cover.jpg

img1.jpg

img2.jpg

 

Nr. 2812

 

Die falsche Welt

Teil 1 von 4

 

Willkommen im Tamanium!

 

Eine Welt, die nicht wahr sein darf – und doch Wirklichkeit ist

 

Andreas Eschbach

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

img3.jpg

 

Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben Teile der Milchstraße besiedelt, Tausende von Welten zählen sich zur Liga Freier Terraner. Man treibt Handel mit anderen Völkern der Milchstraße, es herrscht weitestgehend Frieden zwischen den Sternen.

Doch wirklich frei sind die Menschen nicht. Sie stehen – wie alle anderen Bewohner der Galaxis – unter der Herrschaft des Atopischen Tribunals. Die sogenannten Atopischen Richter behaupten, nur sie und ihre militärische Macht könnten den Frieden in der Milchstraße sichern.

Wollen Perry Rhodan und seine Gefährten gegen diese Macht vorgehen, müssen sie herausfinden, woher die Richter überhaupt kommen. Ihr Ursprung liegt in den Jenzeitigen Landen, in einer Region des Universums, über die bislang niemand etwas weiß.

Ein Zeitriss trennt die Freunde Rhodan und Atlan. Mit dem Fernraumschiff RAS TSCHUBAI strandet Perry Rhodan mehr als 20 Millionen Jahre in der Vergangenheit. Der Arkonide Atlan setzt die Reise in die Heimat der Atopischen Richter fort. Als Kommandant steuert er die ATLANC durch die Synchronie, doch ein neuer Zwischenfall unterbricht den Flug.

Die ATLANC landet in einer »falschen Welt« – dort heißt man sie WILLKOMMEN IM TAMAMIUM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Seine Mission geht dem Arkoniden zu Herzen.

Jawna Togoya – Die Posbi-Frau verspürt geometrische Erregung.

Miuna Lathom – Die lemurische Agentin jagt einen Wirrkopf.

Thyan Meverdatis – Der Flottenkommandant wird ausgetrickst.

Prolog

 

Es kam selten vor, dass Miuna Lathom träumte, aber wenn es doch geschah, erschien ihr die Welt nach dem Aufwachen unwirklicher als ihr Traum.

Ein Mann mit blonden Haaren hatte ihr eine Herzblume geschenkt. Und wie er sie dabei angeschaut hatte, durchdringend mit unergründlichen, tiefblauen Augen ...!

Miuna schüttelte den Kopf, richtete sich auf. Es war noch früh am Morgen. Körnig wirkendes, graublaues Dämmerlicht erfüllte ihr Schlafzimmer.

Was hatte sie geweckt?

»Guusdhar?«, fragte sie leise.

Keine Antwort. Das war ... nun, nicht unbedingt ein Grund zur Sorge, aber doch ungewöhnlich. Was mochte ihr positronischer Majordomus um diese Zeit anderes zu tun haben?

Miuna schlug die Decke beiseite, schlüpfte in ihren Morgenmantel. Ein flüchtiger Blick aus dem Panoramafenster ihres Schlafzimmers, das eine grandiose Aussicht über die Bucht von Khessera bot, mit ihren vertikalen Hydrogärten, den Lichtdörfern auf dem Meer draußen und den schwingenden Brücken dazwischen. Nun, normalerweise jedenfalls. Zu dieser frühen Stunde sah man nur Schatten.

Aber es sah alles normal aus. Woher dann diese Unruhe, die sie erfüllte?

Barfuß huschte sie die Treppe hinab zur Wohnebene. Geschwungene Linien, blasenförmig gewölbte Wände, die weiche, organische Architektur, für die dieser Planet bekannt war – doch hier und jetzt, im fahlen Dämmerlicht, mochte man fast glauben, von einem gewaltigen Tier verschluckt worden zu sein.

Ein Laut ließ sie verharren. Ein metallener Seufzer, wie ihn Guusdhar manchmal von sich gab.

Jetzt sah sie ihn. Der Roboter, der in drei chromglänzende, abgeflachte, flexibel miteinander verbundene Aktionssphären gegliedert war – wie drei große Tropfen Quecksilber –, stand neben der Sitzschale, ihrem Refugium, ihrem Rast- und Ruheplatz. Nein, er stand nicht einfach da, er verharrte in einer demütigen Haltung lauschenden Gehorsams.

Denn in der Sitzschale – saß jemand!

Miuna fühlte, wie sich ihr Körper anspannte. Kampfbereit machte. Eingeschliffene, tausendfach geübte Reflexe, die wie von selbst aktiv wurden. Guusdhar – warum hatte er dem Eindringling nicht den Zugang verweigert? Warum sie nicht wenigstens gewarnt?

Sie trat näher, lautlos, gewappnet. Doch als sie den Mann erkannte, der da in der Schale saß, verstand sie.

Niemand verwehrte diesem Mann den Zutritt.

Und es gab keinen Grund, vor ihm zu warnen.

Miuna atmete erleichtert aus. Dann beugte sie das Knie, senkte demütig das Haupt und sagte leise: »Matan.«

War er überhaupt körperlich anwesend? Sie wusste es nicht. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich war er nur als Projektion gekommen. Trotzdem konnte man sich seiner Präsenz, seiner Ausstrahlung nicht entziehen. Nicht einmal ein Roboter wie Guusdhar.

»Miuna«, sagte der Gast mit sanfter Stimme, »du wirst reisen.«

Miuna nickte. »Ja, Matan. Wohin?«

»Nach Thiasan III.«

Sie hob überrascht die Brauen. Der Name sagte ihr etwas: Es handelte sich um den dritten Planeten des Doppelsonnensystems Thiasan, eines Sonnentransmitters irgendwo zwischen dem Kugelsternhaufen M 13 und der Milchstraße.

Nicht unbedingt ein Brennpunkt von galaktopolitischer Bedeutung.

»Was«, fragte sie ehrerbietig, »werde ich dort tun?«

»Warten. Auf den Mann, der in die Zukunft sieht.«

Miuna nickte. Sie wusste, von welchem Mann die Rede war. »Und was werde ich mit ihm tun?«

»Was notwendig ist.«

»Welche Vollmachten habe ich?«, fragte Miuna Lathom.

»Alle«, sagte ihr hoher Gast.

1.

An Bord der ATLANC

Bordzeit: 23. November 1517 NGZ

 

Atlan schreckte hoch.

War er wieder eingeschlafen. Verdammt. Das passierte immer häufiger. Er sah auf die Uhr. Es konnten nur ein paar Minuten gewesen sein.

Er richtete sich auf, blinzelte, atmete tief durch, die kühle Luft des Richterschiffs, die frei war von Gerüchen. Nicht selbstverständlich in einem Raumschiff, das man gestohlen hatte.

Er sah noch einmal auf die Uhr. Vielleicht waren es auch mehr als nur ein paar Minuten gewesen. Eine Stunde. Oder zwei.

Atlan rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, strich sich die Haare zurück und fragte sich, ob man es ihm ansah. Seine Erschöpfung. Seine immer tiefer werdende Müdigkeit.

Es lag an dem Schiff. An dem Flug durch die Synchronie.

Anfangs hatte er sich gewundert, dass es für ihn scheinbar nichts zu tun gegeben hatte. Sie waren in den Kosmoglobus eingedrungen, er hatte dem Schiff den Befehl erteilt, in Richtung der Jenzeitigen Lande zu fliegen, und dann ... nichts mehr. Das Schiff hatte alles allein gemacht.

Abgesehen davon, dass die Laren unter Avestry-Pasik ihn mit einer Genwaffe manipuliert hatten, um in die Vergangenheit zu gelangen. Das war eine andere Geschichte. Die Viren – OptAg-Container-Phagen, um genau zu sein – war er wieder los: Das war die gute Nachricht. Aber Perry Rhodan und die RAS TSCHUBAI waren in der Vergangenheit geblieben: Das war die schlechte.

Abgesehen davon also – wobei das ein ziemlich großes »Abgesehen davon« war – lief seither alles glatt. Das hatte ihn bizarrerweise sogar geärgert. Die ganze Zeit hatte es geheißen, nur jemand, der schon einmal hinter den Materiequellen gewesen sei, könne ein Richterschiff fliegen – und dann stellte sich heraus, dass das Schiff es offenbar von ganz allein konnte, auf einen simplen Zuruf hin?

Bis er es schließlich gemerkt hatte.

Er hatte nach Kontrollinstrumenten gesucht, nach Anzeigen, nach Steuerungen, wie er sie kannte. Er hatte die Pseudo-Geniferen befragt, was sie wahrnahmen, wenn sie sich jetzt, während des Fluges durch die Synchronie, in die Geniferengrube legten und Kontakt mit dem Schiff aufnahmen.

Das hatte alles nichts gebracht. Jeder der drei Piloten erlebte den Flug anders. Und mit dem, was sie erzählten, konnte Atlan nichts anfangen.

Doch dann, erst vor Kurzem, in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, hatte er es schließlich gespürt.

Es war gewesen, als bewege sich etwas Fremdes in seinem Brustkorb, ein dünner, eiskalter Finger, der gegen sein schlagendes Herz stupste, und wieder, und wieder. Ein gespenstisches Gefühl, das ihn hatte hochfahren und nach Atem ringen lassen. Beinahe hätte er geschrien.

Aber es war keine Einbildung gewesen, kein simpler Traum, denn von da an konnte er es auch im Wachzustand deutlich spüren. Etwa alle drei Sekunden kam dieser Stups. Und wieder. Und wieder. Es beeinträchtigte ihn nicht, abgesehen von dem kreatürlichen Schrecken, den einem der Verdacht verursacht, ein Fremder mache sich im eigenen Brustkorb breit und betaste einem das Herz. Ein Eindruck, der keine irgendwie geartete körperliche Entsprechung hatte, das hatte sich mithilfe eines Medoroboters schnell klären lassen. Da war nichts, kein fremdes Lebewesen, das sich hinter den Knochenplatten seiner Brust eingenistet hätte.

Nur eben ... dieses Gefühl.

Er beobachtete es. Versenkte sich in Dagormeditation und lauschte, öffnete sich, konzentrierte sich ganz auf diese Berührung. Blendete die Angst aus. Nahm einfach wahr.

Und dann, nach und nach, verstand er, was vor sich ging.

Es war das Schiff. Das Schiff, das ihn, den Piloten, nach dem Weg fragte. Das Schiff, das sich alle drei oder vier oder zweieinhalb Sekunden vergewissern musste, auf dem richtigen Kurs zu sein.

Zu Recht, wie er begriff. Denn das Schiff kannte den Weg tatsächlich nicht. Es war hilflos ohne einen Piloten, richtungslos verloren in der Synchronie ohne jemanden, den es fragen konnte.

Wobei Atlan den Weg auch nicht kannte – nicht bewusst jedenfalls. Er hatte keine Ahnung, wie die Frage lautete, die ihm das Schiff mit jeder Berührung stellte, und noch viel weniger wusste er, wie seine Antwort darauf aussah. Das Ganze spielte sich auf einer Ebene seines Geistes ab, zu der er keinen Zugang hatte.

Äußerst gespenstisch für jemanden, der sich auch an kleinste Details seines Abertausende Jahre währenden Lebens erinnern konnte.

Außer ... an die Zeit, die er hinter den Materiequellen verbracht hatte.

Das, so hatte Atlan in diesen Stunden der Versenkung begriffen, war der Schlüssel. Tatsächlich. Das Richterschiff kommunizierte mit einem Teil von ihm, zu dem er selbst keinen Zugang hatte, und dieser Teil war es, der die ATLANC steuerte.

Es hatte die anderen erleichtert, als er ihnen von diesen Einsichten erzählt hatte. Die drei Pseudo-Geniferen – der epsalische Emotionaut Tauro Lacobacci, zuvor Erster Pilot der RAS TSCHUBAI, der Nosmoner Samu Battashee und der Haluter Avan Tacrol – hatten monatelang geübt und trainiert, um die Steuerung eines Richterschiffs im Normalflug zu bewältigen. Und er, Atlan, brauchte dem Schiff nur zu befehlen ... und alles ging von selbst? Da hatte durchaus so etwas wie Neid in der Luft gelegen.

Der war seither ausgeräumt. Der Haluter war, wie nicht anders zu erwarten, fasziniert gewesen von diesen Zusammenhängen. Lacobacci meinte, ihm sei es lieber, wenn er wisse, wohin es gehe. Und Samu Battashee hielt sich, wie meistens, mit Äußerungen zurück.

Kurze Zeit später hatte Atlan dann bemerkt, dass ihn die Anfragen des Schiffs auch Kraft kosteten. Und zwar unglaublich viel Kraft.

Er wurde müde. Und müder. Schlief immer öfter in seinem Sessel ein, während die anderen davon ausgingen, dass er die Zurückgezogenheit der Kommandosphäre suchte, um sich besser auf seine Aufgabe konzentrieren zu können.

Und das Allermerkwürdigste war, dass dem Zellaktivator das alles völlig zu entgehen schien.

Atlan rieb sich die linke Schulter, die Stelle, unter der der Chip saß. Normalerweise spürte er hier, wenn er unter Erschöpfung litt, ein mehr oder weniger kräftiges Pochen, und normalerweise brachten ihm die Vitalimpulse des Zellaktivators auch rasch Erholung.

Doch jetzt merkte er davon nichts. Der Energieabfluss schien sich auf einer Ebene abzuspielen, die der Zellaktivator nicht mitbekam.

Einfach nur mehr zu schlafen, half nichts. Atlan erwachte jedes Mal erschöpfter, als er sich beim Einschlafen gefühlt hatte.

In manchen Momenten fragte er sich, ob er den Flug überhaupt überleben würde.

 

*

 

Er stand ruckartig auf.

Unsinn, sagte er sich. Er brauchte einfach nur einen Kaffee. Schwarz, heiß und stark.

Vor allem stark.

Vielleicht verbrachte er zu viel Zeit allein, hier oben in dieser seltsamen Kommandosphäre. Der Sessel, der einst dem Richter Chuv gehört hatte, war an der dünnen Metallsäule befestigt, welche die Kommandosphäre von unten nach oben durchquerte; man konnte damit nach Belieben auf- und abgleiten. Eine Möglichkeit, von der Atlan bewusst keinen Gebrauch machte. Er blieb stets in der untersten Ebene der Sphäre, einem kahlen Kugelsegment mit einer grauen Decke.

Über ihm befanden sich die ehemaligen Gemächer des Richters. Atlan hatte sie sich angeschaut, dann aber entschieden, sie nicht zu nutzen. Er war schließlich kein Atopischer Richter. Er konnte mit der Einsamkeit, in der diese Wesen lebten, nichts anfangen.

Atlan trat an die Sphärenwand, ließ sie semitransparent werden. Es reichte, das zu wollen: Sofort reagierte das Schiff, gewährte ihm freie Sicht hinunter auf die Zentrale, einen zylindrischen Saal von dreißig Metern Durchmesser und fünfundzwanzig Metern Höhe. Die zwanzig Meter durchmessende Kommandosphäre dominierte diesen Raum, dessen einzige wesentliche andere Einrichtung die Geniferengrube direkt unter der Sphäre war. Dort ruhten die Piloten, wenn es galt, das Schiff im normalen Weltraum zu steuern.

Doch nun flogen sie ja durch die Synchronie. Eine künstliche Dimension der Zeit! Wie sollte man sich das vorstellen? Atlan konnte es nicht. Auch die eingehendsten Schulungen in Hyperphysik bereiteten einen darauf nicht vor.

Das Beste wäre wohl gewesen, gar nicht darüber nachzudenken. Offenbar bewegte sich das Richterschiff, auch wenn man nichts spürte und nichts hörte, weil die Aggregate vollkommen lautlos arbeiteten.

Ja, es wäre am besten gewesen, gar nicht darüber nachzudenken. So wenig, wie man über eine Linearflugetappe nachdachte. Man flog los, die Maschinen taten ihre Arbeit, man kam an, fertig.

Bloß war das nicht so einfach. Und es wurde immer weniger einfach, je länger der Flug dauerte.

Konnte man es überhaupt einen Flug nennen? Atlan hatte sich in seinem ereignisreichen Leben schon auf vielerlei Weisen fortbewegt – mit planetengebundenen Fahrzeugen, per Transition durch den Hyperraum, per Linearflug, Dimetranssprung, Nullzeitdeformator und mit zahllosen anderen Vehikeln. Kurzum, er litt, was das anbelangte, wahrhaftig nicht an einem Mangel an Referenzerlebnissen. Und dank seines fotografischen Gedächtnisses hatte er keines davon vergessen.

Doch was ihre Fortbewegung in der Synchronie anbelangte, nützte ihm das absolut nichts. Um zu beschreiben, wie es sich anfühlte, durch diese künstlich geschaffene Zeitdimension zu reisen, hätte er sagen müssen: Als würde man fallen. Nein – als hätte sich gerade eben, genau in diesem Moment, eine riesige Falltür unter einem geöffnet und als verharre man in einem Zustand des Noch-nicht-ins-Fallen-gekommen-Seins.

Nur dass der Sturz, wenn er denn irgendwann losgehen sollte, in eine völlig falsche Richtung führen würde. Und nicht in eine, die man hätte benennen können. Nicht nach oben, nicht zur Seite – nein, einfach in die falsche Richtung.

Atlan verscheuchte die fruchtlosen Gedanken. Kaffee. Darum war es gegangen.

Er trat in den Antigravstrahl, um die Kommandosphäre zu verlassen. Es gab auch eiförmige Schwebeplattformen, mit denen man zwischen der Sphäre und dem Boden wechseln konnte, aber die hatten sie inzwischen weggeräumt: Der Antigrav war praktischer.

Wie immer verschwand ein Teil der Sphärenwand, als Atlan tiefer sank, und entstand wieder neu, nachdem er die Öffnung passiert hatte.

Avan Tacrol saß auf dem Boden neben der Grube. Der Haluter hielt in seinen unteren Händen ein Datenpad, ungefähr so groß wie ein Gartentor, und machte sich Notizen.

»Ich registriere ein eigenartiges Phänomen«, sagte er, als Atlan in seiner Nähe auf dem Boden aufkam.

»Nämlich?« Atlan fragte mehr aus Höflichkeit als aus aufrichtigem Interesse. Er war zu müde für wissenschaftliche Neugier.

»Ich glaube, mir ist schlecht.«

Atlan stutzte. »Schlecht?« Das war kaum vorstellbar. Haluter besaßen Konvertermägen, die es ihnen erlaubten, sich notfalls von Felsbrocken zu ernähren; es waren Lebewesen, die gar nicht wissen konnten, was es bedeutete, wenn einem schlecht war.

Tacrol winkte mit seiner oberen rechten Hand ab. »Sagen wir, ich habe den Verdacht, dass ich jetzt nachvollziehen kann, wie es sich anfühlen muss.« Er bewegte seinen schwarzen Halbkugelkopf hin und her, als versuche er, Nackenverspannungen loszuwerden. Was eine weitere Absurdität gewesen wäre bei einem Haluter. »Es hat mit dieser Orientierungslosigkeit zu tun.«

»Psychisch bedingt?«, fragte Atlan nach.

Die drei rötlichen Augen des Haluters blinzelten in einem unregelmäßigen Muster. »Mein Planhirn weiß genau, dass wir den 23. November schreiben. Mein Ordinärhirn hat dagegen den Eindruck, dass wir schon jahrelang unterwegs sind.«

»Und was schließt du daraus?«, fragte Atlan, dem es ganz ähnlich ging. Nur dass er in manchen Momenten das Gefühl hatte, schon jahrelang nicht mehr geschlafen zu haben.

»Dass wir als Geschöpfe des vierdimensionalen Normalraums mit einer zweiten Zeitdimension überfordert sind.« Der Haluter zögerte, als sei er sich nicht sicher, ob er weiterreden sollte. »Wir Pseudo-Geniferen sind uns nicht einig, wie wir die Rückmeldungen des Schiffs interpretieren. Tauro hat den Eindruck, dass wir uns in eine bestimmte Richtung bewegen, auch wenn er nicht sagen kann, in welche. Samu hingegen sagt, er spürt so etwas wie ... nun, dass wir eine Strecke zurücklegen. Und ich ...«

»Ja?«, sagte Atlan, als der Haluter das Ende des Satzes lange genug offengelassen hatte.

»In mir verdichtet sich das Gefühl, einem widernatürlichen Prozess beizuwohnen«, erklärte Tacrol grüblerisch. »Wobei es vielleicht einfach am Erbe meiner Spezies liegt, dass mir unwohl wird bei dem, was wir tun. Wir Haluter stammen schließlich von Wesen ab, die gezüchtet wurden, um Zeitexperimente zu verhindern. Vor diesem Hintergrund ist die Erschaffung einer zweiten Zeitdimension geradezu eine Ungeheuerlichkeit. Das überfordert mich.«

»Überfordert«, wiederholte Atlan. »Gutes Stichwort. Ich brauche nämlich dringend einen Kaffee.«

 

*

 

Der Ort, der ihnen als Besprechungsraum, Kantine und allgemeiner Aufenthaltsbereich diente, lag direkt neben der Kommandozentrale. Einst hatte man ihn zweifellos für andere Zwecke genutzt, weil Atopische Richter es nicht nötig fanden, sich mit irgendwem zu beraten. Sie hatten ihn sich selbst eingerichtet: ein großer Tisch in der Mitte, Stühle für alle Lebensformen, die im Team vertreten waren, und entsprechende Versorgungseinheiten.

Hier waren sie alle. Am hinteren Ende des Tisches saß Jawna Togoya, die Posbi mit dem verführerischen menschlichen Äußeren, lächelte still in sich hinein und starrte blicklos ins Ungefähre. Es sah aus, als habe sie Röntgenaugen und verfolge ein faszinierendes Geschehen außerhalb des Schiffs. Vorne saß Tauro Lacobacci, wie immer die Ruhe selbst, ein epsalischer Buddha, auf den Samu Battashee heftig gestikulierend einredete.

Allerdings hörte er in dem Moment damit auf, in dem Atlan den Raum betrat.

»Lasst euch nur nicht stören«, meinte Atlan, trat an eine der Versorgungseinheiten und orderte einen Kaffee.

Er hörte, wie sich Battashee räusperte und sagte: »Na ja. Das sind eben so Familiengeschichten.« Dann verstummte er, und Lacobacci gab nur ein zustimmendes Brummen von sich.

Atlan schmunzelte. Samu Battashee hatte noch mit der für ihn neuen Situation zu kämpfen. Bis vor wenigen Monaten war der Nosmoner ein Student unter vielen an der Raumakademie Terrania gewesen, ein Späteinsteiger, dem man keine großen Karrierechancen mehr prophezeit hatte. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass er einer der wenigen Menschen war, die sich zum Pseudo-Genifer eigneten.

Und das hatte ihn hierherkatapultiert, in ein Team, das Atlan da Gonozal höchstpersönlich unterstand! Kein Wunder, dass er ab und zu heftige Anfälle von Ehrfurcht erlitt.

Endlich war der Becher voll. Atlan nippte daran. Heiß. Er nahm die Maschine näher in Augenschein. »Gibt es eigentlich einen Trick, wie man dem Ding hier wirklich starken Kaffee entlockt?«, fragte er.

Samu Battashee sprang eilfertig herbei. »Kein Problem«, meinte er. »Man braucht nur den Regler ...« Er hielt inne. »Der steht ja schon auf Anschlag.« Er spähte in Atlans Kaffeebecher. »Ähm ... noch stärker? So, wie der aussieht, kann der tote Haluter zum Leben erwecken, würde ich sagen.«

Avan Tacrol musste das mitgekriegt haben, jedenfalls hörte man ihn draußen in der Zentrale lachen, dass der Boden bebte.

Atlan musterte den Inhalt seines Bechers. Sah in der Tat äußerst schwarz aus. Beinahe zähflüssig. »Hmm. Meinst du?«

»Würd ich schon sagen. Die geballte Kraft des Kaffeeatoms. Noch stärker, und du kriegst eine Art Asphalt.«

Atlan kippte das Zeug hinab. »Na gut. Trink ich halt zwei davon. Danke trotzdem.«

Samu lachte, kehrte auf seinen Platz zurück. Atlan orderte einen weiteren Kaffee und, nach kurzem Überlegen, ein Sandwich mit epsalischem Rindfleisch. Dann trug er sein Tablett zu dem Platz direkt neben Jawna Togoya und meinte: »Dir scheint der Flug ja zu gefallen.«

Die Posbi-Frau riss sich aus ihren Betrachtungen los, sah ihn an und setzte ein hinreißendes Lächeln auf. »Oh ja. Ich finde ihn ... hmm, geometrisch erregend

»Geometrisch erregend«, wiederholte Atlan. »Interessant.«

»Oh ja, das ist es«, hauchte sie, und nun war sich Atlan sicher, dass ihre Hingerissenheit mehr war als nur eine perfekte Imitation menschlichen Verhaltens. »Ich hätte nie gedacht, dass diese Reise den Kanon meiner Bewusstseinszustände derart erweitern würde.«

Atlan hob die Brauen. »Na, dann«, meinte er und nahm einen tiefen Schluck. Allmählich konnte er sich einbilden, etwas von der Wirkung des Koffeins zu spüren.

Ein nennenswertes Gespräch kam nicht in Gang. Jawna tauchte wieder in ihre positronisch-bioorganische Versenkung ein, und so hatte Atlan Gelegenheit, seine volle Aufmerksamkeit dem Sandwich zu widmen.

Natürlich waren sie nicht allein an Bord. Vor der verhängnisvollen Ausschleusung der RAS TSCHUBAI hatten noch rund fünfhundert Raumsoldaten samt Ausrüstung übergesetzt. Bloß verloren die sich in den Weiten des Richterschiffs, dessen begehbare Grundfläche größer war als das Areal einer Kleinstadt. Und da in buchstäblich jedem Staubkorn eine tödliche Waffe versteckt sein konnte, beschränkten sie sich darauf, einzelne Inseln im Niemandsland zu schaffen, zu bemannen und zu sichern.

Eine Gruppe hielt sich in der Nachbarschaft der Zentrale auf und beschäftigte sich mit Kommunikation – momentan vor allem damit, den Kontakt zu den übrigen Gruppen aufrechtzuerhalten, mithilfe des guten, alten Normalfunks.

Eine weitere Gruppe hielt den Waffenleitstand besetzt. Obwohl die Pseudo-Geniferen auch die Waffensysteme der ATLANC steuern konnten, wollte Atlan aus alter Gewohnheit eine zweite Mannschaft in Reserve haben.

Eine Gruppe hatte ihre Zelte in den Beiboothangars aufgeschlagen, eine andere in den Maschinenräumen, eine weitere in der Nähe der Tolocesten. Ohne die lief in der Technologie der Atopen überhaupt nichts.

Unterkünfte waren ein Problem. Es gab Kabinen, aber die lagen erstens weit weg vom Geschehen und waren zweitens so stark an die Bedürfnisse von Onryonen angepasst, dass man sich als Terraner darin nicht wohlfühlte. Theoretisch hätte es die Möglichkeit gegeben, das Schiff zu veranlassen, sich umzustrukturieren. Es bestand schließlich größtenteils aus tt-Progenitoren, jenem nahezu allmächtigen Wundermaterial, das sich in fast alles und jedes verwandeln konnte. Aber in der Praxis bekamen die Terraner es schlicht und einfach nicht hin. Die Wissenschaftler unter der Notbesatzung waren ratlos, und wenn Atlan, auf den das Schiff ja immerhin hörte, entsprechende Wünsche vortrug, bekam er nur ein »Ich verstehe nicht« zurück.

Also hatten sie Räume zweckentfremdet, mit Liegen, behelfsmäßigen Abtrennungen und dergleichen. Irgendwie würde es schon gehen. LFT-Raumsoldaten waren Strapazen gewöhnt, und besser als die diversen Survivaltrainings auf lebensfeindlichen Planeten, die sie alle hinter sich hatten, war es an Bord der ATLANC allemal.

Atlan schreckte aus seinen Überlegungen hoch, als die Posbi-Frau unvermittelt sagte: »Ich frage mich, ob die Atopen diese Synchronie wirklich erschaffen haben. Meines Wissens hat es immer wieder physikalische Theorien gegeben, die davon ausgehen, dass es zusätzlich zu den uns bekannten sechs Dimensionen auch mehrere eingerollte und damit unzugängliche Dimensionen gibt.«

Atlan nickte kauend, schluckte und sagte: »Die Blütenblatt-Theorie zum Beispiel. Von Hoyo Denbar, einem Schüler des großen Epetran da Ragnaari.«

Jawna Togoya neigte den Kopf. »In der terranischen Physik ist es die Stringtheorie. Waringer hat einiges darüber geschrieben, aber ich meine, sie ist wesentlich älter, stammt schon aus der Zeit vor ...« Sie hielt inne, sah auf.

Im selben Moment spürte Atlan wieder den kalten Finger, der sein Herz berührte. Nur dass es sich diesmal anfühlte wie ein kräftiger Stoß.

Und dann meldete sich sein Logiksektor. Es geht etwas vor sich, das rasches Handeln erforderlich macht – Alarm!

2.

An Bord der ATLANC

Bordzeit: 23. November 1517 NGZ

 

Atlan war es gewohnt, dass sein Logiksektor derartige Warnungen begründete, spätestens auf Nachfrage. Doch diesmal kam nichts, nur ein knappes: Beeil dich, Narr!

Das war fast beunruhigender, als wenn Alarmsirenen durch die Gänge gegellt hätten.

Atlan stand auf, sah Jawna an. »Irgendetwas stimmt nicht. Kann mir jemand sagen, was?«

Sie nickte. »Ja. Es hat sich etwas verändert. Aber ich weiß nicht, was es ist.«

»Tauro? Samu?«, wandte sich Atlan an die beiden Piloten. »Irgendeine Idee?«

Der Epsaler schüttelte den Kopf, erhob sich. »Ich geh mal in die Pilotengrube.«

»Ich auch«, sagte Samu.

Sie gingen voraus, Atlan folgte ihnen. »Jawna«, befahl er. »Nimm Kontakt auf zu den Leuten, die die Tolocesten beobachten. Ich will wissen, was die gerade tun.«

Die Tolocesten, mit die rätselhaftesten Intelligenzen, denen Atlan jemals begegnet war, waren nach der Eroberung der CHUVANC an Bord geblieben, alle achtzehn. Sie bildeten eine kleine Kolonie tief im Bauch des Schiffs, dicht bei dessen technischen Zentren, und sorgten auf eine Weise, die niemand nachvollziehen konnte, dafür, dass alles funktionierte. Ihre Loyalität galt einzig dem Schiff. Wer es führte oder zu welchem Zweck, interessierte diese Wesen nicht.

»Leutnant Cornadd meint, die Tolocesten seien aufgeregt«, meldete Jawna Togoya gleich darauf. »Aber sie reagieren auf Fragen noch weniger als sonst. Niemand hat eine Ahnung, was los ist.«

»Was ist mit den Lattas?«, fragte Atlan, den zunehmende Unruhe erfüllte. Ganz zu schweigen von dem Gefühl, dass sich allmählich eine eiskalte Hand um sein Herz schloss.

Tropor und Gillipor Latta waren zwei der Geniferen, die das Schiff ursprünglich geführt hatten. Sie waren maßgeblich an der Eroberung des Arkonsystems beteiligt gewesen, indem sie das Richterschiff CHUVANC durch die Pararealitäten des Kristallschirms gelotst hatten, in denen es sich eigentlich hätte verlieren müssen. Die beiden männlichen Onryonen befanden sich in sicherem Gewahrsam, bewacht von TARA-IX-INSIDE-Maschinen und terranischen Raumsoldaten.

»Tropor Latta schläft«, meldete der Wachhabende. »Und Gillipor Latta hat sich in seine Kammer zurückgezogen, um etwas zu essen.« Onryonen betrachteten die Nahrungsaufnahme als intimen Akt, den man schicklicherweise in Abgeschiedenheit erledigte.

»Irgendwelche ungewöhnlichen Aktivitäten der beiden in den vergangenen Stunden?«, hakte Atlan nach.

»Nein. Nichts. Sie langweilen sich, das ist alles. Mit den Trivids unserer Sammlung können sie offenbar nichts anfangen. Tropor hat angefangen, die Encyclopaedia Terrania zu lesen, aber er ist erst beim Stichwort Aachthor

Atlan furchte die Stirn. Die Onryonen waren mitunter schwer zu verstehende Zeitgenossen, alles, was recht war. »Gut, danke. Beobachtet sie weiter und meldet jede Auffälligkeit.«

Inzwischen war er vor der Pilotengrube angekommen. Avan Tacrol hatte sich ebenfalls zurück auf seine Liege gezwängt, die man mit ein paar rasch angeschweißten Metallplatten auf seine Körpergröße von dreieinhalb Metern angepasst hatte.

»Tacrolos«, fragte Atlan. »Was hat sich verändert?«

»Es ist schwer zu beschreiben«, sagte der Haluter. »Ich würde sagen, das Schiff ist ins Schlingern geraten.«

»Und was hat das bewirkt?«