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Inhalt

 

Vorwort des Herausgebers

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Impressum


Vorwort des Herausgebers

Wie häufig gibt auch hier das Erstlingswerk eines Autors bereits entscheidende Hinweise auf dessen späteres Hauptwerk – in diesem Fall auf Robert Musils Monumentalroman »Der Mann ohne Eigenschaften«, an dem er in seinen letzten zwanzig Lebensjahren schrieb und der heute als einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts gilt. Manche Interpretatoren gehen sogar soweit, in Törleß, dem ins Landinternat geschickten Knaben, den späteren »Ulrich« aus »Der Mann ohne Eigenschaften« zu sehen.

Aber man muss diesen Zusammenhang nicht herstellen, um »Törleß« ausgiebig zu würdigen. Es ist eine präzise psychologische Studie der Gruppendynamik in einem geschlossenen System – mit prototypischen »Tätern« und »Opfern«. Es gibt den kühlen Nihilisten (Beineberg), den brutalen Rohling und Geldeintreiber (Reiting), das typische masochistisch angehauchte Opfer (Basini), den »geschmeidigen« homophilen »Fürst H.«, und schließlich den verwirrten Törleß, der inmitten der neuen Umgebung seine Rolle zu finden versucht.

Auf eigenen Wunsch kam er in das kleine elitäre Landinternat, doch schon nach kurzer Zeit beginnt er seine Eltern brennend zu vermissen – bis ihm die Verstrickungen und Verwirrungen der seltsamen neuen Umgebung dafür keine Zeit mehr lassen. Bei all dem sind die ignoranten und überforderten Erzieher und Lehrer des Instituts keine Hilfe. Ihnen scheint es nicht um die wirkliche Förderung und Ausbildung der Schüler zu gehen, sondern um das bloße mechanische Repetieren von Lernstoff. Selbst die Bibliothek des Internats kommt schlecht weg, »denn dort waren in der Büchersammlung wohl die Klassiker enthalten, diese galten jedoch als langweilig, und sonst fanden sich nur sentimentale Novellenbände und witzlose Militärhumoresken«, findet Törleß. – Der Leser wird an den Denkprozessen des Protagonisten beteiligt und nimmt die Welt vor allem aus seiner Perspektive wahr, so ergibt sich eine natürliche Sympathie zur Hauptfigur – trotz ihrer offenkundigen eigenen Schwächen.

»Törleß« ist ein Roman, der wie etwa Stefan Zweigs »Brennendes Geheimnis« in die Zeit passt. Die Wiener Moderne war gekennzeichnet von dramatischen sozialen, technischen und kulturellen Umbrüchen, vom Antagonismus Tradition versus Avantgarde, besonders aber von der Betonung des Individualismus. Es war die Zeit eines Sigmund Freud in Wien, der Blick in die Psyche wurde gerade Mode.

Weitergehende Interpretationsversuche sehen neben der psychologischen Studie des individuellen jugendlichen Wachstums im Mikrokosmos des Internats zugleich »das Bild kommender Diktatur und der Vergewaltigung des einzelnen durch das System visionär vorgezeichnet«. Das sind gewagte Interpretationen, doch fraglos hat Musil wie viele seiner Autorenkollegen die Schwingungen seiner Zeit (der Roman entstand um das Jahr 1900) seismographisch aufgenommen und in seinen Werken auf seine Weise verarbeitet.

Zum Autor: Robert Musil wurde am 6. November 1880 in Klagenfurt geboren. Sein Vater sah für ihn die Militärlaufbahn vor und schickte ihn auf verschiedene Militärakademien. Er brach jedoch die Offizierslaufbahn ab und studierte – nach einem Intermezzo im Maschinenbaustudium – ab 1903 in Berlin Philosophie und Psychologie, und bekam dort ersten Zugang zu Künstlerkreisen. 1910 geht Musil zurück nach Wien, arbeitet als Bibliothekar, freier Schriftsteller und Journalist, 1911 heiratet er Martha Marcovaldi. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er teilnahm, festigt er seinen Ruf als Schriftsteller, und wird mit diversen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kleist-Preis für das Schauspiel »Die Schwärmer«. 1920 lernt er in Berlin seinen künftigen Verleger, Ernst Rowohlt kennen, der ihn in den nächsten 20 Jahren, während Musil am »Mann ohne Eigenschaften« arbeitet, mit Vorschüssen finanziell unterstützen wird. Musil publiziert nun fast nichts anderes mehr, setzt all seine Kraft in sein Monumentalwerk.

Mit dem »Anschluss« Österreichs an den Nationalsozialismus im Jahr 1938 werden Musils Bücher nach Deutschland nun auch in Österreich verboten. Er emigriert mit seiner Frau in die Schweiz, zunächst wohnen sie in Zürich, später bei Genf. Die Arbeit am »Mann ohne Eigenschaften« geht weiter, doch das Romanprojekt wächst mit zusätzlichen Entwürfen, Konzepten, Varianten und Korrekturschriften immer stärker in die »Tiefe«, statt fertig zu werden. In Musils Nachlass findet sich schließlich ein rund 6000 Seiten umfassendes, komplexes System mit ergänzenden Notizen.

Der Roman bleibt unvollendet: Am 15. April 1942 stirbt Robert Musil an einem Gehirnschlag, am Chemin des Clochettes in Genf. Er hatte seit mehreren Wochen nur noch an einem einzigen Kapitel (Atemzüge eines Sommertags) des »Mannes ohne Eigenschaften« gearbeitet, das man nach seinem Tod geöffnet auf dem Schreibtisch fand. Robert Musils Asche wurde in einem Wald bei Genf verstreut.

Redaktion eClassica