Epub cover

Hanno Plass (Hg.)

Klasse
Geschichte
Bewusstsein

Was bleibt von Georg Lukács’ Theorie?


Beitragende

Roger Behrens ist Autor und Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Theorie und Testcard. Beiträge zur Popgeschichte. Er schreibt unter anderem für die Streifzüge, Jungle World und beatpunk und sendet im Freien Sender Kombinat. rogerbehrens.net

Bastian Bredtmann studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie, Mitherausgeber von »Das Problem des Anfangs in der Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx«.

Detlev Claussen war Professor am Institut für Soziologie der Universität Hannover. Er studierte bei Adorno und Horkheimer in Frankfurt. Seine Biografie »Theodor W. Adorno – Ein letztes Genie« wurde seit dem Erscheinen 2003 in mehrere Sprachen übersetzt.

Rüdiger Dannemann ist Vorstandsmitglied der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft und Herausgeber des Jahrbuchs der IGLG. Er hat ausführlich zu Lukács publiziert, maßgeblich ist seine Studie »Das Prinzip Verdinglichung«.

Patrick Eiden-Offe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Germanistik an der Universität Essen-Duisburg. Zuletzt schrieb er im Merkur über Biedermeier, Vormärz und Berlin. Derzeit ist Eiden-Offe Fellow am Exzellenzcluster »Die Poesie der Klasse. Figurationen von Klasse in Literatur und Sozialtheorie des deutschen Vormärzes«.

Frank Engster hat jüngst im Neofelis Verlag seine Studie »Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit« veröffentlicht. Nach der Promotion war er Junior-Fellow am Postwachstumskolleg der Universität Jena und arbeitet freiberuflich u.a. in den Bereichen Wissensproduktion und Bildung.

Ágnes Heller promovierte bei Georg Lukács und war lange Zeit seine Assistentin. Dem kommunistischen Regime gegenüber oppositionell eingestellt, verließ Heller nach Jahren politischer Gängelung ihrer philosophischen Tätigkeit 1977 Ungarn und trat eine Professur in Melbourne an. Später folgte sie Hannah Arendt auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York nach. Heller lebt in Budapest und New York und publiziert kontinuierlich zu philosophischen und politischen Fragen der Gegenwart.

Stefan Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Er hat über Probleme der Dialektik geschrieben und zuletzt den Sammelband »Jenseits der Dichotomie. Elemente einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs« heraus.

Hanno Plass ist Historiker und forscht am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung über die Exilerfahrungen jüdischer Südafrikaner im Kampf gegen die Apartheid. Er publiziert unter anderem in den Blättern des IZ3W und der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.

Johannes Rhein, Filmwissenschaftler und Soziologe, ist Mitarbeiter an der Forschungsstelle NS-Pädagogik an der Goethe-Universität und arbeitet an einer filmwissenschaftlichen Dissertation über die von Artur Brauner produzierten »Filme gegen das Vergessen«. Er lebt in Berlin und Frankfurt am Main.

Veith Selk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt. Er hat bei Michael Th. Greven an der Universität Hamburg studiert und promovierte über Angst im politischen Denken bis zur Neuzeit.

Impressum



Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2015

www.verbrecherei.de


© Verbrecher Verlag 2015


Lektorat: Kristina Wengorz

Satz und Ebookherstellung: Christian Walter


ISBN Print: 978-3-95732-005-6

ISBN EPub: 9783957321077

ISBN Mobipocket: 9783957321084


Der Verlag dankt Michel Bakker und Nina Pagel.

Vorwort

Ágnes Heller

Dieser Sammelband mit Studien über »Geschichte und Klassenbewußtsein« erscheint beinahe ein Jahrhundert nach der ersten Veröffentlichung von Lukács’ berühmtem Opus. Wie immer nach hundert Jahren stellt sich auch hier die Frage, ob Lukács’ Buch es noch wert ist, es zu lesen, ob die in diesem Buch formulierte Diagnose und dessen Standpunkt auch heute noch aktuell sind oder wenigstens etwas zum Verständnis unserer Welt beitragen.

Die Autoren des Sammelbandes geben verschiedene Antworten auf diese Fragen. Obwohl sie ausnahmslos Lukács’ politischen Standpunkt für die heutige Welt als gänzlich irrelevant einschätzen, sind sie sich nicht einig, was die Frage betrifft, ob Lukács’ Gesellschaftsanalyse zu seiner Zeit treffend war und ob sie – mit einigen Modifikationen und Variationen – auch heutzutage treffend bleibt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Interpretationen einiger Lukács’scher Grundbegriffe wie Verdinglichung, Entfremdung und Waren­fetischismus, Begriffe, die auch in der Ideologie der Neuen Linken eine außerordentlich wichtige Rolle spielen. Einige Autoren berufen sich zudem auf ihre persönlichen Erfahrungen, auf den Eindruck, den »Geschichte und Klassenbewußtsein« auf sie als junge Studenten machte. Solche Eindrücke vergisst man nie, und nichts ist natürlicher, als diesen Eindruck auch nach Jahrzehnten zu rechtfertigen.

Ich lebte in einer anderen Welt als die Autoren dieses Buches, und ich lebte auch früher. Ich las zum ersten Mal »Geschichte und Klassenbewußtsein« in einer Zeit, in der ich von den politischen Aspekten dieses Buches nicht abstrahieren konnte. Die Partei war damals (1968) für mich kein Förderer des zugerechneten Bewusstseins des Proletariats, sondern eine Institution des Massenmordes, und in meinen Augen war auch Lenin ein Agent des Bösen. Einer der wichtigsten Gründe meines rein utopischen Enthusiasmus für die Neue Linke war die Feindseligkeit der Kommunistischen Partei gegen diese »anarchistische« Bewegung. Was mir an dieser Bewegung besonders imponierte war genau, dass es hier nicht um die Machtübernahme sondern um die Entwicklung neuer Lebensformen ging. Ich versuchte, auch Rudi Dutschke davon zu überzeugen. Selbstverständlich gehörten auch zu meiner Sprache Begriffe wie Verdinglichung, Entfremdung und Warenfetischismus, doch eher im originalen Marx’schen Sinne, worüber ich noch etwas sagen werde.

Seitdem las ich »Geschichte und Klassenbewußtsein« mehrmals, besonders die Studie über Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats, die einzige Studie, die auch heute meines Erachtens noch lesenswert ist. In einem Seminar mit New School Studenten habe ich die philosophischen Aspekte dieser Studie vollständig losgelöst von den politischen und gesellschaftlichen Aspekten betrachtet. (Wie ich es auch mit Heideggers Werk tat.) Wenn man einen rein philosophischen Standpunkt einnimmt, so glaubte ich, und glaube ich auch noch heute, kann man sehr bedeutende Einsichten in die philosophischen Probleme und Problemlösungsversuche einer Zeit gewinnen, in der die Philosophen sich mit der Auflösung der Metaphysik auseinandersetzen mussten und zugleich versuchten, die grundlegenden philosophischen Themen zu bewahren, indem sie sie auf neue Weise betrachteten. Zu ihnen kann man auch Lukács zählen.

Indem uns Lucien Goldmann und andere auf die Parallelen zwischen »Geschichte und Klassenbewußtsein« und »Sein und Zeit« aufmerksam machten, bekräftigten sie Hegels Diktum, dass die Philosophie unsere Zeit in Begriffe gefasst hat. Doch haben die erwähnten Werke zugleich Nietzsches Wort bestätigt: Philosophie ist Autobiografie. Beide, Lukács und Heidegger, haben in den 1920er-Jahren, nach dem Kriegsende, in einer Zeit der Verzweiflung und der Erlösungshoffnungen, ihre Zeit in Begriffe gefasst, doch nicht vom »Standpunkt« des Proletariats aus, sondern vom Standpunkt ihrer persönlichen Erlebnisse und Ziele, ihrer verschiedenen Biografien.

Als ich am hundertsten Jahrestag der ersten deutschen Ausgabe von »Die Seele und die Formen« in Wien sprach, war ich selbst erstaunt, wie frisch, wie gegenwärtig, wie relevant dieses Buch heute ist – nicht »heute noch«, sondern »heute wieder«. Ein Argument für die philosophische Rele­vanz der sogenannten Essay-Form ist die Deklaration der Freiheit der post-metaphysischen Philosophie, die Polemik gegen jede Art der »totalitären« Bestrebung.

Wir wissen von Lukács, dass Ernst Bloch ihn überzeugte, dass sein Weg bis dahin grundfalsch war, dass die Zeit der »großen Philosophie« nicht vergangen war, sondern noch vor ihm lag. Also probierte Lukács die »große Philosophie« in seiner »Philosophie der Kunst« und in der »Heidelberger Ästhetik« aus, beide sind Bruchstücke geblieben, nicht beendete, doch wichtige Werke. Das hat ihn aber nicht befriedigt. Er brauchte wie alle Metaphysiker einen absoluten Standpunkt, einen Urgrund. Ohne absoluten Standpunkt, Urgrund, gibt es nämlich keine große Philosophie (Metapyhsik) mehr. Er musste diesen Grund finden, diesen absoluten Standpunkt, und er hat ihn in Marx – durch seine Interpretation von Marx – gefunden. Marx (der durch Lukács interpretierte Marx) diente ihm als das fundamentum absolutum inconcussum, das war der Sinn der »Orthodoxie«. Nicht Denken, nicht Bewusstsein, nicht der Weltgeist, sondern das »zugerechnete Selbstbewusstsein des Proletariats« diente ihm als Ausgangspunkt. Das zugerechnete Bewusstsein ist schon »da«, weil Marx eben »da« ist, doch das Subjekt hat es noch nicht als die Wahrheit erkannt.

Die Theorie ist komplexer, als ich es hier kurz andeuten kann. Es ist eine Sache, den Urgrund zu finden, und eine andere Sache, ihn zu erklären. Doch die (seit Hegel) historisierte Metaphysik ist damit angedeutet: Etwas ist da, noch nicht erkannt, aber es wird (sicher!) erkannt werden – der Zirkel wird geschlossen (Totalität). Es gibt auch Sätze in »Geschichte und Klassenbewußtsein«, die die Möglichkeit einer Alternative andeuten, doch ist dies keine reale Alternative, denn Barbarei, Weltzusammenbruch, Armageddon sind keine »Alternativen«.

In diesem Sammelband wird angedeutet, dass Lukács mit »Geschichte und Klassenbewußtsein« auch auf die Fragen, die in »Die Seele und die Formen« eine Rolle gespielt hatten, zurückkam. Doch, und das möchte ich hinzufügen, in einer ganz anderen Weise, denn Essay-Form und Totalität kann man nicht zusammendenken. Es wird auch angedeutet, dass die Zeitgeschichte, wenn auch nicht der Grund, so doch die Bedingung einer radikalen Wendung, Lukács’ erster »Kehre«, gewesen ist.

Unbehagen in der modernen Kultur kennzeichnete das Werk des jungen Lukács’ und seiner Zeitgenossen. Dieses »Lebensgefühl« war eine der Motivationen bedeutender Intel­lektueller (und nicht nur für sie), den Weltkrieg enthusiastisch zu begrüßen und sich später, nachdem die Hoffnungen auf die erlösende Kraft des Krieges enttäuscht worden waren, verschiedenen totalitären Bewegungen und Parteien anzuschließen. Auch die Sozialdemokratie (das empirische Bewusstsein des Proletariats) hatte seine Glaubwürdigkeit verloren. Der Nationalstaat, der Nationalismus, hatte den ideologischen Krieg gegen die Idee einer »›proletarischen‹ Europäischen Union« gewonnen. Ohne Tradition blieb die liberale Demokratie in Europa schwach, für niemanden radikal genug. Nach jedem großen gesellschaftlichen Trauma sehnen sich die zur Trauerarbeit unfähigen oder unwilligen Menschen nach der Erlösung.

Lukács hat seine eigene Erlösung im Kommunismus gefunden und war überzeugt, dass seine persönliche Erlösung mit der Erlösung der Welt zusammenfallen werde (müsse). Das ist nicht meine Interpretation, sondern seine. Über »Geschichte und Klassenbewußtsein« sprechend bemerkte er (durchaus selbstkritisch), dass er mit diesem Buch der Heilige Augustinus des Kommunismus hatte werden wollen. Er hatte geglaubt, dass der Kommunismus wie einst der Katholizismus die Welt erobern würde, und er wollte der Erste sein, der die theoretischen, dogmatischen Grundlagen dieser neuen Weltreligion formulierte. (Er sollte eher an Apostel Paulus erinnern, doch Lukács sprach über Augustinus, wahrscheinlich, weil Augustinus, wie er selbst, ein Philosoph war, der nach vielen Irrwegen – wie angeblich auch Lukács – endlich die Wahrheit gefunden hatte.) Viel später sprach Lukács in »Mein Weg zu Marx«1 in beinahe demselben Sinn, im Sinne der Aletheia, der Aufdeckung der Wahrheit, diesmal jedoch nur als von seiner persönlichen Erlösung (vom Kopfschmerz, von bürgerlicher Dekadenz, von Unsicherheit, von Irrwegen), ohne die Verheißung der Welterlösung.

Um die von ihm entdeckte Wahrheit erklären zu können, musste Lukács nicht nur den Weltschmerz ausdrücken, sondern auch den Grund (im doppelten Wortsinn) für das »Unbehagen in der modernen Kultur« (Welt) zeigen, aufzeigen, beweisen, verständlich machen. Wenn man den Grund kennt, erhellt sich auch der Weg zur (Er)Lösung. Damit will ich nicht Lukács’ Konzeption als »messianisch« kennzeichnen (das haben andere besser getan), sondern auf die philosophischen Aspekte dieser messianischen Gedanken hinweisen.

Die dominierenden philosophischen Kategorien des Buches (besonders Verdinglichung und Warenfetischismus, doch auch Entfremdung) sind nicht diagnostisch gemeint, sie sind Beschreibungen der Erscheinungen des Wesens. Das Wesen ist der Kapitalismus und das Wesen des Kapitalismus sind die Warenverhältnisse.

Es ist gang und gäbe, Lukács dafür zu loben, dass er, ohne die Pariser Manuskripte lesen zu können, den Inhalt dieses Marx’schen Jugendwerks erfasst habe. Das ist meines Erachtens keineswegs der Fall. Nichts liegt ferner, als zu glauben, Lukács spreche in »Geschichte und Klassenbewußtsein« im Marx’schen Sinn über die Entfremdung des Gattungswesens oder über die Aufhebung der Entfremdung durch die Einheit von Gattung und Individuen. (Zählen Sie nur, wie oft die Kategorien im Marx’schen Text vorkommen: am häufigsten das Wort »Individuum«!) Marx’ Konzeption ist utopisch, doch hat sie mehr mit Kants Idee der möglichen künftigen Einheit zwischen Freiheit und Natur als mit der Subjekt/Objekt-Identität in Lukács’ Sinn zu tun. Marx (besonders der junge Marx) war überhaupt nicht an den erkenntnistheoretischen Fragen interessiert, er dachte im Wesentlichen ontologisch.

Lukács’ Begriff der Entfremdung ist bei Weitem kein zentrales Element in »Geschichte und Klassenbewußtsein« und entspricht eher Marx’ Entwicklung der Arbeitswert-Theorie im »Kapital«. (Der Arbeiter kann weder seine Produkte noch seine Person kontrollieren. Seine Produkte stehen ihm als fremde Mächte gegenüber usw.)

Was in Lukács’ Marx-Interpretation am wichtigsten ist, wurde schon häufig hervorgehoben: Man müsse Marx als einen Philosophen und nicht als einen Wissenschaftler betrachten. Lukács’ Aperçu, dass, wenn nur die Marx’sche Methode wahr sei, es nichts ausmache, falls alle seine Thesen sich als falsch erwiesen, bleibt bis heute treffend, wenn man das Wort »Methode« durch »Philosophie« ersetzt. (Philosophie kann nämlich nicht empirisch falsifiziert werden.) Die »dialektische« Methode (in Hegels »Wissenschaft der Logik« wird am Ende die Logik mit dem System vereinigt), das ist die Totalität, das Ganze, das Wahre. Marx experimentierte mit diesem Gedanken im ersten Band des »Kapital«, doch führte er ihn nicht radikal aus. Dies hat Lukács in »Geschichte und Klassenbewußtsein« getan.

Meiner Meinung nach ebenfalls treffend interpretierte Lukács einen der Grundgedanken der Marx’schen Geschichtsphilosophie: die privilegierte Position der kapitalistischen Gegenwart für die »ganze« geschichtliche Entwicklung. Marx betonte, dass nur im Kapitalverhältnis sichtbar werde, dass die ökonomischen Bedingungen die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Deswegen könne man nur im Kapitalismus die wahre Einsicht in den tatsächlichen Ablauf der Geschichte erringen. Und er hat hinzugefügt, dass diese Einsicht nur vom Standpunkt des Proletariats erreichbar sei. Lukács hat mit sicherer Hand alles, was an Marx’ Werk mit seinem politischen Standpunkt philosophisch nicht zu vereinbaren war, vernachlässigt (z.B. dass die Kapitalverhältnisse die Entwicklung der Produktivkräfte verhindern würden und dies notwendigerweise zum Zusammenbruch der Kapitalverhältnisse führen werde).

Als Lukács die Grundkategorien wie Entfremdung, Verdinglichung und Warenfetischismus interpretierte, war der Zweck der Interpretation, wie gesagt, nicht die Diagnose der Gegenwart, nicht die Beschreibung des Unbehagens in der Kultur, sondern die Herausarbeitung des zureichenden Grundes der Verdinglichung, der Entfremdung, des Fetischismus. Ich möchte betonen, dass dieser Grund im Sinne Leibniz’ als »zureichend« verstanden werden muss. Das Unbehagen hat in »Geschichte und Klassenbewußtsein« nichts mit der »conditio humana«, nichts mit Gesellschaftlichkeit im Allgemeinen zu tun, nichts mit Instinkten, nichts mit der Situation der Menschen in der Welt, sondern allein mit dem Kapitalverhältnis, mit dem Warenverhältnis. Wenn dem so sei, dann brauche man nur diese Bedingungen für das Unbehagen beseitigen. Was »nachher« passieren würde, das wissen wir nicht, darüber spricht Lukács nicht. Wieder einmal im Gegensatz zu Marx, der zwar an mehreren Stellen ganz verschiedene Antworten auf diese Frage gibt, doch sich bemühte, Antworten zu finden, wenigstens mit einigen von ihnen zu experimentieren.

Lukács aber gibt nur eine Antwort, »die« Antwort. Er löst alle Rätsel!

Bevor ich beginne, Lukács’ philosophische Gründe für die Darstellung seines Themas zu diskutieren, möchte ich auf zwei Punkte seiner »Selbstkritik« hinweisen, die mir zumindest teilweise recht geben mögen.

Der erste Punkt ist, dass er die »Natur« in seiner Analyse gänzlich außer Acht lässt. Man könnte sagen, dass sein – in diesem Buch nicht erwähntes – Vorbild Kierkegaard dasselbe getan habe oder dass es auch in Heideggers »Sein und Zeit« keine »Natur« gebe. (Darauf hat Mihály Vajda hingewiesen.2) Doch Lukács stützt sich auch hier auf Marx. Mit welchem Recht? Eine der in diesem Sammelband veröffentlichten Studien antwortet eindeutig auf diese Frage: mit keinem Recht. Lukács zitiert die »Kritik des Gothaer Programms«, in der Marx eindeutig feststellt, dass die Quelle des gesellschaftlichen Reichtums die Natur und die Arbeit seien. Doch, und das möchte ich hervorheben, da spricht Marx nicht über Warenverhältnisse. Im ersten Band des »Kapital«, in seinen philosophischen Erörterungen, bestimmt Marx den Wert einer Ware (die Wertsubstanz) mit der Arbeitszeit, die notwendig ist, diese Ware zu produzieren. Wie kann diese Definition für die Natur gelten, falls man nicht Gottes sechs Tage dauernde Arbeit in Betracht zieht? Lukács spricht nur über die Warenwelt und über Arbeitskraft als Ware.

Zum Zweiten ist seiner Selbstkritik in dem Punkt zuzustimmen, dass er den wesentlichen Unterschied zwischen Verdinglichung und Vergegenständlichung, obwohl er ihn erwähnt, doch nirgends analysiert. Das war wahrlich ein radikal messianischer Aspekt seiner Theorie. Marx sagt, wie wir alle wissen, dass wir, obwohl wir unsere Geschichte machen, dies unter gegebenen Bedingungen tun. In seinem Spätwerk »Eigenart des Ästhetischen« beschreibt Lukács die Vergegenständlichung auch durch den Begriff der »Objektivation«. Doch hier, in »Geschichte und Klassenbewußtsein«, gibt es den »Sprung«, dessen einzige Vorbedingung (nicht der Grund) die Existenz des verdinglichten kollektiven Subjekts ist.

Doch möchte ich zu Lukács’ Diagnose der Moderne (Entfremdung, Verdinglichung, Fetischismus) zurückkehren. Ich habe bereits erwähnt, dass das Unbehagen in der modernen Kultur schon vor dem Ersten Weltkrieg begrifflich erfasst worden ist. In diesem Sammelband werden sowohl einige dieser Begriffe erwähnt, als auch die Begriffe jener Theoretiker, die das Unbehagen nach Lukács bis in die heutige Zeit hinein analysiert haben, diskutiert. Vor Lukács hat man häufig über Rationalisierung, Bürokratisierung, Atomisierung, Verlust der Gemeinschaft, Isolation oder den Tod Gottes gesprochen. Er selbst zitiert Fichtes Wort über unsere Zeit als die Welt der »vollendeten Sündhaftigkeit«. Heute spricht man oft auch über Wüste, Verwüstung (Hannah Arendt) über Gestell (Heidegger) über »flüssige Moderne« (Zygmunt Baumann) usw. Doch was ist der Referent dieser Begriffe? Wenn man »Unbehagen« sagt, dann braucht man keinen konkreten gesellschaftlichen Referenten, man kann sich auf Lebensgefühle berufen, auf Psychosen, Traumata, auch auf das Jammern und Klagen über unsere Sündhaftigkeit im Allgemeinen. Doch wenn man über Verdinglichung, Verwüstung, Tod Gottes usw. redet, muss man auf etwas »Konkretes« verweisen, auf den Grund (das Wesen), der in diesen Phänomenen aufscheint.

Ist der Referent derselbe? Sicher nicht. Sind die Referenten ähnlich? Einige sind es. Ist der Grund der Erscheinungen als dasselbe gefasst? Keineswegs. Doch gibt es zwischen den verschiedenen Gründen Ähnlichkeiten? Ich setze voraus, dass es solche gibt. Am Ende kann man die angeblich wichtigste Frage stellen: Kann das »Problem« gelöst werden? Kann das »Negative« aufgehoben werden? Ist das überhaupt möglich? Ist es wünschenswert?

Auf diese Fragen kann man nicht im »Allgemeinen« antworten, denn bei jedem Autor ist die Frage selbst schon Teil der Theorie und kann nicht isoliert davon betrachtet werden. Die sogenannte Kulturkritik kann mit unterschiedlichen Begriffen operieren, jedem Begriff verschiedene Referenten zuweisen, und den einzelnen Referenten entweder eine Bedeutung für den Prozess des Aufhebens zusprechen oder nicht.

Marx, Lukács, Adorno, alle sprechen sie über den Fetischismus des Bewusstseins. Alle drei sind sich darin einig, dass Fetischismus eine Erscheinung der Marktverhältnisse ist. Der Referent ist das »Bewusstsein«, und die Konzeption stützt sich auf Hegels Begriff des notwendigen Scheins. Der Schein ist die Unmittelbarkeit, doch diese Unmittelbarkeit ist notwendig. Bürger der modernen Gesellschaft (die deutschen klassischen Philosophen inbegriffen) können nicht zum Wesen durchdringen, weil sie nicht in der Lage sind, die fetischisierte Unmittelbarkeit ihres Bewusstseins zu vermitteln. Lukács (in »Geschichte und Klassenbewußtsein«) entwirft ein Modell der Aufhebung des Fetischcharakters, er zeigt uns den Weg von der Unmittelbarkeit zur Vermittlung, zur Totalität der konkreten Vermittlungen. Adorno zeigt uns keinen Weg auf. Für den Wiener Kreis wiederum besteht die Größe der modernen Musik darin, dass sie fähig ist, das fetischistische Wesen unserer Welt auszudrücken.

»Fetischismus des Bewusstseins« ist nur eine der vielen Diagnosen der Spätmoderne, der Massengesellschaft, als einem Reich der Unmittelbarkeit. Hannah Arendt beschreibt unsere Welt der Unmittelbarkeit mit dem Begriff »labor« und kontrastiert diese mit der Welt der Vermittlung, des Schaffens (»work«). Jürgen Habermas spricht von der Kolonialisierung der Lebenswelt. Aber nicht alle bedeutenden Denker der Spätmoderne betreiben diese Art von umfassender »Kulturkritik«, aber nicht weil sie »unkritisch« sind, sondern weil sie – wie Jacques Derrida und Michel Foucault – nicht »geschichtsphilosophisch« denken.

Mit der Einführung der Begriffe Unmittelbarkeit versus Vermittlung habe ich schon eines der grundlegenden philosophischen Probleme (vielleicht sollte man besser von philosophischer Frage sprechen) erwähnt, die Lukács in »Geschichte und Klassenbewußtsein« reflektierte. Das war vielleicht der bedeutendste Versuch, traditionelle philosophische Kategorien für die moderne Zeit zu »retten«, eine moderne historische Metaphysik zu präsentieren. Der Versuch schlug fehl. Nicht nur deswegen, weil er mit einer verführerischen, bösen, radikalen Politik verschmolzen war, sondern auch, weil er als radikale Philosophie scheiterte. Heidegger sagte einmal, dass alle Philosophien fehl schlagen. Die Frage sei nur, wie und warum. Lukács und sein Buch »Geschichte und Klassenbewußtsein« hatten eine schwere Last zu tragen: die Last einer verführerischen und bösen Politik. Das hatte mit Marx wenig zu tun, umso mehr aber mit Lenin und »der Partei«, mit dem Bolschewismus. Dagegen könnte man einwenden, dass »die Partei« Lukács’ Buch nicht als das ihre anerkannt hat, dass Lukács selbst zu einer »Selbstkritik« gezwungen war (obwohl er diesen Zwang verneinte), dass er später dieses Buch nicht mehr als seines anerkannte, obwohl es das beste philosophische Buch seines ganzen Lebens war. Und doch liegt mein größtes Problem bei der Rezeption des Buches. Eben aufgrund der Verschmelzung einer interessanten Philosophie mit einer gefährlichen Politik, haben manche das Buch neu entdeckt, eben deswegen haben viele, die eine antidemokratische, antiliberale Politik befürworteten oder selbst verantworteten, es ernst genommen und geliebt. Ich meine nicht die Denker der Neuen Linken, sondern einige Denker des sogenannten Westlichen Marxismus. Auch wegen seiner Rezeption muss ich erneut betonen, dass ich im Folgenden die trotz ihres Fehlschlags bedeutenden philosophischen Lösungsversuche, die das Buch vorschlägt, von den politischen Ansprüchen isoliert diskutieren werde.

Lukács hat sich mit Begriffen auseinandergesetzt, die für seine ganze Generation den theoretischen Mittelpunkt (doppelt oder nichts) besetzt haben. Es ging um die Gegenwart und um die Zukunft der traditionellen Philosophie. Kann man die Kategorien der Alten noch für die Weltbeschreibung brauchen? Falls ja, wie? Sollen wir Philosophen – mit Hegel, wenn auch in anderem Sinne – vom Ende der Philosophie sprechen? Kann Wissenschaft die Philosophie ersetzen? Ist der Sieg der Wissenschaft nicht der Trauermarsch für die Philosophie? Lucien Goldmann und andere nach ihm experimentierten mit dem Gedanken, dass Heidegger »Geschichte und Klassenbewußtsein« gelesen habe und, von diesem Buch tief beeindruckt, sein eigenes Werk geschrieben habe. Meines Erachtens ist das nicht wichtig. Denn es ist stets so, dass philosophische Fragen gleichsam in der Luft liegen, und Philosophen, wie Nietzsche sagte, haben einen guten Geruchsinn.

Die Fragen, um die es damals im Wesentlichen ging (nebst derjenigen nach dem bereits diskutierten Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung) waren die Folgenden: das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das Empirische und das Transzendentale, direkte oder indirekte Kommunikation (Legitimationsfrage), Totalität.

Beginnt man mit der »Totalität«, sieht man, dass alle erwähnten Kategorien bei Lukács miteinander zusammenhängen, einander bedingen.

Alle traditionellen metaphysischen philosophischen Systeme streben Totalität an. Oder, wenn das Wort uns nicht gefällt: Sie sind holistisch. Wenn auch dieses Wort uns verdächtig klingt, können wir mit Kant über architektonisch aufgebaute Systeme reden. Natürlich gab es auch nicht-metaphysische Philosophen, doch das galt nicht für moderne deutsche Denker, die für Lukács, wie früher auch für Marx, »die Philosophen« waren. (In einem seiner Frühwerke bemerkte Heidegger, dass Leibniz keine zwei Seiten niederschreiben konnte, ohne ein System zu entwickeln.) Es erübrigt sich zu betonen, dass weder Marx noch Lukács mit dem dilettantischen Philosophieren von Engels etwas zu tun hatten. Leider hat Lukács aber das dilettantische Philosophieren von Lenin hoch gepriesen. Darüber ist am besten zu schweigen.

Das Wahre ist das Ganze, sagt Hegel, und seine Logik folgt Schritt für Schritt dem schweren Weg des absoluten Geistes (der metaphysischen Philosophie). Alle neuen Schritte werden negiert und aufgehoben (vermittelt). Das Ganze ist die vermittelte, konkrete Totalität selbst, sie ist die Wahrheit. Um Lukács besser zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, dass das »Empirische« bei Hegel unmittelbar ist.

Der Gedanke, Wahrheit sei mit dem Ganzen identisch, ist der gemeinsame Zug aller metaphysischen Systeme. In allen »vor-Hegel’schen« philosophischen Systemen hing auch alles mit allem zusammen, und die Hierarchie der Wahrheiten konstituierte die Totalität. Und weil die Systeme vor Hegel eher räumlich als zeitlich konzeptualisiert waren, wurde die Totalität (das Ganze) meistens offen, nicht verschleiert, vorausgesetzt. Auf der untersten Stufe der Hierarchie finden wir das Empirische, Sinnliche, Unvermittelte. Wenn wir höher klettern (fliegen), erreichen wir via Vermittlungen endlich das Höchste, die reine Vernunft (nous, intellectus). Die Schlange beißt in ihren eigenen Schwanz. Nichts bleibt »außerhalb« der Schlange, weder im theoretischen noch im praktischen Sinne: Sie ist die Wirklichkeit.

Nur dort, wo nichts »außerhalb« bleibt, gibt es Gewissheit. Lukács strebte Gewissheit an. Ohne Totalität keine Gewissheit. Es sollte kein Punkt im Universum bleiben, auf den man sich stützen könnte, um diese Gewissheit infrage zu stellen. (Dass dies trotzdem immer passiert ist eine andere Frage.)

Natürlich wusste Lukács, dass man die philosophische Totalität nach Hegel nicht mehr im alten Sinne konstruieren kann. Das war aber auch nicht sein Projekt. Doch musste er die Totalität der modernen Welt (Kopf der Schlange) erst voraussetzen, um philosophisch ableiten zu können, wie der Kopf (das zum Marx’schen Selbstbewusstsein kommende Proletariat) den Schwanz (Warencharakter) beißt. Die Kritik an seiner Konzeption, die er selbst später wiederholte, dass die Erkenntnis hier selbst die revolutionäre Tat sei, war kein »Fehler«, sondern die Konzeption.

Damit stellt sich aber eine andere dringende Frage der modernen Philosophie: die Frage nach der direkten oder indirekten Kommunikation. Philosophische Kommunikation ist auf einen Grund (arché) als ihrer Voraussetzung gebaut. Was vorausgesetzt ist (Kopf der Schlange) braucht man nicht zu beweisen, alle Beweise kann man auf diese Voraussetzung gründen. Ohne die Voraussetzung »dogmatisch« festzustellen, kann man in der Philosophie entweder in einer indirekten Weise kommunizieren (Dialoge, angebliche Briefe) oder persönlich (ich denke, ich sage euch, meines Erachtens). In der indirekten Kommunikation ist kein Resultat philosophisch-apodiktisch, auch wenn es logisch apodiktisch ist. Und es gibt keine Totalität. Falls doch ein System präsentiert wird, ist das hypothetisch gemeint. Es gibt immer etwas »außerhalb«.

Lukács jedoch wollte das Absolute, die Wahrheit, die Gewissheit, das heißt: direkte Kommunikation. Doch er, György Lukács, ein Mann im 20. Jahrhundert, konnte nicht mehr wie die Alten sich selbst als Subjekt, als fundamentum absolutum inconcussum, voraussetzen. Welches Recht hätte er dazu gehabt? Der »Grund« eines anderen sollte ihm als das Absolute dienen. Nicht wegen seiner Demut (Lukács war nicht demütig), nicht wegen seiner Bescheidenheit (Lukács war nicht bescheiden) ist er in der Rolle eines Marx-Interpreten aufgetreten. Marx als die heilige Schrift zu behandeln, war eine philosophische Notwendigkeit für Lukács. Ohne diese Voraussetzung hätte es keine direkte Kommunikation gegeben, ohne direkte Kommunikation kein geschlossenes System, keine Totalität und auch keinen Sprung.

Via Marx war bei Lukács vorausgesetzt, dass die moderne Welt eine Totalität der Warenverhältnisse ist (arché). Es war auch vorausgesetzt, dass diese Welt zusammenbrechen, verschwinden wird. Was zu beweisen blieb, war, »wie« dieser Zusammenbruch stattfinden werde und das »wer« (Subjekt) dieses Zusammenbruches. Zwei grundlegende philosophische Kategorien-Paare musste Lukács für diesen Zweck-Grund mobilisieren: Sie waren Subjekt-Objekt, empirisch-transzendental.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die spätmoderne Metapher vom »Tod des Subjekts« bezieht sich nicht auf das individuelle Subjekt (auf die Existenz), sondern auf das erkenntnistheoretische Subjekt, auf die Theorie der Adaequatio zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt (Realität) als der Garantie des wahren Wissens. Dieselbe Metapher betrifft auch den Begriff des »kollektiven Subjekts« und bestimmt, ob es als handelndes oder erkennendes Subjekt verstanden wird.

Lukács’ Projekt war es, alle drei Begriffe des Subjekts in einer Theorie zu vereinigen. Dieser Versuch wird auch in diesem Sammelband von vielen Autoren unternommen. In der totalen Warenwelt ist das Proletariat (Arbeitskraft) ebenfalls eine Ware, doch eine spezielle Ware, eine Ware mit Bewusstsein. Dieses Bewusstsein erscheint als unmittelbar, als bloßer Ausdruck seines gesellschaftlichen Seins, als falsches Bewusstsein. Hier wird Marx wichtig. Gesellschaftliches Sein bedingt Bewusstsein. Weil alle Proletarier dasselbe gesellschaftliche Sein teilen (selbst Waren einer totalen Warenwelt sind), kann man über sie als kollektives Subjekt sprechen. Falls dieses kollektive Subjekt zum Selbstbewusstsein kommt, sich seiner eigenen Dinghaftigkeit bewusst wird, wird es auch der Dinghaftigkeit der Waren­welt bewusst. Die verschleierte, fetischisierte Wahrheit der empirischen Identität (Waren in der Warenwelt) wird auf dem Weg der Selbsterkenntnis erkannt. Und durch Selbsterkenntnis, die Wahrheit, wird die ganze falsche Warenwelt praktisch zugrunde gerichtet (parusia). Alle drei traditionellen Konzeptionen des Subjekts sind neu organisiert. Subjekt ist, was die wahre Welt erkennt, Subjekt (als Existenz) ist derjenige, der sich selbst, seine eigene Wahrheit wählt und sich radikal verändert (Kierkegaard), und Subjekt ist das Subjekt der Handlung. Und alle drei fallen zusammen. Das ist kein Fehler, das ist die Konzeption. Die wahre Welterkenntnis kommt nicht von außen, sondern von innen, durch eine radikale Kehre des Subjekts selbst.

Dass die Wahrheit in uns ist, dass wir sie nur in uns selbst erkennen können, ist keine neue Idee in der Philosophie. Wir kennen sie schon von Sokrates (Plato), und auch Kierkegaard hat es in diesem Sinne erörtert. Wie sich das Bewusstsein ins Selbstbewusstsein verwandelt, wissen wir von Hegel. In der Philosophie passiert sowieso nie etwas Neues. Die Welt bleibt von denselben Elementen zusammengesetzt. Doch oft gibt es ein Addendum, eine neue Kompo­sition, eine unerwartete Weise, die Welt aus den bekannten Elementen (nennen wir sie Schauspieler) zusammenzu­setzen.

Eines der Grundelemente, die Grundeinstellung des literarischen Genres, Philosophie genannt, ist die strikte Distinktion zwischen empirischer und transzendentaler Ebene. Das fängt mit der Geburt des Genres »Philosophie« an. So ist es zum Beispiel auf der transzendentalen Ebene besser, Ungerechtigkeit zu erleiden als ungerecht zu sein, auf der empirischen Ebene ist das Umgekehrte der Fall, die Wahrheit ist das Transzendentale. Um gleich zu Lukács’ Problematik zu springen: Kant löste alle Antinomien durch die radikale Distinktion der zwei Ebenen auf. Die eine These gelte für die empirische, die andere für die transzendentale Ebene. In diesem Sinne interpretierte Kant auch Rousseaus Geschichtsphilosophie. Nach Lukács spricht hier die Begrenztheit des bürgerlichen Standpunkts. Nebenbei, auch Marx war trotz aller Dialektik bestrebt, zwischen den beiden Ebenen in traditioneller Weise zu differenzieren. So ist bei ihm zum Beispiel der Mehrwert die Kategorie auf der transzendentalen Ebene, Profit diejenige auf der empirischen Ebene. Ebenfalls traditionell konfrontiert er, vom Standpunkt der Wahrheit aus, das Transzendentale als das Wesen, mit dem bloß Empirischen als der Erscheinung oder dem Schein. Den Gedanken einer möglichen Metamorphose des Empirischen zum Transzendentalen gibt es bei Marx nicht. Dass der zureichende Grund der revolutionären Umwälzung im »Innersten« des kollektiven Subjekts zu finden sei, war eine Idee von Marx, die Lukács nie teilen konnte. Der »empirische« Marx aber war für ihn unwichtig, und tatsachlich war und ist er für alle guten philosophischen Interpretationen gleich unwichtig. Lukács zitierte oft Molière: »Je prend mon bien où je le trouve«, und handelte danach.

Kurz und gut: In »Geschichte und Klassenbewußtsein« ist Lukács ein Zauberlehrling, der uns neue Zaubertricks vorführt. Er behauptet die Metamorphose des empirischen Bewusstseins (des Proletariats) in das dem Transzendentalen (zugerechnete) Selbstbewusstsein, eine Umwandlung der empirischen Unmittelbarkeit durch Vermittlung bis zu einer zweiten transzendentalen Unmittelbarkeit. Das verdinglichte Subjekt-Objekt hat via wahrer Selbsterkenntnis die Verdinglichung seiner selbst und dadurch die Verding­lichung der Welt aufgehoben. Ich betone, dass hier eine zweite transzendentale Unmittelbarkeit vermittelt ist, denn sonst könnte das Erkennen der Wahrheit-Wirklichkeit nicht mit der revolutionären, befreienden Handlung identisch sein. Die Schlange wäre unfähig geblieben, in ihren eigenen Schwanz zu beißen.

In einer Marx’schen Terminologie beschreibt Lukács die Einheit von Theorie und Praxis. Wo? Wann? Nicht in der Zukunft, sondern in der absoluten Jetzt-Zeit. Das ist eine höchst elegante Lösung, schön gedacht, schön gemacht. Später sprach auch Walter Benjamin über die Jetzt-Zeit der absoluten Umwandlung, doch eher aphoristisch, essayistisch als in einer systematischen Weise.

Doch, trotz des Interesses an Lukács’ großem Werk, trotz seiner Popularität in einigen Kreisen der Neuen Linken, war und blieb die Benjamin-Rezeption bis zum heutigen Tage unproblematisch, während die Lukács-Rezeption immer wieder problematisch wurde. Warum dem so war, ist leicht verständlich: Wegen des Verschmelzens des Werks mit der Tagespolitik der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts.

Benjamin hat sein Verständnis von Marx bis hin zum Messianismus erweitert, Lukács hat eine totalitäre Macht und Politik verteidigt. Letzteres haben zwar auch Heidegger, Carl Schmitt oder Carlo Gentile getan, doch kann man die theoretischen Gedanken von Heidegger, Schmitt und Gentile relativ unabhängig von ihrem jeweiligen politischen Engagement lesen. Das ist aber leider mit Lukács’ »Geschichte und Klassenbewußtsein« nicht der Fall. Seine Zeitdiagnose ist nicht nur philosophisch, denn in seiner Theorie wird auch das Gegenwartspolitische, das unmittelbar Empirische, ins Transzendentale umgewandelt. So ist das theoretisch Transzendentale oft mit sehr konkreten, empirisch diabolischen Stellungnahmen kontaminiert. Mit keinem chirurgischen Eingriff kann man die beiden Ebenen von­einander scheiden.

Man kann zwar feststellen, dass dieses Buch Lenin und der Partei missfiel, dass Lukács wegen seiner angeblichen »ideologischen Fehler« freiwillig oder unfreiwillig Selbstkritik üben musste, und kann mit diesen Gedanken den Mann Lukács freisprechen, doch nicht das Buch. Mit seinem späten selbstkritischen Vorwort hat Lukács das Problem, das ich mit diesem Buch habe, eher vertieft als gemildert.

Viele, die den philosophischen Kern dieses Buches schätzen, experimentieren auch mit der Rettung, der Rechtfertigung seiner politischen Botschaft. Einige sprechen (auch in diesem Band) über die gute Zeitdiagnose der Welt, die wir hinter uns gelassen haben, über eine Geschichte, die ganz anders ablief, als es in diesem Werk angedeutet ist. Andere spielen mit dem Gedanken, dass die Botschaft des Buches heute wieder einmal aktuell sei, obwohl es mit unserer empirischen Realität überhaupt nichts zu tun hat. Diskussionen über Lukács’ Begriffe wie Verdinglichung, Entfremdung, Fetischismus bleiben mit Recht auf der Tagesordnung, falls wir – zumindest für uns selbst – klarstellen, was unser Referent ist.

Eine Philosophie wird weder durch die empirische Geschichte noch durch neue Philosophien falsifiziert. Doch politische Ideologien, besonders wenn sie Millionen Leichen »produzieren«, sollten tief begraben werden. Es gibt kein weltgeschichtliches Tribunal, um Philosophien zu richten, doch die totalitäre Politik des 20. Jahrhunderts ist gerichtet. Was übermorgen passieren wird, wissen wir nicht. Verantwortlich bleiben wir doch. Auch unsere Interpretationen sind nicht unschuldig. In der Philosophie hingegen bleiben wir doch – relativ – frei.

Anmerkungen

1 Lukács, Georg, Mein Weg zu Marx, in: ders., Autobiographische Texte und Gespräche, Georg Lukács Werke, Bd.18, Bielefeld 2005, S.37–40.

2 Vajda, Mihály, Physis, in: ders., A posztmodern Heidegger, Budapest 1993, S.72–87.

Anmerkungen

1 Lukács, Georg, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Neuwied/Darmstadt 1970 (Sonderausgabe). Zitiert wird im Folgenden aus dieser Neuauflage unter der Sigle GuK; sie entspricht Lukács, Georg, Geschichte und Klassenbewußtsein. Werke Bd.2: Frühschriften II. Neuwied/Darmstadt 1968; beide textgleich mit der Erstauflage von 1923 des Berliner Malik-Verlags (die Seitenzahl in der Klammer bezieht sich auf diese Originalausgabe).

2 Lukács’ Marxismus, zumindest der des jungen Lukács von »Geschichte und Klassenbewußtsein«, wurde bereits zu seiner Zeit von Karl Mannheim als »Neomarxismus« bezeichnet, vgl. ders., Utopie und Ideologie, Bonn 1929, S.29.

3 Lukács, Georg, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in: GuK, S.170–355 (94–228).

4 Der Marxismus-Leninismus hatte Lukács vor allem »Idealismus« vorgeworfen, vgl. dazu die Beiträge des Sammelbandes: Ahrweiler, Georg (Hg.), Betr. Lukács. Dialektik zwischen Idealismus und Proletariat, Köln 1978. In dieselbe Richtung gingen bereits die Kritiken an Lukács von Iwan Luppol, Grigori Sinowjew, László Rudas u. Abram Deborin, veröffentlicht als Kapitel II: Stellungnahmen des Kommunismus, in: (o. Hg.): Geschichte und Klassenbewußtsein heute, Bd.2: Beiträge 1923–1969, Frankfurt am Main 1977, S.63–162 (Luppol wird hier fälschlich »Luppov« geschrieben). Im selben Band sind zudem »Stellungnahmen der Sozialdemokratie« sowie des »westlichen Marxismus« versammelt. [Dieser Band ist ein Nachdruck der von Furio Cerrutti, Detlev Claussen, Hans-Jürgen Krahl, Oskar Negt und Alfred Schmidt herausgegebenen Diskussion Geschichte und Klassenbewusstsein heute. Diskussion und Dokumentation (Schwarze Reihe 12), Amsterdam 1971, Anm. d. Hg.].

5 Vgl. dazu Dossier: Geschichte und Klassenbewußtsein heute, Teil 1, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 3 (1998/​99), S.13–89 u. Dossier: Geschichte und Klassenbewußtsein heute, Teil 2, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 4 (2000) S.9–129; speziell zur Bedeutung von Lukács für die Kritische Theorie vgl. Dossier: Georg Lukács und Theodor W. Adorno, Teil 1, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 8 (2004), S.65–180; Dossier: Georg Lukács und Theodor W. Adorno, Teil 2, in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 9 (2005), S.55–189.

6 Lukács hat sich mehrfach einer Selbstkritik unterzogen und besonders den »Idealismus« seiner frühen Schriften kritisiert. Die erste öffentliche Selbstkritik äußerte er in einer Erklärung 1929 (die er 1956 revidierte; sie betraf allerdings nicht »Geschichte und Klassenbewußtsein«, sondern seine »Blum-Thesen«). 1933 kritisierte er in einem Beitrag zum internationalen Schriftstellerkongress u.a. seinen »ultralinks-subjektivistischen Aktionismus« (Lukács, Georg, Mein Weg zu Marx, in: ders., Schriften zur Ideologie und Politik. Werkauswahl, Bd.2. Neuwied/Berlin 1967, S.323–329, Zitat S.327). 1934 verfasste er in ­einem Vortrag dann die erste Selbstkritik, die sich explizit auf »Geschichte und Klassenbewußtsein« bezog (der Vortrag erschien auf Deutsch unter dem Titel Die Bedeutung von ›Materialismus und Empirio­kritizismus‹ für die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien. Selbstkritik zu ›Geschichte und Klassenbewußtsein‹, in: Geschichte und Klassenbewußtsein heute, Bd.2, S.253–262). 1967 verfasste er im Vorwort zur Neuauflage von »Geschichte und Klassenbewußtsein« schließlich erneut eine umfassende Selbstkritik. Es gibt allerdings auch die zu Lebzeiten unveröffentlichte Studie »Chvostismus und Dialektik«, die Lukács in den Jahren 1925/26 schrieb und die er wohl für verloren hielt (veröffentlicht zuerst 1996 auf Ungarisch, auf Deutsch ist bislang nur der erste Teil der Chvostismus-Studie veröffentlicht in: Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft 3 [1998/99], S.119–159; die Gesamtveröffentlichung ist für den 3. Band der Werkausgabe geplant). Die Studie gilt als »Verteidigung der Ideen von Geschichte und Klassenbewußtsein« und ist unter diesem neu hinzugefügten Obertitel in englischer Übersetzung und einem Nachwort von Žižek erschienen, vgl. Lukács, Georg, A Defence of History and Class Consciousness. London 2002. Lukács selbst erklärt am Anfang der Studie, dass sie keine Verteidigung von »Geschichte und Klassenbewußtsein« sei, aber eine Art Gegenangriff auf die daran geübte Kritik.

7 Heidegger, Martin, Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis) (Gesamtausgabe Bd.65), Frankfurt am Main 1989.

8 Vgl. Badiou, Alain, Das Sein und das Ereignis, Zürich/Berlin 2005; zur Verbindung von Universalismus und Singularität im Ereignis vgl. ders., Paulus. Die Begründung des Universalismus, Zürich/Berlin 2002; zum Politischen des Ereignisses sowie zur Situation, zum Singulären und zur Entscheidung ders., Über Metapolitik, Zürich/Berlin 2003; ders., Ethik. Wien 2003; ders., Dritter Entwurf eines Manifestes für den Affirmationismus, Berlin 2007; ders., Wittgensteins Antiphilosophie, Berlin 2008. Zur Auseinandersetzung Žižeks mit Badious Begriff des Ereignisses vgl. Žižek, Slavoj, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, Teil II, S.171–333; ders., Auf verlorenem Posten, Frankfurt am Main 2009, bes. S.181–226; vgl. auch Badiou, Alain / Žižek, Slavoj, Philosophie und Aktualität. Ein Streitgespräch, Wien 2005. Eine gute ideengeschichtliche Zusammenfassung gibt Jay, Martin, Der Historismus und das Ereignis, in: Schmidt, Christian (Hg.), Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2013, S.183–218.

9 Weniger revolutionär Gestimmte thematisieren das Ereignis auch unter dem Titel Emergenz, vgl. Greve, Jens / Schnabel, Annette (Hg.), Emergenz. Zur Analyse und Erklärung komplexer Strukturen, Frankfurt am Main 2011.