Karl Heinz Brisch

Kindergartenalter

Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie

Klett-Cotta

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94830-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10593-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20200-7

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhalt

Dank

Vorwort

Einleitung

Teil 1 – Bindungspsychotherapie

Allgemeine Grundlagen einer Bindungspsychotherapie und bindungsbasierten Beratung

Fünf Phasen der Bindungspsychotherapie

Intervallbehandlung

Spezielle Grundlagen der Bindungspsychotherapie für Eltern mit Kindern im Kindergartenalter

Die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen der Eltern an ihre Kindergartenkinder

Teil 2 – Bindungsentwicklung im Kindergartenalter

Gesunde Entwicklung

Kinder mit bindungsvermeidenden und bindungsambivalenten unsicheren Bindungsentwicklungen und ihre Verhaltensweisen im Kindergartenalter

Kinder mit desorganisiertem Bindungsverhalten

Kinder mit Bindungsstörungen

Schutz- und Risikofaktoren

Die Bedeutung der Mutter und des Vaters sowie weiterer Bindungspersonen für Kinder im Kindergartenalter

Teil 3 – Behandlungsbeispiele

Exzessive Wutanfälle

Beispiel: Diagnostik und Therapie bei exzessiven Wutanfällen

Essstörungen

Beispiel: Ein Kind mit selektivem Essverhalten

Beispiel: Ein Kind mit Adipositas

Schlafstörungen

Beispiel: Beratung der Mutter eines Kindes mit vielen Alpträumen

Beispiel: Therapie eines Kindes mit Einschlafstörungen und Trennungsängsten

Spielstörungen

Beispiel: Ein Kind mit einer Spielstörung und drohender Mediensucht

Bindungsstörungen

Beispiel: Therapie eines adoptierten Kindergartenkindes mit promiskuitiver (indifferenter) Bindungsstörung

Emotionale Vernachlässigung

Beispiel: Ein Kindergartenkind mit Wachstums- und Entwicklungsverzögerung nach emotionaler Vernachlässigung

Gewalterfahrung

Beispiel: Ein Kindergartenkind nach Gewalterfahrung mit einer Bindungsstörung mit Hemmung des Bindungsverhaltens gegenüber seinen Eltern

Trennungsschwierigkeiten mit einer Bindungsstörung mit übersteigertem Bindungsverhalten

Beispiel: Generalisierte Angststörung der Mutter und Bindungsstörung des Kindes mit hyperaktiviertem Bindungssystem

Angst- und Panikstörungen nach akuten Trennungen

Beispiel: Ein Kindergartenkind mit Trennungsproblemen, Angst- und Panikanfällen nach der Scheidung der Eltern

Der Verlust von wichtigen Bindungspersonen

Beispiel: Reaktion eines Kindergartenkindes nach dem Verlust eines Elternteils

Beispiel: Verlust einer Erzieherin als weitere Bindungsperson nach Umstellung der Kindergartengruppe auf ein offenes pädagogisches Konzept

Psychisch kranke Eltern

Beispiel: Ein Kindergartenkind mit Symptomen von Angst- und Panikanfällen bei psychisch kranken Eltern

Gewalt in der Elternbeziehung und Kinder als Zeugen dieser Gewalt zwischen den Bindungspersonen

Beispiel: Miterleben von Gewalt zwischen den Eltern

Geschwisterrivalität

Beispiel: Ein Kindergartenkind mit extremer Ablehnung seines neugeborenen Geschwisters

Teil 4 – Prävention durch »B.A.S.E.® – Babywatching« im Kindergarten

Frühzeitige Feinfühligkeits- und Empathieschulung von Kindergartenkindern

Inhalte des Programms B.A.S.E.®

Ergebnisse einer Pilotstudie

Teil 5 – Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

Über den Autor

Dank

Ich danke allen Eltern und Kindern sowie Kolleginnen und Kollegen, durch die ich die verschiedensten Therapieerfahrungen machen konnte, denn diese sind in die Fallgeschichten dieses Buches eingeflossen. Ohne diese gesammelten klinischen Erfahrungen wäre es mir nicht möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben.

Dank des großen Engagements von Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta konnte auch dieser dritte Band der Reihe »Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie« rasch beim Verlag realisiert werden. Durch das große Engagement von Birgit Vogel, die wiederum schnell und zuverlässig aus meinen Diktaten das erste Manuskript zu diesem Buch erstellt hat, wäre diese Publikation nicht so rasch möglich gewesen. Ein besonderer Dank gilt Thomas Reichert, der in bewährter Weise wiederum das Redigieren des Manuskripts übernommen hat und dessen Rückmeldungen und Korrekturvorschläge dieses Buch wesentlich leichter lesbar gemacht haben.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist der dritte Band aus der Reihe »Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie«. Er fokussiert auf die Entwicklungszeit des Kindergartenalters. Zunächst werden wiederum die Grundlagen einer bindungsorientierten Psychotherapie ausführlich erläutert und die Besonderheiten für die Altersphase des dritten bis sechsten Lebensjahres dargestellt. An vielen Fallbeispielen wird aufgezeigt, wie die unterschiedlichsten Symptome der Kinder mit den Lebensgeschichten und den frühen Bindungserfahrungen der Eltern sowie weiterer Bindungspersonen und mit deren Kindheit zusammenhängen. Die bindungsorientierte Psychotherapie und Beratung sowie die vielfältigen methodischen Ansätze, einschließlich Traumatherapie, werden anhand von vielen Fallbeispielen nachvollziehbar dargestellt.

Ein besonderer Fokus der Behandlungsbeispiele liegt auf der Problematik, die entsteht, wenn die Eltern durch ihre eigenen psychischen Schwierigkeiten, psychiatrischen Erkrankungen, ja sogar Gewalttätigkeit in der Partnerschaft die Entwicklung ihrer Kinder gefährden. Hierbei spielen besonders die früheren Erfahrungen der Kinder mit ihren Bindungspersonen eine große Rolle, deren Auswirkungen sich teilweise erst im Kindergartenalter mit der Entwicklung von Symptomen zeigen. Die Beispiele sollen verdeutlichen, wie Störungen in dieser Zeit entstehen können, aber auch, wie durch sehr zeitige Interventionen, etwa eine Kinderspieltherapie, die jeweils auch die Beratung und teilweise sogar die Therapie der Eltern – mit Fokus auf ihrer Lebensgeschichte – mit einschließt, eine Veränderung für die Kinder, aber auch für die Eltern erreicht werden kann.1

Dieser Band richtet sich an alle, die mit Eltern und Kindergartenkindern arbeiten und diese auf ihrem Entwicklungsweg begleiten, wie etwa Kinderärzte, Allgemeinärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychiater und Psychotherapeuten, Krankenschwestern und Pfleger, Psychologen, Berater, Sozialarbeiter, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Jugendamtes sowie der Sozialdienste, Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten und Seelsorger sowie letztlich auch an Eltern. Ich hoffe, dass all diese Zielgruppen von den im Buch beschriebenen theoretischen Grundlagen sowie den Fallbeispielen in ihrer täglichen Arbeit profitieren können und dass viele sich angesprochen fühlen, das Präventionsprogramm »B.A.S.E.®  Babywatching« in ihren jeweiligen Einrichtungen einzuführen.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Die Kindergartenjahre, mit denen sich dieses Buch beschäftigt – das Alter von etwa drei bis sechs Jahre –, sind für die Entwicklung eines Kindes von großer Bedeutung, weil in dieser Zeit deutlich wird, wie gut das psychische Fundament ist, das in den vorausgegangenen Jahren bei ihnen angelegt wurde. Auf dem Boden einer sicheren Bindung konnte im besten Fall sowohl eine gesunde motorische, kognitive, soziale als auch eine gesunde emotionale Entwicklung des Kindes gelingen. Die vorausgegangene Phase des Säuglings- und Kleinkindalters konnte von vielfältigen Schwierigkeiten und Störungen begleitet sein (s. Band 2 der Reihe »Bindungspsychotherapie«), deren Auswirkungen erst im Kindergartenalter zu erkennen sind. Besonders dann, wenn das Kind jetzt unvorhergesehenen psychischen Belastungen ausgesetzt wird, zeigt sich, wie stabil – oder instabil – das früh angelegte Bindungsfundament ist und wie unterschiedlich – je nach früher Entwicklung – sich die gegebenenfalls erforderliche Behandlung gestaltet und frühere Defizite ausgeglichen werden können.

Im ersten Teil dieses Buchs werden die allgemeinen Grundlagen einer Bindungspsychotherapie sowie die spezielle Form der Bindungspsychotherapie für Eltern und Kinder im Kindergartenalter beschrieben. Im zweiten Teil gehe ich auf die Besonderheiten der Bindungsentwicklung im Kindergartenalter ein. Nach einer einführenden Darstellung einer gesunden Entwicklung beschreibe ich Schutz- und Risikofaktoren. Diese können in der einen oder anderen Weise die Bindungsentwicklung entweder unterstützen oder auch komplizieren und insofern beeinflussen, ob das Kind und die Eltern womöglich eine bindungsorientierte Hilfestellung und Therapie benötigen. Das Vorgehen in einer solchen Therapie wird im anschließenden dritten Teil an den verschiedenen Therapiebeispielen verdeutlicht.

In diesem Teil werden entsprechend aus bindungstheoretischer Sicht anhand von Beispielen verschiedenste Komplikationen und ihre bindungsorientierte Behandlung beschrieben. Hierbei wird auch auf Erfahrungen aus der Geschichte der Eltern, die als Risikofaktoren die Entwicklung des Kindes beeinflussen können, etwa auf Erfahrungen von Vernachlässigung, Gewalt sowie auch psychiatrische Erkrankungen, Bezug genommen. Die Fallbeispiele zeigen auch, welche Bedeutung all dies für die Entwicklung des Kindes hat.

Themen in den Beispielen sind etwa Trennungsängste, Aggressivität, Geschwisterrivalität, Bindungsstörungen, Verluste von Bindungspersonen, die Eingewöhnung in den Kindergarten sowie weitere Störungen im Kontext von außerfamiliärer Betreuung. Ebenso werden die bindungsorientierte Psychodynamik der Symptomentwicklung sowie die Therapie bei Kindern mit Ess- und Schlafstörungen erläutert, nach Streit in der Elternbeziehung und Scheidung, nach emotionaler Vernachlässigung des Kindes oder nach der Erfahrung sexueller Gewalt. Dies alles sind sehr relevante Themen, mit denen Eltern, Erzieherinnen, Therapeuten und Pädagogen sowie Kinderärzte heute konfrontiert sind und die sie sehr beschäftigen. In den Therapiebeispielen schildere ich auch jeweils die bindungsorientierte Begleitung, Beratung und Therapie der Eltern, denn ohne entsprechende »Elternarbeit« ist die Behandlung der Kindergartenkinder kaum möglich.

Im vierten Teil beschreibe ich die Möglichkeiten einer Prävention in Bezug auf aggressive und ängstliche Verhaltensstörungen mit dem von mir entwickelten Programm B.A.S.E.® – Babywatching, das inzwischen in vielen Kindergärten in den verschiedensten Ländern der Welt mit Erfolg eingesetzt wird (vgl. www.base-babywatching.de). Das Buch schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick, der bereits auf die bindungsorientierte Arbeit mit Eltern und Kindern im Grundschulalter hinweist, die in einem weiteren Band dieser Reihe zur Bindungspsychotherapie beschrieben wird.

TEIL 1
Bindungspsychotherapie

Allgemeine Grundlagen einer Bindungspsychotherapie und bindungsbasierten Beratung

Eine bindungsbasierte Beratung und Therapie – im Folgenden auch kurz Bindungspsychotherapie genannt – ist keine eigenständige Therapiemethode. Vielmehr geht es darum, eine bindungsorientierte Sichtweise in Diagnostik und Behandlung aufzunehmen. Sie kann mit sehr unterschiedlichen Therapieschulen und Methoden kombiniert und in sie integriert werden.2

Als grundsätzliche Voraussetzung, um mit einer bindungsbasierten Psychotherapie beginnen zu können, gilt, dass ein sicherer äußerer Rahmen gegeben sein muss. Zunächst sollten äußere Stressoren – besonders sowohl soziale Stressoren wie Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungslosigkeit, aber auch Stressoren durch nahe Bindungs- und Beziehungspersonen – so weit wie möglich reduziert werden. Weiterhin ist eine Grundvoraussetzung, dass ein sicherer »innerer Rahmen« gegeben ist. Damit ist gemeint, dass die betroffenen Klienten zu einer ausreichenden Stress- und Affektregulation im Alltag fähig sind. Hierzu sind eine gewisse emotionale Sicherheit und ein gewisses Maß an Stabilisierung notwendig.

Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so ist eher an eine stationäre denn an eine ambulante Beratung oder Bindungspsychotherapie zu denken. Ein sicherer äußerer wie innerer Rahmen als Grundvoraussetzung für die Psychotherapie ist immer so frühzeitig und so langfristig anzustreben wie irgend möglich (Brisch 2015; Bowlby 2001; Holmes, 2002, 2006, 2012).

Ich beschreibe im Folgenden verschiedene Phasen der Bindungspsychotherapie.

Fünf Phasen der Bindungspsychotherapie

Phase 1: In der Anfangsphase ist es immer von großer Bedeutung, dass der Therapeut bzw. die Therapeutin einen sicheren emotionalen therapeutischen Bindungsrahmen herstellen kann. Bei den Klienten/Patienten gibt es die verschiedensten Bindungsstörungsmuster und auch Bindungsschwierigkeiten, wenn sie in der Anfangsphase mit dem Therapeuten einen therapeutischen Kontakt herstellen wollen. Hier ist es sehr wichtig, dass die Therapeuten die verschiedenen Muster der Bindung sowie auch der Bindungsstörungen kennen, um sich auf die bizarren Varianten der Interaktionsmuster und der Kontaktaufnahme einzustellen und dem Patienten dennoch die Möglichkeit zu geben, eine sichere Beziehung im Sinne einer therapeutischen Bindung herzustellen. Dies muss der Therapeut an erster Stelle leisten.

Wenn ein Patient – z. B. mit einem bindungsvermeidenden Muster – einen Termin, den er als dringlich bezeichnet und verabredet hat, nicht wahrnimmt, könnte ein Therapeut daraus schließen, dass er kein Interesse an der Therapie hat. Dies wäre aber ein Fehlschluss, da es bei bindungsvermeidenden Patienten nicht selten ist, dass sie zwar einen Therapiewunsch haben, gleichzeitig aber Therapietermine zu Anfang nur zögerlich, verspätet oder gar nicht wahrnehmen. Hier ist es erforderlich, dass der Therapeut im telefonischen Kontakt nachfragt und nicht gleich die Therapie daran scheitern lässt, dass der für den Erstkontakt vereinbarte Termin nicht wahrgenommen wurde.

Für die Herstellung einer therapeutischen Bindung ist es von großer Bedeutung, dass die Therapeuten mit maximaler therapeutischer Feinfühligkeit vorgehen. Dies heißt aber, dass sie die Fähigkeit hierzu vorher selbst durch entsprechende Ausbildung erworben haben müssen; es mag »Naturtalente« geben, die von Haus aus große Fähigkeiten zur therapeutischen Feinfühligkeit mitbringen, alle anderen Therapeuten müssen dies im Rahmen der Ausbildung anhand von entsprechenden Supervisionen, Feedbacks, Videotrainings und dergleichen lernen – andernfalls bestünde keine gute Voraussetzung, um eine sichere therapeutische Bindung herstellen zu können. Nach wie vor ist aber die Ausbildung in therapeutischer Feinfühligkeit nicht Kernbestandteil jeder therapeutischen Ausbildung – das gilt für alle therapeutischen Schulen.

Phase 2: Wenn sich der Patient in der therapeutischen Beziehung langsam sicherer fühlt, wird er beginnen, seine Lebensgeschichte und seine aktuellen Konflikte und Probleme etwas mehr zu explorieren, sprich: uns zu berichten. Es ist wichtig zu wissen, dass zwischen sich entwickelnder Bindungssicherheit und beginnender Exploration ein Gleichgewicht bzw. eine wechselseitige Abhängigkeit besteht – das heißt konkret: Wenn die Bindungssicherheit wächst, der Patient sich sicherer fühlt, wird automatisch die Explorationsfreude und -bereitschaft aktiviert. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn der Patient in der Therapie Angst bekommt oder wir als Therapeuten ihm durch unsere Haltung, Gestik, Mimik, Art der Intervention Angst machen, wird er automatisch seine Explorationsfähigkeit und damit auch den Bericht über seine aktuellen Schwierigkeiten und Probleme oder seine Lebensgeschichte etwas mehr einschränken.

Von besonderer Bedeutung für die bindungstherapeutische Arbeit sind Trennungserfahrungen, Verluste sowie traumatische Erfahrungen, weil diese das Bindungssystem gemäß dem Ansatz der Bindungstheorie am meisten aktivieren. Die Exploration soll in der Therapie mehr an bindungsrelevanten Themen »entlanggehen« und diese auch fokussieren und weniger konfliktzentriert arbeiten. Es geht also weniger um Konflikte zwischen Wunsch und Angst, die sich aus verschiedenen lebensgeschichtlichen Perspektiven und aus verschiedenen entwicklungspsychologischen Phasen ergeben haben können, sondern um eine Bindungsanamnese, die speziell auf bindungsrelevante Themen fokussiert. Das Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI; vgl. Main et al. 2003; George et al., 1984; Gloger-Tippelt 1997) ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, eine Bindungsanamnese sehr strukturiert durchzuführen. (Die Fragen des AAI sind auf S. 319  324 in Brisch 2015 nachzulesen.) In der Arbeit mit Schwangeren, werdenden Vätern und jungen Eltern kann das Bindungsinterview bei der Frage danach, ob die Betreffenden wichtige Menschen verloren haben, noch um die Frage nach verstorbenen Kindern – auch etwa Schwangerschaftsunterbrechungen, Fehl- und Totgeburten – ergänzt werden.

Phase 3: Der Patient macht in der Beziehung zum Therapeuten neue Bindungserfahrungen, erlebt entsprechend Sicherheit und emotionale Unterstützung, womit auch die therapeutische Bindungsbeziehung sich stabilisiert und wächst; gleichzeitig wird er aufgrund erster Enttäuschungen und Irritationen in der Bindungssicherheit in der Übertragung beginnen, alte Erfahrungen von Verlusten und Trennungen und stressvolle Erfahrungen auf den Therapeuten zu projizieren. Das heißt, es kommt zu einer Bindungsübertragung in der Therapie; dies bedeutet, dass der Patient seine Bindungswünsche und -ängste auf den Therapeuten überträgt und auch seine bisherigen Bindungserfahrungen – z. B. Bindungstraumatisierungen in der Beziehung mit frühen Bindungspersonen – in der Beziehung mit dem Therapeuten aktivieren und inszenieren wird. Besonders am Anfang und am Ende der Stunde kann das Thema »Trennung« relevant werden, bewirkt durch mit dem Setting verbundene Trennungen wie eben das Ende der Stunde, vorhergesehene Therapieunterbrechungen etwa durch Urlaube, unvorhergesehene Unterbrechungen z. B. durch Krankheiten des Therapeuten. All diese Trennungen können das Bindungssystem des Klienten »erschüttern«, etwa wenn der Patient traumatische Trennungserfahrungen erlebt hat, oder »stressen«, so dass er hierdurch in der Übertragung seine bindungsrelevanten Erfahrungen neu zeigen und für den Therapeuten auch offenlegen kann. Hier ist es wichtig, dass der Therapeut diese Inszenierung der Bindungsübertragung versteht, die in der Regel mit Angst, Wut, Enttäuschung und Hoffnung auf mehr Sicherheit und Stabilität verbunden ist.

Gleichzeitig werden auch Realtraumatisierungen aus der Kindheit oder der Vergangenheit des Patienten zum Thema werden, da er durch die Trennungserfahrungen aus der Therapie in der Regel, wie wir sagen, »getriggert« wird, so dass er alte, ungelöste traumatische Erfahrungen jetzt plötzlich wieder intensiver mit allen damit verbundenen Gefühlen wahrnimmt. (»Trigger« ist im Amerikanischen der Abzug am Gewehr. Wenn dieser bis zu einem Druckpunkt und schließlich darüber hinaus gespannt wird, dann löst sich beim Überschreiten des Druckpunktes die Kugel, der Schuss geht los und lässt sich nicht mehr aufhalten oder zurückhalten; ähnlich ist es mit alten unverarbeiteten Affekten: Werden sie durch andere Reize aus der Erinnerung wachgerufen, kommen sie immer mehr an die Oberfläche des affektiven Erlebens. Steigt der affektive Druck über den »Druckpunkt« an, dann kommt es zu einer plötzlichen affektiven Überflutung und einem Ausbrechen der Affekte; diese können weder »zurückgeholt« noch kontrolliert werden.)

Solche »Triggerungen« von früheren Verlusten und Trennungserfahrungen oder traumatischen Erfahrungen lassen sich erfahrungsgemäß nicht vermeiden; sie sind auch durchaus erwünscht, wenn erst einmal eine stabile therapeutische Bindungsbeziehung etabliert ist. Denn dann können die Erfahrungen mit eigenen unverarbeiteten Affekten in der therapeutischen Bindungsbeziehung gehalten, neu in einer geschützten sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung prozessiert und verarbeitet und somit auch integriert werden. Jetzt hat der Klient – im Unterschied zu der früheren traumatischen Situation – eine therapeutische Bindungsperson zur Seite, so dass er sich nicht mehr vor den heftigen Affekten fürchten muss. Es wird nun möglich, alte traumatische Erfahrungen entsprechend zu prozessieren. Hierbei können weitere therapeutische Methoden, wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) (Brisch 2012 a, b; Hofmann 2014; Hofmann & Besser 2003) und Screentechnik (Brisch 2004, 2006), Anwendung finden.

Es können viele therapeutische Methoden, auch kreative Methoden wie Kunst-, Musik- und Bewegungstherapie, angewandt werden, um Affekte, die noch nicht verarbeitet sind, zu integrieren. Grundsätzlich ist zu bemerken: Bei den alten unverarbeiteten Bindungstraumatisierungen, die der Klient – mit den entsprechenden seelischen Wunden – überlebt und überstanden hat, besteht das größte Problem darin, dass die mit diesen Erfahrungen verbundenen Affekte abgespalten oder dissoziiert wurden. In der therapeutischen Beziehung können diese Affekte mit den entsprechenden Erfahrungen wiederbelebt und aktiviert werden, z. B. auch durch die Bindungsübertragung. Aufgrund dieser Aktivierung wird es jetzt möglich, auf dem Boden einer hilfreichen, realen, sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung die alten unverarbeiteten Affekte erneut zu verarbeiten und auch mit den entsprechenden Geschichten bzw. Narrativen der Erfahrung zu verbinden, so dass es zu einer Integration des Erlebten kommen kann.

Phase 4: Wenn mehr und mehr solcher alten affektiven Erfahrungen positiv verarbeitet und integriert werden können, hat der Patient (oder Klient) in der Regel mit seinen Affekten mehr »Luft« zum »Atmen und Handeln« und mehr Möglichkeiten zu einer Veränderung seiner Realbeziehung. In der Regel berichten die Patienten dann, dass sie auch außerhalb der Therapie neue Erfahrungen mit Personen machen konnten. Gleichzeitig beginnt eine intensive Phase der Trauerarbeit. Meist können die Patienten jetzt realisieren, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie diese oder jene traumatische Trennungs- und Verlusterfahrung nicht gemacht hätten.

Am Ende der Therapie wird es möglich zu sehen, dass der Patient seine ursprüngliche Bindungsrepräsentation – diese kann vermeidend, ambivalent oder auch desorganisiert sein – verändert hat und er in der therapeutischen Beziehung vielleicht zum ersten Mal ein inneres Gefühl von emotionaler Sicherheit erlebt und integriert sowie auch »emotional abgespeichert« hat. Wir sprechen dann von einer erworbenen Bindungssicherheit (»earned secure«; vgl. Main 1995) – von einer Sicherheit, die durch den therapeutischen Prozess erst auf den Weg gebracht wurde, sprich: durch die Therapie erst erworben oder gewonnen werden konnte.

In der Phase der Trauerarbeit kann es den Patienten phasenweise noch mal sehr schlecht gehen; sie sind depressiv, suizidal und hadern teilweise mit ihrem Schicksal, dass sie etwa in ihrer Kindheit durch solche Höllenqualen und schlimmen Erfahrungen hindurchgehen mussten und ihnen dadurch so viele Möglichkeiten und Entwicklungen in ihrem Leben versperrt geblieben sind. Es ist wichtig, dass diese Phase ausreichend bearbeitet und in der therapeutischen Beziehung erlebt werden kann, d. h. es ist genügend Raum für die Trauerarbeit erforderlich. Wenn ein Klient viele bindungsrelevante Trennungs- und Verlusterfahrungen durchgemacht hat, gibt es genügend Grund, auch hierüber real zu trauern. Oftmals sind die heftigen Gefühle von Schmerz und Trauer bisher noch nie in eine Beziehung eingebracht worden, so dass jetzt, in der therapeutischen Bindungsbeziehung, erstmals auch Trost, Unterstützung, Verständnis, Anerkennung des Leids und liebevolle Begleitung im Trauern erfahren werden können. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was die Patienten oft vorher erlebt haben: nämlich Verleugnung des Schmerzes, reale Traumatisierung, keine Anerkennung der schmerzvollen und leidvollen Erfahrungen, die vielmehr bagatellisiert oder als solche verleugnet wurden.

Phase 5: Wenn mehr und mehr traumatisches Material und bindungsaffektgeladene Erfahrungen verarbeitet wurden, kann der Patient zunehmend außerhalb der Therapie explorative neue Wege gehen, sich auf neue Beziehungen, aber auch auf neue berufliche Aktivitäten und andere Weisen der explorativen Erkundung des Lebens einlassen. Zum ersten Mal kann er über einen Abschied von der Therapie nachdenken, gleichzeitig ist diese Phase dann aber auch von Ängsten im Hinblick darauf geprägt, wie der Patient in der Lage sein wird, ohne die therapeutische Unterstützung und die Sicherheit der Therapie den Alltag zu leben und zu gestalten.

Intervallbehandlung

Aus diesem Grunde biete ich den Patienten immer wieder an, dass sie jederzeit in die Therapie zurückkehren können, wenn sie erneut Angst haben oder unvorhersehbare Dinge geschehen oder wenn sie feststellen sollten, dass der Schritt der Ablösung und Trennung von der Therapie und der Abschied zu früh erfolgt sind. Wenn die therapeutische Bindungsbeziehung von Sicherheit und Schutz geprägt war, werden Patienten immer wieder auf die therapeutische Beziehung zurückgreifen, wenn sie zu späteren Zeiten in Not, Angst und Schrecken geraten und ihnen diese Empfindungen so bedrohlich erscheinen, dass sie glauben, dies nicht alleine bewältigen zu können. Oftmals sind die Behandlungsphasen dann kürzer. Solche erneuten Kurzbehandlungen bezeichne ich dann als »Intervallbehandlungen«.

Es ist selbstverständlich, dass der Patient in solchen Fällen auf die sichere emotionale therapeutische Beziehung der früheren Therapie zurückgreifen kann, da die therapeutische Bindung in der Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient mit dem Abschied am Ende der ersten Therapie nicht aufgelöst wird. Vielmehr nimmt der Patient die innere sichere Repräsentation aus der therapeutischen Beziehung mit in sein Alltagsleben hinein und kann dann auch bei schwierigen, komplexen, Angst machenden Situationen auf diese zurückgreifen, ohne dass er den Therapeuten real aufsuchen oder überhaupt kontaktieren muss. Wenn er die Situation aber nicht bewältigen kann und sie ihm als sehr stressvoll erscheint, ist es eine wichtige Erfahrung und Information für den Patienten, dass er sich dann jederzeit wieder bei seiner »therapeutischen sicheren Basis« melden und an den vorigen therapeutischen Prozess anknüpfen kann.

Da die gesamte Vorgeschichte des Patienten mit seinen spezifischen Verletzungen bekannt ist, können solche therapeutischen Intervallbehandlungen in der Regel ohne größere Verzögerung und »Anwärmphase« beginnen. Es ist eine Erfahrung, die ich immer wieder mache, dass Patienten Platz nehmen und auch nach Jahren in der Therapie fortfahren, als ob sie gestern die letzte Stunde gehabt hätten (Bowlby 1995; Brisch 2015).

Spezielle Grundlagen der Bindungspsychotherapie für Eltern mit Kindern im Kindergartenalter

Kinder haben in der Regel bereits bis zum Kindergartenalter ein inneres Arbeitsmodell von Bindung entwickelt. Dieses kann sicher, unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent sein oder sogar psychopathologisch, wenn es desorganisiert oder bindungsgestört ist. Je nach Ausbildung des kindlichen Arbeitsmodells und der zugehörigen Bindungsrepräsentation der Eltern gestaltet sich der bindungsorientierte Zugang zum Kind und seinen Symptomen unterschiedlich.

Eine besondere Herausforderung im Kindergartenalter stellen das – im Vergleich zu vorher – gesteigerte Erkundungsbedürfnis der Kinder sowie ihre verstärkte Freude an Bewegung und Aktivität dar. Sie wollen herumtollen und die Welt aktiv – und auf eigene Faust – kennenlernen, erkunden, »auseinandernehmen«, um zu erfahren, was die Welt der belebten und unbelebten Objekte »im Innersten zusammenhält« – oder eben das Smartphone, den Wecker oder die Eisenbahn. Gleichzeitig sind sie schon sehr in Beziehungen eingebunden, denn das Beziehungsnetz erweitert sich über die familiären Beziehungen hinaus zu den Erzieherinnen im Kindergarten, die nun zu Bindungspersonen werden, zu den Freundschaften mit Spielkameraden und anderen wichtigen Personen, etwa Pädagoginnen, die das Kinderturnen oder die musikalische Früherziehung anleiten. So viele Beziehungen müssen sie aufnehmen, auseinanderhalten, im Bindungssinne unterschiedlich einschätzen – etwa als »sicher« oder »bedrohlich« oder »Angst machend« –, zudem unterschiedliche Situationen bewältigen; es ist gar nicht so einfach, etwa in der Kindergartengruppe – bei oftmals großer Dynamik in den Gruppenprozessen – einen sicheren Platz zu finden. Wenn sie sich über die Eltern – ihre bisherige sichere Basis – hinaus auf weitere Bindungspersonen – etwa die Erzieherinnen im Kindergarten – einlassen können, erscheint dies nach außen als großer Autonomieschritt. Die »Kreise« der Welterkundung, die die Kinder in diesem Alter zwischen 3 und 6 Jahren ziehen, werden im besten Falle immer größer, bis sie etwa vielleicht im Kindergarten übernachten und zum ersten Mal nachts die Mutter oder den Vater nicht in greifbarer Nähe haben!

Was die Eltern betrifft, so werden bei ihnen, wenn ihre Kinder im Kindergartenalter sind, ganz andere Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit aktiviert, als wenn die Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter sind. Weil unsere frühesten Erfahrungen, an die wir uns erinnern können, oft aus der Kindergartenzeit stammen, können Eltern sich an das, was sie selbst in diesem Alter erlebt haben, eventuell erinnern, es ist »bewusstseinsnäher«. Die Erfahrungen vor dem zweiten, dritten Lebensjahr stammen aus dem vorsprachlichen Bereich und unterliegen häufig einer frühkindlichen Amnesie. Wenn die Eltern selbst im Kindergartenalter Erfahrungen von Einsamkeit, Trennung, Vernachlässigung, Gewalt oder andere traumatische Erfahrungen durchlebt haben, wird für sie die Eingewöhnung ihres eigenen Kindes in den Kindergarten vermutlich besonders stressvoll sein. Dasselbe gilt für weitere Erfahrungen, die ihr Kind in dieser Zeit macht.

Eltern, die selbst bindungssicher sind und die auch bindungssichere Kinder haben, werden die Eingewöhnung in den Kindergarten feinfühlig begleiten und ihr Kind dabei unterstützen, dass es zu einer weiteren Person – der Erzieherin – eine sichere emotionale Basis aufbauen kann, so dass es sich an diese Erzieherin wenden kann, wenn es im Kindergarten großen Stress, Angst oder auch Bedrohung erlebt. Solche Eltern sehen wir in der Kindertherapie oder in der Beratung selten, da sie ihrem Kind bei größeren Sorgen, Gefahren oder anderweitigen Aktivierungen des Bindungssystems als sichere Bindungspersonen zur Seite stehen. Das Kind wird sich in solchen Fällen auch unmittelbar an sie wenden. Gibt es jedoch traumatische Geschehnisse in einer Familie – wie etwa der Verlust einer Bindungsperson (s. die Beispiele im entsprechenden Abschnitt in Teil 3) –, so werden sich die Eltern im günstigen Fall sehr rasch um eine Beratung und Psychotherapie ihres Kindes kümmern. Sie können ihr Kind dabei in der Regel gut unterstützen und begleiten. Wenn sie sich aktiv an der Elternarbeit beteiligen, tun sie etwas für sich und helfen damit zugleich auch ihrem Kind.

Das Kindergartenalter ist üblicherweise die Zeit, in der mit einer Kinderspieltherapie gearbeitet werden kann. In der Regel freuen sich die Kinder auf das Kinderspieltherapiezimmer, erkunden neugierig die ihnen fremden, aber für sie doch interessanten Spielsachen, so dass sie mit der Zeit beginnen, im Rahmen der Spieltherapie ihre inneren Welten und Konflikte zu spielen, zu inszenieren, im Rollenspiel zu zeigen; sie bringen aber auch in der Art ihrer Spielhemmung zum Ausdruck, welches ihre großen Konflikte, Ängste und Schwierigkeiten sind. Begleitend dazu findet eine intensive Elternarbeit statt.

Wie sich der Beginn der Kinderspieltherapie und ihre Entwicklung, aber auch die Elternarbeit bzw. die Elternberatung gestalten, das hängt vom Bindungssystem des Kindes bzw. der Eltern ab. Ist das Kind z. B. unsicher-bindungsvermeidend, so wird es sich in der Kinderspieltherapie zunächst eher an Regelspielen – wie etwa dem Spiel mit Quartettkarten oder Würfelspielen – »festhalten«, Gefühle und Affekte vermeiden, wenig inszenieren, im Spiel sehr zurückhaltend sein, sich mit einem Spiel oft über Stunden beschäftigen. Spielt ein Kind z. B. stundenlang mit einem Regelspiel, so verzweifelt der Therapeut oder die Therapeutin oft mehr und mehr, weil er oder sie nicht spüren und erleben kann, was das Kind im Inneren bewegt und beschäftigt – außer eben Verzweiflung und Angst, welche der Therapeut bzw. die Therapeutin in der Gegenübertragung erleben. In solchen Fällen ist also eine typische »langatmige« Herangehensweise erforderlich, die dem Kind über kleine feinfühlige Interaktionen mit der Zeit ermöglicht, so viel Sicherheit zu entwickeln, dass es beginnen kann, etwas von seinen angstmachenden Affekten, die abgespalten und vermieden sind, zu zeigen. Ein solches Kind hat – indem es keine Antwort bekam, bedroht oder zurückgewiesen wurde – sehr früh in der Bindungsbeziehung zu seinen Eltern oder anderen Bindungspersonen gelernt, dass es Ängste und andere Affekte weder zeigen noch darstellen oder im Spiel zum Ausdruck bringen darf. Es hat sehr früh gelernt, sich irgendwie selbst zu helfen und nicht andere etwa über das Spiel um Hilfe zu bitten, indem es dort seine innere Welt darstellt.

Sind die Eltern auch – wie ihr Kind – bindungsvermeidend, wird der Therapeut vermutlich große Schwierigkeiten haben, mit ihnen Termine zu vereinbaren. Die Eltern werden Termine kurzfristig absagen, sie werden zu spät kommen, über viele Verhaltensregeln sprechen, die ihr Kind einzuhalten lernen solle, sehr darauf drängen, dass sie Ratschläge bekommen, dass das Kind möglichst rasch behandelt und wieder funktionsfähig gemacht wird. Auch der »Gehorsam des Kindes gegenüber seinen Eltern« ist ein großes Thema sowie die Angst vor einem »tyrannischen Kind«. Es ist – beim Kind wie bei den Eltern  faszinierend, wie sehr die Affekte abgespalten sind und es um Objektives, Machbarkeit, Reparatur und Reglement geht. Die Eltern haben dabei auch sehr klare Vorstellungen davon, wie ihr Kind funktionieren und wie es sich verhalten soll. Seine Symptome sollen einfach »abgeschaltet« oder »weggemacht« werden. Versuche, mit den Eltern gemeinsam zu verstehen und das Rätsel zu lösen, warum das Kind sich so oder anders verhält, warum es diese Symptome entwickelt hat, welche symbolische Bedeutung in diesen zum Ausdruck kommt, werden von den Eltern abgelehnt. Vielmehr wollen sie Handlungsanweisungen und gute Ratschläge, damit sie ihrem Kind helfen können, im Kindergarten besser »zu funktionieren«. Die Orientierung der Eltern verläuft sehr auf der funktionalen, weniger auf der Gefühlsebene. Je mehr und je rascher die Therapeutin oder der Therapeut auch in den Elterngesprächen anfängt, über Gefühle zu sprechen, und hierauf einen Fokus legt, umso mehr müssen die Eltern abwehren, sich zurückziehen, Termine absagen, bis dahin, dass sie die Therapie manchmal ganz abbrechen.

Es erfordert also viel Geduld, mit bindungsvermeidenden Eltern ein therapeutisches Bündnis im Sinne einer sicheren emotionalen therapeutischen Bindung aufzubauen. Ganz genauso verhält es sich beim Kind, das seine Gefühle – wie beschrieben – ebenso abgespalten hat, seine Not nicht zum Ausdruck bringt, sondern über Reglements oder Regelspiele versucht, sich in der Spieltherapie »über Wasser zu halten«. Konzentriert sich die Therapeutin oder der Therpeut hier zu schnell auf Gefühle, wird sich das Kind noch mehr zurückziehen, darüber klagen, dass die Spieltherapie langweilig sei, oder sich vielleicht sogar weigern, zu dieser zu kommen. Man kann Dreijährige nicht dazu zwingen, einen Spieltherapieraum zu betreten, sich dort über ihre Gefühle zu äußern und diese im Spiel zu zeigen, wenn sie dies nicht freiwillig tun wollen.

Es ist also allergrößte Feinfühligkeit der Therapeutin oder des Therapeuten erforderlich, der diese vermeidende Abwehrstruktur des Kindes und seine Bindungsangst genau erkennen muss und gegenüber dem Kind im Spielzimmer zugleich Distanz wahren und in Kontakt bleiben muss. Zeigt das Kind etwas von seiner Not, ist es wichtig, auf diese einzugehen, aber ebenso mit einer größeren Distanz und nicht mit überschwenglicher Freude, weil das Kind endlich etwas von seinen Gefühlen zeigt; dies würde ihm wieder zu viel Angst machen und es erneut eher in den Rückzug drängen.

Ist der Therapeut oder die Therapeutin selbst eher bindungsvermeidend, so kann eine solche Spieltherapie sehr kühl und mit wenigen Affekten über viele Stunden »dahinplätschern«, ohne dass sich in der Therapie oder zu Hause irgendetwas an den Symptomen des Kindes verändert. Eine solche Therapie würde eher nicht dazu führen, dass unprozessierte Affekte verarbeitet werden können, weil sie davon geprägt wäre, dass sowohl beim Kind wie beim Therapeuten Affekte abgespalten sind. In solchen Fällen werden dann in der Therapie z. B. Übungen durchgeführt, Aufgaben erledigt, aber letztlich kaum neue emotionale, gar sichere Bindungserfahrungen gemacht, die alte stressvolle Erfahrungen korrigieren könnten.

Kindergartenkinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung werden dagegen ihre Not sehr stark emotional zum Ausdruck bringen, dann aber, wenn es um die Therapie geht, eventuell einen Rückzieher machen, Angst haben und etwa darauf bestehen, dass die Mutter mit ins Spielzimmer kommt, weil sie sich nicht trennen können. Ist die Mutter dann mit ihrem Kind im Spielzimmer, so möchte das Kind sie oft wieder gerne hinausschicken. Das heißt, es kann ein sehr ambivalentes Hin und Her geben: zwischen »Komm her!« und »Geh weg!«, zwischen dem Suchen und dem Vermeiden von Nähe, zwischen dem Wunsch: »Ich will alleine ins Spielzimmer gehen«, und der Sorge: »Nein, ich brauche die Mama dazu, ich kann mich nicht trennen«. Nicht ungewöhnlich ist auch eine Scheinautonomie in dem Sinne, dass das Kind die Mutter wegschickt oder sogar am Ende der Therapiestunde nicht wieder zu ihr zurückkehren möchte und sich nicht vom Therapeuten trennen kann.

Solche Spielstunden mit unsicher-ambivalent gebundenen Kindern sind ein Wechselbad zwischen starken Emotionen und rasch folgender Abkühlung. Der Therapeut geht auf expressiv geäußerte Gefühle des Kindes ein, engagiert sich im Rollenspiel und bemüht sich, in dem, was das Kind an Konflikten schon gezeigt hat, durch Mitspielen und Intervenieren weiterzukommen, um plötzlich – noch in derselben oder oft auch in der nächsten Stunde – eine Abschottung bzw. einen Rückzug des Kindes zu erleben. Die Hoffnung des Therapeuten, man könne jetzt von Stunde zu Stunde intensiv an den inneren emotionalen unverarbeiteten Konflikten und Schwierigkeiten des Kindes arbeiten, wird oftmals enttäuscht, weil es zwischen dem Suchen von Nähe und emotionalem Rückzug ein unberechenbares Wechselspiel gibt.

Ähnliche Verhaltensweisen finden sich oftmals auch bei den Eltern. Diese rufen oft hocherregt an, wollen Extrastunden, brauchen dringend eine telefonische Beratung, sind über eventuelle neue Symptome des Kindes erschrocken und können die nächste Elternberatungsstunde kaum erwarten. Geht der Therapeut auf dieses emotional sehr engagierte Verhalten der Eltern ein, die sich offensichtlich große Sorgen machen und sehr viel Angst um die Entwicklung des Kindes haben, wird er manchmal enttäuscht, weil die Eltern sich dann abrupt zurückziehen oder die Therapie sogar kurzfristig abbrechen wollen. Der Grund für ein solches Verhalten ist dann, dass es angeblich keinen Fortschritt gibt oder dass, im Gegenteil, die Symptome weg sind oder aber dass sich die Symptome durch die Therapie zunächst verschlimmert haben, was die Eltern sehr erschreckt und beunruhigt.

In solchen Fällen ist eine therapeutisch-bindungsorientierte Haltung erforderlich, die um diese Wechselbäder weiß und sich davon nicht zu sehr irritieren lässt. Die Therapeutin bzw. der Therapeut muss mit den Eltern emotional im Kontakt bleiben, ebenso mit dem Kind, dabei klare Grenzen setzen und die Strukturen und auch die Einhaltung des Settings überwachen. Das Wort »überwachen« klingt hart, aber es geht wirklich darum, die Grenzen und Strukturen zu schützen, zu sichern. Es passiert immer wieder, dass aufgeregte Mütter mitten in der Spieltherapiestunde die Tür aufmachen, um noch einen wichtigen Gedanken einzubringen, ein neues Symptom zu schildern oder dem Kind noch etwa zu trinken zu bringen. Sie halten es kaum aus, vor der Tür zu warten, weil sie den Prozess, der in der Spieltherapiestunde abläuft, weder beobachten noch kontrollieren können. Es bereitet ihnen Sorge und Angst, dass sich das Kind jetzt autonomer entwickeln und aufgrund der zunehmend emotional erlebten Bindungssicherheit in der Kindertherapie von ihnen abgrenzen könnte.

Trennungen bereiten Mutter und Kind insgesamt große Schwierigkeiten, sowohl an der Tür des Kinderspieltherapiezimmers als auch an der Tür des Kindergartens.