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Winfried Paarmann

Schutzengel im Nahflug





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Ein Ashram auf der Erde, ein Flugzeug hoch am Himmel

 

Funkelnde Morgensonne. Man blickt auf einen kleinen indischen Ashram, umgeben von einem blühenden Garten. Rhododendron, Canna, indisches Blumenrohr, wilde Orchideen und Padma, der Lotus. Einer der schmalen Gartenwege führt auf ein rotes Felsplateau zu und dieses grenzt an einen blaugrün schimmernden See.

Die hohe schwebende Melodie einer Flöte. Ferner leiser Gesang.

Eine junge Frau im Sari tritt vom Ashram in den Garten, sie ist hellhäutig und trägt schulterlanges helles Haar. Eine schlanke Gestalt, ein sanftes offenes Lächeln auf dem schönen, sehr ebenmäßigen Gesicht. Ihr ganzer Körper scheint wie eingehüllt in dieses Lächeln, selbst ihre Bewegungen lächeln. Es folgt eine zweite Frau in schon etwas fortgeschrittenen Jahren, gleichfalls im Sari, dunkelhäutig, diesmal offenbar eine Inderin. Auf ihrem Gesicht spiegeln sich Strenge und Herbheit, doch auch dieses Herbe ist Schönheit, auch sie bewegt sich mit äußerster Anmut.

Beide gehen auf das Felsplateau zu.

Beide blicken auf den in der Morgensonne funkelnden See.

Jetzt ein surrender Ton, von fern, hoch in der Luft. Er verstärkt sich, wird ein sanftes Vibrieren und Rauschen. Ein Flugzeug zieht über den Himmel.

Die junge Frau mit den schmalen feinen Lippen und der zarten, leicht gewellten Nase blickt hinauf. Sie legt die Hand schützend über die Augen, der metallene Rumpf des Flugzeugs schickt einen silbernen Blitz in die Tiefe.

 

 

Gegen eines der Fenster im Flugszeug lehnt der Kopf eines jungen Mannes. Salopp gekleidet mit weißer Jacke, Jeans und beigefarbenem Tropenhemd. Etwas ungeordnete dunkelblonde Kraushaare über dem markanten sympathischen Gesicht.

Neben ihm sitzt ein Inder, etwas älter, in vornehmem blauem Anzug, er liest in einer englischen Zeitung. Jetzt hebt er kurz den Kopf und beide Männer lächeln sich flüchtig zu.

Der Blick des jungen Mannes gleitet in die Tiefe, dort funkelt wie ein silbernes Auge ein See in der Form eines kleinen Ovals. Der Spiegel der Wasserfläche wirft für Momente einen fast blendenden Strahl.

Dann wendet sich sein Blick wieder den Wolken zu, die wie bewegungslos scheinen unter dem rasch jagendes Rumpf des Flugzeugs, mit ihren weißen Landschaften wie dauerhaft in die Luft gesetzt und wie immer bevölkert von seltsamen Fabeltieren.

 

 

Zwei Wunderkinder

 

Hendrik durchstreifte mit seinem indischen Bekannten ein abendliches Viertel von Chennai.

Sie trafen auf eine Schaustellertruppe: Feuerschlucker, Seiltänzer, Handlinienleserinnen, ein Scherben essender Fakir, attraktive tanzende Inderinnen.

Ein französischer Tourist sprach sie an auf eine besondere Attraktion: Dies waren zwei indische Mädchen, Schwestern, die eine dreizehn die andere zwölf Jahre alt, sie sollten allein mittels ihrer Gedanken präzise kommunizieren können.

Die Mädchen saßen in getrennten Zelten, mehr als zwanzig Meter von einander entfernt, und der Test war hier jedem möglich. Man konnte einen Zettel abgeben mit einer kurzen Notiz oder mit einem Symbol und dann im anderen Zelt darauf warten, dass der Inhalt „gesendet“ wurde: Das andere Mädchen malte dasselbe Symbol in allen Details auf ein Papier oder notierte denselben Satz.

Beide saßen auf dem Fußboden, das Haar zu einem Kranz nach oben gebunden, sodass man auf die freiliegenden Ohren sehen konnte, auch sprach keines von ihnen jemals ein Wort, so dass sich ausschließen ließ, dass sie für den Nachrichtenaustausch über irgendwelche versteckten technischen Hilfsmittel verfügten. Dem unbestimmt kreisenden, etwas schwimmenden Blick nach zu urteilen befanden sich beide in einer leichten Trance.

Hendrik und sein indischer Bekannter machten den Test, indem sie jeder ein anderes Zelt aufsuchten. Es funktionierte. Die von dem Inder aufgegebene „Botschaft“, ein etwas kompliziertes Familienemblem, kam bei Hendrik im anderen Zelt in allen Details richtig an. Hendrik ließ das Bild dreier Sonnenblumen „senden“. Im anderen Zelt begann das Mädchen, die Blumen zu zeichnen, zunächst schemenhaft, dann wurden die Konturen immer klarer.

Auch der indische Bekannte wusste keine einleuchtende Erklärung dafür. Man merkte den kleinen zauberhaften Mädchengestalten keine Mühe an, für beide war es eine Art Spiel.

Offenbar einfach ein Phänomen aus dem „Wunderland Indien“.

Hendrik war entzückt, er durfte das Papier mit der neu gezeichneten Sonnenblume mitnehmen. Er griff ein Bündel Rupien aus dem Portmonee ohne nachzuzählen, in beiden Zelten.

 

 

Ein tödlicher Unfall

 

Der nächste Tag. Hendrik und sein Bekannter saßen Seite an Seite bei einem Geschäftsessen in einem indischen Nobelhotel von Chennai.

Die reich mit Girlanden verzierten Tische waren überbordend mit weißen Schüsseln und Silberplatten bedeckt. Die acht Inder, zwei mit Turban, und die drei Weißen arbeiteten sich durch den Dschungel der typisch indischen Speiseangebote und jedem war anzumerken, dass er seinen Tischnachbarn, rechts oder links, gut zu unterhalten versuchte und dass das Erzählte Wichtigkeit hatte. In kurzen Abständen rollten Lacher durch den Raum, während man sich die Becher mit den Zahnstochern zureichte und die Zähne von klebrigen Resten des Geflügels befreite.

Auf seiner rechten Seite hatte Hendrik einen Engländer sitzen, der sein Leben bevorzugt mit Reisen verbracht hatte, es fiel ihm leichter, die Länder aufzuzählen, die auf seiner Reiseliste noch fehlten als die bereits bereisten. Für Hendrik war es der erste Flug nach Indien, und es handelte sich erst um die dritte Geschäftsreise im Auftrag seiner Firma. Sein Englisch war perfekt, mit keinem Akzent unterschied es sich von dem des englischen Gastes, was dieser mehrfach erstaunt kommentierte.

 

Plötzlich klingelte sein Handy.

Sigrid, seine Schwester, meldete sich.

Hendrik wollte sie auf später vertrösten, doch sie beteuerte, es sei wichtig.

Er entschuldigte sich bei seinen zwei Tischnachbarn, dann ging er hinaus in den Flur.

Sigrids Mitteilung war bestürzend: Sie hatte nach einer Wochenendreise zu einer Freundin ihren vierzigjährigen Mann tot in der Garage aufgefunden, wie so häufig hatte er dort mit elektrischen Geräten gearbeitet, die Diagnose der Ärzte war eindeutig: ein tödlicher Stromschlag.

Hendrik äußerte seine Betroffenheit, schließlich stotterte er ein paar Worte des Trostes und der Aufmunterung, die doch alle, wie er rasch merkte, hilflos und verfehlt waren. Sigrids Stimme, die während der ersten Sätze ein Zittern spüren ließ, kehrte in die ihm bekannte kühle, sachliche Tonlage zurück. Sie erklärte, sie bereite nun die Beerdigung vor, der Termin werde wahrscheinlich am Ende der Woche sein.

Hendrik hatte noch zwei weitere Geschäftstreffen in Indien, sie wusste es, und im Anschluss war er für eine Woche in die Villa seines indischen Geschäftsfreundes und dessen Familie eingeladen. Er hatte ihr ein Foto gezeigt: eine Prachtvilla, noch im Stil der alten Kolonialzeit erbat und ein parkähnlicher Garten mit mehreren Swimmingpools. Sie beteuerte, der Bruder solle sich seine Urlaubspläne nicht verderben lassen, schließlich handele es sich nicht um ihr Begräbnis sondern das seines Schwagers. Freilich: Wäre es ihres, sie würde über seine Abwesenheit zwecks Indienfreizeit schon etwas erbost reagieren.

Hendrik bat sie, ihm eine Frist von zwei Tagen zu lassen, in denen er seinen möglicher Weise vorzeitigen Rückflug überdenken wolle.

 

Drei Tage später saß er wieder im Flugzeug.

Nein, seine Schwester in dieser schweren Stunde der Beerdigung allein lassen, das kam für ihn nicht in Frage.

 

 

Der unbekannte Informant

 

Die Trauergäste umstanden das offene Grab auf dem Kölner Friedhof. Hendrik hielt die Hand seiner Schwester Sigrid, die sich Stunden zuvor noch so abgeklärt und gelassen gezeigt hatte, nun aber zitterte. Eine grazile Person mit feinen, schon etwas herben Gesichtszügen. Sie war immer seine große Schwester gewesen, zehn Jahre älter als er, nun spürte er zum ersten Mal, dass sie Halt brauchte.

Der Kreis der sonst Versammelten war Hendrik weitgehend fremd, bis auf Rudmar, Sigrids Schwager, der richtiger ihr Halbschwager zu nennen gewesen wäre, denn er war der Halbbruder ihres Mannes gewesen. Sein Vater war ein Südländer und er selbst hätte seinem Aussehen nach einer sein können – mit dem tiefschwarzen Haar, die ein Gel zusätzlich zum Glänzen brachte, und den von Bartstoppeln dunklen Wangen, die auch keine gründliche Glattrasur in ein Weiß verwandeln konnte.

Die Halbbrüder, so wusste Hendrik von Sigrid, hatten häufig Streit, um dann wieder alkoholgeschwängerte lautstarke Versöhnungsfeste zu feiern. Hendrik beschränkte sich auf einen kurzen Handschlag zur Begrüßung, der Mann war ihm vom ersten Moment an nicht sonderlich sympathisch gewesen.

Der Sarg war hinabgelassen und zugeschüttet, die Trauergäste bestiegen ihre Autos und man versammelte sich zum Leichenschmaus. Sigrid hatte in der acht Zimmer großen Villa, die sie nun allein bewohnte, ein großes Büffet aufgebaut, die etwa zwanzig Gäste zogen im Gänsemarsch daran vorbei, und mit jedem Teller, der sich füllte, wuchs der Lärmpegel von fröhlichen Zurufen und verhaltenem, dann auch lautem heiterem Gelächter. Die Stimmung war gut.

 

 

Sigrid winkte Hendrik plötzlich von seinem Teller fort und in einen Nebenraum. Sie hatte einen Zettel in der Seitentasche ihres schwarzen Kostüms gefunden, jemand musste ihn ihr während des Begräbnisses zugesteckt haben.

Hendrik las die handgeschriebenen Sätze: „Es läuft ein übles Spiel gegen Dich. Behalte eiserne Nerven! Es gibt ein gefälschtes Dokument und wahrscheinlich ist ein zweites gestohlen. Lass Dich nicht einschüchtern! Es ist alles Betrug.“

Hendrik las die Sätze, noch ungläubig, ein zweites Mal. „Von wem soll das sein?“

Sigrid zuckte die Schultern. „Es befand sich einfach in meiner Tasche.

Habe auch keine Ahnung, worum es sich handeln könnte.“

„Hat Gunnar ein Testament hinterlassen?“

„Nicht dass ich wüsste.

Wer schreibt mit Anfang vierzig sein Testament?

Er war gesund und vital. –

Hör zu, Hendrik, ich werde heute, wenn die Gäste gegangen sind, die Schreibtischfächer von Gunnar durchsehen. Sie waren immer unverschlossen. Er hatte keine Geheimnisse vor mir. So glaube ich jedenfalls.

Ich rufe dich an, wenn ich etwas gefunden habe, das mir merkwürdig erscheint.“

Hendrik reichte ihr den Zettel zurück. „Das klingt nicht nach einem Scherz. Jemand will dich warnen.

Eine Beerdigung ist eigentlich nicht der Tag, an dem man solche Nachrichten weiter gibt…

Wirklich kannst du dir niemanden vorstellen, der so etwas schreibt?“

„Niemanden.“

„Ansonsten will ich Dir sagen, Sigrid: Du machst es grandios. Die Begräbnisfeuer, jetzt die Gäste, die ganze Organisation - es läuft alles perfekt.“

„Du vermisst die trauernde Witwe?“

„Nein – so wollte ich das nicht sagen.“

„Freilich, Hendrik, war es ein Schock, Gunnar tot in der Garage zu finden.

Doch dass ich seit diesem Moment in tiefer Trauer gebeugt gehe – das hätte selbst Gunnar nicht erwartet von mir.

So wenig ich es umgekehrt von ihm erwartet hätte.

Die letzten Jahre lebten wir einfach wie verträgliche Nachbarn zusammen. Manchmal mit Interesse für einander, häufiger ohne jedes Interesse.

‚Schmetterlinge im Bauch’ – das hatte es selbst am Anfang nie gegeben…“

Hendrik hatte sich über die Ehe seiner Schwester nie Illusionen gemacht. Das allerdings war nun doch ein unerwartet offener und trauriger Bericht.

Aus dem Raum der versammelten Trauergäste kam zunehmend munteres Plaudern und heiteres Lachen. Sigrid wollte sich wieder kümmern. Und Hendrik kehrte an seinen Teller zurück.

 

 

Schon fast gegen Mitternacht rief Sigrid ihren Bruder an.

Sie war fündig geworden.

Es betraf ihren Schwager Rudmar.

In einer Mappe mit Gunnars Unterlagen befand sich tatsächlich ein Testament. Es war mit einem Datum versehen, das knapp über ein Jahr zurücklag, es trug Gunnars und Rudmars Unterschrift, und es war von einem Notar beglaubigt. In diesem Testament wurde verfügt, dass im Todesfall von Gunnar die Hälfte seines Erbes Rudmar zufallen solle.

Im Weiteren lag ein Brief von Gunnar dabei, der diese Entscheidung begründete: Rudmar hatte vor Jahren einen Prozess erfolgreich zu Ende geführt, der die Halbbrüder vor einem Konkurs rettete, als für ein gemeinsames Projekt das plötzliche Aus drohte.

Sigrid konnte sich dunkel an den Plan einer gemeinsamen Firmengründung erinnern, die allerdings ihres Wissens nie wirklich zustande kam.

Woran sie sich nun allerdings gut erinnerte, war, dass Rudmar von ihrem Mann vor drei Jahren einen Kredit in der Höhe von einer Viertelmillion erhalten hatte, zu äußerst günstigen Zinsbedingungen. Seit Monaten waren die Rückzahlungsraten fällig. Dazu existierte, da war Sigrid sicher, gleichfalls ein Dokument, doch sie konnte es in Gunnars Unterlagen nirgends finden.

Sie hatte sich um die meist gut laufenden Geschäfte ihres Mannes in der Regel wenig gekümmert. Doch hin und wieder erwähnte er manches davon.

An den Kredit an Rudmar konnte sie sich ohne jeden Zweifel erinnern. Und auf den Kontoauszügen ihres Mannes erschienen nirgends Rücküberweisungen seines Halbbruders.

Hendrik horchte auf, immer aufmerksamer mit jedem weiteren Satz. „Könnte es sein, dass während deiner Abwesenheit jemand in Gunnars Zimmer war und sich dort über seine Unterlagen hergemacht hat? Du sagst, er hielt sie üblicher Weise nicht verschlossen.

Der Zettel, den man Dir zusteckte, spricht von einer Fälschung. Dann einem zweiten Dokument, das wahrscheinlich entwendet wurde…

Das alles passt. Es passt alarmierend genau.

Sigrid – ich fange jetzt auch an, über Gunnars Tod nachzudenken, der ein Unfall gewesen sein soll…“

„Hendrik – jetzt gehst du zu weit!

Rudmar ist ein Schlitzohr. Doch dass er etwas wie eine solche Tat verübt, am eigenen Bruder…

Noch vor sechs Jahren haben wir zu dritt eine Italienreise gemacht. Wie gesagt: Ein Schlitzohr ist er schon. Doch sonst… Er isst gern und reichlich, er trinkt, er raucht. Er hat seine Polteranfälle. Doch ein Mörder?

Nein, Hendrik, so etwas erkenne ich, wenn in der Seele eines Menschen ein Mörder steckt.“

„Das Büro des Notars, in dem das Testament beglaubigt wurde, ist mit der vollen Adresse genannt?“

„Ein Notariat in Frankfurt. Adresse, Telefonnummer, ja.“

„Sigrid, ich komme morgen früh noch einmal vorbei. Ich will das Testament sehen. Vor einem Jahr unterschrieben, sagst du? Ein Datum lässt sich beliebig einsetzen.

Ich werde den Anwalt aufsuchen und ihn mir vornehmen – bis er die Wahrheit ausspuckt über dieses Dokument. Etwas ist faul daran. Ich spüre es. Was sollte sonst dieser Zettel mit der Warnung an Dich?“

„Langsam, Hendrik, langsam. Ich fände es korrekt, erst mit Rudmar zu sprechen. Mein Mann und Rudmar – manchmal schlugen sie sich, manchmal waren sie dicke Kumpel. Das Testament muss keine Fälschung sein.

Freilich, dass auch die Unterlagen über jenen Kredit verschwunden sind…

Irgendwie macht es mir schon Gedanken.“

„Sigrid, lass Rudmar noch aus dem Spiel.

Der meldet sich früh genug mit dem Testament.

Ich bin morgen da.

Ich habe noch eine ganze Woche für mich – da ich nun nicht Urlaub in Indien mache.

Ich habe Zeit, viel Zeit.

Nach Frankfurt zum Anwaltsbüro – das ist doch ein Katzensprung.

Versuch gut zu schlafen!

Und morgen gibt’s erstmal ein gemeinsames Frühstück - mit allen Resten vom kalten Büffet.“

„Da würdest du dir den Magen verderben.“

„Immerhin sind wir zu zweit.

Und ein Kummerfasten – das ist bei dir nicht angesagt, wenn ich es richtig verstanden habe.

Ganz sicher hast du keinen Schimmer, wer dir diesen Zettel zugesteckt haben könnte?“

„Nein, keine Ahnung.“

 

 

Ein schweißnasser Notar

 

Hendrik erwachte mit dem Gefühl, dass mit diesem Tag ein wichtiger großer Auftritt von ihm erwartet wurde.

Noch ehe er sich fertig angezogen hatte, ging er in den kleinen Abstellraum neben der Küche und suchte eine Gaspistole hervor, die er einmal günstig auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Er hatte sie nur so aus einer Laune heraus gekauft und natürlich verfügte er über keine Gaspatronen, er hätte auch nicht gewusst, wozu.

Hendrik fühlte sich hungrig – doch weniger auf die Reste des kalten Büffets.

Er wollte dem Anwalt in seiner Kanzlei Auge in Auge gegenübersitzen.

Sigrid schlug während des Frühstücks vor, er solle sich telefonisch anmelden. Doch Hendrik winkte rasch ab. „Der versteht sich aufs Abwimmeln. Dann bekomme ich nach drei Wochen einen Brief, in dem er mir bestätigt, dass er alles geprüft hat und alles rechtens ist.

Nein, so kann er andere verarschen, nicht mich!“

 

 

Nach einer Stunde saß er im Auto. Nach zwei weiteren Stunden stand er vor der Tür mit den Klingelschildern, von denen eines den Namen des Notars auswies.

Er nannte durch die Sprechanlage seinen Namen.

Ob er angemeldet sei?

Hendrik bejahte.

Der Summer tat seine Arbeit und Hendrik schob sich durch die Tür.

Der Fahrstuhl ließ auf sich warten. Hendrik nahm die vier Treppen.

Der Notar begrüßte ihn höflich. Er wollte noch einmal seinen Namen hören, er habe diesen in seinen Unterlagen nicht gefunden.

Hendrik erklärte, in Vertretung seiner Schwester und deren Schwager zu kommen.

Das Gesicht des Notars war glatt. Diese Stirn würde nichts ins Grübeln bringen, nicht ein ruhiges Gespräch mit sachlichen Fragen. Hendrik spürte es genau. Er musste ohne Umschweife voll durchstarten und auf Blöff setzen.

Er holte das Testament hervor. „Dieses Dokument wurde in Ihrem Büro beglaubigt.“

Der Notar überflog es mit flüchtig prüfenden Blicken. Dann nickte er.

„Und beide Unterzeichner waren anwesend?“

Der Notar blickte erneut auf das Papier, und zum zweiten Mal nickte er.

„Zum Zeitpunkt der angeblichen Unterschrift befand sich mein Schwager nicht hier, er befand sich auf einer Auslandsreise. Dies ist belegbar.

Das Dokument ist gefälscht.“

Eine leichte Bleiche überzog das Gesicht des Notars. „Hören Sie! Ich kann mich nicht an jeden Einzelfall genau erinnern. Vielleicht befand sich eine Unterschrift bereits auf dem Papier, und ich habe mit Ihrem Schwager nur telefoniert.

Eine Fälschung ist eine ungeheure Unterstellung.“

„Mein Schwager und sein Halbbruder waren heillos miteinander zerstritten. Eine Aufteilung der Erbschaft zwischen meiner Schwester und ihm ist unvorstellbar.

Wie alt tatsächlich ist dieses Dokument?“

„Es steht auf dem Papier.“ Er zog es ein Stück näher an die Augen heran. „Jetzt vor ziemlich genau einem Jahr.“

„Ich werde Ihnen sagen, wie alt es ist, dieses Dokument: fünf Tage.

Einen Tag zuvor wurde mein Schwager ermordet in seiner Garage aufgefunden.“

„Ermordet? Die Kriminalpolizei ermittelt?“

„Einziger Verdächtiger: der Halbbruder meines Schwagers.

Es gibt Fingerabdrücke. Und dazu einen Augenzeugen.

Ich warne Sie: Die Kriminalpolizei könnte Sie in die Ermittlungen einbeziehen.“

Die Bleiche auf dem Gesicht des Notars wurde einen Moment lang zu einer wächsernen Starre. Schließlich wedelte er mit den Händen. „Mit einem Mordfall habe ich nichts zu tun. Was Sie auch sonst behaupten – ich habe mit diesem Mann nichts zu tun, außer dass ich dieses Dokument für ihn beglaubigt habe.“

„Ja. Und genau vor fünf Tagen.

Auch dafür gibt es Zeugen.“

Dem Anwalt trat Schweiß auf die Stirn.

„Hören Sie, ich mache hier nur meine tägliche Arbeit. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ruinieren Sie mich nicht! Sie zerstören meine Reputation.“

Seine Stirn glänzte.

„Ich sage Ihnen, was geschehen ist: Rudmar Adork kam in ihr Notariat. Allein. Er hat sie unter Druck gesetzt. Er kam mit einer Waffe.

Er hat Ihnen keine Wahl gelassen. Der Mann ist gefährlich. Sie mussten das gefälschte Dokument un-terzeichnen.“

„Wenn Sie es so genau wissen – warum stellen Sie dann Ihre Fragen?“

„Man hat Sie mit Gewalt genötigt, das Dokument zu beglaubigen, mit seinem falschen Datum.

Das ändert nichts an der Fälschung.

Wir werden es jetzt korrigieren.

Ich richte, wie Sie hier sehen, mein Handy auf Sie.

Und in dieses Handy hinein werden Sie den Widerruf sprechen. Es genügen zwei klare Sätze.“

Der Notar trocknete sich zum dritten Mal die Stirn. „Sie ruinieren mich. Eine falsche Beglaubigung kostet mich meine Zulassung.

Ich habe eine Frau. Ich habe zwei Kinder.“ Seine Stimme war weinerlich geworden. „Nein. Das können Sie unmöglich von mir verlangen.“

Schweißbäche rannen von seiner Stirn. Sein rotes glänzendes Gesicht hätte das eines Saunabesuchers sein können.

Hendrik zog die Gaspistole hervor.

„Ich mache keine Scherze. Ich will Ihren Widerruf hören. Jetzt, auf der Stelle!“

Der blanke Schrecken war in die Augen des Notars gekrochen. Die auf ihn gerichtete Waffe zeigte Wirkung. Der Mann, der sie in der Hand hielt, mit grimmig zusammengepressten Lippen, ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit.

Der Notar wedelte mit den Händen. Es war der Versuch, ein begütigendes Zeichen zu geben. Er war zur Kapitulation bereit. Hendrik rückte mit dem Handy nochmals einen halben Meter näher.

„Hiermit erkläre ich -“

„Datum!“ unterbrach ihn Hendrik.

Der Notar wiederholte sein „Hiermit erkläre ich“ und fügte das Datum ein, „dass das Testament von Gunnar Adork nicht in dessen Anwesenheit von mir beglaubigt wurde und nicht vor einem Jahr.“

„Sondern vor fünf Tagen,“ sprach Hendrik vor.

„Sondern vor fünf Tagen,“ echote der Anwalt.

„Geht doch!“ sagte Hendrik und bleckte wieder die Zähne. Er steckte die Gaspistole zurück in die Jacke. Dann ließ er sein Handy wie ein Beutestück in die andere Tasche gleiten.

„Und jetzt einen schönen Tag noch!“

Er wandte sich zur Tür.

Der Notar hatte die matte Ausstrahlung eines Häufchens Kehricht. Seine Karriere als Notar hatte einen Knick erhalten, wahrscheinlich einen irreparablen Schaden.

Doch Hendrik sah es nicht als seine Aufgabe, sich den Kopf dieses Mannes zu zerbrechen.

Sein Feldzug hatte erst begonnen. Er hatte nur einen Etappensieg errungen, gewiss einen entscheidenden.

Ein nächster Name stand auf der Liste seiner potentiellen Opfer: Rudmar.

 

 

Hendrik hatte das Notariat seit wenigen Minuten verlassen, als der Notar zum Hörer griff.

Auf der anderen Seite hörte man Rudmar.

Es ist etwas Unvorhersehbares passiert. Eine Katastrophe.“ Der Notar sprach wieder mit fast weinerlicher Stimme.

Rudmar reagierte sofort unruhig – tatsächlich, es ging um das Testament. „Wer hat dieses Testament ins Gespräch gebracht? Das sollte erst in einer Woche sein.“

Keine Ahnung. Der Bruder von Sigrid Adork war hier. Er hatte eine Kopie bei sich. Er wusste alles. Wusste dass es eine Fälschung war und du vor fünf Tagen hier in der Kanzlei warst.“

Die beiden duzten sich. Offenbar dicke Kumpel.

Du hast es zugegeben, du Schwachkopf?“

Er hat eine Pistole auf mich gerichtet. Und dann sein Handy. Ich musste alles in die Kamera seines Handys sprechen.“

Schwachkopf! Er hätte niemals geschossen. Alles nur Blöff.

Wir müssen an dieses Handy heran, ehe etwas Unerwünschtes damit passiert.

Eine Ahnung, wohin er unterwegs ist zurzeit?“

Der Notar schüttelte den Kopf. Er vergaß, dass sich das Kopfschütteln durch ein Telefon nicht mitteilte.

Den Typen hole ich mir.“ Rudmar atmete tief durch. Selbst in diesem Atemzug lag ein bedrohliches Grummeln.

Den machen wir platt.“

 

 

Minuten später saß Rudmar im Auto.

Nochmals Minuten später parkte Hendrik sein Auto vor Rudmars Gartenvilla.

Klingeln am Gartenzaun. Niemand öffnete.

Ungeduldiges heftiges Klingeln. Kein Geräusch aus Richtung der Tür.

Hendrik sprang über den Maschendrahtzaun.

Jetzt trat eine junge attraktive Asiatin hinter der Villa hervor, eine Heckenschere in der Hand. So attraktiv sie war, so lag doch zugleich eine bedrohliche Aggressivität auf ihrem Gesicht.

Sie fuchtelte mit der offenen Heckenschere in Richtung des Eindringlings.

Hendrik fragte nach Rudmar Adork.

„Niemand nix hier!“ sagte die Asiatin und schwang ihre Heckenschere.

„Guter Bekannter,“ sagte Hendrik. „Ist Bruder von Mann meiner Schwester.“

„Was Mann von Schwester?“ Es war unmöglich, dieser Frau zu erklären, was ein Halbschwager war.

In diesem Moment preschte ein Bullterrier hinter der Villa hervor. Er war nur etwa kniegroß, doch ein Bündel von Energie. Wie eine fellbezogene Kugel schoss er auf Hendrik zu, die Zähne gefletscht.

Hendrik suchte hinter der Asiatin Schutz. Dann hatte er ihr die Heckenschere entwendet. Er hielt sie der giftig bellenden, beißwütigen Furie entgegen, und tatsächlich wagte sich das kniehohe Monster nicht näher.

Hendrik legte mit kleinen Schritten den Rückwärtsgang ein, der ihn wieder zum Zaun führte, immer in Augenkontakt mit dem weiter heftig kläffenden Monster, die Spitzen der Heckenschere auf dessen bebenden Hals gerichtet, er hatte den Zaun erreicht, hangelte sich an einem der spitzen Eisenpfeiler hinauf, als er zum Sprung auf die Straße ansetzte, war sein Jackenärmel noch einen Moment mit dem Pfeiler verwachsen und riss bis zum Ellbogen auf.

Er warf die Heckenschere zurück in den Garten.

Zwei Furien blickten ihn an. Eine immer noch bellend, die andere mit finsterem asiatischem Lächeln.