auskommen der Menschen dort. Er dachte daran, wie er selbst ausgezogen war, um Auskommen und Bleibe für sich zu finden. Er dachte an das Wirrsal seines Lebens, seine vergeudete Jugend, die Spur der Jahre.

Bei Gott, dachte er, ich werde alt. Warum hier?

Die verschollenen Jahre zogen gespenstisch in seinem Hirn um. Er sah plötzlich, dass eine Kette von Zufällen sein Leben bestimmt hatte: ... ein Lied von Armageddon, das ein verrückter Rebell sang ... Hörner und Maultiergetrappel der Armee auf der Landstraße ... das alberne weiße Gesicht eines Engels in einer verstaubten Werkstatt ... die wippenden Schinken einer vorüberstreifenden Strunze ... Das hatte ihn aus Wärme und Fülle in diese Öde getrieben. Als er zum Fenster hinaus auf die fahle unbebaute Erde starrte, das große kahle Massiv des Piedmont, das schmutzige Ziegelrot der Landstraßen, die verschlampten Menschen, die gaffend auf den Stationen herumlungerten – einen dürren Farmer, der unsicher auf dem Kutschbock schwankte, einen torkelnden Neger, einen zahnlosen Farmtölpel, ein blasses verhärtetes Weib mit einem schmierigen Balg auf dem Arm –, da packte ihn die Furcht vor der Fremdheit des Geschicks. Was hatte er hier zu suchen? Wie kam er hierher? Aus dem ungetrübten Behagen seiner Jugend hierher in dieses endlose, verlorene, verkrümelte Land?

Der Zug klapperte vorwärts. Es regnete ständig. Der Grund roch stark. Ein Bremser kam und leerte einen Kroppen Kohle in den Ofen am Ende des Abteils. Es zog. Zwei blöde Kerle, die mit ihm in dem mit schmutzigem Plüsch bezogenen Abteil saßen, brachen in ein leeres, hohes Gelächter aus. Die Glocke der Lokomotive bimmelte kläglich über dem Rädergerassel. Am Fuß des Gebirges war ein Bahnknotenpunkt. Dort stand der Zug eine unendliche, dröhnende Weile lang still. Dann ging die Fahrt weiter über die leere rollende Erde hin.

Es wurde düster. Riesige Bergmassen traten vag aus dem Dunst. In den Hütten auf den Hängen gingen kleine blakende Lichter an. Der Zug schwankte über schwindelnde Gerüste, die sich hoch über geisterhaft strudelnden Wassern spannten. Jäh in der Höhe, jäh in der Tiefe hingen kleine Spielzeughäuser an den Ufern, den Schlüften, den Abhängen. Zäh und langsam arbeitete sich der Zug durch Einschnitte ins rote Erdreich in die Höhe. Es war dunkel, als Oliver in der Kleinstadt Old Stockade, der armseligen Endstation der Bahnlinie, ausstieg. Die letzte Bergwand lag ungeheuer vor ihm. Als er in das fettige Funzellicht eines ländlichen Landes starrte, hatte Oliver das Gefühl, dass er – ganz wie ein großes Tier, das sich zum Verenden in die Wildnis zurückzieht, sich dem Tod entgegen in den Ring dieser Berge schleppe.

Am nächsten Morgen reiste er mit der Postkutsche weiter. Sein Ziel war die kleine Stadt Altamont, vierundzwanzig Meilen entfernt, tief im Gebirge gelegen. Als die Pferde auf der steilen Straße anzogen, wurde Oliver etwas vergnügter. Es war ein graugoldener Spätoktobertag, hell und windig. Die Höhenluft wehte frisch und scharf. Die Berge ragten über ihm, ganz nah, ungeheuer, unfruchtbar, unbegangen. Bäume, beinah laublos, hoben sich klar und mächtig ab. Der Himmel trieb mit weißen Wolkenfetzen. Ein dichter Nebelschwaden wogte langsam eine Steilhalde hinab.

Tief unten schäumte ein Bach. Oliver sah, ganz winzig, einen Trupp Arbeiter, die an dem Schienenstrang, der sich über die Bergkette nach Altamont winden sollte, arbeiteten. Die Kutsche kam übers Joch. Die Gäule schwitzten. Ringsum schwangen königlich die Bergketten, verschwammen in blaurotem Dunst. Der Abstieg zu dem Hochplateau, auf dem Altamont liegt, begann.

In die geisterhafte Ewigkeit der Berge eingebettet, über hundert kleine Hügel und Senken gebreitet, fand Oliver eine Stadt von viertausend Einwohnern.

Hier war Neuland. Ihm wurde leicht ums Herz.

Diese Stadt Altamont war kurz nach dem Befreiungskrieg gegründet worden. Sie war damals ein bequemer Halteplatz für Viehtreiber und Farmer auf dem Weg von Tennessee nach Süd-Carolina. Bereits ein paar Jahrzehnte vor dem Bürgerkrieg war sie Sommeraufenthalt modischer Leute aus Charleston und von den heißen Plantagen des Südens. In den Jahren, als Oliver Gant dort ankam, hatte ihr Ruf als Kurort für Lungenkranke gerade begonnen. Ein paar reiche Herren aus dem Norden hatten Jagdhütten im Gebirge. Einer von ihnen hatte große Landstrecken aufgekauft und baute nun mit einer Armee von Zimmerleuten und Maurern unter einem Stab importierter Architekten das größte Landhaus in den Vereinigten Staaten – so ein Ding aus Kalkstein mit spitzen Schieferdächern und einhundertdreiundachtzig Zimmern, nach dem Vorbild des Schlosses von Blois. Außerdem gab es ein großes neues Hotel aus Holz, eine kostspielige Riesenscheuer, die protzig-behaglich auf einer gebietenden Anhöhe über der Stadt thronte.

Aber weitaus die Mehrzahl der Einwohner war alteingesessen; stammte aus dem Gebirge; ein Menschenschlag schottisch-irischen Blutes: hinterwäldlerisch, fleißig, handfest, intelligent.

Oliver hatte aus dem Zusammenbruch von Cynthias Vermögen zwölfhundert Dollar gerettet. Er mietet einen kleinen Schuppen an einer Ecke des Stadtplatzes, kaufte ein paar Marmorblöcke auf Lager und fing sein Geschäft an. Zu tun hatte er die erste Zeit wenig. Einsam und trübselig hing er seinen Todesgedanken nach. Während des bitteren Winters wurde der lange dürre Yankee, diese wandelnde Vogelscheuche, die murmelnd durch die Straßen strich, zum Stadtgespräch. Alle Leute im Boarding-House wußten, dass er nachts in seinem Zimmer mit großen Schritten wie ein Raubtier im Käfig auf und ab ging, und dass er im Schlaf tief aufstöhnte. Er sprach mit niemandem.

Als aber der wunderbar grün-goldne Bergfrühling mit kurzen heftigen Windstößen, mit dem Zauber und Duft der Blüten, mit lauen balsamischen Brisen kam, begann die große Wunde in Oliver zu verheilen. Seine Stimme ward wieder vernommen. Purpurn leuchteten die alte Beredsamkeit, das alte Ungestüm in ihm auf.

Eines Apriltages, als er frischerweckter Sinne vor seine Werkstatt trat, um das flimmernde Leben auf dem Stadtplatz zu beobachten, hörte er hinter sich die Stimme eines Mannes, der gerade vorüber ging. Und diese seichte, träge, langgezogne Stimme rührte wie ein Lichtstrahl an ein Bild, das zwanzig Jahre in ihm geschlummert hatte.

"Er kommt! Er muß kommen! Meiner Berechnung nach trifft er am 11. Juni 1886 ein."

Oliver wandte sich um und erblickte die freundlich-feiste Gestalt eines Wanderpredigers, die er zum letzten mal gesehen hatte, als sie auf der staubigen Marschroute entschwand, die nach Gettysburg und Armageddon führt.

"Wer ist das?" fragte er jemanden.

Der Mann guckte und grinste.

"Das? Bacchus Pentland", sagte er. "Ein Original. Seine Leute leben hier in der Gegend."

Oliver leckte seinen großen Daumen. Dann fragte er dünn lächelnd:

"Ist Armageddon jetzt gekommen?"

"Er erwartet das täglich", sagte der Mann.

Dann traf Oliver Eliza. Eines Frühlingsnachmittags lag er auf dem Ledersofa in seiner Bude und lauschte auf die hellen, pfeifenden Geräusche vom Platz. Ein heilsamer Friede brütete über seiner langausgestreckten Gestalt. Er dachte an mulmige schwarze Erde, über die das junge Licht der Blumen flackert, an kühles, perlendes Bier, an des Pflaumenbaums fallende Blüten. Da hörte er Frauenschritte auf die Werkstatt zukommen, schnell sprang er auf. Er zog gerade seinen wohlgebürsteten schwarzen Rock an, als sie eintrat.

"Ich wünscht, ich wär ein Mann", begann Eliza mit vorwurfsvollem Spott, "und hätte den ganzen Tag nichts zu tun, als auf einem bequemen Sofa zu liegen."

"Guten Nachmittag, Madam", sagte Oliver. Er verbeugte sich umständlich. Ein mattes Lächeln spielte um seine schmalen Mundwinkel. "Sie haben mich in der Tat beim Mittagsschlaf überrascht. Ich schlafe tagsüber eigentlich selten, aber meine Gesundheit ist in letzter Zeit ein wenig angegriffen. So bin ich nicht imstand, die Arbeit zu leisten, die ich früher tat."

Er schwieg einen Augenblick und ließ traurig den Kopf hängen. "Ach Gott, ich weiß wirklich nicht, was noch aus mir werden wird."

"Ei was!" wandte Eliza schnell und verächtlich ein. "Meiner Meinung nach fehlt Ihnen gar nichts. Sie sind ein Mordskerl von einem Mann und stehen in den besten Jahren. Gut zur Hälfte ist die Sache gewiß nur Einbildung. Vor drei Jahren hielt ich Schule in Hominy Township und bekam die Lungenentzündung. Kein Mensch glaubte, dass ich durchkäme. Aber ich hab's doch geschafft. Ich erinnere mich, da lag ich eines Tags da ... ich glaub, man nennt das rekonvaleszieren ... ja! ... Der Grund, wieso mir das jetzt einfällt, ist der: der alte Doktor Fletscher war gerade dagewesen, und als er wegging, sah ich, wie er zu meiner Kusine Sally den Kopf schüttelte. 'Aber Eliza, um Himmels willen!' sagte Sally zu mir, sobald er zum Haus draußen war. 'Er sagte mir, dass Du Blut spuckst, so oft Du hustest. So sicher, wie ich hier steh: Du hast die Schwindsucht!' – 'Ei was!' hab ich gesagt, und ich lachte so laut heraus, wie ich nur konnte. 'Kein Wort glaub ich davon!' Und ich dacht mir: 'Nur nicht nachgeben, ich werde sie alle mal rein zum Narren halten.' (Hier nickte Eliza und rollte die Lippen) ... 'und außerdem, Sally', hab ich gesagt, 'einmal kommen wir alle dran. Unsinn, sich deswegen Gedanken zu machen. Was kommt, kommt. Es kann morgen sein, es kann später sein. Aber kommen muß es gewiß.'"

"Ach Gott", sagte Oliver und nickte traurig, "ein wahreres Wort ist nie gesagt worden."

Barmherziger Heiland! dachte er verzweifelt. Wie lange wird sie daherreden? Aber ein hübscher Kerl ist sie, todsicher. Er sah wohlgefällig ihre aufrechte, gutgebaute Figur an. Er bemerkte die milchweiße Haut, die schwarzbraunen Augen mit dem drolligen Kinderblick, ihr tiefschwarzes glänzendes Haar, das von der hohen weißen Stirn glatt zurückgekämmt war. Sie hatte die Angewohnheit, vorm Sprechen stets die Lippen zu rollen. Sie sprach langatmig und kam stets erst über nie endende Abschweifungen und Seitenpfade, über alle Wegenden der Erinnerung zur Sache, so, als müsse sie zunächst erst bei allen Dingen, die sie je getan, gefühlt, gedacht, gesehen, erlebt hatte, mit egozentrischem Entzücken verweilen.

Als er sie so anblickte, brach sie plötzlich mitten im Satz ab, legte ihre nett behandschuhte Rechte ans Kinn und starrte mit nachdenklich gerolltem Mund ins Leere.

"Also!" sagte sie. "Falls Sie sich hier erholen und einen Teil Ihrer Zeit liegen müssen, dann brauchen Sie etwas, was Sie geistig beschäftigt." Sie öffnete das kleine lederne Handköfferchen, das sie trug, und nahm eine Visitenkarte und zwei dicke Bände heraus. "Mein Name", sagte sie gewichtig und mit langsamem Nachdruck, "ist Eliza Fentland. Ich vertrete die Verlagsanstalt Larkin und Company."

"Barmherziger Heiland!" dachte Oliver. "Wie würdig und stolz sie das sagt! Eine Buchagentin also!"

"Wir offerieren", sagte Eliza und öffnete ein mit phantastischem Buchschmuck aus Speeren, Fahnen, Lorbeerreisern ausgestattetes Werk, "eine poetische Blütenlese, betitelt Juwelen in Vers für Herd und Heim und außerdem Larkins Handbuch Arzt und Arznei zum Hausgebrauch, ein Werk, das Kuren und Vorbeugungsmittel für mehr als fünfhundert Krankheiten enthält."

"So ..." sagte Gant, heimlich grinsend, und leckte seinen großen Daumen. "Da könnte auch ich wohl herausfinden, was mir fehlt."

"Ei gewiß!" versicherte Eliza mit entschiedenem Kopfnicken. "Sie lesen sozusagen die Poesie zum Besten Ihrer Seele und den Hausdoktor zum Wohl Ihres Leibs."

"Gedichte mag ich sehr gern", gestand Oliver, drehte ein paar Seiten um und hielt bei dem Abschnitt Sänge von Säbel und Sporn interessiert inne. "Als ich noch ein Bub war, konnte ich stundenlang rezitieren."

Er kaufte die Bände. Eliza packte die Muster ein, richtete sich auf und sah sich neugierig in der verstaubten Bude um.

"Geht das Geschäft gut?" fragte sie.

"Nicht dass ich sagen könnte", gestand Oliver. "Es kommt gerade genug dabei heraus, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Ich bin fremd in der Stadt."

"Ei was!" sagte Eliza fröhlich. "Sie sollten mehr unter die Leute gehen. Sie brauchen etwas, was die Gedanken ablenkt. Wenn ich Sie wäre, dann würde ich mal dran gehen, mich um die fortschrittliche Entwicklung dieser Stadt zu bekümmern. Wir haben hier alles Zeug zu einer Großstadt: Landschaft, Klima, Bodenschätze. Da wäre was zu machen. Wenn ich ein paar tausend Dollar hätte, wüßte ich genau, was ich mit ihnen anfangen würde." Sie blinzelte ihm lustig zu und begann mit sonderbar männlichen Gebärden: den Zeigefinger ausgestreckt, die Faust lose geballt: "Betrachten Sie mal das Baugrundstück hier an der Ecke, dieses hier, auf dem Ihre Werkstatt steht. Es wird in den nächsten paar Jahren seinen Wert verdoppeln. Und dort –" sie deutete mit einer weiten Armbewegung –' "dort wird eines Tages eine Straße laufen, so sicher, wie ich hier steh ..."– sie rollte nachdenklich die Lippen – "und dann wird dieses Grundstück schweres Geld wert sein." Sie fuhr fort, versonnen-hungrig über Baugelände zu reden. In ihrer Vorstellung war die Stadt ein ungeheurer Blaupausplan; ihr Gedächtnis war mit Zahlen und Schätzungen vollgepfropft; sie wußte, wer ein Grundstück besaß, wer es verkauft hatte; sie kannte den Kaufpreis, den faktischen und den Spekulationswert; sie verstand sich auf erste und zweite Hypotheken.

Oliver dachte an Sidney. Als sie fertig war, bemerkte er mit Nachdruck:

"Ich hoffe, ich werde nie wieder in meinem Leben Immobilien besitzen; außer einem Wohnhaus natürlich. So was lastet wie ein Fluch auf einem, und am Ende kriegt doch der Steuereinnehmer alles."

Eliza sah ihn verdutzt an, als hätte er sich zu einer verdammenswerten Irrlehre bekannt.

"Na, aber hören Sie! Das wollen Sie doch nicht im Ernst behaupten! Sie werden sich doch auch etwas für die magern Jahre zurücklegen wollen?"

"Ich befinde mich mitten in den magern Jahren", sagte er düster. "Was ich an Grund und Boden benötige, sind acht Kubikfuß Erde für ein Grab."

Dann aber redete er von freundlichern Dingen und geleitete sie zur Tür. Er sah ihr nach, wie sie lustig über den Stadtplatz davonging. Er beobachtete, dass sie im Rinnstein ihren Rock mit damenhafter Artigkeit ein wenig hob. Dann wandte er sich zu seinen Marmorblöcken. Eine Freudigkeit regte sich in ihm, die er für immer verloren geglaubt hatte.

Die Familie Pentland, der Eliza angehörte, war eine der sonderbarsten Sippen, die dies Gebirge je hervorgebracht hatte. Ihr Anspruch auf den Namen Pentland war strittig. Ein Schotte dieses Namens, Bergbauingenieur von Beruf, Großvater des derzeitigen Haupts der Familie, war nach dem Befreiungskrieg auf der Suche nach Kupfer in die Gegend gekommen, hatte dort einige Jahre mit einer der Pionierfrauen gelebt und mehrere Kinder gezeugt. Als er verschwand, nahm die Frau für sich und die Kinder den Namen Pentland in Anspruch.

Derzeitiger Stammeshäuptling war Elizas Vater, Bruder des Propheten Bacchus, ein Major Thomas Pentland. Ein andrer Bruder war im Bürgerkrieg gefallen. Major Pentland hatte seinen militärischen Rang ehrlich aber unauffällig erworben. Während Bacchus, der es nie weiter als zum Korporal brachte, sich bei Shilo Blasen an die Hände feuerte, verteidigte der Major an der Spitze von zwei Landsturmkompagnien das heimatliche Gebirge. Diese natürliche Festung war zwar während des ganzen Feldzugs nicht bedroht, aber in den letzten Tagen vorm Waffenstillstand hatten die freiwilligen Wehrmannen, gut hinter Fels und Baum verschanzt, drei Salven auf ein verirrtes Detachement aus Shermans Armee abgegeben und sich dann stillschweigend zum Schutz ihrer wartenden Weiber und Kinder gedrückt.

Die Pentlands waren so alt wie irgendeine andere Familie in der Stadt. Sie waren immer arm gewesen und spielten sich nur selten als Patrizier auf. Durch Heirat und Versippung konnten sie sich naher Beziehung zu einigen Großen im Lande rühmen. Die Familie hatte den Durchschnitt an Idioten und Geisteskranken hervorgebracht; aber da sie an Intelligenz und Fiber den anderen Sippen der Gegend offensichtlich überlegen war, wurde ihr ein solider Respekt eingeräumt.

Die Pentlands hatten einen ausgeprägten Typ. Gruppenabzeichen waren breitangesetzte Nasen mit fleischigen, tief eingebuchteten Flügeln, sinnliche Lippen, gleichviel grob und delikat, die sich beim Nachdenken mit erstaunlicher Gewandtheit verziehen konnten; breite intelligente Stirnen und tiefe, flache, ein wenig hohle Wangen. Die Männer hatten im allgemeinen – obschon es auch eine leichenblasse Variation gab – hochrote Gesichter. Sie waren mittelgroß, untersetzt, schwer.