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Vorwort des Herausgebers

Bereits als kleines Mädchen sah und erahnte Hildegard von Bingen Dinge, die anderen verborgen blieben. Es schien, als hätte sie die Gabe, gelegentlich einen Blick in die Zukunft oder in eine andere Dimension zu werfen.

Ihre Eltern, der Edelfreie Hildebert von Bermersheim und seine Frau Mechthild, gaben sie, das zehnte von zehn Kindern, im Alter von acht Jahren in das in der Nähe von Bingen gelegene Kloster Disibodenberg. Dort hatte Jutta von Sponheim, die Tochter eines befreundeten Adelsgeschlechts, soeben ein Frauenseminar zur christlichen Unterrichtung junger Mädchen eingerichtet. Erst als sie 15 Jahre alt war, wurde Hildegard klar, dass nicht alle Menschen so seherisch veranlagt waren, wie sie selbst – sie also irgendwie »anders« sein müsse.

Obwohl zart und nicht von besonders robuster Natur, leistete die junge Ordensschülerin Enormes: Nach dem Tod der Lehrmeisterin übernahm sie die Leitung der Schule, später gründete sie – 1150 und 1165 – zwei weitere Klöster, schrieb fünf Bücher und unzählige Anleitungen und Handreichungen. Ihre Werke befassen sich mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie.

Doch dafür, ihre Visionen niederzuschreiben, bedurfte es erst eines göttlichen Anstoßes. Im Jahr 1141, sie war 43 Jahre alt und am Zenit ihrer Schaffenskraft, hatte sie eine Erscheinung, die sie als Auftrag Gottes verstand, ihre Erfahrungen aufzuzeichnen. Im Zweifel darüber, was ihre Visionen bedeuteten, wurde Hildegard jedoch krank. Später schrieb sie über diese Zeit:

»Ich aber, obgleich ich diese Dinge hörte, weigerte mich lange Zeit, sie niederzuschreiben – aus Zweifel und Missglauben (...), nicht aus Eigensinn, sondern weil ich der Demut folgte und das so lange, bis die Geißel Gottes mich fällte und ich ins Krankenbett fiel; dann, endlich bewegt durch vielerlei Krankheit (…) gab ich meine Hand dem Schreiben anheim.

Während ich's tat, spürte ich (…) den tiefen Sinn der Heiligen Schrift; und ich erhob mich so selbst von der Krankheit durch die Stärke, die ich empfing und brachte dies Werk zu seinem Ende – eben so – in zehn Jahren. (…) Und ich sprach und schrieb diese Dinge nicht aus Erfindung meines Herzens oder irgend einer anderen Person, sondern durch die geheimen Mysterien Gottes, wie ich sie vernahm und empfing von den himmlischen Orten. Und wieder vernahm ich eine Stimme vom Himmel, und sie sprach zu mir: Erhebe deine Stimme und schreibe also!«

So erleuchtet, begann Hildegard in Zusammenarbeit mit Propst Volmar von Disibodenberg und ihrer Vertrauten, der Nonne Richardis von Stade, ihre Visionen und theologischen wie anthropologischen Vorstellungen in Latein niederzuschreiben. Weil sie selbst die lateinische Grammatik nicht beherrschte, ließ sie alle Texte von ihrem Sekretär Wibert von Gembloux korrigieren.

Doch noch war die Zeit für eine Veröffentlichung nicht reif. Die kirchlichen Würdenträger, bei denen sich Hildegard Rat holte, standen ihrem Vorhaben skeptisch und vorsichtig gegenüber. Wieso sollte gerade sie, diese einfache Ordensfrau, göttliche Visionen haben? Schließlich war es aber Papst Eugen III. selbst, der, beeindruckt von ihrem Werk, ihr während einer Synode in Trier 1147 die Erlaubnis gab, ihre Visionen zu veröffentlichen. Die Kritiker verstummten, und Hildegards Einfluss nahm zu. Von nun an stand sie mit vielen geistlichen und weltlichen Mächtigen in Korrespondenz.

Über dieses eBook: Hildegards Hauptwerk Scivias (»Wisse die Wege«), das hier als eBook vorliegt, ist eine universelle Glaubenslehre von ganz eigenständigem Charakter. 26 Visionen sind es, die sie an ihre Leser weitergibt, 26 Möglichkeiten der Einsicht, Weisheit und Andacht. 26 Wege, Gott zu finden, oder von ihm gefunden zu werden. – Die Originalhandschrift gilt seit Ende des Zweiten Weltkrieges als verschollen, in der Abtei St. Hildegard in Eibingen (heute Stadtteil von Rüdesheim am Rhein, Hessen) befindet sich eine illuminierte Kopie aus dem Jahr 1939.

Redaktion ModerneZeiten